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Magazine for Photography #5 | University of Applied Sciences Europe

re-beirut


University of Applied Sciences Europe Iserlohn, Berlin, Hamburg Department Art + Design Dessauer Str. 3–5 D–10963 Berlin Fotografie Workshop Mai 2016 Idee + Leitung: Matthias Leupold, Marie Séférian Bildredaktion + Layout: Merve Terzi Layout + Satz: Pia-Donata Pach Umschlagbild Vorderseite: Merve Terzi Umschlagbild Rückseite: Johanna zum Felde Lektorat: Nadja Mahler, Rana Öztürk Übersetzung: Saema Saleh Druck: Oktoberdruck AG, Berlin Papier: Circle Offset White; Recyclingpapier Schrift: Minion Pro, Helvetica Light Das Magazin fnder erscheint immer wieder. © Juni 2017 Ausstellung re-beirut 16.-24.Juni 2017 www.btk-fh.de


»Vergesslichkeit ist eine Form der Freiheit.« Khalil Gibran



Libanon ‒ Land der Gegensätze Tagtäglich werden Nachrichten aus dem Nahen Osten übermittelt, die ein bestimmtes Klischee erzeugen, doch Sachkenntnis und Wissen über die derzeitige Situation aus eigener Anschauung sind oft nur gering. Während der Projektwoche im Mai 2016 reisten zwölf Studierende von Berlin nach Beirut. Die Jazzsängerin Marie Séférian und ich hatten jungen Fotografen und Fotografinnen der University of Applied Sciences Europe, damals noch BTK, der FH Mannheim und der Humboldt-Universität zu Berlin angeboten, gemeinsam ein Land mit der Kamera zu erkunden, das derzeit nicht unbedingt auf der Liste der touristischen Reiseziele steht. Zudem sollte unser Vorhaben gedanklich die Flüchtlingsbewegung umkehren; Klischees sollten überdacht werden. Die Spuren des Bürgerkrieges 1975–1995 begegneten uns auf Schritt und Tritt. Militärische Posten an strategischen Positionen werden bis heute aufrecht erhalten. Das kleine Land, dessen Fläche etwa der von Hessen entspricht, beherbergt über zwei Millionen syrische Flüchtlinge. 18 Religionen leben auf engstem Raum nebeneinander: Maroniten, Drusen, armenische Christen, Sunniten, Schiiten. In den palästinensischen Flüchtlingslagern, die bereits vor 60 Jahren eingerichtet wurden, wohnen noch heute viele Menschen, die nicht zurück in ihre Heimat können. Sind diese Menschen immer noch auf der Flucht? Unterwegs auf den Spuren des Dichters, Malers und Philosophen Khalil Gibran fuhren wir durch das Libanongebirge, erkundeten Ausgrabungen in Byblos, lernten den betörenden Duft von Zedernöl in einem Reservat kennen und tranken Cocktails in Gemmayzeh. Dani, ein ehemaliger libanesischer Soldat und Maronit, fuhr uns mit seinem Minibus durch Hunderte Serpentinen und lud uns an einem Abend zu sich nach Hause ein. Seine Familie kochte für alle, die Shisha machte die Runde. Wir lernten die Herzlichkeit und Freundlichkeit der Libanesen kennen. Re-Beirut war auf viele Wände gesprayt. Die Stadt erfindet sich gerade neu. In Vorbereitung dieses Auslandsworkshops hatten Arno Schupp und Julia Haak von der Berliner Zeitung den Studenten ein wunderbares Angebot unterbreitet: eine Doppelseite mit Text zu unserer Reise im Magazin der Berliner Zeitung (24./25.9.2016, Aufl. 270.000). Für die jungen Fotografen und Fotografinnen ist dies die erste Veröffentlichung in einer Berliner Tageszeitung. Nun steht der fotografische Ertrag der Reiseteilnehmer im Mittelpunkt dieser Ausgabe des »fnder«. Er wird von Essays von Rana Öztürk, Marie Séférian und Lilian Leupold begleitet. Ich gratuliere allen Studierenden zu dieser Publikation sowie der Austellung. Desweiteren bedanke ich mich bei allen Beteiligten im Libanon, die uns einluden und uns ihr interessantes Land zeigten. Marie Séférian und ihrer Familie danke ich für die engagierte Begleitung des Workshops sowie Merve Terzi und Pia-Donata Pach, die sich sehr für die Druckvorbereitung und Realisation einsetzten.

Matthias Leupold


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Anna Hammer


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Episoden aus Beirut Rana Öztürk

Das flirrende Treiben am Flughafen lässt die Atmosphäre der Stadt erahnen. Ein Fahrer winkt uns in seinen alten Mercedes, das Taxiemblem ist zwischen den zwei Vordersitzen platziert – was wohl kaum kontrolliert wird. Nach zwei Wochen Zurechtzupfen des Kopftuchs bei dreißig Grad und dem ständigen Fokus auf der Einhaltung aller Be­ nimmregeln im Iran ist das quirlige, widersprüchliche Beirut befreiend, fast berauschend. Nach der Sanftheit der Iraner und der politisch erzwungenen, erdrückenden Alltagsruhe fahren wir durch heruntergekommene Barackensiedlungen in den hupenden Morgenverkehr der Stadt. Französischsprachige Plakate werben für Theaterfestivals und eine Designwoche: »Growing Sustainability« steht auf dem recycelten, fast handgeschöpft wirkenden Papier. Es vermittelt eine geistige Nähe zum modernen, westlichen Denken und Zukunftsoptimismus. Arabische Taglines zieren die zahlreichen Treppenstufen, die die Wohnviertel mit den Hauptstraßen der hügeligen Stadt verbinden. Ein auf ein Graffito gemalter Chat:

Really? OMG Yea I can’t believe my eyes! It’s disgusting! Yea Where are you? Right in front of it? Did you do anything? No Shit? Why don’t you?!

