Die letzte Bohémienne. Eliška Barteks surreale Reise durch Raum und Zeit

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Eliška Barteks

surreale Reise durch Raum und Zeit

Die letzte Bohémienne

Eliška Barteks surreale Reise durch Raum und Zeit

letzte Die Bohémienne

Eliška Barteks

surreale Reise durch Raum und Zeit

Eliška Bartek. Fotografie als Ausdruck der Seele

Eliška Bartek, 1950 in Nový Jičín geboren, erlebt als Schülerin den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes, der den Prager Frühling und die damit verbundene Aufbruchsstimmung im August 1968 in der damaligen Tschechoslowakei mit Waffengewalt jäh beendet. Sie entscheidet sich 1972, ihr Land zu verlassen. Die sorgfältig geplante und vorbereitete Flucht erfolgt in einem Auto, gefangen in einem engen Versteck zwischen Rücksitz und Gepäckraum, führt sie nach Deutschland und später in die Schweiz.

In Zürich studiert sie an der damaligen Kunstgewerbeschule (heute Zürcher Hochschule der Künste) und an der 1971 neu gegründeten F+F Schule für experimentelle Gestaltung (heute F+F Schule für Kunst und Design) und stellt seit den 1980er Jahren international aus. Heute lebt die Künstlerin in Berlin und im Tessin, unweit des Monte Verità in Ascona, wo ganz zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Aussteiger-Kolonie entstand, die Kunstschaffende, Intellektuelle und andere Zivilisationsmüde jeglicher Couleur anzog, die abseits der grossen Städte auf der Suche nach alternativen, naturnahen Lebensformen waren.

Vermutlich war es kein Zufall, dass Eliška Bartek sich in der Nähe des Monte Verità niederliess, wo sich einst ein schillerndes kulturelles Geflecht entwickeln konnte, denn in ihr selbst scheint etwas vom bohemienhaften, grenzgängerischen Impuls der Moderne weiterzuleben. Zur Künstlerin passt auch, dass sie eine eigene Sammlung von Fotografien der tschechischen Avantgarde besitzt, nicht zuletzt eine Hommage an Kunstschaffende früherer Generationen, die ihr den Weg gewiesen haben.

Die auf die historischen Räume der Max Wandeler Stiftung in Luzern sorgfältig abgestimmte Ausstellung sowie die Publikation, die sie begleitet, weisen erstmalig auf diesen Zusammenhang hin. Sie verbinden unterschiedliche Generationen und Sichtweisen und stellen den Fotoarbeiten Eliška Barteks ausgewählte historische Werke aus der Sammlung der Künstlerin gegenüber. Eines der ältesten Werke aus dieser Sammlung stammt vom tschechischen Chemiker und Fotografen Jan Böhm, der die Struktur von Kristallen mittels Röntgenstrahlen erforschte und unter anderem Experimente im Labor fotografisch dokumentierte. Die fein verästelte Struktur auf einer auf die 1910er Jahre zu datierenden, äusserst kleinformatigen und zukunftsweisenden Elektrofotografie (S. 50) stellt die Elektrizität dar, ein Thema, das den japanischen Fotografen Hiroshi Sugimoto fast ein

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Jahrhundert später als Künstler beschäftigen und ihn zu der Serie Lightning Fields inspirieren sollte, in der eine elektrische Ladung aus einem Generator direkt auf das Filmmaterial übertragen wurde.

Die Fotogramme, Chemigramme und Clichés verre sind ein bisher wenig bekannter Aspekt in Eliška Barteks Oeuvre. Bemerkenswert an ihnen ist, dass sie im digitalen Zeitalter entstanden. Die Künstlerin orientiert sich in dieser Werkgruppe an einem spezifischen Ort der analogen Fotografie, den sie keineswegs als ein abgeschlossenes Kapitel der Kunst- oder Fotogeschichte betrachtet. Sie untersucht eine selten begangene, unverbrauchte Nische dieses Mediums und gelangt mit dieser künstlerischen Strategie zu eigenständigen Bildfindungen. Doch: Was charakterisiert diese Techniken?

