Lunea

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LUNEA HEINZ HOLLIGER


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LUNEA HEINZ HOLLIGER (*1939)

Mit freundlicher Unterstützung der Ringier AG Mit finanzieller Unterstützung durch die FONDATION SUISA


Bin ich eine Alpenlerche oder ein Kondor – ein singender Punkt am Himmel oder eine jauchzende Weltenkugel? Nikolaus Lenau





ZU DEN LEBENSBLÄTTERN Erstes Blatt In Lenaus Kopf. Die Stunde Null in dumpfem Glockenklang. Mitten im Leben beginnt der Boden unter seinen Füssen wegzubrechen. Im Selbstgespräch wen­ det sich Lenau an seine Schwester Therese. Die Sätze und Worte zersplittern und zerfallen. Vom «süssen Kuss» ist die Rede. Ist es der Tod als letzter Kuss? Oder ein Lebenskuss? Ein Kuss der Geliebten Sophie von Löwenthal?

Zweites Blatt In Stuttgart. Lenaus Freunde singen ihm ein Lied. Jäh erleidet er einen Gehirn­ schlag. Mit dem «Riss», einem Schlaganfall, beginnt sein Niedergang.

Drittes Blatt Lenau im Dialog mit sich selbst. Voller Sehnsucht nach einem Du – aber auch einverstanden mit der Nacht, die ihn umgibt, die seine Einsamkeit nährt.

Viertes Blatt Lenau erhält Besuch von seinen Liebsten. Sophie sorgt sich sehr. Wesentlich für die Be­zie­hung zwischen Lenau und Sophie war – sie festigend, sich auch selbst­ vergewissernd – ein steter Briefwechsel, das «Du im Brief». Darum kommt diesem «Du» eine besondere Bedeutung zu. Auch «das süsse Wort» romanti­ scher Liebesbeschwörung wird zum Thema.

Fünftes Blatt Sophie alleine mit Lenau. Sie redet ihm gut zu, er solle sich in sein Schicksal fügen. Sie hat ihm eine Kappe mitgebracht. Lenau reagiert erbost auf ihre Be­ schwichtigungen.

Sechstes Blatt Lenau spricht Sophie als seine Mutter an, die früh verstarb und zu der er eine

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sehr innige Beziehung hatte. Sie verwöhnte ihn grenzenlos, ihr Tod setzte ihm arg zu. Sophie tut ihm den Gefallen und antwortet als Mutter. Der Dialog zitiert einen Briefwechsel: Lenau erklärt seiner Mutter, falls sie stürbe, würde er sich eine Kugel durch den Schädel jagen, um mit ihr vereint zu sein.

Siebtes Blatt Lenaus Freund Justinus Kerner, Dich­ter und Arzt, hat Faltblätter mit gepressten Tinten­flecken angefertigt, sogenannte Klecksografien. Lenau selbst wird in sei­ ner Einbildung zu einer solchen Kleckso­grafie – gefaltet, entfaltet, verdoppelt, gespiegelt. Auch die Sprache wird gespiegelt. Lenau visioniert eine Fata Morgana.

Achtes Blatt In Bad Ischl, wo Sophie wiederholt zur Sommerfrische war. Lenau ist auch dort, um Marie Behrends wiederzusehen. Er will die Juristentochter aus Frankfurt, die er noch gar nicht lange kennt, heiraten – und gleichzeitig Sophie nicht verlieren. Es kommt in Lenaus Kopf zu einer Begegnung der drei in Form von Briefen, die Lenau mit beiden Frauen wechselte. Die Heirat mit Marie Behrends kam nicht zustande.

Neuntes Blatt Lenau in Erinnerungen. Er kannte Sophie schon in ihrer Kindheit und sah sie zum ersten Mal, als sie zehn Jahre alt war. Er hatte damals Sophies Bruder besucht. Durch den Hausgang laufend, hatte er im Vorübergehen einen Blick auf ihren Rücken geworfen. Sie sass abgewandt.

Zehntes Blatt Seine allererste Liebesbeziehung war Lenau mit Bertha Hauer eingegangen, einer jungen Frau von zweifelhaftem Ruf. Sie hatten sich verliebt, als Lenau 23 Jahre alt war, und zogen in die Wohnung von Berthas Mutter. Drei Jahre später brachte Bertha eine Tochter zur Welt – Adelheid. Lenau hatte starke Zweifel an seiner Vaterschaft. Jahre später, nachdem die Beziehung endgültig zerbrochen war, begegnete er Bertha und dem Kind zufällig wieder im Wiener Krapfenwaldl. Er gab sich aber nicht zu erkennen.

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Elftes Blatt Lenau geht eine Liebesbeziehung mit einer weiteren Frau ein – mit der berühm­ ten Sängerin Karoline Unger, einer gossen Gesangskünstlerin ihrer Zeit. Diese Liebe wird von Sophie vereitelt: Sie schlägt dem zwischen beiden Frauen auf­ geriebenen Lenau vor, Karoline brieflich zum Abschied von der Oper zu nöti­ gen und von einer Verbindung abzusehen, solange seine Vermögensverhältnisse nicht solide seien. Wie ferngesteuert bringt Lenau diese Liebesgeschichte zu Ende. Auch die Mutter stellt sich ihr wie in einem Zeitensturz zur Seite, berich­ tet dem Studenten Niki vom ersten Liebesglück seiner beiden Schwestern – und wieder stehen auch Bertha und Adelheid vorwurfsvoll im Raum. Er erlebt in der Gegenwart der Erinnerung eine vir­tuose Arie Karolines.

