7 minute read

RANGER & ROVER

Aufenthalt in Chile

Life without adventures would be deadly dull. – Robert Baden Powell Am 19. September 2019 war es endlich so weit. Mein bisher größtes und lang ersehntes Abenteuer ging endlich los – meine Reise nach Chile. Bereits seit vielen Jahren war es mein Traum, nach der Schule dort ein Auslandsjahr zu verbringen, um meiner Leidenschaft – den Pferden – nachgehen zu können. Doch bereits einen Monat nach meiner Ankunft brachen in Chile soziale Unruhen aus. Auslöser dafür war, dass die ohnehin schon teuren Metropreise in der Hauptstadt Santiago um weitere 30 chilenische Pesos erhöht wurden (ca. 4 Cent zu diesem Zeitpunkt). Dies mag zwar eine kaum nennenswerte Summe sein, war aber das entscheidende Tröpfchen, welches das Fass zum Überlaufen brachte. Tausende Menschen, darunter vor allem junge Erwachsene und Studenten, versammelten sich, um auf den Straßen für ihre Rechte zu demonstrieren. Die größte „Manifestación“ fand am Freitag, dem 25. Oktober 2019 in Santiago statt (eine Woche nach dem Ausbruch der Unruhen), bei welcher rund 1,2 Millionen Menschen aus allen Altersgruppen beteiligt waren. Doch leider liefen nicht alle Demonstrationen so friedlich ab wie diese. Viele junge Menschen äußerten ihren Unmut über die staatliche Verfassung, die noch aus Zeiten der Militärdiktatur (1973 – 1990) stammt, durch Gewalt und Vandalismus. Das öffentliche Verkehrssystem wurde manipuliert, Metrostationen und ganze Gebäude in Brand gesteckt. Die Reaktion des Präsidenten darauf: Der Notstand wurde ausgerufen und das Militär und die Polizei auf die Straßen geschickt, um für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Doch die junge Generation, die anders als ihre Eltern und Großeltern inzwischen die Chance hat, eine Universität besuchen zu können, ließ sich davon nicht abschrecken. So kam es schließlich in ganz Chile zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der Exekutive des Staates, bei welchen es zum Einsatz von Tränengas und den bekannt gewordenen Gummigeschossen kam. Einige hundert Jugendliche verloren dabei ihr Augenlicht, andere sogar ihr Leben.

Advertisement

Ich persönlich hatte zu diesem Zeitpunkt das Glück, etwa 900 km südlich von Santiago bei einer Familie zu wohnen, die sich nicht bei den Protesten involvierte. Demnach war ich auch nur auf meinem Arbeitsweg oder beim Einkaufen im nächstgelegenen Ort davon betroffen. Etwa einen Monat nach dem Ausbruch der Manifestaciones, entschied ich mich an einem freien Tag dazu, einen Ausflug in die Landeshauptstadt Puerto Montt zu unternehmen. Wie erwartet, waren auch hier die Spuren der Proteste überall zu sehen

– Graffiti auf Häuserwänden und Denkmä- lern, Tränengas in der Luft wahrnehmbar und überwiegend verbarrikadierte Geschäfte. Die, die geöffnet waren wie zum Beispiel Apotheken, konnten nur durch einen klei- nen Eingang zum Durchbücken betreten werden und wurden meistens von Sicher- heitspersonal beaufsichtigt. Zufällig fiel mir in der Nähe der Plaza eine Gruppe von Jugendlichen auf, die dabei wa- ren, etwas vom Boden aufzusammeln. Sie trugen blau rote Halstücher fast wie unsere Rankler Tüachle! Also sprach ich sie an und wie sich herausstellte, waren es tatsächlich Pfadis einer lokalen Gruppe. Im Gespräch er- klärten sie mir, dass sie dabei waren, die auf der Straße liegen gebliebene Munition, Gum- migeschosse der Polizei aufzusammeln. Sie wollten damit etwas basteln oder versuchen, einen anderen positiven Nutzen zu finden und schenkten mir eines der Kügelchen als Andenken. Außerdem stellten sie mir auch die Frage, für welche Rechte wir Jugendliche in Österreich auf die Straße gehen. Ich fühl- te mich fast schlecht sagen zu müssen: „Für nichts. Wir haben funktionierende öffentli- che Bildungs- und Gesundheitssysteme und werden nicht nach unserer Hautfarbe oder gesellschaftlichen Klasse beurteilt.“ Natür- lich erzählte ich ihnen vom „Fridays for Fu- ture“ Movement, für welches sich doch eini- ge engagierte Jugendliche einsetzen, jedoch fühlte es sich mehr wie eine lahme Ausrede an. Zwar war diese Bewegung auch in Chi- le angekommen, allerdings entwickelte sich das Thema Umweltschutz aufgrund der ak- tuellen Ereignisse zum Luxusproblem wie in vielen anderen Teilen Südamerikas auch. Bevor ich wieder die Heimreise antrat, weil am späteren Nachmittag die Proteste nor- malerweise losgingen, machten wir aus, dass ich einmal in eine ihrer Heimstunden kommen durfte. Drei Wochen später war es dann so weit, dass ich ganz im Sinne der weltweiten Verbundenheit zu einem Día de Scout (Pfadfindertag) eingeladen wurde. Spaß, Improvisation und Essen – mit diesen Worten würde ich diesen unvergesslichen Nachmittag zusammenfassen, anscheinend etwas, das Pfadis auf der ganzen Welt ver-