Das Fotogramm entsteht durch die direkte Belichtung lichtempfindlicher Materialien auf die zuvor Objekte ausgelegt wurden und tritt zu Beginn der Geschichte der Fotografie auf. Ein frühes Beispiel dieser Technik sind die Tafeln im dreibändigen Werk Photographs of British Algae: Cyanotype Impressions der englischen Botanikerin Anna Atkins von 1843— 53 die dafür das Verfahren der Cyanotypie nutzte. Ihre Fotogramme sind Blaupausen, die detaillierte weisslich-blaue Pflanzenschatten auf einem leuchtend blauen Grund zeigen, negative Abbilder der Objekte, die sie primär aus wissenschaftlichem Interesse sammelte und klassifizierte. Heute sind sie darüber hinaus aus künstlerischer Sicht von Belang.

Das Cliché verre, eine Mischform zwischen Fotografie und Druckgrafik und primär eine Reproduktionstechnik, die nie wirklich populär wurde und bald von anderen Techniken verdrängt wurde, erlebte um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich als künstlerisches Medium bei Jean-Baptiste-Camille Corot eine kurze Blütezeit. Für ein Cliché verre ist ein manuell hergestelltes Negativ auf einer Glasplatte erforderlich, das belichtet wird, nachdem diese auf lichtempfindliches Papier gelegt wurde. Dabei kann in eine lichtundurchlässige Schicht auf der Platte eine Zeichnung eingeritzt werden oder mit einem Pinsel eine Emulsion auf die Platte aufgetragen werden, um malerische Effekte zu erzielen.

Bei Eliška Barteks Fotogrammen und Clichés verre gibt es Reihen von formal und motivisch verwandten Arbeiten, die unbetitelt sind, aber mit einem übergreifenden Titel wie Matterhorn zu einer Gruppe zusammengefasst werden. Das Matterhorn ist seit dem Aufkommen des Tourismus Symbol und Projektionsfläche von Wünschen und Sehnsüchten. Andrerseits ist das — lange vor Instagram — millionenfach reproduzierte Sujet abgenutzt und banalisiert. Ein Motiv, das im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit seine Unschuld längst verloren hatte, um Walter Benjamin zu paraphrasieren, umgibt bei Eliška Bartek eine neue Aura. So ist in einigen Fotogrammen Gefaltetes so ausgelegt und mit

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anderen Elementen kombiniert, dass die Komposition eine in der Mittelachse platzierte, pyramidenförmige dunkle Bergspitze suggeriert, die den oberen Bildrand fast berührt (S. 17), während sich in anderen Werken der Serie diese vermeintlich feste Form fast gänzlich auflöst, kaum gegenständlich gelesen werden kann (S. 19). Die unterschied lichen Grauwerte werden durch Mehrfachbelichtung erzielt, nachdem einzelne Elemente der Konstellation entfernt wurden.

Andere Arbeiten, in denen es ebenfalls darum geht, Kombinationen unterschiedlicher Bildelemente auf einer Fläche zu erproben, knüpfen stilistisch an historische Fotogramme von führenden Kunstschaffenden der tschechischen Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre und anderen Strömungen wie Dada oder Neues Sehen an. In der kameralosen Fotografie dieser Zeit geht es nicht mehr um Dokumentation. Sie ist in einem Kunstkontext zu verorten, sei es in Fotografien wie Jaromír Funkes Stillleben mit einem Seestern und Kolibri, 1927 (S. 59) oder in Jaroslav Rösslers Optische Studie, 1947 (S. 61), das auf der Reduktion auf wenige Elemente basiert und nicht mehr ist als eine helle Silhouette mit stachlig spitzen Formen vor einem differenzierten, dunklen Grund. Aus Eliška Barteks intuitivem Spiel mit dem appropriierten surrealistischen Formenvokabular resultieren individuelle künstlerische Leistungen. Zu erkennen sind darauf, neben Knäueln und zerknitterten Gebilden, die sich dem raschen interpretatorischen Zugriff entziehen, eine Akkumulation feiner Streifen oder Bänder sowie Vogelfedern und Flecken einer pudrigen Substanz (S. 21).

Eliška Barteks Chemigramm aus der Serie Ode an meine Mutter, ein Schatten, ein maskenhaftes menschliches Antlitz mit geschlossenen Augen und offenem Mund, ein ungeschöntes, zeichenhaftes Erinnerungsbild ohne individuelle Züge, ist existentiell, subjektiv — ein vieldeutiges Resonanzfeld (S. 23). Es handelt von Verlust, Mitgefühl und Verbundenheit.

