La verità in cimento

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LA VERITÀ IN CIMENTO

ANTONIO VIVALDI


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LA VERITÀ IN CIMENTO ANTONIO VIVALDI (1678-1741)

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DIE HANDLUNG Vorgeschichte Mamud, Unternehmer und Oberhaupt einer wohlhabenden Familie, hat zur gleichen Zeit zwei Söhne gezeugt, den einen mit seiner Ehefrau Rustena, den anderen mit seiner Geliebten, dem Dienstmädchen Damira. Um Damira ruhig­ zustellen, die seiner Ehe nicht im Weg stehen soll, verspricht er ihr, den gemein­ samen Sohn in seine Familie zu holen und ihn als Erbe aufwachsen zu lassen. Das Versprechen löst er mit einer folgenschweren Tat ein: Er vertauscht die Säug­linge seiner beiden Frauen, sodass sie mit der jeweils falschen Mutter in den falschen Verhältnissen aufwachsen: Der melancholische Zelim wird vom Dienst­ mädchen aufgezogen, obwohl er der Spross aus Mamuds rechtmässiger Ehe ist; der aufbrausende Melindo wächst als Sohn aus reichem Hause auf, obwohl er das uneheliche Kind einer Affäre ist. 25 Jahre nach dem fatalen Kindertausch, von dem nur Mamud und Damira wissen, holt Mamud sei­n schlechtes Gewis­ sen ein. Er will – koste es, was es wolle – mit dieser Lebenslüge Schluss machen.

Erster Akt Melindos Hochzeit steht unmittelbar bevor. Er wird Rosane heiraten, die, bevor sie sich in Melindo verliebt hat, mit dessen Halbbruder Zelim zusammen war. Mitten in den Hochzeitsvorbereitungen erklärt Mamud Damira, dass er die Lüge nicht länger aushält und den Kindertausch richtig stellen will. Damira ist empört und kündigt an, alles daran zu setzen, die Aufdeckung zu hintertreiben. Zelim erscheint und klagt seiner «Mutter» Damira, wie unglücklich er da­ rüber ist, mitansehen zu müssen, dass seine Ex-Freundin Rosane nun Melindo heiratet. Damira (die sich insgeheim nichts sehnlicher wünscht als diese Hochzeit) spielt Zelim Mitgefühl und besorgte Mutterliebe vor. Mamuds Ehefrau Rustena wiederum ist überglücklich darüber, dass Melindo heiratet. Rosane erzählt allen, wie sehr sie in Melindo verliebt ist, und stellt gegenüber Zelim klar, dass ihre frühere Liebe aussichtslos war, weil er ihr nichts bieten konnte. 6


Rustena erfreut sich an den Zärtlichkeiten, die das junge Paar austauscht und fordert den eifersüchtigen Zelim auf, sich doch mit seiner Ex-Freundin Ro­sane mitzufreuen. Zelim beklagt sein Unglück. Melindo hält Zelims Gejammer für Verstellung. In Wirklichkeit warte Zelim nur darauf, wie eine Schlange aus sei­ nem Versteck hervorzustossen, um einen tödlichen Biss anzubringen. Damira sucht noch einmal das Gespräch mit Mamud, um ihn davon abzu­ bringen, den Kindertausch rückgängig zu machen. Sie erinnert ihn daran, wie er sie einst geliebt und ihr Versprechungen gemacht hat. Sie ver­sucht, ihn zu verführen, aber er will davon nichts mehr wissen. Es kommt zum Streit. Damira erzählt Rustena, dass Mamud einst eine Liebesaffäre mit ihr, Dami­ ra, hatte. Weil er sich noch immer schlecht fühle, dass er sie damals habe sitzen lassen, wolle er ihr nun Gutes tun und ihrem Sohn seinen Reichtum vererben. Dazu habe er sich die Lügengeschichte eines Kindertauschs ausgedacht, die Rustena auf keinen Fall glauben solle. Rustena vertraut den Worten Damiras. Alleine schreit sich Damira ihren Frust von der Seele: Sie hasst ihre Zurück­ setzung gegenüber der hohen Familie, den unseligen Kindertausch, das Leben insgesamt. Rustena wiederum ist verbittert über die Lieblosigkeit und die Un­ treue ihres Ehemanns. Nie habe ihr das Schicksal Freude ohne Bitter­nis bereitet. In einem nächtlich traumwandlerischen Moment kommen die drei jungen Menschen Rosane, Melindo und Zelim zusammen. Rosane und Melindo spüren ihr Glück, Zelim spürt sein Unglück. Zelim erinnert Rosane daran, wie sehr sie ihn einst geliebt hat und wie nahe sie sich gekommen sind. Rosane tut das als Ver­gangenheit ab. Nun wird Melindo gegenüber Rosane misstrauisch: Er zwei­ felt sehr grundsätzlich an ihrer Fähigkeit, treu zu sein. Rosane erklärt Melindo, dass sie ihn zwar liebe, ihm aber «Addio» sage, falls er ihr mit seinen Treueforde­ rungen die Freiheit und den Lebensspass zu nehmen gedenke.

Zweiter Akt Mamud hat Rosane in einem vertrauensvollen Gespräch über die wahre Identi­ tät von Zelim und Melindo aufgeklärt und ihr zu verstehen gegeben, dass er Zelim als seinen Erbe einsetzen wird. Rosane ist verwirrt. Mamud rät ihr, sich an Zelim zu halten und sich von Melindo abzuwenden. Es sei keine gute Idee, zu lieben, was einem Nachteile bringe. 7


Rosane macht Schluss mit Melindo, der inzwischen von seinem Vater, wie Zelim auch, die Neuigkeiten seiner wahren Herkunft erfahren hat. Sie liebe Melin­do zwar immer noch, aber eine Liebe ohne Aussicht auf ein angenehmes Leben sei nichts für sie. Melindo wird wütend. Zelim beginnt sich mit seiner Identität als wahrer Sohn der wohlhabenden Familie anzufreunden. Mamud bestellt die Familie ein und verkündet offiziell, dass Melindo der Sohn von Damira ist und Zelim der Sohn von Rustena. Er erklärt Zelim zum Erben und Nachfolger in seinem Unternehmen. Der Streit unter den Familien­ mitgliedern eskaliert und mündet in tieftraurige Gefühlsverwirrung: Keiner weiss mehr, wer zu wem gehört. Niemand ist sich seiner Empfindungen mehr sicher.

Dritter Akt Melindo erscheint mit einer Waffe und läuft Amok. Er fühlt sich um seine Braut, sein Erbe und seine Familie betrogen. Er hält die Ungerechtigkeit nicht aus. Damira startet einen allerletzten Intrigenversuch: Rustena soll sich ihrem Ehemann eine theatralische Szene machen, Tränen und Wahnsinnsanfälle simu­ lieren. Aber sie erkennt die Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens. Mamud erkennt die Katastrophe, die er mit seiner öffentlich gemachten Wahr­heit ausgelöst hat, bleibt aber dabei, dass es zu Tugend und Vernunft keine Alternative gibt. Rustena wünscht sich, in den Wäldern geboren zu sein, weit weg von allem Unglück und ihrem Schmerz. Rosane versucht noch einmal mit einer Liebesbeschwörung an Melindo, zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Zelim bleibt zurück. Desillusioniert. Hoffnungslos. Hochmütig.

(Die Handlung folgt der Fassung des Opernhauses Zürich und der Inszenierung von Jan Philipp Gloger.)

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DER ERFOLGSKOMPONIST Ein Gespräch mit Ottavio Dantone, dem musikalischen Leiter unserer Vivaldi-Produktion

Herr Dantone, wie lange brauchen Sie, um ein Musikstück von Antonio Vivaldi zu erkennen? (Ottavio Dantone setzt sich ans Klavier und spielt) Hören Sie das? Klingt wie Vivaldi, nicht wahr? Ist aber von mir, improvisiert im Stil von Vivaldi. Sie sehen: Vivaldis Stil ist unverwechselbar, die Eigenheiten seiner Musik sind auf Anhieb zu erkennen. Worin liegt das Unverwechselbare seiner Musik? Es gibt viele Eigenheiten, zum Beispiel die ribattuta, ein typisch venezianischer Rhythmus, oder ein bestimmter harmonischer Umgang mit Septim­akkorden. Man muss unterscheiden zwischen dem venezianischen Stil allgemein und Vivaldi im Besonderen. Vivaldi ist tief verankert in der venezianischen Art zu komponieren. Er arbeitet im Stil seiner Zeit und seines kulturellen Umfelds. Aber seine Musik ist eigenständiger, sie unterscheidet sich von Marcello, Albinoni und all den anderen. Vivaldi hatte mehr drauf. An seinem Stil fällt eine packende, durchschlagende Einfachheit auf. Vivaldi war eben kein Komponist, der musica riservata für den kleinen höfischen Kreis schrieb. Als Venezianer komponierte er für das ganz grosse Publikum. Venedig war zu Vivaldis Zeit eine touristische Metropole und reich an Opernhäusern. Aus ganz Europa reisten die Gäste an, um sich bei Musik und Theater zu vergnügen. Die Werke mussten so konzipiert sein, dass sie beim Publikum ankamen. Vivaldi war zwar durchaus in der Lage, elaborierte und tiefgründige Musik für Kenner zu schreiben, aber als Erfolgskomponist musste er vor allem den Publikumsgeschmack seiner Zeit bedienen. Und er wusste ganz genau, wie man mitten ins Herz der Musikbegeisterten trifft.