Zwölftes Blatt Auf dem Friedhof mit der Schwester Therese. Lenau erblickt ihr künftiges ge­ meinsa­mes Grab. Die Gräber als stille Schar. Die­ses Lebensblatt geht in Flammen auf: Le­nau visioniert FEUER. Im Verbrennen – es ist die Mittelachse des ge­ samten Stücks – ereignet sich das Vorige rückwärts: REUE(F).

Dreizehntes Blatt Dieses Blatt kommt aus Amerika, wohin Lenau vorübergehend auswanderte. Er wollte dort ein neues Leben beginnen. Er sah die Niagarafälle, die ihn sehr beeindruckten. Auf der Überfahrt wurde er Augenzeuge einer Katastrophe: Ein Seemann stürzte vom Mast ins Meer. Ein anderer Seemann erstach den Hai, der seinen Freund gefressen hatte. Die Amerikareise war eine grosse Enttäu­ schung. Das Land stiess ihn ab – habgierige Menschen, Krämerseelen, ein Land ohne Nachtigall. Krank nach einem harten Winter kehrt er schliesslich zurück.

Vierzehntes Blatt Bei der befreundeten Familie Reinbeck in Stuttgart. Lenau wird von einem Wahnsinnsanfall erfasst. Er wähnt sich als Ungar im Krieg. Um sich zu beruhi­ gen, nimmt er seine Guarneri-Geige, spielt einen wilden steirischen Tanz – und hält sich für geheilt. Todesdunkle Stimmen spuken erneut durch seinen Kopf: «Drei Reiter nach verlorener Schlacht, wie reiten sie so sacht, so sacht...»

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Fünfzehntes Blatt Lenau gedenkt seines Freundes und Gönners Graf Alexander von Württemberg. Der an Syphilis erkrankte Offizier und Dichter war 1844 an einem Gehirnschlag gestorben. Alexander gehörte wie Lenau, Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Justinus Kerner und andere zum Seracher Dichterkreis. Regelmässig trafen sich die Dichter auf Schloss Serach bei Esslingen, dem Sommersitz der Grafen. Lenau nennt Alexander jetzt Sandor. Er fühlt sich schuldig oder: gidlusch.

Sechzehntes Blatt Im Irresein. Mit sich allein. Und den Stimmen im Kopf.

Siebzehntes Blatt Intensive Begegnung mit der gewesenen Welt. Lenau wie aus dem Jenseits herüberschauend.

Achtzehntes Blatt Lenau im Selbstgespräch. Er hört Stimmen. Es ist ein Duett zwischen ihm, Lenau, und Marie.

Neunzehntes Blatt Im Erkennen ein Tränenrausch.

Zwanzigstes Blatt Die Erschöpfung nimmt still und stiller ihren Lauf. Die Freunde scheinen auf.

Einundzwanzigstes Blatt Sie halten an ihm fest. Und er muss doch gehen. Für sich.

Zweiundzwanzigstes Blatt Die Zeit steht still.

Dreiundzwanzigstes Blatt Fast unhörbar zwitschern die Vögel.

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FANTASIE, DIE KEINE GRENZEN KENNT Der Komponist Heinz Holliger über die Gedankenblitze des Dichters Nikolaus Lenau und sein neues Musiktheater «Lunea»

Herr Holliger, wann haben Sie an­gefangen, sich für den Dichter Nikolaus Lenau zu interessieren? Ich kannte ihn als Lyriker seit langer Zeit und konnte gut nachvollziehen, dass seine Gedichte viele Komponisten zum Schreiben angeregt haben. Er ist ja einer der meistvertonten Lyriker des 19. Jahrhunderts. Aber die ganz grosse Faszination ging für mich nicht von seinen Gedichten aus. Ich fand sie vergleichsweise konventionell. Um das Jahr 2000 habe ich dann in einer Berliner Buchhandlung Lenaus «Notizbuch aus Winnenthal» gefunden und sofort gekauft. Darin entdeckte ich so unglaubliche Sätze wie: «Bin ich eine Alpenlerche oder ein Kondor – ein singender Punkt am Himmel oder eine jauchzende Weltenkugel?» Das hat mich sofort gepackt, auch weil es Parallelen zu Hölderlin gibt, den ich ja ausser­ordentlich schätze. Winnenthal ist eine Nervenheilanstalt bei Stuttgart, in die Lenau im Oktober 1844 eingeliefert wurde. Ja, das Büchlein gehört zu den letzten dichterischen Äusserungen von Lenau. Ein regelrechter Durchbruch meiner Begeisterung für Lenau kam dann mit der Lektüre seiner sogenannten Zettel. Der Ton, der darin angeschlagen wird, hat mich unglaublich fasziniert, weil er so fern ist von der Sprache der Gedichte. Es ist eine Sprache von einer für die damalige Zeit atembe­ raubenden Kühnheit und Neuheit. Das liest sich, als ob es fünfzig Jahre später entstanden wäre, als ob Franz Kafka, Georg Trakl oder Georg Heym es geschrieben hätten. Das ist natürlich genau meine Welt.