Vergänglichkeit ist das Thema der Notationen gegen das Vergessen mit ihren horizontal geschichteten Flächen oder Bändern und einer mehr oder weniger sichtbaren Struktur feiner Linien. Eine baut auf einem lyrischen Grundton auf, malerisch wie ein ungegenständliches Aquarell auf dunklem Grund (S. 27), auf einer weiteren gibt es grössere Flächen in blendendem Weiss, wie Übermalungen, die Aufzeichnungen auslöschen (S. 29). Oder sind es Notenlinien einer Partitur, die wir sehen, und die mehr und mehr verschwindet, unlesbar wird? Streifen, Tropfen, Kleckse und Spritzer sind formale Elemente der Malerei des Informel, und Linien und Raster mit einer bildfüllenden All-over-Struktur ohne räumliche Wirkung wie auf (S. 31) finden sich in der Kunst der 1960er und 70er Jahre. So einfach lassen sich diese eigenständigen Arbeiten, in denen jede Spur wichtig werden kann, indessen nicht ableiten. Bereits Leonardo da Vinci empfahl, sich von Unregelmässigkeiten und zufällig vorhandene Flecken auf einer Mauer inspirieren zu lassen und sie

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als Kompositionsgrundlage zu nutzen. Diese Idee wurde im 19. Jahrhundert wieder aufgenommen und fand im Surrealismus einen Höhepunkt. Zufallsphänomene und unbestimmte Formen gibt es im Übrigen bei Miloš Koreček in Werken, bei denen er sich eines Verfahrens bediente, auf das er durch Zufall gestossen war, wie Fokalk, 1985 (S. 67), und bei Vilém Reichmann im Zyklus Territorien, 1960 (S. 69). Beide Künstler gehörten in den 1940er Jahren zur kurzlebigen tschechischen Künstlergruppe Ra, die sich bis zu einem gewissen Grad am Surrealismus von André Breton orientierte.

Der Durchbruch zum schwarzen Nichts erfolgt energisch und zupackend in Blättern, wo eine Gefühlswelt mittels dichter Lagen von impulsiv ausfahrenden, sich überkreuzenden horizontalen und vertikalen Linien kartiert wird (S. 33); manchmal begleiten transparente Lila- und Brauntöne das sonst dominierende Schwarz-Weiss (S. 37). Sie sind Ausdruck einer momentanen psychischen Verfassung, es gibt kein vergeistigtes oder konzeptuelles Abwägen, kein sachliches Ausmessen der Bildfläche. Im Titel klingen Gewalt und Aggression an, aber ein Durchbruch ist immer auch befreiend.

In ihren Gedichten bewegt sich die Künstlerin zwischen Realität und Imagination, wie in einem surrealen Traum. Sie erlauben einen Einblick in die Gefühlswelt der Künstlerin und geben diesen Gefühlen eine Form. Eliška Bartek beschreibt einen Wochenendausflug im Weltall, oder wie sie auf dem Meeresgrund zu Fuss zu einem anderen Kontinent gelangen möchte und sich beim Wandern über Korallen blutige Füsse holen will, und erwähnt dabei weder Taucher- noch Astronautenanzug.

Reisen durch den interstellaren Raum — das sternferne Weltraumgebiet innerhalb einer Galaxie — werden häufig in Zukunftsromanen thematisiert; die grenzüberschreitende Sonde Voyager 1 der NASA war 2012 das erste Raumfahrzeug, das den interstellaren Raum erreichte. Somit befinden wir uns in dem mit Entwickler und Fixativ ‚gemalten‘ Chemigramm Sehe den interstellaren Raum durchtrennt (S. 39) quasi am Schnittpunkt zwischen Science-Fiction und Wissenschaft, wo sich Realität und Fiktion berühren.

In all diesen Werken entwickelt Eliška Bartek eine künstlerische Strategie, die Züge der antibürgerlichen, kosmopolitischen Entgrenzung der historischen Avantgarde trägt und keine akkuraten Antworten erlaubt. Aber befinden wir uns nicht auch in der Welt von Kapitän Nemo in Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer oder beim Astronauten Major Tom in David Bowies Space Oddity, die — voller Entdeckungslust — neugierig und getrieben auf der Suche nach absoluter Freiheit sind und zugleich verletzlich, eingeschlossen in ihren ebenso bergenden wie beengenden Kapseln?