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Zu seinen Stärken gehört, dass er Situationen auf den Punkt zu bringen versteht. Ja genau. Auf den ersten Blick mag seine Musik ein bisschen banal klingen, aber bei genauerem Hinsehen merkt man, dass alles messerscharf kalkuliert ist. Mit geradezu wissenschaftlicher Präzision konstruiert Vivaldi emotionale Verläufe, genau wissend, wann der Moment ist, die Aufmerksamkeit zu bün­deln, Höhepunkte zu setzen, das Publikum zum Staunen oder zum Weinen zu bringen. Es ist ein grosses Vergnügen, dieses Raffinement in den Partituren zu studieren. Würde Vivaldi heute leben, wäre er womöglich ein ausgebuffter ActionMovie-Regisseur, der seine Konkurrenz, was Innovation und Präzision angeht, weit übertrifft. Die Barockmusik lebt in all ihrem Reichtum von der Strategie, mehr wegzu­ lassen als zu viel hineinzupacken, damit das Wesentliche klar hervortritt. So funktionieren auch die guten Hollywoodfilme. Vivaldi war ein Meister darin.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Zu seinen Markenzeichen gehören die extremen Kontraste, in der Dynaoder Vorstellungsabend im Foyer mik,am in den Farbwechseln. Interessant ist, dass man in Vivaldis Noten gar nicht viele Dynamikbezeich­ nungen findet.Opernhauses Die Kontraste sind in der Rhetorikerwerben der Musik angelegt. des Sie ergeben sich selbstverständlich aus dem musiksprachlichen Fluss. Diese Rhetorik zu verstehen, ist die Aufgabe der Musiker. Wie kontrastreich Vivaldi erklingt, hängt also vor allem von den Ausführenden ab, von ihrer Metierkenntnis und ihrer Fantasie, von ihrer Mischung aus Fachkenntnis und musikalischer Freiheit.

Barockmusik ist also immer nur so gut wie die Ausführenden? Zu Vivaldis Zeit war das überhaupt kein Thema, weil für alle Beteiligten – Komponisten, Sänger, Musiker und Publikum – das Beherrschen der Musik­ sprache eine Selbstverständlichkeit war. Man spielte die Musik, wie sie ge­meint war, auch wenn das meiste nicht explizit in den Noten stand. Heute sind wir in einer anderen Situation. Wir haben die Partituren als Überlieferung

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und müssen uns die Kontexte erschliessen. Tun wir das als Musiker nicht, riskieren wir Missverständnisse. Wenn wir die Noten nur lesen, wie sie über­liefert sind, existiert die Musik noch nicht. Wir müssen etwas daraus machen, Artikulation, Phrasierung und Dynamik kreieren, Verzierungen einführen usw. Wir müssen philologisch arbeiten und die Musiksprache von innen heraus verstehen. Philologie heisst für mich nicht, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob eine Vivaldi-Oper mit acht oder zehn Violinen aufgeführt wurde. Das ist völlig unerheblich und hing von den Aufführungsbedingungen ab. Ich würde gerne noch vor meinem Tod erleben, dass alle Musiker verstanden haben, dass Philologie sich einzig auf das Verständnis der Sprache konzentrieren muss. Aus der Musiksprache leitet sich alles ab! Man muss sie selbstverständlich beherrschen. Das ist viel wichtiger als nur buchstabentreues Notenstudium. Hat Vivaldis Musik Schwächen? An seinen Opern wird kritisiert, dass die Dramaturgie in der Abfolge von Rezitativ und Arie sehr schematisch sei. Da ist auch etwas dran. Vivaldi hat nur selten Accompagnato-Rezitative geschrieben, und die Rezitative selbst sind harmonisch oft nicht so interessant. Die Komponisten hatten zu der damaligen Zeit Assistenten und Schüler, die ihnen bei der Ausarbeitung der Rezitative halfen. Die Arien waren eben viel wichtiger. Ich habe kürzlich Vivaldis Oper L’incoronazione di Dario für eine CD-Produktion aufgenommen, und ich gehe davon aus, dass er darin die Rezitative selbst geschrieben hat. Man hört es sofort, es ist viel spannender. Aber auch in La verità in cimento gibt es harmonisch interessante Passagen. Man muss dabei immer die Rezep­tionshaltung des damaligen Publikums bedenken. Die Leute hörten nur in den Arien wirklich zu und interessierten sich dabei meist nur für die aller­besten. Heute konzentrieren wir uns auf alle Bestandteile eines Werkes, wenn wir in die Oper gehen. Wir wollen die Handlung, die ja in den Rezitativen vorangetrieben wird, genau verstehen. Das stand damals nicht so im Vorder­ grund. Die Atmosphäre in den Theatern war eine ganz andere. Man montierte zum Beispiel Commedia dell’arte-Zwischenspiele in die Opern, die mit dem Handlungsverlauf des Hauptwerks gar nichts zu tun hatten. 12


Wir haben das vor einiger Zeit bei einer Aufführung in Jesi, dem Geburtsort Pergolesis, auch einmal probiert. Man muss wissen: Das Publikum kannte damals die Geschichten, die da eingeschoben wurden. Und für die Oper gilt: Nicht die Handlung als Ganzes war das Spannende, sondern die einzelnen Momente. Man stieg bei den Emotionen umstandslos ein, ging dann aber richtig mit. Ich glaube, das Publikum war damals viel wilder. Wir gehen heute womöglich besser vorbereitet in die Oper, haben aber mehr Probleme, uns auf die Emotionen der Musik einzulassen, als Musiker wie als Publikum. Aber darum geht es: Aus theatralischen Situationen die Funken maximaler emotionaler Expression zu schlagen. Vivaldi war ein Vielschreiber und hat wahnsinnig schnell komponiert. Das komplette Programmbuch Ist das sein Problem? Das war normal. Üblicherweise brauchten die Komponisten höchstens einen können Sie auf Monat für eine Oper, und das war schon viel! Komponieren war ein Handwerk und hatte nicht den Kunst-Stellenwert, den es heute einnimmt. www.opernhaus.ch/shop Vivaldis Musikproduktion lief extrem hochtourig. Er war ein überaus oder am Vorstellungsabend Foyer gefragter Mann, nicht nur als Opernkomponist, sondern auchim als Geigen­ virtuose. An welchem Punkt seiner Karriere stand er, als er La verità in cimento die Bühne brachte? desaufOpernhauses erwerben Die Uraufführung fand 1720 in Venedig statt, Vivaldi war auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Es war für ihn die goldene Zeit seines Erfolgs und seines Schaffens, aber auch eine goldene Zeit für die venezianische Musik ins­gesamt. Die Leute kamen von überall, um in Venedig Opern zu hören. Es gab einen grossen Hunger nach Musik, und die Nachfrage musste befriedigt werden. Das war eine sehr kreative und fruchtbare Zeit. Für Zürich habe ich mich zum ersten Mal mit La verità befasst, ich kannte die Oper vorher nicht wirklich. Aber was die Qualität angeht, hat sie mich nicht enttäuscht: Es ist eine sehr schöne Oper. Eine Barockoper auf die Bühne zu bringen, heisst, eine Spielfassung zu erstellen, und da taucht natürlich die Frage auf, was erlaubt ist und

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was nicht. Dass die Rezitative nicht zum Allerheiligsten des Komponisten gehören, haben wir bereits erwähnt. Gegen kräftige Rezitativstriche ist also nichts einzuwenden, oder? Das war gängige Praxis der Zeit. Das Werk wurde den Notwendigkeiten der jeweiligen Aufführung angepasst. Vivaldi selbst hat von Aufführung zu Aufführung massive Striche und Veränderungen in seinen Opern vorgenom­ men. Von L’incoronazione di Dario etwa existiert eine erste Version, die fünf Stunden dauerte, Vivaldi hat dann in einer zweiten Version so viel gestrichen, dass man der Handlung kaum noch folgen kann. Er hat pragmatisch auf Sängerwünsche und die Aufführungssituation reagiert. Die Aufführung war also das Werk und nicht die Partitur. Das komplette Programmbuch In den Noten ist ja vieles gar nicht festgehalten. Die Musik muss in gewisser Weise für jede Aufführung durch die Sänger und Musiker neu erfunden können Sie auf werden. www.opernhaus.ch/shop Wir haben in unserer Zürcher Fassung am Schluss eine Arie aus einer anderen Oper eingefügt. Ist das eine Schandtat? oder Vorstellungsabend im Foyer Aucham das war üblich. Ich gebe Ihnen ein besonders krasses Beispiel: Caffarelli, einer der berühmtesten Kastraten der damaligen Zeit, mit dem Vivaldi allerdings selbst nicht zusammenarbeitete, liess sich inerwerben seinem Vertrag zu­sichern, des Opernhauses dass er gleich nach der Ouvertüre und einem Rezitativ eine Bravourarie singen darf, die mit der Handlung gar nichts zu tun hat. Er liess vertraglich festschreiben, dass er diese sogenannte Kofferarie, die die Stars immer im Gepäck hatten, auf einem echten Pferd mit Helm und grossem Federbusch singen darf. So war das damals.