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Mit welcher Intention hat Lenau diese «Zettel» geschrieben? Für ihn waren es schnell aufs Papier geworfene Tagebuchnotizen. Sie sind, anders als seine Gedichte, nicht gereimt und in freier Rhythmik verfasst. Seine Lyrik krankt ein wenig daran, dass er die Konventionen des biedermeierlichen Gedichteschreibens bedient. In den Zetteln aber bricht sich eine entfesselte Sprache Bahn, die man diesem Dichter gar nicht zugetraut hätte. Wann sind die Zettel entstanden? Genau weiss man es nicht, aber wahrscheinlich in den letzten vier Jahren vor dem Nervenschlag, den Lenau 1844 erlitten hat, und von dem er sich nicht mehr erholte. Sein Schwager Anton Schurz, der auch Lenaus erster Bio­graf war, hat die Zettel gesammelt. Sie wurden 1906 veröffentlicht, damals ohne nennenswertes öffentliches Echo. Die Zettel sind also enstanden, bevor Lenau wahnsinnig wurde? Kurz vorher, ja. Haben sich da schon Bewusstseins­­­veränderungen bei ihm bemerkbar gemacht? Seine Freunde haben in dieser Zeit seltsa­me Veränderungen in seinem Ver­halten festgestellt. Er habe zwanghaft immer die gleichen Sätze gesagt. Er reiste rastlos in Expresskutschen zwischen Wien und Stuttgart hin und her, war nirgendwo zu Hause, suchte bei Frauen vergeblich nach Halt in seinem Leben. Es waren eben diese Lenauschen Gedankenblitze, die Sie zu Musik in­ spiriert haben? 23 davon habe ich zunächst für Stimme und Klavier vertont und für Christian Gerhaher geschrieben, der sie vor fünf Jahren hier am Zürcher Opernhaus uraufgeführt hat. Aber ich habe immer gespürt, dass da noch mehr drinnen steckt. Die Worte sind wie Blitze, die in alle möglichen Richtungen auf­ zucken. Sie sind von grosser Strahlkraft. Hinter, über und unter ihnen tun sich schwin­del­­­erregende Räume auf. Da habe ich mich als Komponist herausge­ fordert gefühlt, diese Räume mit Musik auszu­loten und auszugestalten.

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Es war aber nicht nur Lenaus Sprache, die Sie begeistert hat, sondern auch dessen Leben. Für mich wurde er immer mehr zu einer faszinierenden Figur, die es zu ent­decken galt. Lenaus Begabungen müssen unglaublich vielfältig gewesen sein. Er wurde in Ungarn geboren, hat in Budapest Medizin, Agrikultur, Philosophie und einiges mehr studiert, nichts davon abgeschlossen und hat schon damals angefangen zu dichten. Er war gleichzeitig einer der genialsten Gitarren­spieler, die es damals gab. Später spielte er eine Guarneri-Geige, und viele Berufsmusiker meinten, er hätte einer der grossen Geiger seiner Zeit werden können. Lenaus Begabungen waren so vielfältig, dass sie gar kein rechtes Flussbett fanden, worin die ganze Energie hätte abfliessen können. Er war adelig und für einen Dichter finanziell relativ unabhängig. Aber ihn trieben revo­lutionäre Gedanken um, er war ra­di­­kal antiklerikal eingestellt, und neben Heinrich Heine gehörte er in der da­­maligen Zeit zu den wenigen, denen der Antisemitismus ein Horror war. Politisch höchst inkorrekt, wurde er von der Zensur Metternichs gequält und war ständig auf der Flucht zwischen Wien und Stutt­gart. Das führte dazu, dass er das gesamte Europa für kaputt und korrupt hielt. Gemeinsam mit einfachen schwäbischen Bauern emigrierte er des­halb nach Amerika, wurde dort übers Ohr gehauen und kehrte nach einem Jahr völlig desillusioniert zurück. Wieder daheim, nannte er die Vereinigten Staaten von Amerika «verschweinigte» Staaten von Amerika. Die Leute dort seien ge­nau­­so geldgierig und korrupt wie zu Hause, und es gäbe dort keine Nachti­gal­len. Lenau war als Halb­wüchsiger ein Haudegen und mitleidloser Vogel­fänger. Aber er inszenierte sich auch, mit einer Husarenuniform und in teuren Samt gehüllt, als der glamouröse Dichter aus der Puszta. Er war janusköpfig, ein nie auszumachender, unberechen­barer Mensch. Sein Leben hat – wie die Musik – etwas Meta­sprach­liches. Die fängt auch erst an, wenn die Normalität an ihr Ende kommt. Wie war sein Verhältnis zu den Frauen, bei denen er ja gut ankam? Ebenso rastlos, unstet, doppelgesichtig. Die stärkste Bindung hatte er zu Sophie von Löwenthal, der Ehefrau seines Freundes Max von Löwenthal, die er leidenschaftlich liebte. Mit ihr unterhielt er einen ausgedehnten Brief­