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Die nicht entzifferbaren Schriftzüge des Graffito wirken wie künst­ lerische Kalligrafie. Die Bedeutung der Message bleibt offen, so offen wie die vielen Baustellen und Löcher in den teilweise zerstörten, teilweise sanier­ ten Kolonialvillen. Villen, deren grüne Palmengärten hinter den Mauern hervorragen und romantisches wie wärmendes Mittelmeerflair versprühen. Modernste Hochhäuser, in deren Tief­ garagen massive und mit Panzerglas verkleidete Hummer einund ausfahren. Eine Synagoge im Zentrum Beiruts ist großzügig umzäunt, das Viertel darum herum vom Militär gesperrt. Auf naive Nachfrage, ob ich die Straße passieren dürfe, werde ich mit skeptischem Gesichtsausdruck zurückgewiesen. Die Suks, 2009 nach zehnjähriger Verzögerung eröffnet, gekonnt ästhetisch und aalglatt, sind Resultat einer internationalen Architekturausschreibung. Die Geschichte der zerstörten Suks, Handelszentrum einer jeden arabischen Stadt, wird zu respektieren versucht. Dennoch, auf der ganzen Welt erhältliche Mode allbekannter Marken formen die Suks zu einem globalisierten Non-Lieu.


Die Hamra Street, Hauptschlagader der Altstadt, verkörpert die Inkonsequenz und Fragmentierung Beiruts: Christen, Maroniten, Drusen, syrische Flüchtlinge, palästinensische Dauerflüchtlinge, Shiiten, Sunniten und Touristen sind vereint. Konsequent hingegen sind die Viertel, sauber religiös segre­ giert: muslimischer Westen und christlicher Osten. Als Folge des 25 Jahre währenden Bürgerkriegs (1975–1990) hat die religiöse Teilung bis heute weitestgehend Bestand. Eine Stadt – viele Völker; gemeinsam – doch unvereint. Wäre im Falle eines internationalen Friedensabkommens ein solch geteiltes Miteinander auch in Al-Quds/Jerusalem oder Nikosia, den inoffiziell und offiziell geteilten Hauptstädten der palästinensischen Autonomiegebiete/Israels bzw. Zyperns denkbar? Über Ländergrenzen, Völker und Religionen hinweg? Eine synästhetische Sinnestrübung durch Sumach und Zaatar, die beliebten lokalen Gewürzmischungen, Handelsgeschrei und ortsimmanentes Gewirr, wie man sie sich seit jeher in den im Fernsehen in Dauerschleife laufenden Morgenlandfilmen wie »Lawrence von Arabien« oder »Sindbad« vorstellt, bleibt aus. Den Orient oder das, was man sich darunter vorstellt, findet man hier definitiv nicht.

Ruhig und frei fühlt es sich nur im Chouf-Gebirge an, unberührt vom politischen und religiösen Chaos, in dem einsamen Wald mit den vertikal wachsenden Ästen der Libanon-Zedern. Die frische Lust der Wanderung beflügelt die metaphysische Wahrnehmung. Ist es Khalil Ghibran, der Goethe des Libanons, Philosoph, Dichter und Maler, der über dem Zeitgeschehen stehend aus dem Wald spricht:

Die palästinensischen Flüchtlingsviertel im Süden der Stadt stehen im Kontrast zu den Cafés und Bars in Gemmayzeh, dem Szene­ viertel: Nach Feierabend trinken Kulturschaffende, Homose­xuelle und junge Touristen auf den Terrassen der Lokale Wein – ein Hauch westlicher Freiheit, etwas Gentrifizierung, akzentuiert mit einem Touch arabischen Flairs. Arabische Neonschriften, nasal klingende Musik: Die Stimme von Bachar Mar-Khalifé, Sohn des bekannten libanesischen Komponisten und Musikers Marcel Khalifé, tönt aus den Boxen. Der Stil ist irgendwo zwischen World Music, Jazz, Elektro, Hip-Hop zu verorten. Der Klang ist das, was für Nichtorientalen hörbar ist: Arab light. Und Bachar – ein Exil-Libanese, einer der 13 bis 16 Millionen in der Welt Verstreuten.

»I am alive and I am standing beside you.«

Sandra Krüger

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Rosanna Leimbach

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»Wenn Dir die Liebe winkt, so folge ihr, sind ihre Wege auch hart und steil.«

Während der Libanonreise im Mai 2016 bin ich auf die Liebesbriefe von Khalil Gibran an May Ziadeh gestoßen. Meine Idee war, einige der Briefe zu vertonen und so ein musikalisches Album aus dieser Brieffreundschaft zweier Menschen, die sich nie begegnet sind, zu schaffen. Jedoch war May Ziadeh, ähnlich wie Gibran ein Freigeist und darüber hinaus eine Pionierin des orientalischen Feminismus, ihrer Zeit voraus. Man vermutet, dass ihre Briefe an Gibran aus diesem Grund nicht von der Familie Ziadeh freigegeben wurden oder sogar vernichtet worden sind – ihre Ant­ worten sind nie veröffentlicht worden. Die Briefe von Gibran an Ziadeh entstanden zwischen 1914 und 1931, seinem Todesjahr. Sie zeugen von einer innigen Verbindung zweier geistesverwandter Menschen. Als Tochter einer palästinensischen Mutter und eines libanesischen Vaters wurde Ziadeh 1886 in Nazareth geboren, sie wuchs in Palästina und im Libanon auf. 1908 wanderte ihre Familie nach Kairo aus, wo May später für die führenden Magazine Ägyptens schrieb. May Ziadeh gilt als die bedeutendste Schriftstellerin der arabischsprachigen Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und war 23 Jahre, von 1913 bis 1936, Gastgeberin eines renommierten literarischen Salons in Kairo.