Lassen Sie uns über die Konvention des lieto fine sprechen, des Happyends als Pflichtschluss am Ende jeder Barockoper. In La verità in cimento wirkt dieses lieto fine unglaubwürdig und angeklebt, wie so oft. Alle Figuren treiben über drei Akte hinweg in die totale emotionale Zerrüttung, und im allerletzten Rezitativ setzt plötzlich das grosse Verzeihen ein, und es vollzieht sich die wundersame Lösung aller Konflikte.

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Das lieto fine war damals Pflicht. Die Leute hätten das Theater auseinander­ genommen, wenn sich am Ende einer Oper nicht alles zum Guten gewendet hätte. Manchmal wurde das lieto fine bis zum letzten Satz im allerletzten Rezitativ hinausgezögert. Aber es musste sein. Damit man sich in den Stunden zuvor umso hemmungsloser den sündigen Themen hingeben konnte, der Untreue, der Machtgier, der Heuchelei, der Nieder­tracht und der erotischen Zügellosigkeit. Das waren die eigentlich interessanten Themen! Das Finale ist, gemessen daran, der unwichtigste Moment in einer Barockoper. Auch wenn das mancher strenge Philologe kritisieren wird: Ich habe kein Problem damit, das lieto fine zu streichen. Wir lassen in Zürich den kurzen Finalchor weg, der übrigens auch im Faksimile der Verità-Partitur fehlt. Er fehlt, aber das heisst nicht, dass Vivaldi die Oper ohne einen Schlusschor aufgeführt hat. Man nahm dann einen Schlusschor aus einer anderen Oper oder gar von einem anderen Komponisten. Ich finde grundsätzlich, dass man alle musikalischen Entscheidungen in Abhän­gigkeit von der Szene treffen muss, in Bezug auf das, was man erzählen möchte. Weil dann erst die Emotionalität zünden kann, auf die es ankommt. Es gehört zum Stil der Barockopern, dass die Dacapo-Wiederholungen der Arien mit Verzierungen versehen werden. Woher stammen die in unserer Produktion? Normalerweise schreibe ich diese variazioni für die Sänger. Ich höre mir die jeweiligen Stimmen genau an und versuche mir vorzustellen, was für den Stimmumfang und den Charakter gut passen könnte. Aber es sind nur An­regungen. Die variazioni sind etwas Kreatives. Könnte man sie auch jeweils aus dem Moment der Aufführung heraus improvisieren?

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Schon, aber man muss dennoch etwas festlegen in der Stimmführung wie im Orchester. Oft ist die Idee, die einem spontan als Erstes einfällt, nicht die beste. Wenn man aber erreichen will, dass das Publikum an einer bestimmten Stelle zu Tränen gerührt wird, muss alles gezielt daraufhin angelegt sein. Die Möglichkeit kleiner Varianten bleibt natürlich trotzdem. Das ist wirklich eine Kunst. Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren immer wieder mit Vivaldi. Langweilen Sie sich nie mit dieser Musik? Nein, weil ich immer, wenn ich an eine neue Vivaldi-Partitur gehe, gespannt darauf bin, was in der Musik versteckt ist. Das will ich unbedingt herausfinden.

Das komplette Programmbuch Und da gibt es immer etwas zu entdecken? Immer. Was direkt in den Noten steht, ist ja nur wenig. Man muss sich mit können Sie auf Fantasie in die Musik hineindenken. Dann findet man immer Spannendes. Meine Meinung ist, dass es keine schlechte Musik aus dem Barock gibt. Es gibtwww.opernhaus.ch/shop nur schlecht gespielte Musik. Man kann als Musiker aus Mist etwas Grossartiges machen, und umgekehrt aus einem Meisterwerk Mist. oder amganzVorstellungsabend im Foyer Es kommt auf die Musiker und die Sänger an. des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Claus Spahn

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SAGE NIE DIE WAHRHEIT Vivaldis Oper «La verità in cimento» ist ein Drama um echte und gespielte Gefühle. Ein Gespräch mit dem Regisseur Jan Philipp Gloger

Herr Gloger, was hat sie an der Handlung von La verità in cimento in­ teressiert? Zum Beispiel das Thema, das durch den Titel benannt wird: Die Frage nach der Wahrheit. Ist es immer gut, die Wahrheit zu sagen? Welche Folgen hat es für das soziale Gleichgewicht in einer Familie, wenn man eine Lüge rückgängig machen will und auf der Wahrheit beharrt? Und welche Folgen der Wahrheit führt die Oper vor? Mamud, der Herrscher, ruiniert sich und seine Familie. Mit seinem Versuch, die Wahrheit offen zu legen, stösst er auf viele Widerstände. Alle Beteiligten sind so tief in den falschen Verhältnissen verankert oder haben sich bewusst in der Doppelbödigkeit eingerichtet, dass sie gar nicht mehr zurück wollen. Die Versuchsanordnung der vertauschten Kinder birgt Brisanz. Man erlebt, wie es junge Männer plötzlich innerlich zerreisst, wenn sie erfahren, dass ihre Eltern gar nicht die leiblichen Eltern sind. Umgekehrt müssen die Mütter damit klar kommen, dass sie Stiefsöhne aufgezogen haben. Solche Krisen kennen wir ja im Zeitalter der Patchwork-Familien sehr gut. Das Ganze wird noch perfider, wenn es nicht nur um Zuwendung und Liebe geht, sondern auch noch um Reichtum und Erbansprüche. Die Geschichte aus dem scheinbar so fernen Serail weist mehr Parallelen zu unserer Gegenwart auf, als man zunächst ahnt. Ich musste gleich an den Kinofilm Das Fest von Thomas Vinterberg denken, in dem bei einer Familienfeier plötzlich die dunkle Wahr­heit von Kindesmissbrauch und Suizid auf den Tisch kommt, mit rui­­nösen Folgen. Auch die Dramen von Ibsen erzählen davon, wie Familienkonstellatio­ nen auseinander brechen und welche destruktive Energien ihnen innewohnen.

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Ein barockes Opernlibretto offenbart aber nicht die psychologischen Abgründe, die sich in den Dramen des 19. und 20. Jahrhunderts auftun. Das stimmt. Aber die Barockoper thematisiert mit ihrer Affektdramatik etwas, das ich in diesem Zusammenhang sehr spannend finde – das Darstellen und Ausstellen von Emotionen. Soziale Konstruktionen funktionieren immer über bestimmte Rollen, die wir spielen und auf die wir uns verlassen. In La verità in cimento steht die Wahrheit auch deshalb auf dem Prüfstand, weil es in diesem Stück immer wieder um das Vorspielen von Rollen geht, die durch die Wahrheit nicht gedeckt sind. Das beste Beispiel dafür ist Damira, die zur Seite geschobene Ex-Geliebte von Mamud. Sie spielt nicht nur das ahnungs­ lose Dienstmädchen. Sie spielt ihrem Stiefsohn auch über drei Akte hinweg die Farce einer liebenden Mutter vor, obwohl sie genau weiss, dass er nicht ihr leibliches Kind ist und ihr Interesse in Wirklichkeit nur dem als Thron­ folger aufwachsenden wahren Sohn gilt. Damira performt Gefühle. In ihrer letzten Arie versucht sie ihrer Konkurrentin, Mamuds Gattin Rustena, beizubringen, wie man als Frau Tränen und Verzweiflungsanfälle strategisch einsetzt. Sie berauscht sich in dieser Arie regelrecht an ihrer eigenen Ver­ schlagenheit, obwohl diese als Strategie längst gescheitert ist. In unserer In­szenierung schlägt ihr Vorspielen, wie man künstlich weint, dann in echtes Weinen um. Wenn wir anfangen, mit unseren Gefühlen strategisch umzugehen, können wir uns irgendwann nicht mehr sicher sein, ob wir überhaupt noch echt fühlen. Diese Verschränkung von Empfindung und Performance in der Barockoper ist im Grunde ungeheuer modern. Denn wir leben doch in einer Welt, in der die Performance auch im Sinne von Leistungsfähigkeit, Selbstbewusstsein, guter Laune, Anteilnahme und was auch immer eine riesige Rolle spielt. Die Darstellbarkeit von Emotionen und Befähigung ist heute von grosser Bedeutung. Und genau damit spielt die Oper im 18. Jahrhundert.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Die von manchen als sehr künstlich empfundene Barock-Dramatik hat für Sie also eine Entsprechung in der Moderne? In gewisser Weise schon. Weil der Affekt unmittelbar hervorbricht und nicht den Umweg über die psychologische Begründung nimmt. Das ist ja das Faszinierende an einem Komponisten wie Vivaldi: Dass die Gefühle wie aus