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wechsel, wo­bei er jeden Brief zweimal schrieb, einen förmlichen, offiziellen – in der dama­ligen Zeit war es üblich, dass man sich eintreffende Briefe im Kreis von Freunden und Familien vorlas – und einen heimlichen, ungezügelten, in dem er schrieb, was er eigentlich hatte schreiben wollen. Diese heimlichen Briefe schlagen ebenfalls einen entfesselten, schwärmerischen Ton an. Es sind durch keine Konventionen eingehegte Wortkaskaden. Ursprünglich wollte ich etwas von ihnen in meine neue Oper aufnehmen, aber sie waren mir dann zu obsessiv nur auf das Thema der leidenschaftlichen Liebe zu Sophie ausgerichtet. Das kann einem mit der Zeit ein bisschen auf die Nerven gehen. Aber diese Parallelwelten, die sich in der Korrespondenz mit Sophie auftun, haben mich sehr interessiert. Ich fühle mich ja immer angezogen von Menschen, die innerlich zerschnitten sind. Die Vertonung der Lenau-Aphorismen haben Sie dann orchestriert. Dies war der Nukleus für die heutige Oper, die ebenfalls Lunea heisst. Was hat Ihnen das sichere Gefühl gegeben, dass man aus dem Lieder­ zyklus Musiktheater machen kann? Lunea ist kein Liederzyklus, das wäre die falsche Bezeichnung. Die 23 Zettel sind in ihrer Zusammenstellung nicht in einer Bogenform aneinandergereiht. Die könnte man auch ganz anders kombinieren. Ich habe sie als Blätter bezeichnet wie Lebensblätter, die man vom Kalender abreisst, oder Laub­ blätter, wie sie im Herbst von den Bäumen fallen. Mich hat gerade die Offenheit der Text­ebene gereizt. Es sind schlaglichtartige Impulse, expressive Kraftzentren, die in dem Stück Raum greifen. So ist die Komposition auch entstanden. Ich habe ständig direkt auf die Librettoseiten kleine Notenfrag­mente und Skizzen geschrieben, bis die Seiten übersät waren von meinen Notizen. Später erst habe ich alles zusammengefügt und in eine zeitliche Ordnung gebracht, wobei die Abfolge der 23 ursprünglichen «Zettel» mein Librettist Händl Klaus festgelegt hat. Das war mir lieber so, weil ich mich für keine Reihenfolge entscheiden konnte. Es ist eben kein biografischer Bogen, der sich über das Werk spannt. Man könnte sagen, jedes Blatt fängt wieder bei Null an. Die existierenden Lunea-Vertonungen habe ich in die Oper integriert. Sie sind eingeschoben wie Choräle in einer Bach-Passion.

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Sie wollten auf keinen Fall das Leben eines Künstlers vertonen? Nein. Alle Filme etwa, die das Leben eines Komponisten biografisch vorführen, gehen mir auf die Nerven. Dagegen bin ich ziemlich allergisch. Was war dann die dramatische Situation, die Sie sich vorgestellt haben? In meiner Vorstellung war Lenaus Nerven­schlag der Auslöser des Musik­ theaters, ein «Riss», wie Lenau den Schlaganfall selbst bezeichnet hat, der mitten durchs Gesicht geht. Die eine Hälfte ist gelähmt, die andere ist noch durchblutet. Dieser Nervenschlag kam mir vor wie die Symmetrieachse eines völlig asymmetrischen Lebens. Ich wollte, von ihm ausgehend, die Zeit bis zu Lenaus Verdämmern über sechs Jahre hinweg fassen und gleich­ zeitig zurückgehen bis in seine Jugend. Ich wollte wichtige Lebens- und Schaffensstationen, gleichzeitig vor- und zurückspulend, zur Darstellung bringen und die Wahrnehmung der Zeit völlig durcheinander­­bringen. Die Zeit zu dehnen und zu stauchen, anzuhalten und rückwärts laufen zu lassen – das kann eben nur die Musik und keine andere Kunstform. Ich wollte Lenaus Doppelgesichtigkeit mu­si­kalisch ausdrücken. Vieles im Li­bret­to und in der Partitur ist palyndromisch konzipiert. Die 23 Blätter haben in der Mitte eine Symmetrieachse. Nach elf­einhalb Blättern taucht das Wort Feuer auf, Sinnbild für das Verbrennen eines Dichterblatts. Einen Takt später erscheint das Wort Reue(f). Das ist spiegel­symmetrisch angelegt, exakt in der Mitte des Stücks. Danach sind die Szenen zum Teil rückwärts geschrieben, auch einzelne Worte. Aus «schuldig» wird «gidlusch», aus «grab» wird «barg» usw. Die Konstruktion darf man sich jetzt aber auch nicht zu geometrisch vorstellen. Nein, überhaupt nicht. Es ist alles fragmentarisch und kaleidoskopartig inei­nander verschachtelt. Die Mosaiksteine fügen sich am Ende zwar zu einer Gesamtform, aber die Reihenfolge ist für den Zuhörer nicht unmittelbar nach­vollziehbar. Es ist wie in einem Traum, in dem sich das Geträumte ja auch von einem kontinuerlichen Zeitverlauf löst. Im Traum kann ein ganzes Leben in zwei Sekunden vorüberziehen. Es gibt Sprünge, Rückblenden, parallele Zeit­ebenen.