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Eliška Bartek. Photography as an Expression of the Soul

As a student, Eliška Bartek, born in Nový Jičín in 1950, witnessed the invasion of the Warsaw Pact troops, abruptly ending the Prague Spring and the associated sense of renewal in August 1968 in former Czechoslovakia through armed force. In 1972, she made the decision to leave her country. The carefully planned and prepared escape, with the artist hiding in a car compartment between the rear seat and the trunk, led her to Germany and later to Switzerland.

In Zurich, she studied at the former Kunstgewerbeschule (now Zürcher Hochschule der Künste) and at the newly founded F+F Schule für experimentelle Gestaltung in 1971 (now F+F Schule für Kunst und Design), and has been exhibiting internationally since the 1980s. Today, the artist resides in Berlin and in Tessin, near Monte Verità in Ascona, where, at the beginning of the 20th century, a colony of non-conformists emerged, attracting artists, intellectuals, and those weary of civilization seeking alternative, nature-oriented lifestyles away from major cities.

It is likely not a coincidence that Eliška Bartek settled near Monte Verità, where a vibrant cultural network once thrived. Within herself, there seems to be a lingering bohemian, boundary-pushing impulse of modernity. It is befitting for the artist to possess her own collection of photographs from the Czech avant-garde, serving as a tribute to the artists of earlier generations who paved the way for her.

The exhibition, meticulously curated for the historical spaces of the Max Wandeler Foundation in Lucerne, along with the accompanying publication, mark the first acknowledgment of this connection. They bring together various generations and perspectives, juxtaposing Eliška Bartek's photographic works with selected historical works from the artist's collection. One of the oldest pieces in this collection originates from the Czech chemist and photographer Jan Böhm, who researched the structure of crystals using X-rays and documented laboratory experiments through photography. The intricately branched structure depicted in an extremely small-scale and pioneering Electrophotograph dating back to the 1910s (p. 50) represents electricity, a theme that would captivate Japanese photographer Hiroshi Sugimoto almost a century later and

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inspire his Lightning Fields series, in which an electrical charge from a generator was directly transferred onto film material.

The photograms, chemigrams and clichés verre represent a lesser-known aspect of Eliška Bartek's oeuvre. What makes them remarkable is that they originated in the digital age. In this body of work, the artist explores a specific realm of analog photography, one she does not consider a closed chapter in the history of art or photography. She delves into a rarely accessed, unexplored niche of this medium, arriving at unique visual discoveries through her artistic strategy. But what characterizes these techniques?

The photogram is created by directly exposing photosensitive materials onto objects laid out beforehand and dates back to the early history of photography. An early example of this technique is found in the three-volume work Photographs of British Algae: Cyanotype Impressions by English botanist Anna Atkins from 1843—53, who used the cyanotype process. Her photograms are blueprints, displaying detailed whitish-blue plant shadows on a vivid blue background—negative representations of the objects she collected and classified primarily out of scientific interest. Today, they are also significant from an artistic perspective.

The cliché verre, a hybrid form of photography and printmaking and chiefly a reproduction technique that never gained widespread popularity, experienced a brief heyday in mid-19th century France as an artistic medium with Jean-Baptiste-Camille Corot. Creating a cliché verre requires a manually crafted negative on a glass plate, which is exposed after being placed on photosensitive paper. A drawing can be scratched onto an opaque layer on the plate, or an emulsion can be applied with a brush to achieve painterly effects.

Eliška Bartek's photograms and clichés verre include series of formally and thematically related works, untitled but grouped under overarching titles such as Matterhorn. The Matterhorn has been a symbol and projection screen for desires and yearnings since the advent of tourism. On the other hand, the subject was reproduced millions of times, long before Instagram, thus having become commonplace and banal. However, through folded elements and combinations, the motiv acquires a new aura in Eliška Bartek's work. Some photograms suggest a pyramid-shaped dark mountain peak placed in the center line, almost touching the upper edge of the image (p. 17), while in other works of the series, this seemingly solid form almost completely dissolves, becoming challenging to interpret (p. 19). Various shades of gray are achieved through multiple exposure after removing individual elements from the constellation.

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Other works, focusing on experimenting with combinations of different visual elements on a surface, stylistically build on historical photograms of leading Czech avant-garde artists of the 1920s and 1930s and other movements such as Dada or New Vision. Camera-less photography of this period was no longer about documentation but rather located in an art context, be it in photographs such as Jaromir Funke's Still Life with a Starfish and Hummingbird, 1927 (p. 59) or in Jaroslav Rössler's Optical Study, 1947 (p. 61), which is based on reduction to a few elements and amounts to no more than a light-colored silhouette with spiky, pointed forms against a nuanced dark background. Eliška Bartek's intuitive play with appropriated surrealist visual vocabulary results in unique artistic achievements. Among tangled and crumpled formations, resisting quick interpretative access, one can discern accumulations of fine stripes or bands, as well as bird feathers and spots of a powdery substance (p. 21).

Eliška Bartek's chemigram from the series Ode an meine Mutter (Ode to my Mother), featuring a shadow, a mask-like human face with closed eyes and an open mouth, is existential, subjective—a multi-faceted sounding board (p. 23). It speaks of loss, compassion, and affinity.

Impermanence is the theme of Notationen gegen das Vergessen (Notations Against Forgetting) with horizontally layered surfaces or bands and a more or less visible structure of fine lines. One work builds on a lyrical tone, painterly like an abstract watercolor on a dark background (p. 27), while another presents larger areas in glaring white, like overpaintings erasing records (p. 29). Are we perhaps seeing musical score lines, gradually becoming illegible? Stripes, drops, smudges, and splatters are formal elements of Informel painting, and lines and grids with an image-filling all-over structure lacking spatial effect, as seen in (p. 31), can be found in the art of the 1960s and 70s. However, these independent works, in which every trace can gain significance, are not so easy to derive. Leonardo da Vinci already recommended taking inspiration from irregularities and random patches on a wall and using them as a basis for composition. This idea resurfaced in the 19th century and reached its peak in Surrealism. Random phenomena and indeterminate forms can also be found in Miloš Koreček's works, in which he used a process he had come across by chance, such as Fokalk, 1985 (p. 67), and in Vilem Reichmann's Territorien cycle, 1960 (p. 69). Both artists were part of the short-lived Czech artist group Ra in the 1940s, which, to some extent, was guided by André Breton's Surrealism.

The Durchbruch zum schwarzen Nichts (Breakthrough to the Black Nothingness) occurs energetically and forcefully in works where a world of feelings is mapped by dense layers of impulsively extending, intersecting horizontal and vertical lines (p. 33); sometimes dark

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brown tones accompany the otherwise dominant black and white (p. 37). They express a momentary psychological state; there is no spiritual or conceptual consideration, no objective sizing of the picture surface. The titles may suggest violence and aggression, but a breakthrough is always liberating.

In her poems, the artist moves between reality and imagination, much like a surreal dream. They offer insight into the artist's emotional world and lend form to these feel ings. Eliška Bartek describes a weekend trip in outer space or how she wants to reach another continent on the ocean floor by foot, intending to get bloody feet while walking on corals, mentioning neither a diver's suit nor an astronaut's.

Journeys through interstellar space—the distant space within a galaxy—are often addressed in futuristic novels; NASA's Voyager 1 probe was the first spacecraft to reach interstellar space in 2012. Thus, in the chemigram Sehe den interstellaren Raum durchtrennt (See the Interstellar Space Severed) (p. 39), which was 'painted' with developer and fixer, we find ourselves at the intersection of science fiction and science, where reality and fiction converge.

In all of these works, Eliška Bartek develops an artistic strategy that carries traces of the historical avant-garde's anti-bourgeois, cosmopolitan dissolution of boundaries and allows for no precise answers. But are we not also in the world of Captain Nemo in Jules Verne's 20,000 Leagues Under the Sea or with astronaut Major Tom in David Bowie's Space Oddity—curious and driven, searching for absolute freedom, yet vulnerable and enclosed in their equally protective and confining capsules?

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Wochenende im Weltall

Ich war im Welttall nur schnell übers Wochenende. Saß auf einer Gaswolke In der Milchstraße. Die kennt ja jeder. Trank in der Bar „Sternschnuppe“ einen Heliumcocktail Rauchte und schaute zu der Erde Wie die sich dreht.

In der dunklen Zone standen die Verbotenen die Ausgewiesenen die Galaxien mit kurzen Röcken Mit Highheels an dünnen Beinen. Schlecht geschminkt stehen da und warten auf den Kosmos. Nach zehn Minuten Sex bekommen sie ein bisschen kosmischen Staub.

Ich irre umher in Astrokramkrise Mit einem All als meinem Begleiter.

Möchte dir die Sterne pflücken mit einer dunklen Materie zusammengebunden strahlend beleuchtet mit Sonnenmassen Zeit, Materien und Energie Als Grünes zu dem Sternenstrauß.

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Schön hier!

Allein durch den Kosmos irrend Leicht wie eine Feder Ganz verloren in dem Nichts

Nur Dunkel und die Sterne Und die Milchstraße.

Kann mich nicht orientieren

Ich fliege umher mit Lichtgeschwindigkeit In die dunkle Materie

Sehe nichts als Planetensysteme

Gasnebel

Staubwolken

Habe eine Stauballergie und niese in der Gegend herum.

Oh nein, oh nein!

Wo ist die Erde?

Ich wollte dir doch den Blumenstrauß aus Sternen bringen mit dunkler Materie zusammen gebunden strahlend beleuchtet mit Sonnenmassen Zeit, Materien und Energie als Grünes zu dem Sternenstrauß.

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Weekend in the Cosmos

I found myself in outer space, just for a fleeting weekend. Perched upon a gas cloud, in the Milky Way. Everybody knows it. Sipping a helium cocktail in the bar "Shooting Star" I smoked and gazed towards Earth, watching it spin.

In the dark zone stood the forbidden, the outcasts, galaxies in short skirts, high-heels on skinny legs. Poorly made up, they linger, waiting for the cosmos.

After ten minutes of sex they get a bit of cosmic dust.

I wander aimlessly in an astro-stuff crisis, with a universe as my companion.

I wish to pluck stars for you, bound together with dark matter, radiantly illuminated by solar masses, time, matter, and energy as greenery for the star bouquet.

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It's nice here!

Alone, meandering through the cosmos, light as a feather, completely lost in the void, only darkness and the stars, and the Milky Way.

I cannot find my bearings, I fly around at the speed of light, into the dark matter, seeing nothing but planetary systems, gas nebulae, dust clouds.

I suffer from a dust allergy and sneeze all over the place.

Oh no, oh no!

Where is Earth?

I wanted to bring you a bouquet of stars, bound with dark matter, radiantly illuminated by solar masses, time, matter, and energy as greenery for the star bouquet.

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Ohne Titel, 2010. Serie: Matterhorn. Fotogramm
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Ohne Titel, 2010. Serie: Matterhorn. Fotogramm
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Ohne Titel, 2011. Fotogramm
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Ohne Titel, 2011. Serie: Ode an meine Mutter. Chemigramm
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Ohne Titel, 2010. Serie: Notationen gegen das Vergessen. Cliché verre
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Ohne Titel, 2010 Serie: Notationen gegen das Vergessen. Cliché verre
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Ohne Titel, 2010. Serie: Notationen gegen das Vergessen. Cliché verre
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Ohne Titel, 2010. Serie: Notationen gegen das Vergessen. Cliché verre
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Ohne Titel, 2011. Serie: Durchbruch zum schwarzen Nichts. Cliché verre
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Ohne Titel, 2011. Serie: Durchbruch zum schwarzen Nichts. Cliché verre
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Ohne Titel, 2011. Serie: Durchbruch zum schwarzen Nichts. Cliché verre
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Ohne Titel, 2011. Serie: Sehe den interstellaren Raum durchtrennt. Chemigramm
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Ohne Titel, 2011. Serie: Sehe den interstellaren Raum durchtrennt. Chemigramm
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Ohne Titel, 2010. Serie: Mehrdimensionale Karte eines Terrains. Cliché verre
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Ohne Titel, 2011. Cliché verre
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Ohne Titel, 2011. Serie: Amore nella valle di lacrime. Fotogramm
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Ohne Titel, 2011. Chemigramm
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52 Jan Böhm. Elektrofotografie, 1915-1918
Tschechische Fotografie im Dialog. Sammlung Eliška Bartek

Auf dem Meeresgrund gehen

Ich würde gerne im Meer gehen zu einem anderen Kontinent. Am Meeresboden laufen untergegangene Schiffe sehen rostig im Sand auf dem Grund liegend Schicksale verborgen da drin begraben mit der Hoffnung ertrunken mit der Liebe gestorben mit den Tränen.

Ich möchte an den Korallen meine Füße mir zerschneiden mit dem Blut das Meer rot färben und gehen.