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der Pistole geschossen kommen. La verità setzt in ihrer Dramaturgie auf extreme Kontraste und Brüche. Da spüre ich manchmal eine grössere Nähe zur Wirklichkeit von heute als in vielen Stoffen des 19. Jahrhunderts. In der Barockoper ist der Emotion ihre Behauptung eingeschrieben. Es gibt Untersuchungen darüber, ob bei weinenden Menschen zuerst die Träne kommt und dann das Gefühl oder zuerst das Gefühl und dann die Träne. Das heisst: Ein Gefühl beinhaltet immer auch einen Willen zu einem Gefühl. Kinder zum Beispiel sehen sich gerne vor dem Spiegel weinen. Und in La verità blendet Vivaldi strategisch eingesetzte und echte Emotionen bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander, bei Rosane zum Beispiel. Sie ist die hochattraktive junge Frau, die von beiden Söhnen geliebt und umworben wird. Das Be­ gehren ist in ihrem Charakter ein wichtiger Antrieb. Es bezieht sich aber nicht nur auf Männer, sondern auch auf den Appeal von Macht und Reichtum. Rosane folgt ihrem Herzen und hat gleichzeitig einen knallharten Aufstiegs­ willen. Sie nimmt sehr genau wahr, welchen Zickzackkurs die ThronfolgeRegelung nimmt und folgt dieser Spur, zugleich ist sie eine grosse Liebende. Das ist hochwidersprüchlich, aber in dieser Widersprüchlichkeit sehr real. Die grosse, nicht zweckgebundene Liebe und die Zweckmässigkeit der Liebe können sich eben bis zur Ununterscheidbarkeit verschränken. Das kennt wohl jeder aus Beispielen des realen Lebens. Diese Rosane ist eine schillernde, moderne Figur, die in unserer Produktion bei Julie Fuchs fantastisch aufge­ hoben ist. Wo spielt die orientalische Verità-Handlung in unserer Zürcher Produktion? Sie in einem fernen, märchenhaften Serail anzusiedeln, hat uns nicht interes­ siert. Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Ben Baur und der Kostümbild­ nerin Karin Jud haben wir beschlossen, die Geschichte zeitlich in die Gegen­ wart zu holen. Sie spielt in einer Villa von heute, die theoretisch in dieser Stadt, etwa auf dem Züriberg, stehen könnte, aber natürlich auch jedem anderen westlich modernen Wohlstandsmilieu entstammen könnte. Im grossen Esszimmer dieser Villa hat sich die Familie am Abend vor der Hochzeit des einzigen Sohns eingefunden. Mamud ist ein erfolgreicher Unternehmer im

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gesetzten Alter. Ein Kunstsammler, der mit seinem Familienunternehmen wirklich etwas zu vererben hat. Es braucht ein gesellschaftliches Oben und ein Unten, ein steiles Gefälle zwischen dem Familienoberhaupt und der Haus­ angestellten, die den Ehrgeiz hat, nach oben zu kommen oder zu­mindest ihren Sohn oben zu sehen, sonst funktioniert die Geschichte nicht. Wo liegen die Chancen, wo liegen die Gefahren einer solchen konkreten theatralischen Behauptung? Die Gefahren spürt man sofort: Wenn man sich auf diese Form von Realismus einlässt, muss er auch schlüssig sein und funktionieren. Wir haben eine Stückfassung erstellt, die dem, was wir erzählen wollen, entgegen kommt. Um einen nachvollziehbaren dramaturgischen Bogen spannen zu können, haben wir Rezitative gekürzt und auch mal eine Arie umgestellt. Wir wissen alle, dass Realismus auf der Opernbühne stinklangweilig sein kann, aber hier trifft er auf einen Stoff, der überhaupt nicht realistisch angelegt ist. Wir haben es mit einem Libretto aus vorpsychologischer Zeit zu tun. Es passieren verrückte und nahezu unerklärbare Dinge. In dieser Kombination finde ich Realismus spannend. Das ist eine Erfahrung, die ich auch im Schauspiel gemacht habe. Wenn ein Text von Elfriede Jelinek, der jedem Realismus spottet, auf konkrete theatralische Situationen trifft, entsteht eine produktive Reibung.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Wie sehr sperrt sich die Verità-Handlung in ihrer Unwahrscheinlichkeit einer realistischen Erzählweise? Wenn man erst einmal eine theatralische Setzung vor Augen hat, wird es leichter und es öffnen sich Türen. Was uns enorm geholfen hat, ist Vivaldis griffige musikalische Charakterisierung der Figuren. Sie sind so angelegt, dass man tatsächlich moderne Figuren herausarbeiten kann. Rosane habe ich ja bereits erwähnt. Das gilt aber beispielsweise auch für Rustena, Mamuds Ehefrau. Sie singt etwa im dritten Akt eine tief melancholische, von Block­flö­ten umspielte Arie, in der sie sich danach sehnt, im Wald, fernab vom Schmerz ihrer unglücklichen Ehe, geboren zu sein. Das passt nicht schlecht zum Typus einer älter werdenden Unternehmergattin, die sich mit zunehmend bedrü­ ckender Eherealität in andere Welten träumt, der Vergangenheit einer heilen

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Familie nachhängt und sich mit Spiritualität und Esoterik zu therapieren versucht. Ist Vivaldis Blick auf seine Figuren mitunter zynisch? Das kann ich nicht erkennen. Es ist doch viel eher der Versuch, menschliches Verhalten genau zu durchdringen. Dann wäre auch Mozart ein Zyniker, aber das war er nicht. Er hat nur sehr genau hingeschaut und viel vom Menschsein verstanden, wie wir gerade aus seinen Opern Le nozze di Figaro und Così fan tutte erfahren. Er weiss um die gefährliche Nähe von Sein und Schein, von hehren und weniger hehren Gefühlen. Menschen werden eben dadurch zu ganzen Menschen, dass sie sich in Widersprüchen verstricken. Auch Vivaldi ist wohl eher von der Genauigkeit der Menschenbeobachtung getrieben als von Verachtung und Parodie. Selbst Damira, die eigentlich die klassische Furie ist, die Böse, die eindimensional erscheint, weil sie an ihrem Konzept von Intrige und Heuchelei festhält, offenbart in der Musik Momente der echten Verzweiflung und des Nicht-mehr-weiter-wissens. Ist der Wechsel von Rezitativ und Arie, der gerade bei Vivaldi etwas schematisch ausfällt, ein Problem für die Regie? Aus unserem heutigen Blickwinkel ist das natürlich eine hochartifizielle Form, eine Geschichte zu erzählen. Aber gerade die Künstlichkeit empfinde ich als theatralische Chance. In den Arien singt eine Figur über sieben Minuten hinweg nur zwei Sätze, das ist doch spannend. Es ist wie ein grosses leeres Blatt Papier, das es mit Ideen zu füllen gilt. Im ersten Moment kann das Angst machen, aber Vivaldi gibt einem mit der Musik ja auch den vollen Farbeimer in die Hand. Man kann mit Situationen spielen, mit jeder Arie eine eigene kleine Geschichte erzählen, die Zeit anhalten und sie einfach nur singen lassen. Ben Baurs Bühnenbild macht in unserer Produktion Parallelhandlungen möglich. Man sieht, was in dem einen Zimmer passiert, während in dem anderen gesungen wird. Eine Dacapo-Arie szenisch zu füllen, ist natürlich auch für die Sänger eine Herausforderung, man sitzt gewissermassen im gleichen Boot und entwickelt die Situationen gemeinsam. Man wird gemeinsam erfinderisch und manchmal verzweifelt man auch gemeinsam. Die Ausgrabung

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einer Barockoper wie La verità in cimento ist ein offenes Feld und in vieler Hinsicht spannender als eine Oper aus dem Kernrepertoire auf die Bühne zu bringen, die jeder schon in zwanzig verschiedenen Umsetzungen gesehen oder selbst gesungen hat. Ich empfinde es als ein grosses Glück, dass alle sechs Sängersolisten in dieser Produktion starke Persönlichkeiten sind. Sie wollen wirklich Charaktere entwickeln und werden zu Anwälten ihrer Figuren. Der Satz: «Das würde meine Figur nie tun», hört man von Schauspielern oft, manchmal zu oft, von Sängern hört man ihn seltener, aber gerne. Und was besonders Spass macht: Zwei Französinnen und ein Franzose, eine Deutsche, eine Russin und ein Amerikaner reden mit einem italienischen Dirigenten und einem deutschen Regisseur während der Proben auf Englisch ganz viel über Rhetorik und Diktion. Und alle sind sich einig, dass Vivaldis Theater zuallerst über die Lebendigkeit der Sprache funktioniert.