Khalil Gibran

New York, 7. Februar 1919

»Sagen Sie mir, wie Sie all das gelernt haben, was Sie wissen, in welcher Welt Sie die Schätze Ihrer Seele gesammelt haben und in welcher Epoche Ihr Geist lebte, bevor er in den Libanon kam? Wahrlich, im Genie gibt es ein Mysterium, das tiefer ist als das Geheimnis des Lebens. Sie wollen wissen, was die Menschen aus dem Westen über mich sagen. Tausend Dank für Ihr Interesse und Ihren Patriotismus. Die Menschen aus dem Okzident haben viel gesagt, und alles, was sie sagten, war übertrieben; sie waren zu extrem in ihren Ansichten und suchten ein Kamel im Hasenstall. Gott weiß, meine Freundin, dass ich nichts Gutes über mich gelesen habe, ohne dass es mich in meinem Herzen bedrückte, denn Zustimmung ist eine Art von Verantwortung, welche die Menschen auf unsere Schultern legen und die uns unsere Schwäche spüren lässt. Doch wir müssen vorwärts gehen, auch wenn die schwere Last unseren Rücken krümmt. Und wir müssen versuchen, unsere Schwächen in unsere Stärken zu verwandeln.«

Khalil Gibran wurde in der Gegend von Becharré geboren und schrieb im Exil immer wieder über diesen Sehnsuchtsort – seine Heimat und die der Libanon-Zeder. 1926 kaufte Gibran ein altes Mönchskloster im Becharré, um dort das Ende seiner Tage zu verbringen. Er verstarb 1931 in New York und wurde am 22.8.1931 in den Libanon gebracht und in der Grotte des Klosters begraben. 1932 folgten seine persönlichen Gegenstände und seine Möbel. Heute ist das ehemalige Kloster ein Museum und Gedenkstätte für den größten Philosophen und Maler des Libanons.

Marie Séférian

Marie Séférian

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Der Libanon ist ein Land, das sich im

Lebanon is a country which finds itself

Wiederaufbau befindet, sich nach westlichem

in reconstruction and modernising along the

Vorbild modernisiert und trotz allem stark

lines of the western world. Nonetheless, it

von Traditionen und Religionen geprägt ist.

is strongly dominated by its traditions and

Dieses Festhalten an dem Vergangenen wurde

religions. This retention of traditionalism and

mir durch gesammelte Erinnerungsstücke

the past showed itself to me in various collec-

deutlich. Still und skurril erzählen sie ihre

tions of memorabilia. In silence, they tell their

Geschichten des Loslassens und der Sehn-

stories of release and the light-hearted desire.

sucht nach Unbeschwertheit.

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M.T.


Merve Terzi

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Merve Terzi


Johanna zum Felde

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Pia-Donata Pach


Aline Baumann

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Phillip Helmke

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Merve Terzi


Jean Viesi

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Sandra Krüger

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»Welcome to Lebanon!« Lilian Leupold

Wenn es im Libanon regnet, dann richtig. Das scheinen uns die Wassermassen sagen zu wollen, die binnen Minuten die zentrale Straße Richtung Norden in einen rotbraunen Fluss verwandeln, der wütend in die Stadt hinein strömt. Unser kleiner Bus kämpft sich ratternd stadtauswärts, wir sind froh, dass Dani ein so guter Fahrer ist, auch wenn der Auspuff die ganze Fahrt durch das Libanongebirge marode klingt. Ein paar Minuten später ist es vorbei, der Asphalt trocknet schnell wieder und mit keiner Miene lässt sich jemand anmerken, dass gerade totales Chaos auf der Straße herrschte. Ich habe das Gefühl, so läuft vieles in diesem Land.

Beirut muss einmal eine vibrierende Stadt gewesen sein. Kolonialbauten im Jugendstil, verlassen und verfallen, sind stille Zeugen einer vergangenen Zeit. Sie haben es nicht heil in die Gegenwart geschafft. Wir fragen uns, weshalb so viele nicht restauriert und bewohnt werden, und bekommen als Antwort, dass die Immobi­ lienspekulation in Beirut die Preise derart in die Höhe treibt, dass es sich nicht lohnen würde. Stattdessen ziehen ausländische Investoren auf den vielen Brachflächen der Stadt moderne Hoch­­ häuser in den Himmel, die auch zum großen Teil ungenutzt scheinen und auf ihre Zeit warten. Als wir ankommen, suchen meine Augen vor allem Spuren des Bürgerkrieges. Ich frage mich, was 15 Jahre Krieg aus einer Stadt machen. Eine Stadt, die durch zwei Fronten geteilt war, in meinem Kopf und auf dem Stadtplan vereinfacht: die muslimische und die christliche. In Vorbereitung auf die Reise hatte ich begonnen, mich in die Geschichte einzulesen. Ich wollte versuchen zu verstehen, was ich nie verstehen kann: Wie es zu so einem Krieg kommt. Mit den Artikeln über die Zeit seit der libanesischen Unabhängigkeit 1943 wuchs mein Gefühl, nichts zu begreifen. Und ich versuchte, von vorne anzufangen. Ich las über Zeiten der ägyptischen Herrschaft, über Phönizier, Assyrer, Babylonier. Als wir losfuhren, war ich erst bei den Persern angelangt. Noch vor den Römern und Osmanen, lange vor dem Ersten Weltkrieg, dem französischen Völkerbundmandat. Ich fühlte mich reichlich unvorbereitet.

