THEMA
Das Virus als Irritation ESSAY Das Virus ist ein Irritations- und Selbstbeobachtungsprojekt. Wir wissen nicht viel über die zukünftigen Verläufe und Gefährdungen, aber wir erfahren einiges über uns, die wir aus der Selbstverständlichkeit eines (im globalen Vergleich) bequemen Lebens aufgescheucht werden.
Erstens: Wir erfahren das Wanken einer gesicherten Welt. Plötzlich gibt es den Einbruch von Natur, Unverfügbarkeit, Schicksal. Eine Bedrohung, gegen die man nichts tun kann. Dies geschieht in einer spätmodernen Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, dass sie alles im Griff hat. Wenn ansonsten der Tod in diese gesicherte Welt hereinbricht, etwa durch Terror, ist zwar das Entsetzen groß, doch man kann die Schuldigen benennen und auf Sicherheitskräfte vertrauen. Im Corona-Fall gilt das nicht. Es ist niemand schuld. Ende der Machbarkeit. Es ist eine andere Spezies, die uns angreift: Viren, die - zu unserem Schaden - selbst überleben wollen. Aliens. Es gibt nur Annahmen über das Abklingen der Epidemie, über eine zweite Welle nach Beendigung der Notmaßnahmen, über die Wiederkehr im nächsten Jahr. Wenn es richtig ist, dass 70 Prozent der europäischen Bevölkerung die Infektion erleiden müssen, heißt das bei einer sehr niedrigen Sterberate von 0,7 Prozent mehr als drei Millionen Tote. Und wir können eigentlich nur zuschauen. Eine neue Erfahrung. Zweitens: Wir erleben einen temporären „Stillstand“ der Gesellschaft. Der „Normalzustand“ ist außer Kraft gesetzt. Die Epidemie bietet somit die Chance, die 16
Schönheiten jener Selbstverständlichkeiten zu erkennen, in denen wir leben: die öffentlichen Plätze und Kaffeehäuser, die Kinos und Festivals, die Straßenbahnen und Schulen, die Optionen des Reisens. Es ist eine Erkenntnis von Freiheiten, die nicht mehr gelebt werden können, wenn jeder sich nach Tunlichkeit in seinen vier Wän-