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DER LEBEMANN Der Vivaldi-Biograf Siegbert Rampe über Selbstdarstellung und Persönlichkeit von Antonio Vivaldi

Ein hervorstechendes und für die Zeit ganz und gar aussergewöhnliches Merk­ mal auf dem ältesten wie jüngsten Portrait von Antonio Vivaldi ist das offene Hemd, das gegen jegliche Etikette verstösst und ein saloppes, körperbewusstes, also sinnliches, jedenfalls geradezu «sportliches» Auftreten betont – im Gegen­ satz zu jenem Klischee, das man sich – nicht erst heute – von einem Vertreter des geistlichen Standes macht. Vollkommen unkonventionell ist diese Erschei­ nung auch, weil Vivaldi in beiden Fällen ein schlichtes Unterhemd, also Leibwä­ sche, wählte, kein dekoratives Schmuckgewand, dazu ein Dekolleté präsentiert, welches der Natur Raum gibt, indem es die halbe Brust entblösst und damit gleich­sam in vollkommenen Kontrast zu jenem Ideal tritt, das von der Epoche als viril erachtet wurde. Da beide Darstellungen von ihm selbst veranlasst wor­ den sein dürften, scheint es sein persönliches Anliegen gewesen zu sein, sich un­gezwungen zu geben und «jegliche Kraftentfaltung den anderen» zu über­ lassen. Will man über eine Persönlichkeit urteilen, die als Violinvirtuose dämonisch und als Manager autoritär empfunden wurde, so sind solche Details bedeutend, wenn andere Dokumente privaten Charakters auf beiläufige Aussagen beschränkt bleiben: Sie verstärken nämlich gewisse Widersprüche, die Vivaldis Leben be­ stimmt zu haben scheint. Dass sich der «Prete Rosso» trotz streng religiöser Grundhaltung als neumodischen, naturverbundenen Lebemann sehen wollte, dessen Eitelkeit ausgerechnet im Tabubruch bestand, lässt auf einen vielschich­ tigen Charakter schliessen, welcher sich einer schlüssigen Definition ebenso entzieht wie das Objekt der drei Portraits. Erstaunlicher Weise trifft diese Ein­ schätzung auch die extrem verschiedenartige Gestalt seiner Musik, welche nach den Maximen der Zeit kaum je in technische Regeln oder stilistische Grenzen zu fassen ist und deshalb frühzeitig als extravagant galt, wenn nicht gar als ex­

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zentrisch und bizarr. Die Gier des Komponisten, in der Zeichnung Pier Leone Ghezzis karikiert, verweist auf Geschäftssinn und Gewinnstreben, aber wohl auch auf ein unersättliches Ringen um neue Ausdrucksformen und ungezügelte Extrovertiertheit, das hervorspringende, durch Grübchen gemilderte Kinn auf starke Willenskraft und Durchsetzungsfähigkeit. Ohne solche Eigenschaften wäre es Vivaldi kaum gelungen, sich im selben Jahr (1713) und fast zeitgleich als Kom­ponist von geistlicher Musik sowie als Theaterleiter zu etablieren und ein Miniaturimperium mit unterschiedlichen Geschäftsbereichen zu errichten, um erst kurz vor seinem Tod dessen Führung abzugeben, aber bis zuletzt ungebro­ chene Bereitschaft zu signalisieren, Niederlagen und Schicksalsschlägen einfach mit einem Neuanfang zu begegnen. Solche Wesenszüge kommen auch in seiner unerhörten Schaffenskraft und Produktivität zum Ausdruck und mögen durch die chronische Asthma-Erkrankung, vielleicht sogar permanente Todesgefahr, noch forciert worden sein. So gesehen, spiegeln Vivaldis Gier, Lust und Extra­ vaganz Lebenshunger, seine Concerti eine lebensbejahende Ungezwungenheit und Dynamik, wie sie vielleicht nur einem Behinderten möglich sind. Wahr­ schein­lich verkannte ihn die Musikgeschichte, indem sie ihn als Komponisten von Instrumentalmusik überbewertete.

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«...wenn humanistische Schriftsteller, darunter auch Montaigne, darauf abziel­ ten, einen weltfremden und engstirnigen Pedanten zu verspotten, so warfen sie ihm vor, er habe seinen Kopf voll mit «Barbara und Baroco» usw. Derart kam es zustande, dass das Wort Baroco (im Französischen und Englischen Baroque) dazu diente, alles Wild-Verworrene, Unklare, Wunderliche und Nutzlose zu kennzeichnen. Die andere Herleitung des Begriffs vom lateinischen veruca und vom spanischen barueca, womit ursprünglich eine Wucherung und im erwei­ terten Sinne eine unregelmässige Perle gemeint war, ist sowohl aus logischen wie auch aus rein linguistischen Gründen höchst unwahrscheinlich.» Aus: »Was ist Barock?» von Erwin Panofsky

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DIE UNSITTEN DER OPER Benedetto Marcello hat mit «Il Teatro alla Moda» eine böse Satire auf seinen berühmten Konkurrenten Antonio Vivaldi geschrieben. Volker Hagedorn

Das Timing war perfide, um nicht zu sagen venezianisch. Die neue Produktion am Teatro Sant’Angelo, in bester Lage am Canal Grande, eben da, wo heute die Vaporetti die gleichnamige Haltestelle anlaufen, lief gerade ein paar Wochen, da erschien ein kleines, bissiges Pamphlet. IL TEATRO ALLA MODA stand darauf, «Die sichere und einfache Methode, italienische Opern erfolgreich nach der neuesten Mode zu komponieren und aufzuführen.» Der Verfasser war ano­ nym, umso leichter waren für Venezianer die Anspielungen auf dem Titelblatt zu entziffern. Die Fantasieadresse der Druckerei enthielt Namen und Begriffe wie Aldiviva, Orlando, Strada, Corallo und Palazzo. Das waren Antonio Vivaldi, die Sängerinnen Chiara Orlandi, Maria Strada und Antonia Laurenti La Coralli und der junge Librettist Giovanni Palazzi – alle aktiv in der Oper La verità in cimento. Und allen ging es an den Kragen. Mo­ derne Librettisten, hiess es da, sollten keine antiken Autoren gelesen haben, schliesslich hätten die sich auch nicht für die Moderne interessiert. Sie sollten – «in fiebergelbe Baumrinde» gekleidet – die Regeln der Verskunst ebenso igno­ rieren wie historische Authentizität. Sie sollten Szenen an der Dauer von Um­ bau­pausen ausrichten und sich auf keinen Fall um eine nachvollziehbare Hand­ lung scheren. So ging es weiter mit Tipps für Komponisten, Sänger, Inten­danten, Musiker. Es war eine ausgesprochen witzige, kenntnisreiche und unfaire Abrechnung mit allem, was dem Autor an Vivaldis Opernstil missfiel. Und es war eine Ab­ rechnung mit den Symptomen des Opernwahnsinns, die das Genre von Anfang an bis heute begleiten, mit Starallüren und Schlampigkeiten, Mogeleien zum

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Aufpolieren der Besucherstatistik und Kollegenrivalität. Die Breitseite traf La verità in cimento um so härter, als Antonio Vivaldi, gebürtiger Venezianer, sich mit dieser Oper gerade neu in einer Stadt etablieren wollte, zu deren ältestem Patriziat der junge Spötter zählte: Kaum einer dürfte nicht gewusst haben, dass Benedetto Marcello die Satire geschrieben hatte, 1686 in Venedig geboren. Seine Familie hatte hier schon einen Dogen gestellt, ihr gehörten Teile des Grundstücks, auf dem 1677 das Teatro Sant’Angelo als eines von sieben vene­ zianischen Operntheatern eröffnet worden war. Mit 20 Jahren zum Ratsmitglied ernannt, fand Marcello wie sein älterer Bruder Alessandro Musse zum Kompo­ nieren, wobei er konservativ und fortschrittlich zugleich war: Im Rückgriff auf die «edle Einfalt» der Antike schwebten ihm Reformen vor, die an Gluck denken lassen. Reich verzierter Gesang, ausgedehnte Koloraturen waren ihm zuwider – und gerade dafür hat La verità in cimento viel Platz. Und für die «unsinnigen Wortwiederholungen», die Marcello ironisch empfiehlt. Der Komponist solle «unbedingt alle Stimmen mit Noten oder Figuren im gleichen Zeitmass fortschreiten» und etwa das ganze Orchester Sechzehntel spielen lassen, geisselt er Vivaldis drangvolle Motorik; auch mit jähem mezzo­ piano könne man «den Anschein maximaler Neuartigkeit» erwecken. Um den Eindruck der Mehrstimmigkeit zu erzielen (Marcello war als Komponist ein ambitionierter Kontrapunktiker), müsse man nur die Singstimme mit Violinen und Bässen oktavieren. Bei solchem Aufwand genüge es, wenn der Komponist das Libretto erst am vierten eines Monats erhalte, an dessen zwölftem die Oper herauskommen solle. Das war unter Insidern besonders gemein. Zum einen brüstete sich Vivaldi gern mit seinem Arbeitstempo, zum andern hätte die Novität tatsächlich am 12. Oktober 1720 herauskommen sollen, war aber auf den 26. verschoben worden. Vielleicht aufgrund von Problemen mit den Sängern, einer Spezies, die Marcello sich besonders gründlich zur Brust nahm. Für die Proben empfahl er ihnen, stimmlich nur zu markieren und auf dem eigenen Tempo zu beharren. Was viele von ihnen bis heute befolgen… Sänge­ rinnen sollten besser hübsch als begabt sein, während des Vortrags in die Logen lächeln und Patzer auf die Untauglichkeit ihrer Arie schieben. Bei Anfragen: erstmal die Antwort verzögern, dann die Hauptrolle beanspruchen und das Mit­engagement naher Angehöriger zur Bedingung machen.

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Und natürlich brauchen die Diven Gönner – verliebte, eifersüchtige, reiche Trottel. «Im Allgemeinen verstehen sie nicht das Geringste von Musik, begleiten ihre Schützlinge jedoch zu jeder Opernprobe und tragen ihnen Noten, Wärme­ topf, Haube, Papagei, Käuzchen etc. etc. etc. hinterher.» Das könnte Vivaldi selbst erheitert haben, nur war hier die Karikatur vieler Usancen und Macken des Betriebs diabolisch verwoben mit Kritik an der Ästhetik des Komponisten. Selbst die innovative Beschränkung auf sechs Darsteller war für Marcello Grund zum Spott. Für den 42jährigen Vivaldi war nach dieser beissenden und viel diskutierten Satire Venedig als Aufführungsort vorerst verbrannt. Erst fünf Jahre später kehrte er wieder zurück, er hat dann an Sant’Angelo noch dreizehn Produktionen auf die Bühne gebracht. Dass Marcellos Pamphlet zur berühmtesten aller Opernsatiren wurde und bald überregional kursierte, schadete der beschossenen Oper allenfalls in Venedig selbst, wo zudem das ein­ gebaute, nicht von Vivaldi komponierte Intermezzo comico floppte. Es war, vermutet Frédéric Delamea, auch der Ruf eines venezianischen «Skandals», der La verità in cimento für Europa interessant machte. Sie gehört zu den Opern Vivaldis, die in den Bibliotheken Italiens, Frankreichs und Deutschlands bis hin nach Berlin am besten dokumentiert sind – also auch viel gespielt wurden.

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DAS NEUMODISCHE THEATER oder die sichere Methode italienische Opern erfolgreich nach der neuesten Mode zu komponieren und aufzuführen. Darin enthalten sind nützliche und unverzichtbare Tipps für Librettisten, Komponisten, Sänger beiderlei Geschlechts, Intendanten, Orchestermusiker, Bühnenbildner, Theatermaler, Buffi, Schneider, Pagen, Statisten, Souffleure, Kopisten, Mäzene und Primadonnenmütter sowie für andere Personen, die zum Theater gehören. Benedetto Marcello

Für Komponisten: «Einige grundlegende praktische Kenntnisse ausgenommen, darf der moderne Komponist von Kompositionsregeln keinen blassen Schimmer haben.» «Was sein Wirken am Theater betrifft, sollte der moderne Komponist sich keinesfalls mit Poesie auskennen und wenig Gefühl für sinnvolle Diktion, lange oder kurze Silben sowie Bühnenwirksamkeit etc. entwickeln.» «Vor Inangriffnahme der Komposition besuche er alle zukünftigen Sänge­ rinnen und versichere ihnen, durch Arien ohne Bassstimme, Forlane, Rigaudons etc. die Oper ganz auf sie massschneidern zu wollen.» «Er vermeide es tunlichst, dass Libretto ganz zu lesen, um sich nicht zu verzetteln. Vielmehr vertone er einen Vers nach dem anderen und lasse sämtli­ che Arien umgehend ändern, damit die im Laufe der Jahre vorbereiteten Moti­ ve darin verarbeitet werden können.» «Er komponiere alle Arien mit Orchesterbegleitung. Dabei lasse er unbe­ dingt alle Stimmen mit Noten oder Figuren im gleichen Zeitmass fortschreiten, seien es Achtel oder Sechzehntel oder Zweiunddreissigstel. Es sollte ihm hier (treu nach Art des modernen Komponierens) mehr daran gelegen sein, Aufsehen zu erregen als Wohlklang zu erzeugen. (...) Weiter achte er darauf, dass sich –

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ohne Rücksicht auf Text, Tonarten oder Handlungsablauf – über die gesamte Oper hin jeweils fröhliche und pathetische Arien abwechseln. (...) Arien leite er grundsätzlich mit überaus langen einstimmigen Violin-Ritornelli ein, gewöhn­ lich in Sechzehntel- und Zweiunddreissigstel-Bewegungen. Diese lasse er dann mezzopiano spielen, um den Anschein maximaler Neuartigkeit und minimaler Langeweile zu erwecken.» «Es sei empfohlen, die Arie zudem ohne Basso Continuo weiterzuführen und von den Violinen colla parte begleiten zu lassen – damit der Sänger den Ton besser hält. (...) Ist der Sänger bei der Kadenz angelangt, winke der Kapell­ meister das gesamte Orchester ab und lasse dem Sänger oder der Sängerin die Freiheit, sich so lange dort aufzuhalten, wie es beliebt. Auf Duette und Chöre verschwende er wenig Zeit und sorge zudem dafür, dass diese aus dem Libretti ganz verschwinden.» «Der moderne Komponist sei allen Interpretinnen seiner Oper gegenüber extrem zuvorkommend. Er vermache ihnen alte, ihrer Stimmlage entsprechen­ de Kantaten und versichere jeder einzelnen, die Oper stehe und falle allein mit ihrem Können. Dasselbe sage er zu jedem Sänger, jedem Orchestermitglied, Statisten, Bären, Erdbeben etc.»

Für Sänger: «Unter gar keinen Umständen darf der moderne Gesangsvirtuose je Stimübun­ gen gemacht haben und sollte dies auch in Zukunft unterlassen, will er nicht ris­kieren, eine sichere Stimme zu bekommen, saubere Töne zu singen, im Tem­ po zu bleiben etc.» «Der Sänger beanspruche grundsätzlich die Hauptrolle und presse dem Intendanten aus Statusgründen bei Vertragsabschluss eine Gage ab, die um ein Drittel über der vorab vereinbarten liege.» «Könnte er es sich angewöhnen, ständig zu klagen, er sei nicht bei Stimme, ganz ausser Übung, leide an Blutwallungen, Kopf-, Zahn- und Magenschmerzen etc., so verhalte er sich schon ganz wie einer der grossen modernen Gesangs­ virtuosen.»

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«Mit seiner Rolle sei er grundsätzlich unzufrieden, behaupte, er könne mit der Handlung nichts anfangen, die Arien entsprächen nicht seinen Fähigkeiten etc. Stattdessen singe er nach Möglichkeit irgendeine Arie eines anderen Kompo­ nisten und beteuere, sie habe an diesem oder jenem Hofe, bei dieser oder jenen hohen Herrschaft (die zu nennen er sich hüten wird) geradezu Furore gemacht und er habe sie bis zu siebzehn Mal am Abend wiederholen müssen.» «In Proben markiere er lediglich und beharre während der Arien auf seinem Tempo. Bei szenischen Proben steht er meist herum, eine Hand am Revers, die andere am Geldbeutel und achte vor allem darauf, dass während der messa di voce nicht eine Silbe zu verstehen ist.» «Versingt er sich in einer Arie mehr als einmal oder erhält keinen Applaus, behaupte er, die Arie sei für die Bühne ungeeignet und zudem unsingbar etc. Er verlange deren umgehende Änderung und weise darauf hin, dass die Sänger und nicht etwa der Komponist sich vor dem Publikum verkaufen müssten.»