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Wir wohnen in der Nähe von Gemmayzeh, im östlichen und christlichen Teil der Stadt. Die Mohammed-Al-Amin-Moschee, die dort steht, wo wohl einmal das Zentrum Beiruts war, ist gerade weit genug weg, um nicht vom Muezzin geweckt zu werden. In den kleinen Straßen stehen viele Kirchen von Religionsgemeinschaften, die ich nicht auseinanderhalten kann. Armenische Christen, Orthodoxe, Maroniten. Ein Besuch in einer davon bringt in meinem Kopf einiges durcheinander: Es ist das erste Mal, dass ich in einer christlichen Kirche bin, in der alles in arabischen Schriftzeichen geschrieben ist, die ich nicht lesen, geschweige denn verstehen kann. An den Wänden sind Kreuze und einige bekannte Symbole, aber auf einmal wirkt alles so fremd und verunsichernd, wie eine Moschee wirken kann. Wahrnehmung ist Bedeutungszuweisung und Bedeutungen sind kontingent. Ein paar Gassen bergab, um ein paar Ecken mit sich chaotisch verästelnden Stromkabeln, liegt die in meinen Augen westlichste Straße des heutigen Beiruts voller Bars, die aussehen wie in Berlin, zwischen Grunge und schnörkelloser Eleganz. Hier trifft sich abends das junge Beirut, veranstaltet Filmfestivals, Upcycling-Events und Galerieabende, während ein paar Meter weiter die ältere Generation in Gemüseläden arbeitet und ihrem Alltag nachgeht, als gäbe es die nächste Straße nicht. Es wirkt auf mich wie Gentrifizierung in Modellperfektion, es ist mit Sicherheit auch die Straße, in der wir den Großteil unserer Beiruter Nächte verbringen.


Beirut weiß zu feiern. Aber die Stimmung hier bei Nacht hat etwas Verlorenes. Ich muss an einen Artikel über das Nachtleben in Damaskus denken – feiern um zu vergessen, dass man heimatlos ist – und frage mich, ob das, was ich hier spüre, etwas Ähnliches ist. Es gibt keine Normalität. Das ist hier mit Händen zu greifen. Normal ist, worin man sich eingerichtet hat. Wie fühlt es sich an, sich in der Aporie einzurichten? Die Menschen leben nicht wirklich abgeschirmt vom Chaos, das ihnen so nah ist, zeitlich und räumlich, aber die meisten ignorieren es, so gut es geht. Als wir von einer Bar zum Club laufen wollen, schauen uns unsere Bekanntschaften sehr irritiert an und bestehen darauf, uns zu fahren. Man läuft hier nicht, und schon gar nicht nachts. Kein Wort von Unsicherheit. Man macht es nicht. Also fahren sie uns. Eines der vielen Male, an denen wir sehr spontan eingeladen werden auf eine Fahrt, auf einen Drink, nach Hause zum Abendessen. Die Stadt liegt wie unter einer Glocke.Nicht nur unter der Smogwolke, die vom kaum abbrechenden Ver­kehrs­strom herrührt. Es gibt sehr wenige Fußgänger auf den Straßen; in den ärmeren

Nachbarschaften im Westen und Süden Beiruts und den palästinensischen Flüchtlingslagern sind es mehr, aber insgesamt ist die Stadt eine vorbeiziehende Schlange Autos. Unter dem tosenden Verkehr liegt etwas wie Stillstand, ein Stillhalten oder Paralyse. Die Hinterlassenschaften und Demarkationslinien des Krieges sind für mich zum großen Teil unsichtbar, aber man kann ihre Anwesenheit im Fehlen eines lebendigen, gemischten Treibens spüren. Es findet wenig Begegnung statt. Es gibt quasi keinen öffentlichen Nahverkehr, nur kleine Busse und Taxen, und so funktioniert alles über das Auto. Viele schwere Karossen durchziehen die Straßen, neben alten klapprigen Gestellen und Pick-ups mit Arbeitern auf der Ladefläche. Hinter dem Steuer sitzen mehr Frauen, als ich aus Deutschland gewohnt bin, etwas, was mich an den ersten Tagen verwundert. Warum? Weil ich nicht erwartet hatte, dass Frauen Auto fahren? Dass sie zu allen möglichen Zeiten alleine oder in Gruppen unterwegs sind? Dass sie fein gemacht sind, hatte ich jedenfalls erwartet. Ich hatte auch erwartet, mich manchmal unsicher zu fühlen, als Fremde, als Frau. Ich hatte aber keine einzige Sekunde Angst.

Merve Terzi

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Obwohl ich mich manchmal gefragt habe, wie viel von unserer Bewegungs- und Verhaltensfreiheit an unserem außerordentlichen Status als europäische Touristen lag, die – erkennbar an der Begeiste­rung, mit der man vielerorts lauthals begrüßt wird: »Welcome to Lebanon!« – rar geworden sind in diesem Land. Sehr deutlich wird dieses Gefühl, wenn man sich in das ehemalige Zentrum Beiruts begibt. Das, was einmal die historische Mitte der Stadt war, ist heute eine von Stacheldraht eingezäunte Fußgängerzone, deren Zugänge das Militär bewacht. Wir können ohne Wei­ teres passieren und durch die restaurierten, aber völlig unbelebten Straßen laufen, die sternförmig von einem Platz abgehen, in dessen Nähe sich Bauwerke verschiedenster Epochen befinden: ein römisches Bad, ein osmanisches Serail, eine griechisch-orthodoxe Kathedrale aus dem 18. Jahrhundert, eine maronitische Kirche aus dem 19. Jahrhundert und eine Synagoge aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die Restaurierung des Viertels geht zurück auf die 1994 vom damaligen Premierminister Rafiq al-Hariri gegründete Gesellschaft Solidere, deren Auszahlung der Besitzer von Immobilien im restaurierten Gebiet von Kritikern als Enteignung bezeichnet wird. Außer uns ist hier fast niemand unterwegs, es gibt keine Geschäfte oder geöffnete Cafés. Kurz bevor wir das Viertel wieder verlassen, kommen wir an einem Restaurant vorbei, hinter dessen gräulich verschleierten Fenstern voll eingedeckte Tische zu sehen sind. Auf dem Service und den Karten liegt eine millimeterdicke Staubschicht. Beirut zeigt sich von sehr verschiedenen Gesichtern, je nachdem, wohin man geht – es kann einen in jedem Fall verkraften, aber es kann einen nicht umarmen. Die Stadt atmet nicht. Es scheint, als hätte sie in langen Jahren der Zerstörung die Luft angehalten aus Angst, dass die Gewalt bei der geringsten Erschütterung von Neuem losbrechen könnte. Es ist vieles ungesagt und unverarbeitet. Nicht, dass nicht geredet würde. Im Gegenteil, viele haben uns sehr offen empfangen. Spricht man mit Einwohnern, beklagen sie sich oft über Korruption und die Aufteilung des Staates unter Clans, weshalb so viel nicht funktioniert in der Stadt – die Bereit-

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Merve Terzi

stellung öffentlicher Güter, Infrastrukturen. Massive Probleme mit der Müllabfuhr haben 2015 zu einer Bürgerbewegung unter dem Slogan »You Stink!« geführt. Aber es ist selten, dass über die ehemaligen Gegner gesprochen wird. Über die Frage nach Schuld und Versöhnung. Im Libanon leben seit mittlerweile mehr als 60 Jahren gezwungenermaßen ca. 450.000 palästinensische Flüchtlinge. Im Mai 2016 waren zudem eine Million syrischer Flüchtlinge beim UNHCR registriert, Schätzungen gehen von doppelt so vielen aus. Das Land zählt ca. 4,8 Millionen registrierte Einwohner, seit dem Bürgerkrieg leben mehr Libanesen im Ausland (ca. 8,6–14 Mio.) als im Land selbst. Fährt man von Beirut aus durch das Land, egal ob Richtung Byblos im Norden oder in das Chouf-Gebirge im Süden, fallen einem die unzähligen nicht fertig gebauten Häuser auf. Kleine und größere Mehrfamilienhäuser, die nur aus Betonpfeilern und vielleicht der untersten Etage bestehen. Baustellen, auf denen sich nichts zu bewegen scheint. Man fragt sich, wer eines Tages in diesen Häusern wohnen soll und welche Zukunft sie sehen werden. Das Land ist auf dem Papier eine parlamentarische Demokratie und schreibt als Sonderfall in der arabischen Welt Religionsfreiheit in der Verfassung fest, die 18 offizielle Religionsgemeinschaften kennt. Aber Konflikte über das Verhältnis zu Syrien, zur Hisbollah, zu Israel bringen es immer wieder in Gewaltzustände und politische Ausnahmesituationen. Das Amt des Staatspräsidenten war von 2014 bis Oktober 2016 vakant, nun ist es besetzt mit einem maronitischen Christen, wie es die Verfassung vorschreibt, die für die höchsten Staatsämter sowie das Parlament das Prinzip einer konfessionellen Parität vorsieht: Mit dem 81-jährigen Michel Aoun, der jahrelang antisyrisch positioniert war, nun aber als Favorit der schiitischen Hisbollah, die Verbündeter des syrischen Regimes ist, vom Parlament, dessen Amtszeit bereits seit drei Jahren abgelaufen war, gewählt wurde. Die Verwicklungen sind schwer zu überblicken und der Bürgerkrieg scheint in einer erstarrten Form in die Gegenwart hinein zu reichen – so wie die Ruinen, die mit hohlen Beton­augen über


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den Verkehr ragen. Oder wie das alte Stadtzentrum. Der Regen kann es nicht wegwaschen, aber die Menschen haben gelernt, damit zu leben.

Jahren ausgewandert war, ist für mich schwer zu vergessen. Marie konnte es ihm nicht abschlagen, mit ihm zu singen, als er seine Gitarre herausnahm, und so stimmten sie »Les feuilles mortes« an.

Einen Abend wurden wir von Chouki Abinakle, einem alten Freund des Vaters von Marie Séférian, zu sich nach Hause eingeladen. Während der Mond über den Gipfel der Berge kroch, in denen wir noch Stunden zuvor gewesen waren, nahmen wir zu vierzehnt Platz auf seiner Dachterrasse. Der Blick, mit dem Chouki Marie ansah, die Tochter seines Jugendfreundes, der vor vielen

»Nous vivions tous les deux ensemble, mais la vie sépare ceux qui s’aiment.«

Anna Hammer


Er brauchte nicht zu erzählen, dass dieses Land seine Heimat war und dass er es liebte, er brauchte auch nicht zu erzählen, wen er alles in diesem Land vermisste. Als er sich irgendwann entsann, dass noch dreizehn andere Menschen auf seinem Dach saßen, erzählte er eine kleine Anekdote aus dem Orient: In Europa sind die Menschen bedacht, der Zeit hinterher zu sein. In Europa sind die Menschen pünktlich. Aber hier funktioniert »yallah yallah« nicht . »Here people want to be masters of time«. Wenn du einen Termin mit einem Klempner vereinbarst, wird er dir sagen: »Ich bin morgen gegen Mittag da, inschallah«. Und wenn er am nächsten Tag nicht gegen Mittag da ist, dann wollte Gott wohl nicht. Gott wollte wohl nicht. Warum reisen wir? Was ist so anders an diesem Seins­zustand? Eine besondere Art von Einsamkeit, von Wenigkeit im Inneren? Das Wissen, nicht an diesen Ort zu gehören, von dessen Anwesenheit man gestriffen wird? Die Sehnsucht, er möge einen versöhnen mit der Existenz unzähliger gleichzeitiger Anders­wo? Die Neugier, dem Dazwischen, das sie zusammenhält, ins Gesicht zu sehen? Wird die Welt schöner oder schrecklicher, wenn man mehr von ihr weiß? Was bleibt von dieser Reise? Belichtete Momente. Und auch einige unbelichtete. Wir hatten die Freiheit, eine Bewegung zu vollziehen, und vielleicht hat sich dabei ein Raum geöffnet. Für mich bleibt vor allem eine Verunsicherung von Bedeutungszuweisungen, und das, meine ich, ist nicht wenig.

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Stahlbeton Alexander Blumhoff

Nahe dem neu errichteten Regierungsviertel entsteht gerade ein weiteres prunkvolles Viertel in der Metropole des Libanon. Längs der großzügig angelegten Uferpromenade schrauben sich gigantisch große und futuristische Stahlbeton­ bauten in den Himmel. Der Einfluss von westlichen Architekten und Investoren ist in dem vom Krieg zerstörten Beirut unschwer zu übersehen. Zahlreiche, höchst spekulative Immobiliengeschäfte; ein Großteil der pompösen Konstrukte steht leer. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ein altes Kino. Zerbombt, erinnern die Ruinen an die Geschehnisse des Krieges.

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Je weiter man sich jedoch von der Uferpromenade in das Landesinnere bewegt, desto schlechter wird die Bausubstanz der Gebäude. Insbesondere stoße ich auf meinen Erkundungstouren durch den Libanon auf immer mehr unvollendete Kirchen. Diese Bauten, befreit von typologischen Vorstellun­ gen, brechen alle Regeln und sind insofern revolutionär, als dass man mit ihnen nicht unbedingt ein Gotteshaus in Verbindung bringen würde. Oftmals sind es grobe Betonwände, aus denen verrostete Stahlarmierungen herausragen, die auf einen Gläubigen eher abstoßend wirken.


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Im Gegensatz dazu wirkt eine der ältesten Moscheen in Beirut durch ihre Kuppel und den darunterliegenden runden Gebetsraum einladend und wohlgeformt. Es ist ein 250 Jahre alter Flachbau, sichtbar in die Jahre gekommen, abblätternder Putz an der Außenfassade, abblätternde dicke Farbschichten im Innen­raum. Dieses Gebäude, in schlichtem Gewand, fügt sich hervorragend in sein Umfeld ein, ohne sonderlich hervorzustechen. Ungewöhnlich an dieser Moschee ist, dass sie über kein Minarett verfügt. Im frühen Islam wurde vom Dach der Moschee oder einer Stadtmauer zum Gebet gerufen. Erst im 14. Jahrhundert waren Minarette weit verbreitet und dienten dem Ausruf der Muezzin wie auch als Statussymbol. In meinen Aufnahmen versuche ich, ohne Hang zur Poetisierung, ein objektives Bild des abgelichteten Motivs zu zeigen. Jede der von mir fotografierten Kirchen hat ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Stil, was meine Serie der Gotteshäuser dynamisch erscheinen lässt. Besonders an den pompös angelegten Machtzentralen zeigt sich der Einzug der Moderne. Religion wird in ein neues Gewandt gezwängt und auch nach 2000 Jahren noch architektonisch neuinterpretiert. Die unvollendeten, kalten Bauten sind für mich die Fortsetzung der Bauhaus-Ära, schnörkellos und puristisch, geometrisch und radikal modern. Sie faszinieren mit ihrer Tristesse und geradlinigen Eleganz, stellen durch ihre Unfertigkeit jedoch vor allem die Insignien der Macht infrage.

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Lotti Adaïmi

Anfang der 1960er Jahre verliebte sich die Düsseldorfer Künstlerin Lotti Kasselmann in den libanesischen Arzt Faouzi Adaïmi, heiratete ihn und machte somit den Libanon zu ihrer neuen Heimat. Obwohl syrische Granaten auch auf dem eigenen Grundstück niedergingen, blieben Lotti und Faouzi während des Bürgerkrieges von 1975 bis 1990 in Jounieh, einem Vorort von Beirut. Das Krankenhaus von Dr. Adaïmi war das einzige während des Krieges, in dem noch Operationen durchgeführt werden konnten, weshalb sich Lotti entschied, an der Seite ihres Mannes zu bleiben und ihn zu unterstützen. Aus der Überzeugung heraus, dass nur Bildung und Kultur die Menschen zu einem friedlichen Miteinander bewegen können, gründete das Paar eine deutsch-libanesische Schule und Universität sowie ein deutsches Kulturzentrum. Lotti Adaïmi wurde für ihre Malerei 1969 in Beirut mit dem angesehenen SursockPreis geehrt und erhielt 1983 für ihr vermittelndes Engagement während des Bürgerkrieges das Bundesverdienstkreuz. Lotti lebt und arbeitet in Jounieh. Ihr Mann Faouzi starb nur wenige Monate nach unserem Besuch im gemeinsamen Haus.

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Bahebak Ya Lebanon ‒ ein Lied von Fairuz Die 1934 in Beirut geborene Fairuz ist eine libanesische Sängerin und Schauspielerin. Sie wird als die »Mutter der libanesischen Nation« gefeiert. Ins Deutsche übersetzt bezeichnet ihr Künstlername die Farbe Türkis. Während der Bürgerkrieg im Libanon wütete, schrieb Fairuz im Pariser Exil dieses Lied für ihre Heimat.

Ich liebe dich, oh Libanon, ich liebe dich, meine Heimat. Ich liebe dich vom Norden bis zum Süden. Ich liebe deine Ebenen. Ich liebe dich, du fragst mich: »Was hast du?«, und: »Was fehlt dir?« Du fragst mich: »Was hast du?«, und: »Was fehlt dir?« Ich liebe dich, oh Libanon, ich liebe dich, meine Heimat. Sie haben mich gefragt: »Was ist im Land der Feste geschehen?« Feuer und Patronen sind drum herum gepflanzt worden. Ich habe ihnen gesagt: »Unser Land wird neu erschaffen.« Libanon, das Land der Würde und des unbesiegbaren Volkes. Ich liebe dich, so wie du gewesen bist. Und ich liebe deine Verrücktheit. Und wenn wir uns voneinander entfernen, die Liebe zu dir wird uns einen. Eine Prise deines Staubes ist wie der Schatz der Welt. Ich liebe dich, oh Libanon, oh meine Heimat.

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‫كلمات أغنية بحبك يا لبنان‬

‫بحبك يا لبنان‬ ‫يا وطني بحبك‬ ‫بشمالك بجنوبك بسهلك بحبك‬ ‫بتسأل شو بنى وشوا اللى ما بنى‬ ‫بحبك يا لبنان يا وطني‬ ‫عنك بدي ابقى ويغيبوا الغياب‬ ‫اتعذب واشقى يا محلي العذاب‬ ‫واذا انت بتتركيني‬ ‫يا اغلى االحباب‬ ‫الدنيا بترجع كذبة‬ ‫وتاج االرض تراب‬ ‫بفقرك بحبك وبعزك بحبك‬ ‫وانا قلبي عايدي ال ينساني قلبك‬ ‫والسهرة عا بابك اغلى من سنة‬ ‫وبحبك يا لبنان يا وطني‬ ‫سألوني شو صار ببلد العيد‬ ‫مزروعة عالداير نار وبواريد‬ ‫قلتلن بلدنا عم يخلق جديد‬ ‫لبنان الكرامة والشعب العنيد‬ ‫كيف ما كنت بحبك‬ ‫بجنونك بحبك‬ ‫اذا نحنا تفرقنا‬ ‫بيجمعنا حبك‬ ‫وحبة من ترابك‬ ‫بكنز الدنى‬ ‫وبحبك يا لبنان‬ ‫يا وطني‬

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Dangerously Free Merve Terzi

During my research on Lebanon, I read a lot about Beirut being quite famous for its Gay Tourism within the Middle

East. This caught my interest and I wanted to dive into the scene and subject. I met Joseph Aoun, the former manager of a popular gay bar called ‘Bardo’, who gave me a personal and political insight into Beirut as a homosexual. Are you open about your sexual orientation? Does your family know? Yes Also friends of the family? Yes, everyone. I mean even the Lebanese State. As I mentioned, I am an Activist. I’ve been called upon by the Lebanese Army Intelligence, where they blindfolded me, and questioned me for six hours about my sexual orientation. It was very humiliating. They questioned me about how I hide my homosexuality, if I have sex, if they fuck me from behind, if I suck dicks or if my brother manipulated me when I was a kid or sexually harassed me. Yeah, I mean, I had my share. But they didn’t do anything? No, beyond that no. I studied law and I have a masters degree in diplomacy. So, they know that I am not stupid. Only, they brought in my father and asked him: “Do you know your son is a faggot?” And my father was like: “My son believes in what his human rights and obligation are.” So, that helped as well, because, you know, if you are not open, they would focus on humiliating you when they want to. If you are openly gay it gets much easier. I mean, they are going to humiliate you anyway, but if you have a certain social background, where you are connected and you know people, this helps. They know that I am connected to other activists, so they didn’t hit or touch me. There was no public sex, no prostitution, no drugs, so, they didn’t have anything on me and couldn’t punish me.

What is your religion? I am Christian. Is there a difference in the scene between Muslim and Christian homosexuals? Frankly, I’m not sure about these stereotypes, because my ex-boyfriend used to be Muslim and he was 20 years older than me. He’s Shia, he’s atheist and he lives in a Sunni kind of area, not fanatic, but very conservative area. You know, in populated areas you have more religions. And he has lived there all his life and they know that he is gay. We have never faced a problem with our relationship, we always walked together, I used to carry a bouquet of flowers. I’ve never been insulted, you know, someone even flirted with me on the street. So I don’t believe that there is this differentiation. If you go to the mountains in Lebanon, where people talk, everybody knows, they would know that this man sleeps with men. What matters in Lebanon is, that you don’t break the gender stereotypes. If you are gay and you are very feminine, people would insult you on the street. What is the meaning of natural love mentioned in the Lebanese law? In the article 534 of the Lebanese penal code it states that it is a second degree crime for every sexual act that is against nature. I think they are all against the gay scene. The thing is that you don’t have political Christianity as you have political Islam.

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For example, in the southern suburbs you have Hesbollah, which is an Islamic party and they try as much as they can to follow the Islamic Law. If you look at the street, you would think the Christians are more moderate, more open-minded, because you know, they are always looking to the West, trying to adapt. Frankly, I don’t think that’s the case, you just have different ways of coping. My relationship with my Muslim ex was very informative for me. I met his female friends, some are divorced and have a very active sex life. They live in a very Islamic society, but they are very open. Compared to my mother, who is a conservative Christian, who when questioned if she has sex with my father, she would answer ‘shh, stop these questions’. I think in Islam they say something like, I don’t know if I say it right: ‘If something bad happens with you, then cover it up.’ That is common talk. Do whatever you want but don’t put it in the face of society. In my experience, there was less hypocrisy and more tolerance in the Islamic history than in Christian history. This also applies to the districts, in Hamra or other Muslim districts I felt more free there, than in Christian districts. I thought it would have been different. I am always amazed, there is this line that goes from Hamra to Mar Mikhael. It’s the nightlife and alternative artistic district, which is open. I think the same contradiction exists in Istanbul. The two cities are alike in joining the East and the West, wanting to be European but they are oriental. This is why there is no total understanding of what is freedom and what is openness, what is tolerance and what is liberalism. Would one go to a hamam to have sex? Yeah, I mean, I don’t like it, but yeah one would go there to see strangers.

Really? There is this guy in Istanbul that I know, and he called and asked ‘where are you?’. I said ‘I just finished at the hamam’ and he goes ‘are you crazy? They raided it last week.’ Even in Istanbul, they raid the hamams. Amazing. It’s a survival mechanism. You don’t have rights in our countries, even though the law states it. Your rights can be revoked by anyone, anytime. Our culture is not used to it. It’s like the laws of the jungle. Have you ever been to Berlin? No, not yet. But it’s a dream. Have you heard about Berghain? Yeah, but the dream, it’s not because of Berghain. I like the alternative, underground scene. I am asking because you are now the manager of a gay club here in Beirut? Yes. And you managed the Bardo Bar before, right? Yes, I managed Bardo for seven years. Bardo became a legacy during my time there. Bardo has a history and a lot of memories in people’s minds. It’s a very distinguished gay bar, because usually gay bars are very crabby and shitty, but Bardo is decent, you feel there is a good positive vibe inside. I quit Bardo, because there was a change of the owner. Then, I wrote a book, it’s a love story between two men in Beirut. Impressive. Are you going to publish it? I don’t think anyone would publish it for me, but I think I will publish it on my own. It’s a very gay book, very blunt, not pornographic, but there is sex. Are there similar books yet? No, not yet.

»This is why there is no total understanding of what is freedom and what is openness, what is tolerance and what is liberalism.«

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If you could describe Beirut as a homosexual in one sentence, what would it be? I think it would be ‘dangerously free’. It’s not freedom that is related to happiness, it’s the freedom that you reach across the region. You are at risk at any time, but able to afford it. As humans, we like challenges. The tension between happiness, danger and freedom - I think this is Beirut. It’s a human city. What makes it special are the people who are trying to change something, who are helping and fighting for the rights of minorities. Thank you very much. Thank you.

*NGO Helem is a Lebanese non-profit organisation working on improving the legal and social status of lesbian, gay, bisexual and transgender people (LGBT). Helem is the first LGBT advocacy group in the Arab World. Helem means dream in Arabic. **haida is commonly used to fill in the blanks ***Joseph has also a blog called ‘Angry Tinkerbell’ where he writes about general and personal issues concerning a life as a homosexual.

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Das war also Sabrá Rosanna Leimbach

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Beirut, 30. Mai 2016

Sonntagnacht, der Tag hatte schon ohne viel Schlaf begonnen, und nun war es schon wieder zwei Uhr. Aber es war meine letzte Nacht, die Müdigkeit sollte unter keinen Umständen über meine Neugierde siegen. Wir fuhren durch die Straßen von Beirut auf der Suche nach etwas zu essen für die drei Jungs. Sie erzählten von einem Kebabspieß aus Sucuk, einer kräftig gewürzten Wurst. Zu meiner Verwunderung waren in der Stadt, die für mich niemals zu schlafen schien, meistens nur dunkle Restaurants und Cafés zu sehen. Die sonst so wilden, lauten Straßen waren zur Ruhe gekommen. Die Hupen waren nahezu verstummt. In der Dunkelheit der hohen Häuserblöcke flackerten die Straßenlaternen, ein paar LED-Schilder und die Anzeigen der Taxis. Fußgänger gab es keine mehr, die einzigen Menschen auf den Straßen hielten ihr Gewehr fest vor der Brust und standen neben den aufgetürmten Sandsäcken, die auf den rot-weiß lackierten Tonnen lagen. Das bevorzugte Restaurant hatten wir nach einer Weile gefunden, es war jedoch gerade dabei zu schließen. Obwohl der Hunger bald jeden Anspruch an den Mitternachtssnack vertrieben hatte, dehnte sich unsere Suche auf den südlichsten Stadtrand Beiruts aus. Dort sah ich ein anderes Beirut als in den Nächten zuvor. Wir gerieten unangenehm spürbar in das Blickfeld der dunklen Gestalten, die sich auf der Straße aufhielten, als hätten sie den Einbruch der Nacht nicht bemerkt. Zaka bat mich, das Fenster zu schließen.

»Vielleicht werfen die etwas rein, Granaten ... man weiß nie. Alles denkbar.« Als wir in den beengten Straßen ins Schritttempo gerieten, drückte ich auch den Knopf der Tür herunter. Ein Meer aus Wellblechhütten tat sich vor uns auf. Es erinnerte mich an Szenen aus den marokkanischen Suks oder dem alten polnischen Grenzmarkt. Unter den Reifen des Leihwagens knackte es laut, es knirschte und quietschte. Es gab keinen Quadratmeter, der nicht von Glas, Flaschen, Kisten oder unidentifizierbaren Abfällen bedeckt war. Vor unseren Scheinwerfern tummelten sich zerzauste Hunde, und Katzenaugen funkelten böse, als das Licht sie traf. Trotz der Uhrzeit standen dort meterlang aneinandergereihte Tische mit zum Verkauf angebotener Ware unter blanken, gakelig herabhängenden Glühbirnen. Massen an Jogginghosen und gefälschten Markenschuhen lagen hier neben allerlei Haushaltszubehör und unappetitlichen Lebensmitteln. In der Nähe jedes Standes saß eine kleine Gruppe düster wirkender Männer, deren kontrollierende Blicke mich trafen und immer tiefer in den Sitz sinken ließen. Wir hangelten uns von Lichtkegel zu Lichtkegel. Wann war dieser Bezirk endlich zu Ende? Die endlos wirkende Straße war an einer Stelle plötzlich von einem überdimensional großen Müllberg blockiert, mitten im Weg und so hoch wie unser Auto. Die Ausläufer reichten bis zum Gehweg, über den es uns gerade so gelang vorbeizukommen und ein Anhalten zu vermeiden. Die Blicke begleiteten uns weiterhin unaufhörlich, bis wir es nach dem Passieren eines letzten Wachpostens dann endlich aus dem Viertel geschafft hatten. Fenster auf, Luft holen. Mit der zunehmenden Geschwindigkeit, die uns immer weiter von diesem Stadtteil entfernte, sank nun auch mein Puls wieder auf ein Normaltempo. Das war also Sabrā.

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Johanna zum Felde

Aline Baumann

Phillip Helmke

Lilian Leupold

Merve Terzi

Pia-Donata Pach

Rosanna Leimbach

Matthias Leupold


Alexander Blumhoff Choucki Abinakle

Sandra Krüger

Jean Viesi

Anna Hammer

Rana Öztürk

Marie Séférian

Dani Habchi


Danke ⅼ Thank you ⅼ Shukran

Alexander Blumhoff mail@alexander-blumhoff.com Aline Baumann aline.baumann@gmx.ch Anna Hammer anna.katharina.hammer@gmail.com Marie Séférian marie.seferian@gmail.com Matthias Leupold matthiasleupold@gmx.com Merve Terzi ece.merve.terzi@gmail.com Lili Leupold lilianleupold@gmx.de Pia-Donata Pach piadonatapach@gmail.com Phillip Helmke phillip.helmke@web.de Rana Öztürk rana.oeztuerk@gmail.com Rosanna Leimbach rocale@web.de Sandra Krüger sandrakrueger.photo@gmail.com Jean Viesi jeanviesi@gmail.com Johanna zum Felde jzfelde@gmail.com



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