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Als wir zum ersten Mal über ein mög­liches Opernprojekt sprachen, waren Sie skeptisch, ob es Sie noch einmal zur Bühne drängt. Wie denken Sie heute darüber? Sind Sie doch ein Musiktheatraliker? Ich habe es versucht und wollte es unbe­dingt. Ich habe Zeit meines Lebens eine grosse Nähe zum Theater verspürt. Mein Bruder war Regisseur. Wir haben schon als Kinder ständig Theater gespielt. Im Alter zwischen 16 und 19 Jahren habe ich acht Schauspielmusiken geschrieben und war Haus­ komponist in der Schauspielklasse von Margarete Schell, der Mutter von Maria und Maximilian Schell. Ich habe wirklich den Staub der Theaterbühne inhaliert. Ich fühle mich nur nicht zu Hause in der Welt der konventionellen Oper, wo oft Worte gesungen werden, die gar nicht der Musik bedürfen. Wie meinen Sie das? Witolt Lutosławski, einer der ganz Gros­sen unter den Komponisten des ver­­gangenen Jahrhunderts, hat einmal gesagt: «Ich kann keine Oper schreiben, weil da ständig Dinge gesungen werden, die man genauso gut sagen könnte.» Ich möchte, wenn ich für die Musik­theaterbühne komponiere, kein einziges Wort in Musik setzen, das man auch sagen könnte. Wie muss Sprache beschaffen sein, dass sich Musik an ihr entzünden kann? Wenn Sprache nur Ideen transportiert, ist sie für mich als Komponist völlig un­attraktiv. Ein Wort muss ausstrahlen und Kreise um sich ziehen wie ein ins Wasser geworfener Kieselstein, der Wellen erzeugt, dann kann ich mir Musik dazu vorstellen. Händl Klaus, mein Partner, hat mir solche Worte geschrieben. Sein Libretto, das aus­schliess­lich Worte von Lenau verwendet, ist für mein Empfinden literarisch sehr hochstehend. Es ist Wort-Musik. In Ihrer Oper wird das Theater also nicht von einer Handlung her­vor­ge­ bracht oder von Figuren, sondern von der Sprache selbst? Man könnte sogar sagen: Die Sprache ist eine Bühnenfigur. Darum habe ich auch zum ersten Mal in einem Theaterwerk den Chor stark einbezogen. Er verlängert die Worte, oft sind es Lenaus innere Stimmen, in den Raum – wie ein Echo, wie Wellen, wie Umarmungen.

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Die Frage, die Ihnen bestimmt immer wieder gestellt wird, kann auch ich Ihnen nicht ersparen: Warum kreist Ihr ganzes kompositorisches Schaffen immer wieder um wahnsinnige Künst­ler: Schumann, Hölderlin, Robert Walser, Adolf Wölfli, Louis Soutter… Was fasziniert Sie an den Wahn­sinnigen? Sie sind nicht von Konventionen ge­fes­selt. Ihre Gedanken entwickeln sich ganz frei bis ins Kosmische. Und das ist eben das, was einen Musiker interes­ siert: Sobald der feste Rahmen wegfällt, kommt die Musik. Ein normaler Mensch komponiert nicht – oder er kom­­poniert wie Czerny oder Pleyel. Es braucht Offenheit und Unangepasstheit des Geis­tes, sonst kann Schöpfertum gar nicht entstehen. Ich suche nicht nach dem Krankhaften in einem Menschen. Ich suche nach Menschen, deren Fantasie keine Grenzen kennt. Syphilis war die Krankheit, an der im 19. Jahrhundert viele Künstler erkrankt sind, wohl auch Nikolaus Lenau. Die Schulmediziner sehen in der Künstlerkrankheit keine ent­fesselten Kreativpotenziale, sondern diagnostizieren Gehirnerweichung. Wie passt das zusammen? Ich beziehe mich ja nicht auf die finale Phase der Krankheit, in der die Krea­tivität verstummt. Schumann hat seine verrückteste Musik in der Jugend geschrieben, revolutionäre Musik, völlig quer zur Zeit stehend. Jetzt existiert die Lunea-Oper in Ihrem Kopf und wird nun Bühnen­ reali­tät, oder überspitzt gesagt: Was Sie sich ausgedacht haben, wird nun in der Schreinerei gesägt. Für manche Komponisten ist das unerträglich. Sie haben Angst, dass ihr Werk auf der Bühne verfälscht oder womög­ lich gar ruiniert wird. Wie ist das bei Ihnen? Es ist schon schwer, die Bilder, die man beim Komponieren im Kopf hat, nicht auf der Bühne wiederzufinden. Aber es ist richtig so. Es ist richtig, dass das nun alles durch das Denken und Empfinden der Sänger geht und natürlich vor allem durch den Regisseur und die Bilder zu meiner Musik neu und anders geträumt werden. Wenn ein Regisseur so musikalisch ist wie Andreas Homoki, der wirklich ein Gespür für die Musik hat, habe ich Vertrauen, dass die Regie meine Arbeit nicht zerstört.