Für Intendanten: «Der moderne Intendant sollte überhaupt keine Ahnung vom Theateralltag haben und auch nichts von Musik, Poesie, Malerei etc. verstehen.» «Auf zweifelhafte Empfehlungen von Freunden hin stelle er Bühnenbildner, Kapellmeister, Tänzer, Schneider, Statisten etc. ein.» «Am Vierten eines Monats händige er dem Komponisten das Textbuch zur Vertonung aus und weise ihn darauf hin, die Oper unter allen Umständen am Zwölften herausbringen zu wollen.» «Die Partie des Sohnes besetze er grundsätzlich mit einem Sänger, der zwanzig Jahre älter ist als die respektive Mutter.» «Jeden Abend verteile er Freikarten an seinen Arzt, Anwalt, Apotheker, Friseur, Schreiner, Patenonkel und an Freunde mit deren Familienangehörigen, um nicht vor leerem Haus zu spielen.»

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EINE INSEL DER LIBERTINAGE Venedig war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Amüsiermetropole des europäischen Adels. Volker Hagedorn

Eine Brücke zum Festland gibt es noch nicht. Reisende von dort erreichen die Stadt im «burcello», einem Schleppkahn für Passagiere, mit wimpelgeschmück­ tem Häuschen darauf, den ein Boot mit vier bis sechs Ruderern zieht, und wer zum ersten Mal kommt wie der Engländer Edward Wright im Dezember 1720, staunt, «eine so grosse Stadt, wie man Venedig wohl nennen kann, auf der Meeres­oberfläche schwimmen zu sehen, Kamine und Türme zu erkennen, wo man nichts als Schiffsmasten erwarten würde.» Masten freilich gibt es hier auch zu tausenden, aber eine Seemacht ist die Republik Venedig nicht mehr. Die Hoch­border mit ihren gut hundert Kanonen, die im «Arsenale» gebaut werden, haben siebzehn Monate zuvor ihre letzte Schlacht geschlagen. Im Juli 1718 haben die Türken in der Ägäis noch das venezianische Flagg­ schiff «Trionfo» in Brand geschossen, unnötigerweise. Der Friedensvertrag zwi­ schen Österreich, Sultan Ahmed III. und der Republik Venedig ist da schon unterzeichnet, letztere bestätigt ihren Bedeutungsverlust nach Jahrhunderten mittelmeerischer Machtpolitik. Korfu, immerhin, bleibt den Venezianern, das hat der mit einer Stargage bezahlte Graf von der Schulenburg, ein taktisches Genie, 1716 noch gegen die Türken halten können, von Vivaldi mit einem Oratorium gewürdigt. Jetzt geniesst der Niedersachse in einem gotischen Palast am Canal Grande einen rauschenden Lebensabend voller Gelage, Kunst und Musik, hochgeehrt, eines von vielen Originalen auf diesem steinernen Floss Venedig, das nun unkriegerisch am Rand der Weltgeschichte dümpelt. Und zugleich am Ufer einer neuen Zeit. Es ist eine seltsame Stadt, in der am 26. Oktober 1720 Antonio Vivaldis Oper La verità in cimento ihre erste

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Aufführung erlebt. Die Türken und Österreicher, die sich anderswo weiterhin bekriegen, gehen hier spazieren, zwischen ihnen mehr und minder wohlhaben­ de Touristen, junge Aristokraten aus ganz Europa auf ihrer Grand Tour, die seit dem späten 17. Jahrhundert als unerlässlich für die Ausbildung gilt – und für die Ausschweifung, besonders in dieser Stadt, deren fast sechs Monate dauernder Karneval auch ein Fest der Libertinage ist. Und der Opern, die hier an sieben Häusern gespielt werden. Mit einer unfassbaren Dichte von Instutitionen und Persönlichkeiten war Venedig die musikalische Hauptstadt des 17. Jahrhun­derts geworden, nun wird es zur Luxusinsel des 18. Jahrhunderts. 1720 leuchten hier abends erste Strassenlampen wie sonst nur in Paris und Wien. Innenpolitisch sieht es finster aus. Eisern hält man fest an den mittelalterli­ chen Strukturen, an der Hierarchie der Nobili, die über Rat, Senat und den fak­tisch machtlosen Dogen bestimmen, ihrerseits wie alle scharf beäugt von den drei Staatsinquisitoren und ihrer allgegenwärtigen Geheimpolizei. Edward Wright, Gast von Lord Parker, betrachtet erstaunt die «klaffenden Mäuler» in marmornen Masken, in die jeder Denunziant sein Briefchen werfen kann, er ver­misst Stühle in den Cafés und erfährt, dass dadurch lange, also politische Gespräche unterbunden werden sollen. Auch hüten sich die Nobili geradezu panisch vor jedem Kontakt mit politischen Repräsentanten aus dem Ausland. Denn auch ein Nobile, der ins Visier der Staatspolizei gerät, kann schnell mal ohne Prozess in der Bleikammer oder gleich im Canal Orphano versenkt werden. Da hat sich nichts geändert, seit Antonio Vivaldi und der Dresdner Geiger Pi­ sen­­del sich vier Jahre zuvor von Beschattern verfolgt sahen. Der Adel trägt, mit schwerer Perücke, grundsätzlich langes Schwarz. Trifft ihn ein Bekannter niederen Standes, und sei es ein reicher Kaufman, tritt der zur Seite, verbeugt sich und murmelt «Eccellenza». Auch die Nobildonne gehen in Schwarz, sofern sie überhaupt gehen und nicht in einer «portatina» getragen werden. Wie allen Venezianerinnen ist ihnen das Tragen von Schmuck, bis auf eine Goldkette, nicht erlaubt, anders als den Jüdinnen – und den «cortigiane». Die Prostituierten sind ein massiver Wirtschaftsfaktor in Venedig, schon im 16. Jahrhundert wird ihre Zahl hier auf mehr als 11 000 geschätzt, ihnen wird sogar bei der jährlichen Festregatta ein corso delle cortigiane zugestanden. Sie sind überall, auch wenn das nicht jeder keusche Engländer merkt. Wright staunt

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über Vestalinnen ohne Schleier, die vorm Konvent mit Bekannten plaudern, perfekt frisiert, Hals und Brust mit dünnem Stoff «next to nothing» verhüllt. Tatsächlich gelten Venedigs Klöster als «äusserst libertin», wie Sabine Her­ mann in einer Arbeit über «Käufliche Liebe im Venedig des 18. Jahrhunderts» belegt. 1739 haben sogar drei Konvente darum gestritten, welches dem neuen Nuntius eine Geliebte liefern dürfe. Wo aber die Liebesdienerinnen Freiheiten geniessen wie nirgends sonst, definiert man auch die Ehe etwas offener. Lord Chesterfield, der seine Grand Tour 1714 absolviert, empfiehlt später, in Venedig statt leichter Mädchen Damen der Gesellschaft zu frequentieren, die als beson­ ders aufgeschlossen gelten. Der Cicisbeo, kavalieresker junger Hausfreund vor­ nehmer Damen mit nicht weiter beredetem Aktionsradius, der sich noch in Mozarts Cherubino spiegelt, wird sogar Teil von Eheverträgen. Für männliche Bewohner und Besucher der Stadt gehört es sich sowieso, Affären zu haben. So exotisch ist das Libretto also gar nicht, das Anfang Oktober 1720 mit dem «faccio fede» der staatlichen Zensoren freigegeben wird und den Verwick­ lungen folgt, die sich ergeben, wenn ein Mann Kinder sowohl mit der Ehefrau als auch mit der Geliebten hat. Das und die Frage nach dem Machterhalt sind so eminent venezianische Themen, dass die Librettisten Giovanni Palazzi und Domenico Lalli sie gar nicht weit genug auslagern können: Nach Cambaja, ins Reich indischer Moguln, moslemischer Herrscher. Auf die Weise kann man auch ohne Verwerfungen die Polygamie jener Osmanen ins Spiel bringen, an die Venedig vor kurzem die griechische Halbinsel verloren hat – eine offenkundige «Türkenoper» würde sich zur Stunde nicht empfehlen. Und schliesslich lässt sich am Beispiel von Sultan Mahmud zeigen, dass ein Mann, der treuherzig alle Verhältnisse offenlegen will, nur Ärger kriegt und zur tragikomischen Figur verkleinert wird zwischen Intrigen, wie man sie in Venedig bestens kennt. Der Konkurrenzdruck ist hier enorm. Als Wright die Stadt besucht, in der Saison von La verità in cimento, verzeichnet er sieben Opernhäuser, alle benannt nach den Kirchen, in deren Nähe sie stehen. Das älteste, San Cassiano, ist schon 1637 eröffnet worden, als das prächtigste und konservativste gilt das Teatro San Giovanni Crisostomo, seit 1678 in Betrieb. Hier könnte Edward Wright die Aus­ tattungsorgie erlebt haben, die ihn – der aus London ja einiges gewöhnt ist – schwer beeindruckt: Nero und Gemahlin werden auf gewaltigem Thron von