Kilometerweit tief

Die Muscheln sehen mit Gewalt aufbrechen die Perle suchen die farbigen Fische küssen den Hauch vorbei Schwimmender spüren und gehen und gehen ...

Ich will zu dem Kontinent kommen. Das Meeresgras langsam sich bewegen spüren ein Hauch der Erinnerung in der Wiege der Wellen ein Tanz der langsame Walzer.

Und gehen und gehen

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Auf dem Meeresgrund den Sand schon überall Augen Mund und Ohren verklebt

Doch ich muss gehen zu dem Kontinent

Ich muss!

Mir kommen Tränen salzig wie das Meer

Ich sehe sie nicht

Ich spüre sie nicht

Ich irre umher suche den Kontinent ...

Wie lange noch?

Warum?

Doch nicht fragen!

Gehen, gehen

Der Mond scheint fahl

Ich sehe die Schatten fahl die Sterne fallen in das Meer

Ich gehe und gehe

Doch dann kommt die Sonne erhellt das Meer und ich frage nicht mehr …

Ich gehe …

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Walking on the Ocean Floor

I wish to stroll beneath the sea, towards another continent. To walk on the ocean floor, see sunken ships rusting in the sand below, fates concealed within, buried with hope, drowned in love, perished with tears.

I long to cut my feet on the corals, stain the sea red with my blood, and walk.

Miles deep, behold the shells, force them open, seek the pearl, kiss the colorful fish, feel the breeze of passing swimmers, and walk and walk ...

I want to reach that continent. Feel the sea grass gently sway, a breath of memory in the cradle of waves, a dance, the slow waltz. And walk and walk ...

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On the ocean floor, sand everywhere, eyes, mouth, and ears glued shut.

But I must walk, to that continent. I must!

Tears well up, salty as the sea. I can't see them, can't feel them, I wander, searching for the continent ...

How much longer?

Why?

Don't ask!

Walk, walk.

The moon shines faintly, I see faint shadows, the stars descend into the sea.

I walk and walk.

Then the sun appears, illuminates the sea, and I ask no more ...

I walk ...

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František Drtikol. Akt, 1929
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Jaromir Funke. Stillleben mit Seestern und Kolibri, 1927
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Jaroslav Rössler. Optische Studie, 1947
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Jan Saudek. Herr Kar, der Lehrer, unterrichtet sie, um 1998
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Miroslav Tichy. Ohne Titel, 1960-1980
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Milos Koreček. Fokalk, 1985
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Vilém Reichmann. Ohne Titel, 1960
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Jaroslav Rössler. Ohne Titel, 1978
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Impressum

© Max Wandeler Stiftung 2024

Alle Rechte vorbehalten

© Bilder bei den Autoren

Kurator und Autor

Dr. Marco Obrist

Herausgeber

Gunther Dietrich, Tomás Rodríguez Soto

Lektorat und Übersetzung

Lisa Contag

Gestaltung

Tomás Rodríguez Soto

Presse

Ute Weingarten, Artpress Berlin

Druck

FINIDR s.r.o.

Erschienen bei

Max Wandeler Stiftung, Luzern

In Zusammenarbeit mit Photo Edition Berlin

Auflage

300 nummerierte Exemplare

Sonderedition

25 + 3 A.P. nummerierte und signierte Exemplare mit Fine Art Print

Printed in Czech Republic

ISBN 978-3-947451-14-2

Exemplar #:

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Vermutlich beruht es nicht auf einem Zufall, dass Eliška Bartek sich in der Nähe des Monte Verità im Tessin niederliess, wo sich im frühen 20. Jahrhundert ein schillerndes kulturelles Geflecht entwickeln konnte, denn in ihr selbst scheint etwas vom bohemienhaften, grenzgängerischen Impuls der Moderne weiterzuleben. Zur Künstlerin passt auch, dass sie eine eigene Sammlung von tschechischen Fotografien besitzt, die nicht zuletzt als Hommage an Kunstschaffende früherer Generationen zu verstehen ist, die ihr den Weg gewiesen haben. Diese Publikation weist erstmalig auf diesen Zusammenhang hin. Sie verbindet unterschiedliche Generationen und Sichtweisen und stellt den Fotogrammen und Clichés verre Eliška Barteks ausgewählte historische Werke gegenüber.

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