bindet. Am Anfang brüllte jede Altersgruppe einen Motivationsspruch und dann wurden stufenübergreifend Rufspiele gespielt (ich gab eine Runde „Hey Jay“ zum Besten). Im zweiten Teil der Truppstunde begaben sich die einzelnen Stufen an verschiedene Orte. Aufgrund mehrerer unglücklicher Zufälle konnten wir leider nicht in das Heim der Gruppe gehen, obwohl wir vorhatten Completos (Hotdogs im Chile-Style) zu machen. Daher fragten wir bei der Baustelle nebenan, ob wir bei ihnen Würstchen grillen durften, natürlich mit einem entsprechenden Dankeschön. Zum Schluss verabschiedeten wir uns mit einem weiteren Rufspiel voneinander und ich bedankte mich auf traditionelle Rankler Art mit einem Tschigaliga-Solo für diese wundervollen Erlebnisse.

Rückblickend konnte ich sehr viel aus diesen Begegnungen mitnehmen, denn es hat mir sehr geholfen, die chilenische Kultur und das System des Staates auf eine neue, persönlichere Art zu verstehen. Es ist sehr leicht, über schlechte Handlungen anderer zu urteilen, wenn man nicht direkt von der Situation betroffen ist. Ich hätte immer die Möglichkeit gehabt aus Chile auszureisen, wenn es zu gefährlich geworden wäre. Meine chilenischen Freunde hingegen sind Schüler, wie ich es vor einem Jahr noch war und jeder einzelne von ihnen hatte einen Grund, warum er jeden Abend auf die Straße wollte. Ich konnte während meiner Schulzeit vier Fremdsprachen lernen und hatte die Möglichkeit, anschließend reisen gehen zu können. Ein Luxus, von dem viele Chilenen nur träumen können. Wenn ich mir einer Sache bewusst geworden bin, ist es, wie glücklich ich und wir alle darüber sein dürfen, ein so privilegiertes Leben in einem Land wie Österreich führen zu dürfen. Diese Erkenntnis habe ich vor allem aus den unzähligen Gesprächen mit Chilenen aus allen Bevölkerungsschichten gewonnen, unter anderem auch von meinen Pfadfinderfreunden. Einmal mehr habe ich die Erfahrung gemacht, dass Pfadi etwas Einzigartiges ist, das Menschen mit den verschiedensten Hintergründen zusammenbringen und zu einer Gemeinschaft werden lassen kann. Das Pfadfindertum erschafft eine länderübergreifende Identität, von welcher wir Teil sein dürfen, ohne uns dessen wirklich bewusst zu sein. In diesem Sinne kann ich es nur aus vollstem Herzen weiterempfehlen, Pfadi als etwas Größeres als „nur“ unsere Ortsgruppe zu sehen. Zwar unterscheidet sich jede Gruppe durch ihre Rufe oder Pfaditraditionen voneinander, allerdings ist es gleichzeitig auch das Feststellen und Diskutieren dieser kleinen Unterschiede, das unsere Pfadigemeinschaft miteinander verbindet – sei es in Vorarlberg, in Österreich oder sogar mit dem anderen Ende der Welt.

Gut Pfad, Anna

The Cube

Ranger Challenge

Berühmte Kunstwerke nachgestellt

Berühmte Kunstwerke nachgestellt

Kinderfotos nachgestellt

Die Welt steht Kopf

Kinderfotos nachgestellt

This article is from: