Wozzeck

Page 1

WOZZECK

ALBAN BERG


7. Q i d u A e Der neu sse Ăś r G e r . h n e z Wa n e r ne G i e k t n n ke

Der neue Audi Q7 bietet Platz fĂźr bis zu sieben Personen. Profitieren Sie jetzt von 10 Jahren kostenlosem Service. Audi Swiss Service Package+: Service 10 Jahre oder 100 000 km. Es gilt jeweils das zuerst Erreichte.

www.audi.ch


WOZZECK ALBAN BERG (1885-1935)

Partner Opernhaus Z端rich





Wozzeck: Unsereins ist doch einmal unselig in dieser und der andern Welt! Ich glaub’, wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen! Alban Berg, «Wozzeck», 1. Akt, 1. Szene


ERSTER AKT 1. Szene Wozzeck rasiert den Hauptmann, der ihn zur Langsamkeit mahnt. Der Haupt­ mann fühlt sich von der Ewigkeit bedroht. Er provoziert Wozzeck, indem er ihm vorwirft, unmoralisch zu sein: Wozzeck habe ein uneheliches Kind. Wozzeck verteidigt sich: Er beruft sich auf einen gütigen Gott und erklärt, dass man nicht tugendhaft sein könne, wenn einem das Geld fehle. 2. Szene Wozzeck und sein Freund Andres sind draussen in der freien Natur. Andres singt ein fröhliches Jägerlied, Wozzeck hat Visionen. 3. Szene Marie und ihre Nachbarin bestaunen den Tambourmajor, der mit seiner Militär­ kapelle an ihnen vorbeizieht. Dabei geraten sie in Streit. Marie singt ihr Kind in den Schlaf. Wozzeck kommt. Sein Zustand ängstigt Marie. 4. Szene Wozzeck dient dem Doktor für wenig Geld als medizinisches Versuchsobjekt. Er berichtet ihm von seinen beunruhigenden Visionen. Hingerissen von Wozzecks geistiger Verwirrung, die er als interessante Folge seiner Ernährungsexperimente versteht, verspricht ihm der Doktor noch mehr Zulage. Er glaubt, sein unsterb­ licher Ruhm als Wissenschaftler sei ihm nun gewiss. 5. Szene Marie gibt sich nach kurzem Widerstand dem Tambourmajor hin.


ZWEITER AKT 1. Szene Marie betrachtet stolz die Ohrringe, die sie vom Tambourmajor bekommen hat. Der Anblick ihres Sohnes verdirbt ihr jedoch die Freude. Unerwartet kommt Wozzeck und sieht den teuren Schmuck. Seinem Misstrauen begegnet Marie mit Ausflüchten. Wozzeck händigt Marie seinen Lohn aus, den er vom Hauptmann und vom Doktor erhalten hat. Marie hat Schuldgefühle. 2. Szene Der Hauptmann hetzt dem Doktor auf der Strasse hinterher. Der Doktor quält ihn, indem er seine Angst, an einer Krankheit zu sterben, schürt. Als Wozzeck erscheint, machen sie sich über ihn lustig und spielen auf Maries Verhältnis mit dem Tambourmajor an. Bestürzt rennt Wozzeck davon. 3. Szene Wozzeck sucht Marie auf. Seinen Fragen nach dem Tambourmajor weicht sie provozierend aus. Auf Wozzecks Drohungen reagiert sie höhnisch. Wozzeck verliert den Boden unter den Füssen. 4. Szene In einer albtraumhaften Wirtshausszene sieht Wozzeck, wie Marie und der Tam­ bourmajor entfesselt miteinander tanzen. Ein betrunkener Handwerksbursche philosophiert über die traurige Existenz des Menschen. Ein Narr riecht Blut. 5. Szene Nachts in der Kaserne findet Wozzeck keinen Schlaf. Immer wieder sieht er Marie mit dem Tambourmajor tanzen. Der betrunkene Tambourmajor taucht auf und prahlt mit seiner erotischen Eroberung. Zudem demütigt er Wozzeck mit seiner körperlichen Überlegenheit und schlägt ihn zusammen.


DRITTER AKT 1. Szene Marie liest in der Bibel die Geschichte der Ehebrecherin Maria Magdalena. Wozzecks Kind erinnert sie immer wieder an ihre Schuld. Sie erzählt dem Kind ein tieftrauriges Märchen. Dann betet sie und bittet um Erbarmen. 2. Szene Wozzeck ist mit Marie unterwegs. Er erinnert sie an die gemeinsam verbrachte Zeit. Nach einem Moment des Schweigens zieht Wozzeck sein Messer und ermordet sie. 3. Szene Wozzeck sucht Margret auf. Sie entdeckt Blut an seiner Hand. Wozzeck flieht. 4. Szene Wozzeck kehrt zu Maries Leiche zurück. Er sucht das Messer und wirft es in den Teich. Beim Versuch, das Messer noch weiter hineinzuwerfen und sich reinzu­ waschen, ertrinkt Wozzeck. Der Hauptmann und der Doktor gehen vorbei. 5. Szene Aufgeregt erzählen die Kinder dem Sohn von Wozzeck und Marie vom Tod seiner Mutter. Die Kinder laufen hinaus, um die Leiche anzusehen.



DIE WELT ALS GROTESKE Andreas Homoki im Gespräch

Herr Homoki, Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich mit dem Wozzeck einen langgehegten Wunsch erfüllen. Warum ist jetzt der richtige Zeitpunkt da? Anders gefragt: Warum haben Sie so lange damit gewartet? Zunächst einmal kann man sich selbst als Intendant die Stücke nicht so einfach aussuchen. Ich hatte allerdings tatsächlich lange das Gefühl, mit die­ sem Stück noch warten zu können. Es mag paradox klingen, aber es ist einfach zu perfekt gebaut – in jeder Hinsicht. Gewissermassen «unzerstörbar», sodass es auch in einer weniger gelungenen Inszenierung immer eine un­ geheure Wirkung entfalten wird. Um­gekehrt bedeutet dies, dass ich mich als Regisseur besonders anstrengen muss, um diesem Meilenstein der Opern­ geschichte halbwegs auf Augenhöhe begegnen zu können und das Potenzial dieses Stückes wirklich auszuloten. Hoffentlich ist jetzt die Zeit reif dafür – jedenfalls habe ich hier in Zürich eine fantastische Sängerbesetzung. Alban Bergs Wozzeck ist eine der wenigen Opern des 20. Jahrhunderts, die sich einen festen Platz im Opernrepertoire erobern konnten und auch beim Publikum auf grosse Akzeptanz stösst. Warum ist das Ihrer Meinung nach so? Das liegt an der grandiosen Theatralik Büchners und der Musik von Alban Berg, die trotz ihrer atonalen Komplexität in jedem Moment sehr gestisch und emotional ist. Sie zieht den Zuhörer unmittelbar in ihren Bann, ohne dass dieser etwas über ihre komplizierte Struktur wissen muss. Es ist Theatermusik im besten Sinne – was übrigens auch Arnold Schönberg lobend hervorhob, nachdem er Berg anfangs von diesem Stoff abgeraten hatte, da er ihn für opernuntauglich hielt. Ein gran­dioses Fehlurteil,


denn man hat sogar das Gefühl, dass erst durch Bergs geniale Vertonung das Potenzial von Büchners Fragment voll ausgeschöpft wird und der Stoff zu einer Expressivität gelangt, die er als reiner Sprechtext nie entfalten könnte. Nehmen wir nur das verrückte Panoptikum von Figuren wie dem Hauptmann, dem Doktor oder dem Tambourmajor. Allesamt pervertierte Prototypen, Karikaturen des damaligen Establishments, die durch Bergs radikalen Zugriff eine grosse Plastizität erhalten. Bei allem Schrecken, den dieses Stück entfal­ tet, ist Wozzeck gerade durch Bergs musikalische Sprache und ihren grotesken Humor sehr unterhaltsam. Dass ein Stück wie Wozzeck auch humorvoll sein könnte, liegt nicht un­be­ dingt auf der Hand. Die Oper gilt häufig als deprimierend und erschre­ ckend rea­listisch. Ein Werk, in dem man das schmerzhafte Zucken jedes einzelnen, gequälten Körpernervs wie durch ein Vergrösserungsglas sieht. Man liest tatsächlich oft, dass Büchner seinen Woyzeck aus einem «realistischen» Anspruch heraus geschrieben hat. Dafür spricht scheinbar, dass er einen zeit­ge­nössischen Proletarier ins Zentrum seines Dramas gestellt hat – etwas damals unerhört Mutiges. Dann ist da die Sprache der einfachen Leute, die er ver­ sucht hat, möglichst direkt abzubilden. Mit diesem Mut zum «Hässlichen» war er aber seiner Zeit weit voraus, er weist in den Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts. Bergs Musik greift genau das auf und scheut auch vor der Groteske nicht zurück. Ich würde behaupten, dass Büchners «realistische» Figuren auf den zeitgenössischen Leser ähnlich grell gewirkt hätten, wie es Alban Bergs expressionistische Um­setzung auf uns heute tut. Die Situationen sind musikalisch extrem und oft bis ins Fratzenhafte verzerrt gezeichnet. Denken Sie nur an die Wirtshausszene mit dem Jägerchor – das hat gar keine Melodie mehr, sondern klingt wie ein Cluster, die völlige Pervertierung eines Volkslieds. Hinzu kommt die ungeheure Ver­dichtung, die Berg gegen­ über der Büchnerschen Vorlage vornimmt. In 15 teilweise extrem kurzen Szenen überschlagen sich die Ereignisse geradezu und führen zielstrebig in die Kata­stro­­phe. Eine naturalistische Darstellungsweise im Sinne etwa eines Stanislawski-­Theaters kam für uns bei dieser Oper daher von vorneherein nicht in Frage.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben


Sie haben sich stattdessen entschieden, die Geschichte in einem Raum zu erzählen, in welchem die Darsteller wie Puppen agieren. Warum? Wozzeck ist ein Gefangener der Umstände, die ihn umgeben und bestimmen. Er schläft kaum und hetzt sich ab, um das Allernotwendigste zusammenzu­ kratzen, setzt sich gar medizinischen Versuchen aus. «Nichts als Arbeit unter der Sonne, sogar Schweiss im Schlaf. Wir arme Leut’!» Wenn Büchner den Doktor pathetisch verkünden lässt, im Menschen verkläre sich «die Individua­ lität zur Freiheit», so beweist das Stück in jeder Sekunde das komplette Gegen­teil. Niemand ist hier frei, alle verhalten sich wie unter Zwang. Selbst die Ausbeuter sind Getriebene und Opfer: der Hauptmann mit seinem Tugendwahn und seiner Angst vor der Ewigkeit oder der Doktor mit seinem Wissenschaftsspleen und grössenwahnsinnigen Vorstellungen vom eigenen Ruhm. Einen Ausweg gibt es nicht. Ein Theater, das seine Figuren wie Puppen agieren lässt, schafft eine eingängige Metapher für eine Welt, in der wir alle nichts als kleine Räder eines grossen Getriebes sind. Gerade wir heutige Menschen fühlen uns doch oft allzu sicher in einer Welt, von der wir meinen, sie weitgehend erforscht zu haben. Aber ich bin überzeugt: trotz allen wissen­ schaftlichen Fortschritts wird unser Horizont immer begrenzt bleiben, und wir werden nie gänzlich wissen, wie die Welt, der Kosmos, wirklich beschaffen ist. Wie Puppen, die nicht wissen, von wem genau sie gespielt werden. Das erinnert an einen Satz aus dem sogenannten Fatalismus-Brief von Büchner an seine Braut Wilhelmine Jaeglé. Der Revolutionär Büchner fühlt sich von der Schicksalser­gebenheit wie vernichtet. Er schreibt, dass «der Einzelne nur Schaum auf der Welle» sei... Diese Welt des Wozzeck ohne jede individuelle Freiheit war für meinen Aus­ statter Michael Levine und mich von Anfang an nur in der Überhöhung als Groteske darstellbar. Beispielsweise, indem man die Geschichte als ein böses Spiel erzählt, eben als albtraumhaftes Puppentheater. Weil die Realität so hoffnungslos ist, dass jeder Versuch, sie auf die Opernbühne zu bringen, obs­ zön wirken muss. Man spürt hier die grosse Geistesverwandtschaft Büchners zum Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, dem er mit seiner Novelle Lenz ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Dessen Hauptwerk,


Die Soldaten, hat auch auf die Entstehung des Woyzeck grossen Einfluss aus­ ge­übt. Für Lenz besteht das Wesen der Komödie darin, dass die Figuren nicht mehr – wie in der Tragödie – selb­ständig agieren, sondern einer grau­ samen Maschinerie ausgesetzt sind, die sie zu blossen Objekten degradiert. Das Grauen hinter dem fratzenhaften Lachen einer Maske zu verstecken, ist ein literarisches Prinzip, dem wir bis heute immer wieder begegnen, denken Sie nur an die Dramen von Peter Weiss oder die Figur des Joker in Batman. Laut Alban Berg geht die Idee der Oper «weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinaus». Was ist mit dieser übergeordneten Idee Ihrer Meinung nach genau gemeint? Und inwieweit wird sie durch den Weg über das Puppentheater deutlich? Auch wenn wir auf der Bühne extreme Figuren zeigen, bleiben es selbstver­ ständlich immer Abbilder von menschlichen Phänotypen und Verhaltens­ weisen, die jeder kennt und für sich übersetzen kann. Ohne eine starke theatra­lische Verfremdung hätte ich grosse Sorge, in eine Art politisches Be­ troffenheitstheater abzurutschen, bei dem sich sowohl Publikum als auch Künstler gegenseitig einlullen im wohligen Gefühl einer gemeinsamen Verur­ teilung der dargestellten Missstände. So etwas hat mit lebendiger Auseinan­ der­setzung nichts mehr zu tun, zumal die kritisierten sozialen Verhältnisse der Büchner-Zeit bei uns mittlerweile ohnehin überwunden sind. Die Frage nach einer gerechteren Welt kann heute nur noch im globalen Mass­stab betrachtet werden, dies erleben wir in Europa heute angesichts der drama­­tisch zunehmenden Flüchtlingsströme mit jedem Tag deutlicher. Die Idee dieser Oper geht tatsächlich weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinaus. Sie ist ein leiden­schaft­liches Plädoyer für die Menschenwürde, ein Appell an die Menschlichkeit. Dieser Appell kulminiert im erschütternden letzten Zwi­ schenspiel der Oper, bei dem jeder Versuch der Bebilderung scheitern muss. Deshalb wird an dieser Stelle auch bei uns nur die Musik sprechen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Das Gespräch führte Kathrin Brunner


Wozzeck: Es war ein Gebild am Himmel, und Alles in Glut! Ich bin Vielem auf der Spur! Alban Berg, ÂŤWozzeckÂť, 1. Akt, 3. Szene



«WOZZECK» Formaler Aufbau

1. AKT: 5 Charakterstücke

1. Der Hauptmann Suite: Präludium, Sarabande, Kadenz (Br), Gigue, Kadenz (K. Fg.), Gavotte, Double I, Double II, Aire, Reprise des Präludiums im Krebsgang, Finale bzw. Durchführung der Suite 2. Andres Rhapsodie über die Folge von 3 Akkorden, dazu das dreistrophige Jägerlied des Andres; Nachspiel der Rhapsodie und 3. Marie beginnende Militärmusik (hinter der Szene); Militärmarsch (dazu Gespräch zwischen Marie und Margret); Marie allein; Wiegenlied; 1. Szene zwischen Marie und Wozzeck Überleitung 4. Der Doktor Passacaglia (bzw. Chaconne): ein Thema mit 21 Variationen 5. Der Tambourmajor Andante affetuoso 2. AKT: Symphonie in 5 Sätzen

1. Ein Sonatensatz Kurze Einleitung vor Öffnung des Vorhangs, Exposition; 1. Reprise; Durchführung; 2. Reprise: Beginn, Fortsetzung und Coda 2. Fantasie und Fuge über 3 Themen Die ersten zwei Themen; das dritte; die Fuge; Nachspiel der Fuge und


3. Largo für Kammerorchester Largobeginn (Das Kammerorchester [abseits] in der Besetzung von Schön­ bergs Kammersymphonie; dazu hie und da das ganze grosse Orchester) 4. Scherzo für das grosse Orchester und eine Heurigen (Wirtshaus-) Musik auf der Bühne Scherzo I (Ländler); Trio I (Lied des 2. Handwerksburschen); Scherzo II (Walzer); Trio II (Chor der Burschen und Lied des Andres); Scherzo I; Trio III (quasi Reprise des 1. Lieds des 2. Handwerksburschen in Form einer Choralbearbeitung: Predigt des 2. Handwerksburschen); Scherzo II 5. Rondo con Introduzione Introduktion: Beginn des Chors der schlafenden Soldaten; Fortsetzung und Dialog zwischen Wozzeck und Andres; Rondo martiale Offene Szene ohne Musik 3. AKT: 6 Inventionen

1. über ein Thema Offene Szene ohne Musik; Thema, 7 Variationen und Fuge; Schluss der Fuge 2. über einen Ton Orgelpunkt bzw. liegende Stimme auf H Kurze Überleitung (Crescendo) 3. über einen Rhythmus Polka schnell für Pianino (auf der Bühne); Trinklied Wozzecks; Lied Margrets; Ensemble; Fortsetzung (quasi Durchführung) 4. über einen Sechsklang 1. als Akkord; 2. auf anderen Stufen; 3. Coda 5. in einer Tonart Orchesterzwischenspiel (quasi Epilog) 6. über eine gleichmässige Bewegung Quasi Toccata: Das Lied der Kinder; Ensemble Einige Schlusstakte nach Fallen des Vorhangs



GEFÜHLE UNTER EINEM BRENNGLAS Fabio Luisi im Gespräch

Herr Luisi, Sie dirigieren Alban Bergs Oper Wozzeck in Zürich zum ersten Mal. Wie haben Sie sich diese Partitur angeeignet? Ich kenne Bergs Wozzeck natürlich schon aus der Zeit meines Studiums. Im Hinblick auf unsere Zürcher Produktion habe ich dann vor zwei Jahren eine seriöse Auseinandersetzung mit der Partitur begonnen. Ich studiere Partituren gerne mit Unterbrechungen. Ich beschäftige mich mit ihnen und lege sie dann immer wieder zur Seite. Was heisst «Beschäftigung» in diesem Fall konkret? Ich erschliesse mir Opern zunächst über den Text, über die Sprache, und im Wozzeck habe ich das in zugespitzter Form getan. Denn in dieser Oper läuft alles über Georg Büchners Dramentext. Er bildet den Kern des Werks, aus ihm geht die Musik hervor. Selbstverständlich illustriert die Musik den Text nicht, sie ist Kommentar, Subtext, Reflexion und emotionale Fort­ schreibung mit anderen Mitteln. Aber Büchners Sprache ist immer der Ausgangspunkt. Die Musik führt uns ein in die Gefühlswelt der Figuren und der Ereignisse. Man zögert ja gerne im Zusammenhang mit Wozzeck von Gefühlswelten zu sprechen. Warum? Weil die Oper so eine elaborierte Form hat und bis ins kleinste Detail struktu­ rell ertüftelt ist, denkt mancher, das sei ein Werk, in dem es nicht primär um Emotionen gehe. Aber das ist total falsch. In der Oper geht es – wie in Bergs zwölftöniger Lulu auch – ganz stark und fast ausschliesslich um Gefühle. Diese werden in Bergs Schreibweise wie unter einem Brennglas erfahrbar.


Was er komponiert, ist kein expressionistischer Rausch, sondern eine minutiös ausdifferenzierte Emotionalität, die den Hörer deshalb nicht weniger mitreisst. Denken Sie nur an die orchestralen Zwischenspiele nach jeder Szene. Sie reflektieren das emotionale Geschehen, zurückschauend oder voraus­ weisend, in rein instrumentaler Form. Sie sind keine Verwandlungsmusiken, sondern viel mehr: Die Musik begibt sich auf eine Metaebene, sie löst sich vom Realismus der Worte. Die Kombination von berührender Emotionalität auf der einen und dichter struktureller Verflechtung und formaler Gefasstheit auf der anderen Seite ist das Revolutionäre an dieser Oper. Die strukturelle kompositorische Dichte im Wozzeck ist extrem. Alban Berg hat den ersten Akt in Form von «fünf Charakterstücken» kom­ poniert, den zweiten als «Symphonie in fünf Sätzen», den dritten als «sechs Inventionen». Die erste Szene des ersten Aktes ist als Suite ange­ legt, die sogenannte Strassenszene im zweiten Akt mit dem Doktor, dem Hauptmann und Wozzeck als Tripelfuge, der Doktorszene wieder­um liegt eine Passacagliaform zugrunde. Genau. Berg bedient sich der traditionellen Formen des Kontrapunkts. Hinter der Wahl der jeweiligen Form stehen inhaltliche und konzeptionelle Über­ legungen. Es ist ja kein Zufall, dass Berg etwa in der Doktorszene eine Passa­ caglia schreibt, die einfache, aber stringente Form der variierten Wiederho­ lung. Schliesslich geht es in dieser Szene um scheinbar objektive medizinische Wissenschaft, die der grössenwahnsinnige Doktor verkörpert. Welche Kraft schöpft das Werk aus dieser strukturellen Dichte? Für mich ist entscheidend: Die Struktur ist zwar dicht, aber sie ist auch jeder­ zeit klar und transparent. Berg hat mit dem Wozzeck eine grosse Kammer­ musik geschrieben. Ob er expressive Kraft aus dieser strukturellen Dichte schöpfen wollte, weiss ich nicht. Sicher ist nur: Er wollte die Partitur in genau dieser Form schreiben, und das ist ihm auf geniale Weise gelungen. Die Partitur ist ein Wurf, und so ein genialer Wurf setzt dann eben auch extrem starke Ausdruckskräfte frei.


Berg selbst hat in einem Aufsatz geschrieben, es sei ihm im Schlaf nicht eingefallen, mit der Komposition des Wozzeck die Kunstform Oper reformieren zu wollen. Er habe einfach nur dem geistigen Inhalt von Büchners Drama musikalisch gerecht werden und dem Theater geben wollen, was des Theaters ist. Eben. Berg war ein Theatermensch. Sein Wozzeck sollte kein strukturell ambitioniertes Überwerk werden, sondern ein gutes Theaterstück. Und das ist ihm gelungen. Am Ende des Aufsatzes schreibt er: «Mag einem noch so viel bekannt sein, was sich im Rahmen dieser Oper an musikalischen Formen findet, wie das alles streng und logisch gearbeitet ist, von dem Augen­ blick an, wo sich der Vorhang öffnet, darf es im Publikum keinen geben, der etwas von diesen diversen Fugen und Inventionen, Suitenund Sonatensätzen, Variationen und Passacaglien merkt – keinen, der von etwas anderem erfüllt ist als von der weit über das Einzelschick­ sal Wozzecks hinausgehenden Idee dieser Oper.» Er gibt das Stück frei für das Theater und die Bühne, das ist doch grossartig.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Gilt das auch für den Dirigenten? Dürfen Sie am Pult auch das Formale unddes Kompositionstechnische der Partitur hintanstellen, oder müssen Opernhauses erwerben Sie es immer im Blick haben? Ich habe es im Blick, weil ich mich mit der Partitur intensiv beschäftigt habe und an Analyse interessiert bin. Aber ich glaube, man müsste es nicht. Wenn ein Dirigent einen starken theatralisch-musikalischen Instinkt hat, kann er einen spannenden Wozzeck auch ohne musikwissenschaftlich analytischen Back­ ground dirigieren. Wie Berg richtig sagt: Es geht um die Idee dieser Oper und die Schicksale der Figuren, nicht um Kompositionstechnik als Selbstzweck. Wo liegen die Tücken der Partitur für die Interpreten? In der Rhythmik. Die vielen asymmetrischen Taktarten – da müssen alle sehr aufpassen, der Dirigent, die Musiker, die Sänger. Dafür braucht man einen klaren Blick.


Der Dirigent der Uraufführung, Erich Kleiber, brauchte 15 Ensembleund 34 Orchesterproben. Ist der Wozzeck bis heute ein extrem schweres Stück? Rein technisch stellt uns die Partitur heute nicht mehr vor so grosse Probleme, wie man sie zu Kleibers Zeit empfunden hat, denn wir haben viel mehr Erfahrung mit der Musik des 20. Jahrhunderts. Eine Herausforderung ist jede Produktion aber trotzdem, denn Bergs musikalische Sprache ist bis heute in ihrer Dichte, ihrer Expressivität und ihrer theatralischen Kraft exzeptionell. Sie haben einmal erzählt, dass Sie Synästhetiker sind und mit jedem Musik­stück spontan eine Farbe assoziieren. Welche Farbe hat Alban Bergs Wozzeck? Stimmt, für mich haben die Stücke Farben. Das ist eine ganz persönliche sub­ jektive Erfahrung. Der Wozzeck ist braun. Lulu ist schwarz. Braun ist jetzt nicht unbedingt eine expressionistische Farbe. Finden Sie? Braun gibt es in der Malerei bei Edvard Munch und den Wiener Expressionisten. Es ist vielleicht nicht die Farbe eines schreienden Expressio­ nis­mus. Aber schreit Wozzeck? Ich denke nicht. Das Gespräch führte Claus Spahn



Wozzeck: Wenn die Natur aus ist, wenn die Welt so finster wird, dass man mit den Händen an ihr herumtappen muss, dass man meint, sie verrinnt, wie Spinnengewebe. Ach, wenn was is’ und doch nicht is’! Alban Berg, «Wozzeck», 1. Akt, 4. Szene



KRAFT ZUR NUANCE Zur Charakteristik des «Wozzeck» Theodor W. Adorno

Im Fall des Wozzeck, wo der Anspruch des musikalischen Werkes dem des litera­ rischen gleicht, dem es sich anschliesst, ist über das Verhältnis der beiden Ge­ bilde nachzudenken. Musik könnte solcher Dichtung gegenüber überflüssig erscheinen, blosse Wiederholung von deren eigenem hintergründigen Gehalt, von dem, was sie zur Dichtung macht. Um zu begreifen, was Bergs unendlich ausgearbeitete Oper mit dem absichtsvoll skizzenhaften Fragment Büchners eigentlich zu tun hat; was die beiden der ästhetischen Ökonomie nach zusam­ men­brachte, wird man wohl daran sich erinnern müssen, dass zwischen der Dichtung und der Komposition einhundert Jahre liegen. Das von Berg Kompo­ nierte ist nichts anderes, als was während der vielen Jahrzehnte der Vergessen­ heit in Büchner heranreifte. Die Musik, von der es getroffen wird, hat dabei ins­geheim polemischen Zug. Sie spricht: so fremd, so wahr, so menschlich wie ich selber bin, ist das was ihr vergessen, was ihr nie auch nur erfahren habt, und indem ich es euch vorstelle, lobe ich dies andere. Die Oper Wozzeck meint eine Revision der Geschichte, in welcher Geschichte zugleich mitgedacht wird; die Moderne der Musik hebt die des Buches hervor, eben weil es alt ist und sein Tag ihm vorenthalten ward. So wie Büchner dem gequälten, wirren und in seiner menschlichen Entmenschlichung über alle Person hinaus objektiven Sol­ daten Wozzeck Gerechtigkeit widerfahren liess, so will die Komposition Gerech­ tigkeit für die Dichtung. Die leidenschaftliche Sorgfalt, mit der sie gleichsam das letzte Komma in ihrer Textur bedenkt, bringt ans Licht, wie geschlossen das Offene, wie vollendet das Unvollendete bei Büchner ist. Das ist ihre Funk­ tion, nicht die der psychologischen Untermalung, nicht Stimmung oder Impres­ sion, obwohl sie Elemente von alldem nicht verschmäht, sobald es gilt, das Verschüttete des Werks ins Licht zu rücken. Hofmannsthal sagte einmal vom Text des Rosenkavaliers, die Komödie für Musik sei dieser bestimmt als dem,


was nicht in den Menschen, sondern zwischen ihnen ist. Genauer als für die Straus­sische Oper gilt das für die Bergs, eine Art Interlinearversion ihres Textes. Sie legt nicht die Gefühle der Menschen bloss aus, sondern trachtet, von sich aus einzuholen, was die hundert Jahre an den Büchnerschen Szenen vollbrach­ ten, die Verwandlung eines realistischen Entwurfs in ein von Verborgenem Knisterndes, darin jegliches Ausgesparte des Wortes ein Mehr an Gehalt ver­ bürgt. Dies Mehr an Gehalt, dies Ausgesparte offenbar zu machen – dafür ist die Musik im Wozzeck da. Sie gleitet mit unbeschreiblich gütiger Hand über das Fragment, besänftigt und glättet alles Herausstehende, Herausstechende darin, möchte die Dichtung trösten über die eigene Verzweiflung. Ihr Stil ist einer des lückenlosen Ineinander­ gepasstseins. Auch sie handhabt die Kunst des Übergangs weit über das hinaus, was Wagner je unter dem Begriff dachte, treibt sie bis zur universalen Vermitt­ lung. Vorm Äussersten schreckt sie nicht zurück, die abgründige Traurigkeit ihres süddeutsch-österreichischen Tons nimmt das Büchnersche Trauerspiel ganz in sich auf, aber in einer Geschlossenheit und Immanenz der Form, die Ausdruck und Leiden Bild werden lässt, dadurch rein aus sich heraus etwas wie eine Berufungsinstanz jenseits. Dies Ineinandergefugte und -gefügte der Musik, ihr Sprungloses, entscheidet. Verfehlt es die Aufführung nur einmal, zerreisst auch nur für eine Sekunde das Gewebe, so schlägt das akustische Bild ins Chao­ tische um. Was dann heraufkommt, ist freilich ein Moment der Sache selbst, jenes fassungslose Espressivo, das der äussersten Disziplin durch Konstruktion und Klang bedarf, wenn es nicht ins Diffuse stürzen soll. In der Spannung zwischen dem andrängend Unbewussten und einem fast optisch architektoni­ schen Sinn für geschlossene Flächen lebt Bergs Musik insgesamt. Er selber sagt vom Wozzeck, er sei eine Piano-Oper mit Ausbrüchen. Erst seit die gedruckte Partitur allgemein zugänglich ist, kann man ganz ermessen, wie wahr das ist. Weite Strecken, so gleich in der Suite, mit der der erste Akt beginnt, sind wirklich kammermusikhaft, solistisch musiziert; nur gelegentlich ist einiges sehr komplex gesetzt, und das Tutti vollends ist für die wenigen dramatischen Wen­ de­stellen aufgespart. Solche Ökonomie des Klangs fördert die Dichte des Ge­ webes aufs äusserste durch die vollkommene Deutlichkeit und Eindeutigkeit eines jeden musikalischen Ereignisses. Ohne viel Paradoxie lässt sich von dem