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einem Elefanten hereingezogen, der Kopf, Augen und Rüssel «as if alive» be­ wegt. Während sich dann der Thron zu einem Amphitheater auseinanderfaltet, zerfällt der Elefant, und seinem Bauch entsteigen Gladiatoren in voller Rüstung. Das Sant’Angelo direkt am Canal Grande hat es nie ganz leicht gehabt, auch nicht während Vivaldis kurzer Zeit als Impresario des Theaters. Fünf seiner bislang zwölf Opern sind hier uraufgeführt worden, die dreizehnte soll seinen Wiedereinstieg in die Szene sichern, nachdem er drei Jahre lang Kapellmeister in Mantua war. Fast alle Nummern hat er eigens für diese Oper neu komponiert. Sein Name ist in Venedig freilich auch so schon ein Begriff; selbst der nur be­ grenzt musikaffine Reisende Wright nennt den «famous Vivaldi (whom they call the Prete rosso)», spricht von ihm aber nur als musizierendem Priester früherer Jahre. Tatsächlich verdankt der Musiker den Ruhm in der Stadt seiner Geburt auch seiner Tätigkeit als Geigenlehrer, künstlerischer Leiter und Komponist am «Ospedale della Pietà», einer legendären Institution. Nicht zuletzt ist dieses «Hospital», eines von vier grossen Fürsorgezentren in der Stadt, die karitative Antwort auf die Folgen nichtehelicher Verbindungen. Es verfügt über eine Babyklappe und nimmt ausschliesslich Mädchen auf – «ge­ nerally bastards», wie Wright anmerkt. An die tausend Zöglinge sind hier, an der Riva degli Schiavoni, untergebracht, von denen die musikalisch begabten als «figlie di coro» zu Sängerinnen und Instrumentalistinnen von höchster Qualität ausgebildet werden, den besten Profis Europas auch als Solisten ebenbürtig. Ihre Auftritte – im Ospedale hinter eisernen Gittern, soviel Mittelalter muss sein – sind eine Einnahmequelle und Teil eines Musiklebens, das in Venedig auch aus­ serhalb des Karnevals und der Oper omnipräsent ist: In den Kirchen, den priva­ ten Palästen, den «Gran Scuole» der Zünfte, auf dem Wasser. Aber erst im Karneval, der im Oktober beginnt, kommt alles zusammen, treffen sich erotische Entfesselung und Musiktheater. Es sei, staunt Wright, als begrüsse man hier die Sonne nach der Polarnacht. Die meisten, Männer wie Frauen, Patrizier wie Pöbel und natürlich die Besucher, tragen nun tagsüber den Tabarro und die Bautta: Ein bis übers Knie reichendes schwarzes, mantel­artiges Gewand, und eine den Kopf um­schliessende schwarze Seidenkappe unter schwar­ zem Dreispitz, dazu eine weisse Halbmaske mit schnabelartig vorspringender Nase. Je weiter die Saison voranschreitet, desto bunter maskiert man sich: Frauen

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als Nymphe und Schafhirtin, Männer als Pulcinello und Pantalone, ebenso aber Frauen als Männer und umgekehrt. Das alles erleichtert auch intime Treffen, für die nicht zuletzt die Opernlogen mit Vorhängen geeignet sind. «Es gibt hier keine offenen Ränge wie in London», wundert sich Edward Wright. Der Zuschauerraum sei von unten bis oben in Logen aufgeteilt, in die jeweils an die sechs Personen passen. Das tief eingewurzelte Bedürfnis der eng beieinander lebenden Venezianer nach Diskretion und Abgeschlossenheit kommt hier der Lust entgegen und macht die Staatsinquisitoren nervös, deren Spitzel hier den Überblick verlieren; Insider Giacomo Casanova empfiehlt noch 1780, im Theater für bessere Beleuchtung zu sorgen, damit die Prostituierten nicht sogar dort ihrer Arbeit nachgehen könnten. Doch was der reisende Engländer Wright eine «skandalöse Sitte» nennt, ist etwas anderes: Aus den oberen Logen wird während der Vorstellung ins Parkett hinab gespuckt, man wirft mit Obst­ schalen, und nicht selten trifft es Besucher von Rang. Denn auch die begeben sich aus ihren Logen gern nach unten. Manche, um den Sängern näher zu sein, die meisten aber, so Wright, um herauszufinden, wer sich hinter dieser und jener Maske verbirgt. Dann gibt es da noch Kunst­ freunde, die, Wachskerzen in der Hand, das gedruckte Libretto mitlesen, solan­ ge nicht eine der «Gefälligkeiten von oben» ihnen die Flamme auslöscht. Roheit und Raffinesse, Regelstrenge und Entfesselung sind Nachbarn in Venedig. Hat die Stadt nicht selbst etwas Opernhauftes? Man kann sie hören, diese Oper. Zynismus zwischen den Epochen, Überdruck auf engem Raum, Spannung zwischen grossem Gefühl und schneller Ironie – das ist La verità in cimento.

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LA VERITÀ IN CIMENTO ANTONIO VIVALDI (1678-1741) Dramma per musica in drei Akten Libretto von Giovanni Palazzi Uraufführung: 26. Oktober 1720, Teatro S. Angelo, Venedig Fassung des Opernhauses Zürich

Personen

Rosane

Sopran

Rustena Melindo

Countertenor

Damira Zelim

Alt

Alt

Mezzosopran

Mamud

Tenor


ATTO I

ERSTER AKT

SCENA 1

1. SZENE

Mamud, Damira

Mamud, Damira

RECITATIVO

REZITATIV

MAMUD

MAMUD

Non più, Damira: d’un error crudele,

Es reicht, Damira. Lass uns endlich den Betrug

D’un cambio troppo rio l’andato inganno

dieses schändlichen Tausches aufdecken.

Si sveli omai. Più da’ rimorsi suoi

Mein Herz wird von Schuldgefühlen heimgesucht.

Flagellato non soffre il cor la pena.

Es erträgt diesen Schmerz nicht länger.

DAMIRA

DAMIRA

Dunque s’il trono e’l letto tuo perdei,

So soll ich auch noch auf dein Wort verzichten,

Perdere ancor dovrò le tue promesse?

wo ich den Thron und dein Ehebett verlor?

Non men che mio, Melindo è figlio tuo.

Melindo ist ebenso dein Sohn wie meiner.

Allor tu promettesti di riserbar

Du hast damals versprochen, das Zepter,

A lui tolto alla madre lo scettro.

das mir entwendet wurde, für ihn vorzusehen.

S’io restai del letto tuo vedova,

Wenn ich schon auf das Ehebett verzichten muss,

Non lo sia del seggio il figlio.

so nicht mein Sohn auf deinen Thron.

MAMUD

MAMUD

Nel cambio de’ miei figli ingiusto troppo,

Als ich meine Söhne vertauschte, war ich zu

Troppo debole io fui. Tiran, non padre,

ungerecht, zu schwach. Als Tyrann, nicht als Vater

Nel giorno, che portò la luce ad ambi,

nahm ich am Tag ihrer Geburt Zelim, der von der

Zelim dalla soldana nato io tolsi,

Sultanin geboren wurde, um statt seiner Melindo in

Per Melindo supporvi a’ reggi panni,

die königlichen Windeln zu legen, damit er der

Ond’ei privo del regno il tuo l’avesse.

Herrschaft beraubt würde und dein Sohn sie erhielte.

Al fonte onde sortì, ritorni il sangue,

Kehre das Blut nun zu seinem Ursprung zurück,

L’erede al trono, alle lor madri i figli.

der Erbe auf den Thron, die Söhne zu ihren Müttern.

DAMIRA

DAMIRA

Senti, già ch’ ostinato altro tu brami

Höre, da du darauf versessen bist,

Aggiunger tradimento al primo mio,

mich ein zweites Mal zu verraten:

Lo speri invan. lo m’opporrò a’ tuoi detti,

Du hoffst umsonst. Ich werde mich deinen Worten widersetzen, ich werde die Wahrheit leugnen und so

Negherò il ver, e sì oprerò, che resti, Fissa nel creder suo Rustena e i figli, Onde deluso il tuo pensier, Melindo

handeln, dass Rustena und die Söhne in ihrem Glauben verharren, damit dein Plan scheitert und 58 Melindo

von seinen Untertanen als ihr König


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Ihre

Leidenschaft

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Unterstützung

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Opernhaus Zürich und Swiss Re – eine inspirierende Partnerschaft. Ideen, Innovation, Inspiration – bewegen uns bei Swiss Re. Die Zusammenarbeit mit Menschen auf der ganzen Welt begeistert uns. Denn gemeinsam entdecken wir immer wieder neue Perspektiven und spannende Horizonte. Darum fördern wir auch kreatives Engagement und kompetente Leidenschaft – und die lebendige Kulturszene in Zürich. Sie regt an, sie berührt, sie lässt uns staunen und nachdenken. Und Gedanken austauschen, denn: Together we’re smarter. swissre.com/sponsoring

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