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Wie sind Sie insgesamt mit den Künst­lern zufrieden, die die Urauffüh­ rung realisieren? Christian Gerhaher, Juliane Banse, Sara Maria Sun, Ivan Ludlow bis hin zur Konzertmeisterin Hanna Weinmeister – das alles sind Künstler, die ich gut kenne, mit denen ich schon oft zusam­men­­gearbeitet habe. Wenn Sie so wollen, ist das meine Familie. Und ohne Christian Gerhaher hätte ich die Oper nicht schreiben können. Da bin ich ganz sicher. Er ist jemand, der mir sehr, sehr nahe ist und von dem ich sicher war, dass er die Sensibilität besitzt, um dieses unkonventionelle Denken, das meiner Oper innewohnt, mit äussersten Nervenspitzen zu erspüren. Ich brauche ein Gegenüber, eine konkrete Stimme, für die ich komponieren kann. Eine Stimme sagt alles über eine Seele, und umgekehrt, die Seele erklingt durch die Stimme. Das Gespräch führte Claus Spahn

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DER KÜNSTLER ALS GETRIEBENER Über das Leben des Dichters Nikolaus Lenau Michael Ritter

Natürlich, das hätte ihm gefallen und geschmeichelt. Und er wäre überzeugt gewesen, dass es ihm gebührt: eine Oper, die ihn zum Thema und als Haupt­ person hat. Nikolaus Lenau mangelte es nicht an Selbstbewusstsein. Als einer der meistverkauften Autoren seiner Zeit kannte er seinen Wert, und sein Freun­ des­kreis in Stuttgart und Baden-Württemberg wusste sein dichterisches Talent zu schätzen. Man huldigte dem jungen Mann aus Wien, der sich so gerne als nonkonformistischer Ungar gerierte, der er aber im Grunde nicht war. Geboren wurde Lenau 1802 zwar im Banat (damals Ungarn), woher auch sein Vater stammte und wo er die ersten Lebensjahre zubrachte, er lernte auch Ungarisch und sprach es. Aber als junger Student zog er nach Wien und verlagerte seinen Lebensmittelpunkt weg von seinen ungarischen Wurzeln. Der Vater Franz von Niembsch führte ein Leben, das draufgängerisch und wenig von Verantwortung für seine junge Familie getragen war. Er neigte zum Spiel und genoss die Unter­ haltungen der Kaiserstadt Wien. So verschlechterte sich sein Gesundheitszu­ stand in Folge des Lebenswandels, bis er im April 1807 verstarb. Die Mutter heiratete recht bald wieder. Der fünfjährige Lenau hatte nun einen Stiefvater, doch der Einfluss der Grosseltern väterlicherseits, bei denen er in Stockerau auch einige Jahre zubrachte, auf die künftige Ausbildung des Jungen sollte immer grösser werden. Seine Karriere als Dichter begann früh, mit ersten verstreuten Gedichtver­ öffentlichungen in Zeitschriften und Almanachen, zunächst in Wien. Hier kam es auch zu seinem Dichternamen «Lenau». 1830 wollte Anastasius Grün Lenaus Gedicht Glauben. Wissen. Handeln veröffentlichen lassen. Es war eines, vielleicht

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das letzte Gedicht, das er seiner Mutter vor deren Tod am 28. Oktober 1829 selbst vorlas. Um nicht der Zensurbehörde aufzufallen, sollte ein Deckname ge­wählt werden. Lenau entschied sich dafür, die letzten beiden Silben seines Namens bestehen zu lassen. Hatte Lenau seine ersten Veröffentlichungen noch mit «N. Niembsch» und «N. Niembsch v. Strehlenau» unterschrieben, so sollte er ab sofort nur mehr als «Nikolaus Lenau» in Erscheinung treten.

Naturlyriker und Melancholiker Es dauerte nicht lange und Lenau entschloss sich, den Kreis seines dichterischen Wirkens zu erweitern. Im Jahr 1831 traf er in Deutschland ein und erwählte Baden-Württemberg und speziell Stuttgart zu seinem neuen Lebensmittel­ punkt – ein Pendlerleben zwischen Wien und Stuttgart sollte bis zu seinem Lebensende bestimmend sein. Schnell knüpfte er Kontakte und schloss enge Freundschaften zu den Dichtern der Region. Seine Gedichtbände erschienen bei Cotta, ebenso die Versepen (Faust, Savonarola, Die Albigenser, Don Juan), die später folgen sollten. Berühmt wurde und blieb Lenau aber als Lyriker, als Ver­ fasser schmerzlich-melancholischer Gedichte, die ihm die Attribute als «Dichter des Weltschmerzes», als Melancholiker, als einer, der gegen die politischen Strö­ mungen seiner Zeit auftrat, als Ungar, als Naturlyriker einbrachten. «Weltschmerz» ist jener Begriff, unter dem Lenau in der Literaturgeschich­ te subsumiert wird, Lord Byron einer der weltweit bekannten Dichter dieser Zuschreibung. Geradezu exemplarisch gelingt es Lenau in seinen besten Gedich­ ten, zu denen die Schilflieder zählen (ein Zyklus von fünf Gedichten, der bis heute in zahlreichen Anthologien vertreten ist), die innere Melancholie des Individuums, das Leiden an der Welt, in den Naturphänomenen zum Ausdruck zu bringen: So wie das Individuum bedrückt ist, so ist es auch die Natur, schil­ dert Lenau eine Aussenwelt, die einen seelischen Einklang mit dem Menschen spiegelt. Als Lenau nach Stuttgart ging, tat er das gezielt. Sein erster Besuch galt keinem Geringeren als Gustav Schwab, nicht unbedingt allein deswegen, weil er diesen als zu seiner Zeit sehr bekannten Dichter schätzte, sondern weil der