heute noch schwierigen, viele Proben erheischenden Gebilde behaupten, es sei einfach: weil nicht eine Note, nicht eine Instrumentalstimme steht, die nicht unbedingt zur Realisierung des musikalischen Sinns – des Zusammenhangs – notwendig wäre. Wahrhaftig sachliche Setzweise straft alle die Lügen, die von nachtristanischer Spätromantik schwatzen, um eine Musik billig in die Vergangen­ heit abzuschieben, bei der sie bis heute nicht mitkamen. Zu lernen ist am Wozzeck vorab, was Ausinstrumentieren heisst. Gerade die stets noch herrschenden Vorstellungen über Orchestration sind in einem Zu­ stand, über den etwa ein Maler, dem die Farbe als integrierendes Moment seiner Arbeit selbstverständlich ist, nur den Kopf schütteln könnte. Auf der einen Seite ist der grauslige Begriff der «glänzenden Orchesterbehandlung», eines musika­ lischen Rosstäuscherverfahrens, das Musik möglichst bunt und knallig aufzäumt, um ihre Dürftigkeit zu verdecken, erneut in Schwung gekommen, als hätte nicht die Neue Musik in ihren bedeutenden Exponenten solche Künste ein für allemal widerlegt. Andererseits befleissigen die, welche den falschen Reichtum nicht mögen, sich einer Askese, die am liebsten das Glück der Farbe aus der Musik überhaupt verbannen möchte und damit die Eroberung der Klangdimension als eines wesentlichen kompositorischen Sektors rückgängig macht. Die WozzeckPartitur steht korrektiv gegen beides. Das Orchester realisiert die Musik im Cézanneschen Sinn des réaliser. Die gesamte kompositorische Struktur, von der Gliederung im grossen bis hinein ins feinste Geäder der Motivbildung, wird in Farbvaleurs offenbar. Umgekehrt erscheint keine Farbe, die nicht ihre präzise Funktion für die Darstellung des musikalischen Zusammenhangs besässe. Der Formdisposition entspricht durchweg die orchestrale; concertino-ähnliche En­ semblekombinationen und Tuttiwirkungen sind aufs sorgfältigste gegeneinander ausgewogen. Die Kunst des klanglichen Kitts, des unmerklichen Gleitens von einer Farbe in die andere ist beispiellos. Die Atmosphäre dieses Orchesters aber, das selbstvergessen in die Hohlräume hinter den Büchnerschen Worten sich versenkt, ist keine Stimmungszauberei. Sie stammt aus der Kraft zur Nuance, und die ist eins mit der des Ausinstrumentierens, der Übersetzung noch des leisesten kompositorischen Impulses in seine sinnlichen Äquivalente. Die Einfachheit der Partitur kann man vielleicht am besten im Vergleich mit Strauss erläutern. Im Heldenleben, in der Salome geht eigentlich auf dem


Papier viel mehr vor, als man dann im Orchester hört; ein Grossteil des Geschrie­ benen bleibt ornamental und Füllung. Bei Berg sieht alles, eben vermöge der völligen Unterordnung des Orchesters unter die musikalische Konstruktion, fast geometrisch klar aus, wie auf einer Architekturzeichnung, und der volle Reich­ tum des Komponierten erschliesst sich erst bei der Aufführung. Es gibt nichts Überflüssiges in der Partitur, sie macht keine Umstände, und die differen­zier­ testen Klänge wie die berühmten Teichimpressionen von Wozzecks Todesszene – erweisen sich zuweilen als Kolumbusei. Das Weggelassene bezeugt kein gerin­ geres Gestaltungsvermögen als das Geschriebene: eine Ökonomie, die allein der überquellenden Musiksubstanz Bergs die Verbindlichkeit der Form schenkt. Manche Szenen, die im Klavierauszug überaus kompliziert sich ausnehmen, wie die zweite des zweiten Akts, Fantasie und Tripelfuge, gewinnen in der Partitur eine Plastik und Durchsichtigkeit, die von der Praxis der Operntheater erst noch eingeholt werden muss, von Boulez erstmals eingeholt wurde. Die Geschlossenheit des Gefüges, die trotz allen dramatischen Ausdrucks krasse und primitive Kontraste meidet, wird bewirkt von der Konstruktion. Im Wozzeck wurde die Sprache der freien Atonalität zum erstenmal in einem sze­ nischen Werk von erheblicher Dauer gesprochen. Der Fortfall der Tonalität nötigte dazu, um so energischer andere Mittel zu entwickeln, die schlagkräftig den Zusammenhang herstellen. Das sind aber die einer wie nie zuvor aus der Tradition des Wiener Klassizismus im ganzen Umfang auf die Bühne übertrage­ nen, motivisch-thematischen Arbeit. Sie klarzulegen, ist Aufgabe der diesmal mahlerisch deutlichen Setzweise. Zu billig stellte man diese Konstruktion sich vor, verwechselte man sie mit den vielberufenen Formen der absoluten Musik, die im Wozzeck gebraucht sind. Diese garantieren zwar die Organisation des Zeitverlaufs über grössere Flächen, brauchen und sollen aber als solche nicht wahrgenommen werden, sondern sind gleichsam unsichtbar, ähnlich etwa wie später die Reihen in einer guten Zwölftonkomposition. Übrigens wird der Formzusammenhang verstärkt durch eine Reihe plastischer Leitmotive durchaus wagnerisch-musikdramatischen Gepräges; die Tripelfuge in der Strassenszene des zweiten Akts etwa kombiniert drei der wichtigsten dieser Motive, das des Hauptmanns, das des Doktors und die tappenden Triolen von Wozzecks Hilf­ losigkeit. Weit wichtiger als all das jedoch ist die innere Zusammensetzung der


Musik, das Gewebe. Als der Wozzeck geschrieben wurde, haben zahlreiche Kom­ ponisten, zumal Strawinsky und Hindemith, sich um neue Autonomie der Opernmusik bemüht. Sie wollten sie aus ihrer Abhängigkeit vom poetischen Wort befreien. Auch im Wozzeck meldet die Musik neuen Anspruch auf Selbstän­ digkeit in der Oper an. Aber Bergs Verfahren ist dem der Neoklassizisten genau entgegengesetzt: einer rückhaltlosen Versenkung in den Text. Die Komposition des Wozzeck entwirft eine überaus reiche, vielfältig gegliederte Kurve des in­ wendi­gen Gesamtverlaufs: expressionistisch darin, dass sie ganz und gar in einem seelischen Innenraum spielt. Sie zeichnet jede dramatische Regung bis zur Selbstvergessenheit nach. Gerade dadurch indessen wird sie in sich ebenfalls so gegliedert, artikuliert, variierend entwickelt wie nur grosse Musik, wie Instru­ men­talsätze von Brahms oder Schönberg. In ihrer unerschöpflichen, aus sich selbst heraus sich erneuernden Erfahrung gewinnt sie ihre Autonomie, während jenen Opernmusiken, die sich von der Szene lossagen und hemmungslos drauf­ loslaufen, eben dadurch Eintönigkeit und Langeweile drohen. Vielleicht ist es die tiefste Paradoxie der Wozzeck-Partitur, dass sie musikalische Autonomie er­ langt, nicht indem sie dem Wort opponiert, sondern als rettende diesem hörig folgt. Die Wagnersche Forderung, das Orchester solle das Drama bis in die letzten Verästelungen mitvollziehen und damit zur Symphonie werden, verwirk­ licht der Wozzeck, und das endlich tilgt den Schein von Formlosigkeit im Musik­ drama. Der zweite Akt ist buchstäblich eine Symphonie, mit aller Spannung und aller Geschlossenheit der Form, und gleichwohl so sehr Oper in jedem Augen­ blick, dass der Hörer, der es nicht weiss, an eine Symphonie nicht einmal denken wird.



IST MELODIE IN DIESER MUSIK ÜBERHAUPT MÖGLICH? Ein Interview mit Alban Berg am 23. April 1930 im Wiener Rundfunk Opponent: Also verehrter Meister Berg, wir müssen beginnen! Alban Berg: Fangen nur Sie an, es genügt mir, wenn ich das letzte Wort habe. So sicher sind Sie Ihrer Sache?! So sicher, wie man einer Sache sein kann, an deren Entwicklung und Wachs­ tum man selbst seit einem Vierteljahrhundert Anteil genommen hat, und zwar nicht nur mit der Sicherheit, die einem Verstand und Erfahrung gegeben haben, sondern – was mehr ist – mit der des Glaubens. Also schön! Es ist wohl am einfachsten, wenn ich gleich den Titel unseres Dialoges aufgreife: Was ist atonal? Die Antwort lässt sich nicht leicht mit einer Formel abtun, die gleichzeitig Definition wäre. Dort, wo dieser Ausdruck zum ersten Mal gebraucht wurde – wahrscheinlich in einer Zeitungskritik – kann es, wie das Wort deutlich sagt, natürlich nur gewesen sein, um eine Musik zu bezeichnen, deren harmonischer Verlauf nicht den bis dahin bekannten Gesetzen der Tonalität entsprach. Das soll wohl heissen: Im Anfang war das Wort, oder besser gesagt, ein Wort, mit dem die Hilflosigkeit ausgeglichen werden sollte, mit der man einer neuen Erscheinung gegenüberstand. Ja, das will ich sagen, aber noch mehr: Diese Bezeichnung «atonal» geschah zweifellos in der Absicht, herabzusetzen, so wie dies bei den zur selben Zeit aufgebrachten Worten, wie arhythmisch, amelodisch, asymmetrisch der Fall ist. Während sich aber diese Worte nur zu einer gelegentlichen Kennzeich­


nung spezieller Fälle eigneten, wurde die Bezeichnung «atonal» – ich muss schon sagen: leider – zu einem Sammelbegriff für eine Musik, von der man nicht nur annahm, dass sie keine Bezogenheit zu einem harmonischen Zentrum hat (um mich des von Rameau eingeführten Begriffes der Tonalität zu bedienen), sondern, dass sie auch allen anderen Erfordernissen der Musik, wie Melodik, Rhythmik, formale Gliederung, im kleinen und im grossen nicht entspricht, so dass die Bezeichnung heute eigentlich soviel heisst, wie keine Musik, ja wie Unmusik. Tatsächlich stellt man sie ja auch in völligen Gegensatz zu dem, was man bisher unter Musik verstand. Aha, ein Vorwurf! Ich muss ihn freilich gelten lassen. Nun sagen Sie aber selbst, Herr Berg, besteht nicht tatsächlich ein solcher Gegensatz, und ist durch den Verzicht auf die Bezugnahme auf eine bestimmte Tonika nicht tatsächlich das ganze Gebäude der Musik erschüttert? Bevor ich Ihnen das beantworte, möchte ich folgendes vorausschicken: Wenn diese sogenannte atonale Musik in harmonischer Hinsicht auch nicht auf eine Dur- oder Mollskala bezogen werden kann – schliesslich hat es ja auch schon vor der Existenz dieses harmonischen Systems Musik gegeben. ...und was für eine schöne, kunstvolle und phantasiereiche! ...so ist damit noch gar nicht festgestellt, ob sich nicht doch in den «atona­ len» Kunstwerken des letzten Vierteljahrhunderts, zumindest in Hinblick auf die chromatische Skala und die daraus resultierenden neuen Akkordbildun­ gen, ein harmonisches Zentrum, welches natürlich nicht mit dem Begriff der alten Tonika identisch ist, finden lassen wird. Selbst wenn dies in Form einer systematischen Theorie nicht gelingen sollte... Ach, diesen Zweifel finde ich unberechtigt! Na, um so besser! Aber unabhängig davon sind wir auch heute schon so weit, in der von Schönberg zum ersten Mal praktizierten «Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen» ein System zu haben, das der alten Harmonielehre hinsichtlich Gesetzmässigkeit und Materialgebundenheit in nichts nachsteht.


Sie haben ja auch auf meine frühere Frage noch gar nicht geantwortet, ob nämlich nicht wirklich ein solcher Gegensatz zwischen der früheren und der jetzigen Musik besteht und ob also durch den Verzicht auf die Bezogenheit auf eine Tonika nicht tatsächlich das ganze Gebäude der Musik ins Wanken gekommen ist? Nun, wo wir uns geeinigt haben, dass durch den Verzicht auf die Dur- und Molltonalität keineswegs harmonische Anarchie einzureissen braucht, kann ich diese Frage viel leichter beantworten. – Selbst wenn durch den Verlust von Dur und Moll einige harmonische Möglichkeiten verloren gegangen sind, so sind doch alle anderen Erfordernisse wirklicher und echter Musik geblieben. Heute weiss man ja, dass atonale Kunst für sich genommen fesseln kann, ja in bestimmten Fällen sogar fesseln muss. Dort nämlich, wo echte Kunst ist! Es handelt sich nur darum, zu zeigen, ob atonale Musik wirk­ lich in jenem gleichen Sinn als Musik zu bezeichnen ist wie alles frühere Schaffen. Das heisst, ob – wenn sich, wie Sie behaupten, nur das harmonische Fundament geändert hat – alle anderen Elemente der bisherigen Musik auch in der neuen vorhanden sind. Das behaupte ich allerdings und könnte dies an Hand einer modernen Partitur in jedem Takt nachweisen. Vor allem nachweisen – um mit dem Wichtigsten zu beginnen –, dass dieser Musik, wie jeder anderen, die Melodie, die Haupt­stimme, das Thema zugrunde liegt, beziehungsweise ihr Verlauf da­durch bedingt ist. Ja, ist denn innerhalb dieser Musik Melodie im herkömmlichen Sinn überhaupt möglich? Ja natürlich, sogar eine gesangliche. Nun, was den Gesang betrifft, Herr Berg, so befindet sich die atonale Musik ja doch auf neuen Wegen. Hier gibt es unbedingt bisher Un­ gehör­tes, ja, ich möchte fast sagen, vorläufig Unerhörtes. Aber doch nur in Bezug auf das Harmonische; darüber sind wir uns ja einig. Es ist aber ganz falsch, dies im Hinblick auf die sonstige Eigentümlichkeit der



melodischen Linienführung als einen neuen Weg, wie Sie behaupten, oder gar als Ungehörtes und Unerhörtes zu bezeichnen. Auch bei einem Gesangspart nicht, auch wenn er sich, wie unlängst zu lesen war, durch instrumental chromatische, verkrauste, verzackte, weitsprüngige Intervalle auszeichnet, eben­sowenig, wie damit allen gesanglichen Notwendigkeiten der Menschen­ stimme widersprochen wird. Das habe ich auch nicht behauptet, aber ich kann mir nicht helfen, eine solche Behandlung der Gesangsmelodie und der Melodie überhaupt erscheint mir doch noch nicht dagewesen. Das ist es ja, wogegen ich mich wehre. Ich behaupte im Gegenteil, dass die Gesangsmelodie, so wie sie mit diesen angeführten Worten charakterisiert, ja karikiert wurde, immer da war, besonders in der deutschen Musik, und ich behaupte weiter, dass diese sogenannte atonale Musik, soweit sie wenigstens von Wien ausging, sich natürlich auch in dieser Hinsicht an die Meisterwerke der deutschen Musik gehalten hat und nicht etwa – bei aller Verehrung – an die italienische Belcanto-Oper. Eine Melodie, die sich an eine stufenreiche und, was fast gleichbedeutend ist, kühne Harmonik anschliesst, kann natürlich, solange man diese harmonische Ausdeutung nicht versteht, leicht «verkraust» erscheinen, was ja von einer mit Chromatik durchsetzten Schreibweise nicht minder der Fall ist, und wofür es hunderte Beispiele bei Wagner gibt. Aber hören Sie lieber eine Melodie von Schubert aus dem berühmten Lied Letzte Hoffnung. – Ist Ihnen das verkraust genug? Oder folgende, ohne die harmonische Grundlage kaum verständliche Phrase aus dem Lied Wasserflut (Takt 11/12)? Um bei Schubert, diesem Melodiker par excellence zu bleiben, was sagen Sie zu einer solchen Behandlung der Singstimme aus dem Lied Der stür­mische Morgen (Takt 4/8)? – Sind das nicht typische Beispiele für eine reichlich ver­zackte Singstimme? Und dies für eine besonders «weitsprüngige»? Ähnliches, quasi Instrumentales finden Sie in der Stimmführung Mozarts. Es genügt ein Blick in die Don-Juan-Partitur. Zum Beispiel folgende für Streicher wie geschaffene Gesangsstelle der Donna Elvira (Takt 1) oder die verkappte Klarinettenstelle der selben Arie (Takt 5) oder die instrumentale


Stelle des Leporello-Zerlinen-Duetts (Takt 30/31) oder die ganze Donna Anna-­Partie oder, um schliesslich einen besonders deutlichen Fall aufzuzeigen von einer verzackten, weitsprüngigen, den Umfang von zwei Oktaven überschreitenden Melodie, die folgende Gesangsstelle aus Così fan tutte (1. Akt, Arie der Fiordiligi, Takt 9-13)! Sie sehen, dass es also doch noch eine andere Behandlung der Singstim­ me gibt als die, die man uns immer als Vorbild vorhält, und die sich im Grunde nur durch gehäufte Verwendung langgezogener Töne in der oberen Quint der jeweiligen Singstimme auszeichnet, sondern dass, wie die Klassiker gezeigt haben, die Singstimme unter Umständen auch ein durchwegs be­­­wegliches, in allen Lagen ausdrucksvolles, beseeltes und noch dazu der Deklamation fähiges – allerdings ideales – Instrument darstellt. Sie sehen aus diesen klassischen Beispielen aber auch, dass es gar nichts mit der Atonalität zu tun hat, wenn einer Melodik, und dies auch in der Opernmusik, die schwelgerische Weichheit italienischer Kantilenen abgeht. Sie werden übrigens dies auch vergeblich bei Bach suchen, und dem wird doch hoffentlich niemand melodische Potenz absprechen.




EXISTENZ OHNE LEBENSSINN Wovon erzählen die Dramen Georg Büchners? Gedanken zu einem pessimistischen Blick auf die Menschen Peter Kümmel

Kürzlich hörte ich in einem schwäbischen Dorf, wie ein Bauer einen abwesen­ den Bekannten verfluchte. Der Bauer sass im Wirtshaus und sprach: Den soll der Blitz beim Scheissen treffen! Man merkte, dass ihm die Sache ernst war. Der Bauer bebte vor Zorn, er hätte es wirklich gewollt: Dem Feind sollte nicht nur das Leben genommen werden, er sollte im Moment, da es geschähe, auch nackt, schmutzig, arglos und allein sein. Ich, am Nebentisch, stellte mir den Moment vor – der Blitz fährt nieder, zwei Häufchen bleiben übrig, eins von Asche und eins von Kot – und musste lachen. Der Verfluchte war wohl der Bürgermeister des Dorfes. Aber dann fiel mir ein anderer grosser Gewitter­spruch ein, Büchners Woyzeck hat ihn geprägt. Und ich hörte auf zu lachen. Woyzeck, der elende, von der Wissenschaft missbrauchte, von Stimmen verfolgte, von seiner Geliebten betrogene Soldat, sagt zum Hauptmann: «Wir arme Leut… Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.» Büchners Sprache hat eine Wut, die dem Fluch des grimmigen Schwaben ebenbürtig ist. Sein Blitz, sein Blick ist so scharf, dass jeder, den er streift, vulgär gesagt, beim Scheissen getroffen wird – erfasst in der erbärmlichen Mitte des Lebens, im Moment der Einsamkeit, der Notdurft und der Erwartung. Die Wirkung von Büchners Sätzen ist wie eine Entwurzelung, aber nicht dem Ziel der Vernichtung, sondern der Befreiung: Das muss alles neu gedacht werden. Er will das Leben gar nicht verneinen, sondern er stellt in Frage, dass es überhaupt schon begonnen hat. Danton sagt zu Camille: «Es wurde ein Feh­ler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns freilich etwas, ich habe keinen


Namen dafür, aber wir werden es uns einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns darum die Leiber aufbrechen? Geht, wir sind elende Alchymisten.» Immer wieder vergleicht Büchner den Menschen mit einem Mechanismus, einer Puppe, einem von aussen geführten Ding, in das man hineinsehen kann, ohne zu wissen, warum es funktioniert. «Jeder hat eine feine, feine Feder von Ru­bin unter dem Nagel der kleinen Zehe am rechten Fuss, man drückt ein klein wenig, und die Mechanik läuft volle fünfzig Jahre» – so heisst es in Leonce und Lena. Seine Stücke sind Horrortragödien des Erkennens: Je mehr einer von der Welt begreift, desto unwirtlicher wird sie ihm: leer das Getriebe, hohl jeder Mittänzer. Je mehr er durchschaut, desto weniger Möglichkeiten zur Flucht hat er. Viele Büchner-­Sätze wirken, als sei ihr Autor von Untoten umgeben, unsicher, ob er nicht selbst einer ist. In Leonce und Lena unterhält er sich glänzend mit seiner eigenen Verzweiflung, und seine tiefe Traurigkeit erzeugt dort, wo sie an die Oberfläche kommt, einen unbändigen Springbrunnen an Einfällen. Aber wenn es in dieser Komödie heisst, das Volk möge sich im Quadrat aufstellen, um zahlreicher zu erscheinen, so weiss man, wie Büchner es meint: Das Volk lebt gar nicht, es sind lauter Gespenster. Auch die Szene aus dem Woyzeck, in welcher ein «Erster Handwerksbursche» aus sich herausgeht, um seine Meinung über die Welt kundzutun, ist im Grunde schauderhaft: «Jedoch, wenn ein Wan­ derer, der gelehnt steht an dem Strom der Zeit, oder aber sich die göttliche Weisheit vergegenwärtigt und fraget: Warum ist der Mensch? (mit Pathos) Aber wahrlich, geliebte Zuhörer, ich sage Euch: (verzückt) Es ist gut so! Denn von was hätten der Landmann, der Fassbinder, der Schneider, der Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte? Von was hätte der Schneider leben sollen, wenn Er nicht dem Menschen die Empfindung der Schamhaftigkeit eingepflanzt hätte? Von was der Soldat und der Wirt, wenn Er ihn nicht mit dem Bedürfnis des Totschiessens und der Feuchtigkeit ausgerüstet hätte?» Und wovon, kann man heute fragen, sollten die beiden Spezialisten der Gegenwart, der Controller und der Motivationstrainer, bloss leben, wenn uns Gott nicht die Gier und die Angst vor dem Abstieg eingepflanzt hätte? Gott hat die Berufe geschaffen, um sich an der Einfalt der Spezialisten zu er­freu­en. Wer

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben


einen Beruf hat, ist kein lebender Mensch, sondern bloss ein Schneider oder ein Soldat oder ein Wirt. In Leonce und Lena wird derselbe Gedanke noch spasshafter gefasst. Dort sagt der Prinz: «Denn wer arbeitet, ist ein subtiler Selbstmörder, und ein Selbstmörder ist ein Verbrecher, und ein Verbrecher ist ein Schuft, also, wer arbei­tet ist ein Schuft.» Es ist von Büchner gar nicht so weit zum Horror in der amerikanischen TV-Serie Walking Dead (Die wandeln­ den Toten). Wo er hinblickt, zerfällt die Welt – in Abgründe, Spezialbegabun­ gen, Konkurrenz, Betriebsdummheit. Auch in den Spiegel kann er nicht mehr schauen, weil der Mann darin eine Marionette mit einer Maske vor dem hohlen Kopf ist. Anders als die Untoten in den amerikanischen Serien sind die Gestalten Büchners aber Wesen, die ihr Leben nicht hinter, sondern möglicherweise noch vor sich haben – das ist der Glutpunkt der Hoffnung in seinem Werk. Haben wir noch gar nicht angefangen?

Drei Szenen Erstes Weib: «Ein hübscher Mann, der Hérault!» Zweites Weib: «Wie er beim Konstitutionsfest so am Triumphbogen stand, da dachte ich so, der muss sich gut auf der Guillotine ausnehmen, dachte ich. Das war so ’ne Ahnung.» Drittes Weib: «Ja, man muss die Leute in allen Verhältnissen sehen: es ist recht gut, dass das Sterben so öffentlich wird.» Was prägt diese grimmige Stelle aus Dantons Tod ? Am ehesten wohl die Abwesen­heit von Mitgefühl, heute – Emphase. Und man stellt sich vor: Dieses Gespräch findet jetzt unter den Hasskommentatoren im Netz oder unter einer Freundesmeute bei Facebook statt, beim Gespräch über die Todesarten, die man einem Kinderschänder, einem korrupten Fussballschiedsrichter, einem ver­ hassten Mitschüler wünscht. Büchner hört das alles nicht mit Häme, eher mit Staunen; und er hat auch nicht die Beflis­sen­heit eines Pädagogen, der glaubt, er müsse uns ein Verhalten nur zeigen, um es abzustellen. Welche Moral spricht aus seinen Texten? Keine, allenfalls die der Genauig­keit. Volker Braun hat in seiner Dankesrede zur Verleihung des Büchnerpreises gesagt: «Es ist die Schärfe seiner Fragen, die Georg Büchner von uns allen trennt: und das entschlossene Zögern mit Antworten.»



— «Dieweil der Tag lang und die Welt alt ist, können viel Menschen an einem Platz stehen, einer nach dem andern.» Was ist das? Der Befund eines Menschen, der einen Mittelmeerstrand betrachtet, an dem nachts die syrischen Flüchtlinge landen und am Nachmittag die nordeuropäischen Touristen liegen? Der Satz eines Unsterblichen, der 400 Jahre lang auf denselben Platz gestarrt hat? Nein, es ist nur Marie im Woyzeck. Büchner richtet diesen Jahrhundertblick aus dem Kopf jeder Gestalt auf jeden Erdenfleck. Die Verwandlung des Erdenflecks ins Niegesehene, Niedagewesene ist hier jedem gegeben, der eine Stimme hat – auch wenn ihn die Verwandlung nicht retten wird. Eineinhalb Jahrhunderte später, in Samuel Becketts Fernsehspielen Quadrat I und II, eilen stumme, von Furien gehetzte Kuttenträger über eine quadratische Bühne, im strengen Zick­ zack, sie sinken immer tiefer ein in die Bühne, einer nach dem anderen, und während sie das tun, wird der Tag lang und die Welt alt. Beckett hat gesagt, während seines Spiels vergingen zehntausend Jahre. Den Satz zu diesem Spiel hat Büchners Marie gesagt. — «Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir sind sehr einsam», sagt Danton. Und: «Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.» Kürzlich habe ich, im Fern­ sehen, diese Szene in einer modernen Paraphrase gesehen. In einer Folge von Dr House sagt eine Frau zu ihrem Geliebten: «Wie schade, dass du keinen Blog schreibst. So werde ich nie erfahren, was Du denkst.»

Der Blitz, der zum Himmel auffährt Büchner glaubt nicht an den Gott, der Blitze senden könnte, an den alttesta­ mentarischen Strafmeister. Aber an den zu strafenden Gott, der seine Pflichten nicht wahrnimmt, der nicht hilft, nicht rettet, nicht auffängt, an den glaubt er wohl. Nach ihm durchsucht er das leere Universum. Man könnte sagen, das Werk Büchners ist ein grosser Weltdurchsuchungsbefehl: Wo ist ER? Manche Passagen seines Werkes sind so grossartig, dass man glaubt, er habe ihn doch gefunden: So will er, im Lenz, Gott zwischen seinen Wolken schleifen, im Zorn


über den Tod eines armen Kindes, und mit Dantons Stimme erklärt er, es gehe ein Riss durchs Universum, wenn nur ein Wesen Schmerz empfinde. Man könn­ te sagen, Büchner schickt den Wunsch-Blitz, den der grimmige Schwabe vom Beginn dieses Textes aus dem Himmel fahren lässt, kraft seines Geistes zurück, nach oben: Er will Gott durch seine Schöpfung jagen, er will ihn aus seinen Wolken fegen. Fast 140 Jahre, so scheint es, hat Gott sich Zeit gelassen, ehe er Büchner endlich Antwort gab. Im Jahr 1972 erschien ein Song des Amerikaners Randy Newman, und dieses Meisterwerk, Gods Song, muss Newman von Büchners Gott in die Feder diktiert worden sein. ER ist es selbst, der hierin das Wort an uns richtet, und siehe, der Schöpfer ist ein unrührbarer, kalter Herr, dem die Menschheit weniger bedeutet als eine Kaktusblüte, und der über die Gebete lacht, welche die Menschen an ihn richten: «How we laugh up here in heaven at the prayers you offer me …» Wie wir hier oben über euch lachen müssen! Warum «wir»? Natürlich könnte es der Pluralis Majestatis sein, den Gott hier verwendet. Aber vielleicht meint Newmans Gott auch die Gefolgschaft der Elenden, mit denen er sich im Himmel umgibt. «Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen.» Ich stelle mir Woyzeck als einen niederen Geräuschemacher vor, einen jener tauben Blech­ dosenglöckner, die im Himmel für die verheerendsten Schläge zuständig sind. Denn selbst wenn es keine Götter mehr geben sollte, so muss es, das hat Büch­ ner uns gelehrt, Donnerhelfer ohne Zahl dort oben geben. Fünf Siebtel der Weltbevölkerung sind arm, zwei Siebtel reich; fünf Siebtel werden den Donner erzeugen, den sich die Übrigen gelassen anhören werden. Wenn es donnert, muss ich an Woyzeck denken.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben


FATALISMUS Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschli­ chen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Grösse ein blosser Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppen­spiel, ein lächerliches Ringen gegen ein eher­ nes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Pa­­ra­degäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhne mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinen­ messer. Das  m u s s  ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muss ja Ärgerniss kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Georg Büchner an Wilhelmine Jaeglé, Giessen, Januar 1834




Wozzeck: Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut... Alban Berg, ÂŤWozzeckÂť, 2. Akt, 3. Szene


ES WAR EINMAL Es war einmal ein arm Kind und hat keinen Vater und keine Mutter, war Alles todt und war Niemand mehr auf der Welt. Alles todt, und es ist hingegangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erde Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s eine verwelkte Sonnenblume und wie’s zu den Sternen kam, waren’s kleine goldene Mücken die waren angesteckt wie der Neuntödter sie auf die Schlehen steckt und wie’s wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Haufen und es war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt es noch und ist ganz allein. Georg Büchner, «Woyzeck», H 1, 14 (Grossmutter)






DER TON «H» Wenn schliesslich zu den sich bis zum höchsten ff steigernden Paukenschlägen auf «H» der Mord an Marie geschieht, erklingen zu diesem Orgelpunkt in sich überstürzender Aufeinanderfolge alle ihr zugehörigen wichtigen musikalischen Gestalten, die – so wie es im Moment des Todes sich ergeben mag – wie die wichtigsten Gestalten des Lebens blitzartig und verzerrt an ihr vorüberziehen. So das Schlummerlied ihres Kindes aus dem ersten Auftritt; Anklänge an ihre Schmuck-Szene vom 2. Akt; der Tambourmajor selbst (der gleiche Takt); das Thema der Klage über ihr Elend, um endlich im Moment ihres letzten Atemzu­ ges in das Quintenmotiv auszuklingen, in das Motiv des vergeblichen Wartens. Die kurze Verwandlungsmusik bringt dieses liegende «H» noch einmal. Diesmal unisono in der eingestrichenen Lage, als den einzigen Ton der gesamten Skala, der in fast allen Instrumenten des grossen Orchesters vorhanden ist, und zwar mit dem denkbar leisesten, einem gedämpften Horn, beginnend und durch immer stärker werdende Einsätze, schliesslich des ganzen Orchesters (ohne Schlag­werk!), sich zur höchsten Macht entfaltend. Zu diesen Einsätzen ist zu bemerken, dass sie nicht in regelmässigen Abständen, sondern nach einem ei­ gen­tümlichen rhythmischen Gesetz in Erscheinung treten, und zwar indem sowohl die Einsätze der Bläser für sich als auch die der Streicher für sich einen Rhythmus ergeben. Wobei beide Gruppen jener rhythmisch geordneten Ein­ sätze, gleichsam kanonisch ineinandergehend, um ein Viertel verschoben sind. Es hat den Anschein, als ob die dadurch entstandene scheinbare Unregelmäs­ sig­keit – die dem Hörer natürlich ebensowenig bewusst wird wie die logische Ordnung der Einsätze –, es hat also den Anschein, dass diese scheinbare Un­ regel­mässigkeit jenem crescendierten Ton ein ganz besonders starkes Leben ein­atmet. Tatsache ist, dass dieses Crescendo von einer fast noch grösseren dynamischen Wirkung und Intensität ist als die Wiederholung dieses Crescendos auf «H» in verschiedenen Lagen der Skala, an dem sich auch das gesamte Schlag­ werk beteiligt. Alban Berg, «Wozzeck»-Vortrag, 1929


VON WOYZECK ZU WOZZECK Daten und Fakten 1780  Am 3. Januar wird Johann Christian Woyzeck in Leipzig als Sohn eines Perückenmachers geboren. 1807-18  Woyzeck ist Soldat in den Diensten der verschiedensten Militärmächte und hat in Stralsund enge Beziehungen zu einer unverheirateten Frau, der «Wienbergin», die ein Kind von ihm hat. 1813  Georg Büchner kommt am 17. Oktober in Goldau (Hessen/Darmstadt) zur Welt. 1821-22  Woyzeck ersticht aus Eifersucht seine ehemalige Geliebte Johanna Christiane Woost in Leipzig. Er wird gleich darauf verhaftet. Das Gericht ordnet eine ärztliche Unter­suchung von Woyzecks psychischer Verfassung an. Hofrat Johann Christian August von Clarus erstellt ein erstes Gutachten, mit dem Ergebnis, dass der Täter uneingeschränkt zurechungsfähig sei. Sach­ verständige erheben Bedenken; Berichte von Zeugen lassen auf einen ver­ wirrten Geisteszustand Woyzecks schliessen. Die Hinrichtung wird ausgesetzt. 1823  Ein zweites Gutachten von Clarus kommt erneut zu dem Ergebnis, Woyzeck sei nicht geistesgestört, sondern voll verantwortlich. Es bildet die Grundlage für die Vollstreckung des Todesurteils. 1824  Woyzeck wird am 27. August auf dem Marktplatz in Leipzig mit dem Schwert hingerichtet. 1836  Büchner beginnt mit der Niederschrift von Szenen für ein geplantes Drama über den Fall Woyzeck. 1837  Büchner stirbt am 19. Februar in Zürich. Er hinterlässt Woyzeck als Fragment. 1850  Büchners Bruder Ludwig nimmt in der von ihm verantworteten Gesamt­ ausgabe die Woyzeck-Fragmente nicht auf. Die Arbeit sei nicht entzifferbar und ergebe keinen Zusammenhang.


1879  Karl Emil Franzos behandelt das Manuskript mit chemischen Substanzen und macht es so wieder lesbar. Er gibt eine Art Spielfassung der Fragmente unter dem Titel Wozzeck heraus (der Titel beruht auf einer falschen Lesung des Namens), die in der Wiedergabe einzelner Textpassagen die Büchnerschen Intentionen zum Teil sehr verfälscht. 1885  Alban Berg wird am 9. Februar in Wien geboren. 1913  Am 8. November findet die Uraufführung von Wozzeck bei den Münch­ ner Kammerspielen statt. Die Titelrolle spielt Albert Steinrück. 1914  Alban Berg sieht am 4. Mai die Wiener Erstaufführung des Wozzeck an der Residenzbühne. Angezogen vom «ungeheuren Stimmungsgehalt» (Brief an Anton Webern) der Szenen, entscheidet sich Berg sofort zur Vertonung. Er beginnt mit Skizzen zur «Strassenszene» und zur «Wirtshausszene». 1915  Berg beginnt mit der Texteinrichtung. Als Basis dienen ihm in erster Linie die Ausgaben von Karl Emil Franzos und Paul Landau (neue Szenenanord­ nung). Im August wird die Arbeit für zwei Jahre durch Bergs Einberufung zum Kriegsdienst unterbrochen. 1916-17  Aufgrund einer abwertenden Äusserung Arnold Schönbergs über den Wozzeck als Opernstoff will Berg den Plan dieser Oper fallenlassen. Er sucht bei den Dramen Strindbergs nach einem neuen Stoff. Im Sommer 1917 nimmt er die Arbeit an Wozzeck jedoch wieder auf, muss sie aber im Herbst wegen des fortlaufenden Militärdienstes erneut unterbrechen. 1918  Im Sommer erhält Berg vom Kriegsministerium sieben Wochen Urlaub und kann an der Oper weiterarbeiten. Im Winter stockt die Arbeit erneut, da Berg die Leitung des von Schönberg ins Leben gerufenen «Vereins für musi­ kalische Privataufführungen» übernimmt. 1919  Im Sommer ist das Libretto fertiggestellt. Berg widmet sich nun ganz der Komposition und stellt den ersten Akt fertig. Ende des Jahres erscheint eine neue Ausgabe des Büchnerschen Woyzeck von Georg Witkowski, die den schwierig zu entziffernden Text und die Anordnung der Szenen kritisch berichtigt hat. Berg ändert allerdings nur wenig am bereits fertigen Libretto. 1920  Berg stellt den zweiten Akt fertig. 1921  Mitte Oktober ist die Komposition beendet. Berg beginnt mit der Instru­ mentation und der Partiturniederschrift.


1922  Im April ist die Instrumentation beendet, Ende Mai liegt die handschrift­ liche Partitur als Stichvorlage vor. Ende des Jahres erscheint der Klavierauszug im Selbstverlag mit finanzieller Unterstützung von Alma Mahler, die auch die Widmungsträgerin der Oper ist. 1924 Im Januar findet in den Büroräumen des Wiener Konzerthauses ein Vor­ spiel der Oper am Klavier in Beisein von Erich Kleiber statt. Kleiber ist danach überzeugt, diese Oper zu leiten. Am 11. Juli werden Teile aus dem 1. und 3. Akt, die sogenannten «Bruchstücke», unter Hermann Scherchen in Frank­ furt am Main konzertant uraufgeführt. 1925 Am 14. Dezember findet die Uraufführung der Oper unter Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper Unter den Linden statt. Am Ende der Vorstellung gibt es stehende Ovationen wie auch Pfiffe und Buhrufe. Von den ersten Tantiemen kauft sich der Autofan Berg einen Ford. 1926 Wozzeck wird im Prager Nationaltheater gezeigt. In Bremen wird Manfred Gurlitts Wozzeck-Oper uraufgeführt. Diese Vertonung des WoyzeckStoffes steht jedoch immer im Schatten der Oper von Berg. 1927 Wozzeck wird in Leningrad gezeigt. 1929 Eine Aufführung in Oldenburg beweist, dass dieses als unaufführbar gelten­­de Werk auch von kleinen Bühnen realisiert werden kann. Für die dor­ tige Aufführung hält Alban Berg einen längeren Einführungsvortrag. 1931 Am 17. Oktober wird Wozzeck am Zürcher Stadttheater gezeigt. Die Oper wird zu Bergs Lebzeiten an insgesamt 25 verschiedenen Theatern gespielt. 1933 Während der Zeit des Nationalsozialismus wird Wozzeck in Deutschland verboten, da Bergs Werke als «entartet» gelten. 1935 Alban Berg stirbt in der Nacht zum 24. Dezember in Wien an einer Blutvergiftung. 1948 In Düsseldorf wird die Oper erstmals nach dem Krieg wieder auf einer deutschen Bühne gezeigt.





ALLE GLEICH I c h v e r a c h t e N i e m a n d e n,  am wenigsten wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, – weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände ausser uns liegen. Man nennt mich einen S P Ö T T E R.  Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darüber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darüber, d a s s er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal theile. Ich hoffe noch immer, dass ich leidenden, gedrückten Gestalten mehr mitleidi­ge Blicke zugeworfen, als kalten, vornehmen Herzen bittere Worte gesagt habe. Georg Büchner an die Familie, Giessen, Februar 1834



WOZZECK ALBAN BERG (1885-1935) Oper in drei Akten (15 Szenen) nach Georg Büchners «Woyzeck» op. 7 Uraufführung: 14. Dezember 1925, Staatsoper Unter den Linden, Berlin

Personen

Wozzeck

Bariton und Sprechstimme

Tambourmajor Andres

Heldentenor

Lyrischer Tenor und Sprechstimme

Hauptmann Doktor 1. Handwerksbursch

Tenorbuffo

Bassbuffo Tiefer Bass und Sprechstimme

2. Handwerksbursch Der Narr Marie

Hoher Bariton (ev. Tenor)

Hoher Tenor Sopran

Margret Mariens Knabe

Alt

womöglich Sprechstimme

Bursche

Tenor

Chor

Soldaten und Burschen, Mägde und Dirnen, Kinder


ERSTER AKT Vorhang auf

HAUPTMANN geheimnisvoll

Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denk’. «Ewig», das ist ewig! (das sieht Er ein.) Nun ist es aber wieder nicht

1. SZENE

ewig, sondern ein Augenblick, ja, ein Augenblick!

Zimmer des Hauptmanns. Frühmorgens

– Wozzeck, es schaudert mich, wenn ich denke, dass sich die Welt in einem Tag

HAUPTMANN

herumdreht: drum kann ich auch kein Mühlrad

auf einem Stuhl vor einem Spiegel

mehr sehn, oder ich werde melancholisch!

WOZZECK

WOZZECK

rasiert den Hauptmann.

Jawohl, Herr Hauptmann!

HAUPTMANN

HAUPTMANN

Langsam, Wozzeck, langsam –!

Wozzeck, Er sieht immer so verhetzt aus!

Eins nach dem Andern!

Ein guter Mensch tut das nicht.

unwillig

Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat,

Er macht mir ganz schwindlich...

tut alles langsam... Red’ Er doch was, Wozzeck.

bedeckt Stirn und Augen mit der Hand

Was ist heut für ein Wetter?

WOZZECK

WOZZECK

unterbricht seine Arbeit.

Sehr schlimm, Herr Hauptmann! Wind!

HAUPTMANN wieder beruhigt

Was soll ich denn mit den zehn Minuten

HAUPTMANN

anfangen, die Er heut’ zu früh fertig wird?

Ich spür’s schon,’s ist so was Geschwindes

Wozzeck rasiert mit Unterbrechungen weiter.

draussen; so ein Wind macht mir den Effekt

HAUPTMANN energischer

wir haben so was aus Süd-Nord?

wie eine Maus. pfiffig Ich glaub’, Wozzeck, bedenk’ Er, Er hat noch seine schönen dreissig Jahr’ zu leben! Dreissig Jahre: macht

WOZZECK

dreihundert und sechzig Monate und erst wieviel

Jawohl, Herr Hauptmann!

Tage, Stunden, Minuten! Was will Er denn mit der ungeheuren Zeit all’ anfangen?

HAUPTMANN lacht lärmend

wieder streng

Süd-Nord!

Teil’ Er sich ein, Wozzeck!

lacht noch lärmender

Oh, Er ist dumm, ganz abscheulich dumm! WOZZECK

gerührt Wozzeck,

Jawohl, Herr Hauptmann!

Er ist ein guter Mensch,


setzt sich in Positur aber...

Er hat keine Moral!

ANDRES

mit viel Würde

Es wird finster, das macht Dir angst. Ei was!

Moral: das ist, wenn man moralisch ist!

hört mit der Arbeit auf, stellt sich in Positur und singt

Versteht Er? Es ist ein gutes Wort.

Läuft dort ein Has vorbei,

Fragt mich, ob ich Jäger sei?

Jäger bin ich auch schon gewesen,

Schiessen kann ich aber nit!

mit Pathos

Er hat ein Kind ohne

den Segen der Kirche, WOZZECK

Jawo... unterbricht sich

WOZZECK

Still, Andres! Das waren die Freimaurer! HAUPTMANN

Ich hab’s! Die Freimaurer! Still! Still!

wie unser hochwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt: «Ohne den Segen der Kirche» –

ANDRES singt weiter

das Wort ist nicht von mir.

Sassen dort zwei Hasen,

Frassen ab das grüne...

WOZZECK

unterbricht den Gesang

Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen

beide lauschen angestrengt

Wurm nicht d’rum ansehn, ob das Amen darüber gesagt ist, eh’ er gemacht wurde. Der Herr sprach:

ANDRES unterbricht den Gesang selbst etwas beunruhigt,

«Lasset die Kleinen zu mir kommen!».

wie um Wozzeck [und sich] zu beruhigen

Sing lieber mit! HAUPTMANN wütend aufspringend

Frassen ab das grüne Gras

Was sagt Er da?!

Bis... wird unterbrochen

Was ist das für eine kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus!

WOZZECK stampft auf

mit der Stimme überschnappend

Hohl! Alles hohl!

Wenn ich sage: «Er», so mein’ ich «Ihn», «Ihn». ANDRES setzt fort WOZZECK

... auf den Rasen.

Wir arme Leut! Sehn’ Sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld! Wer kein Geld hat! Da setz’ einmal

WOZZECK

einer Seinesgleichen auf die moralische Art in

Ein Schlund! Es schwankt er taumelt

die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut!

Hörst Du, es wandert was mit uns da unten!

Ja, wenn ich ein Herr wär’, und hätt’ einen Hut

in höchster Angst

und eine Uhr und ein Augenglas und könnt’

will Andres mit sich reissen

Fort! Fort!

vornehm reden, ich wollte schon tugendhaft sein! Es muss was Schönes sein um die Tugend,

ANDRES hält Wozzeck zurück

Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!

He, bist Du toll?

Unsereins ist doch einmal unselig in dieser und


der andern Welt! Ich glaub’, wenn wir in den

WOZZECK bleibt stehn

Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen!

’s ist kurios still. Und schwül. Man möchte den Atem anhalten.

HAUPTMANN etwas fassungslos

starrt in die Gegend

Schon gut, schon gut! Ich weiss beschwichtigend übertrieben

Er ist ein guter Mensch,

ein guter Mensch.

etwas gefasster

Was?

Aber Er denkt zuviel, das zehrt;

Er sieht immer so verhetzt aus. besorgt

ANDRES

Der Diskurs hat mich angegriffen.

Die Sonne ist im Begriff unterzugehen. Der letzte scharfe Strahl taucht den Horizont in das

Geh’ Er jetzt, und renn’ Er nicht so!

grellste Sonnenlicht, dem ziemlich unvermittelt die

Geh’ Er langsam die Strasse hinunter

(wie tiefste Dunkelheit wirkende) Dämmerung folgt,

genau in der Mitte und nochmals,

an die sich das Auge allmählich gewöhnt.

geh’ Er langsam, hübsch langsam! WOZZECK WOZZECK

Ein Feuer! Ein Feuer! Das fährt von der Erde

ab

in den Himmel und ein Getös’ herunter wie

Das vollständige Libretto können Sie im gedruckten Programmbuch nachlesen. www.opernhaus.ch/shop Posaunen. Wie’s heranklirrt!

2. SZENE

Freies Feld, die Stadt in der Ferne. Spätnachmittag.

ANDRES mit geheuchelter Gleichgültigkeit

Andres und Wozzeck schneiden Stöcke im Gebüsch.

Die Sonn’ ist unter, drinnen trommeln sie. packt die geschnittenen Stöcke zusammen

WOZZECK

Du, der Platz ist verflucht!

WOZZECK

Still, alles still, als wäre die Welt tot.

ANDRES weiter arbeitend

Ach was!

ANDRES

singt vor sich hin

Nacht! Wir müssen heim!

Das ist schöne Jägerei,

Schiessen steht Jedem frei!

Da möcht ich Jäger sein:

Da möcht ich hin!

Beide gehen langsam ab.

3. SZENE Mariens Stube. Abends.

WOZZECK

Die Militärmusik nähert sich.

Der Platz ist verflucht! Siehst Du den lichten Streif da über das Gras hin, wo die Schwämme

MARIE mit ihrem Kind am Arm beim Fenster, spricht

so nachwachsen? Da rollt Abends ein Kopf.

Tschin Bum, Tschin Bum, Bum, Bum, Bum!

Hob ihn einmal Einer auf, meint’, es wär’ ein

Hörst, Bub? Da kommen sie!

Igel. Drei Tage und drei Nächte drauf, und er lag auf den Hobelspänen.

Die Militärmusik – mit dem Tambourmajor an der Spitze –


Programmheft WOZZECK Oper in drei Akten (15 Szenen) von Alban Berg op. 7 Premiere am 13. September 2015, Spielzeit 2015/16

Herausgeber

Intendant

Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

Titelseite Visual

Anzeigenverkauf

Opernhaus Zürich Andreas Homoki Kathrin Brunner Carole Bolli François Berthoud Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Handlung schrieb Kathrin Brunner für dieses Heft. – Der Text «Existenz ohne Lebenssinn» von Peter Kümmel und die Produktionsgespräche mit Andreas Homoki und Fabio Luisi sind Ori­gi­nal­beiträge für dieses Heft. – Die Zeittafel «Von Woyzeck zu Wozzeck» wurde für dieses Heft zusammengestellt. – Georg Büchner, zitiert nach: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe, Stuttgart 2012. – «Zur Charakteristik des Wozzeck», aus: Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, Band 13: Die musikalischen Monographien. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1970. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. – Alban Berg, «‹Wozzeck›-Vortrag» (Auszug), in: Hans-Ferdinand Redlich: Alban Berg – Versuch einer Würdigung.

Studio Geissbühler Fineprint AG

Wien 1957. – Interview mit Alban Berg am 23. April 1930 im Wiener Rundfunk (Originaltitel: «Was ist atonal?»), in: 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift, Nr. 26/27 vom 8. Juni 1936, Wien. – Den formalen Aufbau von «Wozzeck» entnahmen wir aus: Programmheft zu «Wozzeck», Wiener Staatsoper, Saison 1980/81. Bildnachweis: Monika Rittershaus fotografierte die Klavierhauptprobe am 2. September 2015. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Freunde der Oper Zürich

Swiss Re Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

Walter Haefner Stiftung PROJEKTSPONSOREN AMAG Automobil- und Motoren AG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation

Max Kohler Stiftung Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Zürcher Festspielstiftung Zürcher Kantonalbank

Freunde des Balletts Zürich GÖNNER Abegg Holding AG Accenture AG Josef Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Allreal Ars Rhenia Stiftung ART MENTOR FOUNDATION LUCERNE Familie Thomas Bär

Ernst Göhner Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG Landis & Gyr Stiftung Lindt und Sprüngli (Schweiz) AG Stiftung Mercator Schweiz Fondation Les Mûrons

Berenberg Schweiz

Neue Zürcher Zeitung AG

Beyer Chronometrie AG

Notenstein Privatbank AG

Elektro Compagnoni AG

Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung

Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich

Else von Sick Stiftung Swiss Casinos Zürich AG

Fritz Gerber Stiftung FÖRDERER Confiserie Teuscher Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Garmin Switzerland Horego AG Istituto Italiano di Cultura Zurigo

Sir Peter Jonas Luzius R. Sprüngli Elisabeth Stüdli Stiftung Zürcher Theaterverein


Welche Rolle spielt Engagement?

Nur wer hinter den Kulissen langjährige Partner hat, kann auf der Bühne glänzen. Die Credit Suisse unterstützt das Opernhaus Zürich seit 1989 als Partner.

credit-suisse.com/sponsoring


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.