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Weg zu Johann Friedrich Cottas (ab 1832 übernahm der Sohn Johann Georg) Verlag idealerweise über diesen führte. Dieses Vorgehen zeigt schon, dass Lenau durchaus ein berechnender Mensch war, der es verstand, andere für seine Interessen einzusetzen – heute würden wir wohl von Seilschaften reden. Keine Frage, Lenau traf auf grossen Zuspruch im Stuttgarter Dichterkreis. Auch so aussergewöhnliche Persönlichkeiten wie Justinus Kerner, dessen Fami­ lie den jungen Mann schnell in ihrer Runde aufnahm, oder Ludwig Uhland waren von ihm angetan. Lenaus erste Veröffentlichungen konnten in Cottas Kulturzeitschrift Morgenblatt für gebildete Stände untergebracht werden, was er Gustav Schwab zu verdanken hatte. Eine enge Freundschaft wuchs zwischen Lenau und Karl Mayer, den Lenau oft besuchte. Ebenfalls eine enge freund­ schaftliche Bindung kam mit dem Grafen Alexander von Württemberg zustan­ de, der häufig die Dichter des Schwäbischen Kreises – Schwab, Kerner, Uhland und andere – auf seinem Sommersitz Serach bei Esslingen empfing. Eine ganz besondere Beziehung entwickelte sich zu einem älteren Ehepaar, Emilie und Georg von Reinbeck. Bei ihnen wohnte er regelmässig und wurde dort jederzeit mit offenen Armen aufgenommen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Der Ausbruch – ein Jahr in Amerika des Opernhauses erwerben Auch wenn Lenau neben Wien vor allem Stuttgart als einen familiären Hort gewonnen hatte, fühlte er in sich eine Umtriebigkeit und Unzufriedenheit mit dem Leben in Deutschland. Amerika stellte für ihn – wie für so viele Auswan­ derer in jener Zeit – die Verheissung eines besseren Lebens dar, wobei auch hier wieder handfeste wirtschaftliche Überlegungen zu Lenaus Beweggründen ge­ hörten. Für kurze Zeit verliess Lenau Europa, um in der Neuen Welt einen poetischen, aber auch einen wirtschaftlichen Neuanfang zu wagen. Er träumte von einem neuen Leben, versprach sich – zweifelsohne sehr naiv – einen schnel­ len und leichten Aufstieg, indem er Land kaufte und es bewirtschaften wollte. Doch der stets auf Eleganz bedachte Stadt-Europäer erlebte eine Enttäuschung. Wer mit Glacéhandschuhen die Axt führt, ist für das Pionierdasein nicht geschaf­ fen. Lenau kehrte nach Europa zurück und verlor sogar sein Land in Amerika.

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Wie er es in seiner Lyrik tat, projizierte Lenau in dieses amerikanische Aben­ teuer – bevor er es enttäuscht abbrach – auch poetische Träume. Die Natur dort, so war er überzeugt, sei im Gegensatz zur europäischen unverfremdet und «echter», sei «poetischer». Im Juni 1832 war er euphorisch aufgebrochen, genau ein Jahr später kam er wieder nach Deutschland zurück – und die amerikanische Natur war ihm plötzlich genauso abstossend geworden wie die Amerikaner selbst, denen er vorwarf, materialistisch dem Geld und dem Profit nachzujagen. Und – ganz seinem dichterischen Prinzip entsprechend – die amerikanische Natur war für ihn mit einem Mal ebenso glanzlos wie das von reinem wirtschaft­ lichen Streben geprägte Leben der Amerikaner.

Einer der bestbezahlten Dichter seiner Zeit Nikolaus Lenau war also wieder zurückgekehrt nach Europa. Das nun folgende Jahrzehnt von 1833 bis 1843 war geprägt von einem intensiven Pendeln zwi­ schen Wien und Stuttgart und umfangreicher dichterischer Arbeit. In diese Zeit fallen auch die bereits erwähnten Versepen sowie neu bearbeitete Auflagen bereits erschienener Gedichtbände. Lenau hatte sich in dieser Zeit zu einem der bestbezahlten Dichter seiner Zeit entwickelt, seine Verträge mit Cotta brachten ihm richtig gutes Geld ein. Man muss sich die Freizeit- und Lesegewohnheiten damals deutlich anders vorstellen als heute. In unseren Zeiten sind Lyrikbände bei der Literaturkritik geschätzt und oftmals hochgelobt, eine grosse Zahl an Verkäufen und Lesern erleben sie jedoch nicht. Ganz anders war das zu Lenaus Zeiten: Man sass abends beisammen, im familiären Kreis oder in grösserer Run­ de mit Freunden und Bekannten, und las die kleinen künstlerischen Werke oder liess sie sich gar auf Einladung vom Dichter selbst vorlesen. Es war die Abend­ unterhaltung einer wohlhabenden und gebildeten Schicht, an der Lenau per­ sönlich wie wirtschaftlich Anteil hatte. Dabei trat er nicht nur als der gefeierte Dichter auf, sondern liess auch seinem musikalischen Talent freien Lauf. Lenau spielte Gitarre und Geige. Er hatte ab dem etwa zehnten Lebensjahr Unterricht für beide Instrumente er­ halten, wobei er in späteren Jahren vor allem der Geige die Treue hielt. Er besass

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sogar ein besonderes Stück: eine Guarneri aus dem Jahr 1727. Will man zeitge­ nössischen Berichten Glauben schenken, verstand Lenau es, sowohl gefühlvoll den Bogen zu streichen als auch stürmisch-leidenschaftlich Musik für den Tanz zu spielen. Alexander von Württembergs Urteil über Lenaus Geigenspiel fiel allerdings weniger positiv aus. Als begeisterter Beethoven-Fan wollte Lenau übrigens die Biografie des Komponisten niederschreiben. Bekanntschaften und Freundschaften verbanden ihn mit Felix Mendelssohn-Bartholdy, Robert Schu­ mann, Josef Dessauer, Carl Evers und anderen Komponisten seiner Zeit. Lenau kam auch immer wieder in Konflikt mit der staatlichen Obrigkeit, was nicht unbedingt so sehr an seiner politischen Einstellung und Aktivität lag, sondern an einem Metternichschen Überwachungssystem, das in jedem und allem eine potenzielle Bedrohnung sah. Es gibt unter Lenaus Gedichten einige, die sich den Ungarn, den Polen, den Zigeunern, Indianern und anderen widmen, wobei gerade die Polen als Träger revolutionärer Vorgänge im Fokus standen. 1830/31 brach ein Aufstand der Polen gegen die russische Vormacht aus, dem Lenau sympathisierend gegenüberstand. Seine Gedichte rückten in den Fokus der Zensurbehörden. Doch Lenau liess sich nicht unter Druck setzen und war bereit, sogar klare Gesetzesverstösse in Kauf zu nehmen. Aufgrund der behörd­ lichen Untersuchungen wegen Übertretung der Zensurbestimmungen, die gegen ihn eingeleitet worden waren, verliess Lenau im Jahr 1840 illegal Öster­ reich und passierte ohne Pass, getarnt als einer im Gefolge des Cousins des Baden-­Württembergischen Königs, die Grenze. Die Behörden waren nicht be­ reit gewesen, ihm ein Reisedokument auszustellen wegen der Untersuchungen der Zensurbehörde, trotzdem wollte Lenau nach Stuttgart fahren und tat dies als Illegaler.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

Der Weg in die geistige Umnachtung Die letzten Lebensjahre Lenaus waren durch eine Erkrankung dominiert, die ihn schliesslich in geistige Umnachtung fallen liess. Wir sprechen hier von den Jahren 1844 bis 1850. Lenau hatte die Frequenz seines Hin- und Herpendelns zwischen Wien und Stuttgart derart erhöht, dass er wie gehetzt und rastlos

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wirkte. Auch innerhalb Deutschlands war sein Reisepensum stark angewachsen. Sogar eine – recht überstürzt anmutende – Hochzeit mit Marie Behrends plan­ te er in atemloser Manier. Und dann kam der Zusammenbruch. Lenau befand sich seit einiger Zeit in ärztlicher Behandlung, doch alle Medizin, alles Zur-Ader-Lassen und andere Therapien halfen nichts. Der Dich­ ter berichtet selbst, wie er Schritt für Schritt in seine Nervenkrankheit abglitt. Eines Tages geigte er zuhause bei den Reinbecks wild auf und fühlte sich danach gesundet, doch der erste grosse Zusammenbruch liess nicht lange auf sich war­ ten. Lenau wütete und tobte immer wieder, er veranstaltete sogar zwei Auto­ dafés, denen zahlreiche Briefe und Werkentwürfe zum Opfer fielen. Lenau wurde im Hause Reinbeck gepflegt. Sein Verhältnis zu dieser Familie, besonders zu Emilie, war das einer freundschaftlichen Bemutterung, die er durch die acht Jahre ältere Frau genoss. Wenn Lenau sich in Stuttgart aufhielt, hatte er dort sein eigenes Zimmer, das auch dann an niemand anderen vermietet wurde, wenn er sich einmal längere Zeit nicht in Stuttgart aufhielt. Emilie von Reinbeck betätigte sich als Malerin und tauschte sich zweifelsohne oft mit Lenau über die Natur und deren künstlerische Umsetzung aus. In der Zeit seiner Erkrankung und des sich immer stärker manifestierenden Wahninns war es Emilie von Rein­ beck, die den Kranken pflegte und umsorgte. Jedoch nach einem Fluchtversuch in völliger geistiger Umnachtung und Attacken, die sich auch gegen Emilie richteten, war es nicht mehr anders möglich, als Lenau in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen. Lenau kam in die Heilanstalt Winnenden, weil er nun rund um die Uhr beaufsichtigt werden musste. Der behandelnde Arzt Karl Eberhard von Schelling (der Bruder des Philo­ sophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling) stellte nach einiger Zeit eine Bes­ serung des Zustandes seines Patienten fest, der ruhiger zu werden begann. Auch in diesem Zusammenhang ist es zu sehen, dass er dem Betreiben von Lenaus Schwager, Anton Schurz, den Kranken nach Wien zu verbringen, ablehnend gegenüberstand. 1847 wurde Lenau letztlich doch nach Wien überstellt, wo er in einer Privatanstalt in Oberdöbling untergebracht wurde. Auch hier wurde er von einigen seiner schwäbischen Freunde besucht, die ihn einmal ansprechbar, ein andermal völlig in sich zurückgezogen und unfähig zur Kommunikation vorfanden. Die Hoffnungen auf eine Heilung schwanden. Lenau konnte die

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Anstalt nicht mehr als Gesundeter verlassen, vielmehr verstarb er dort im August 1850 und wurde auf dem Weidlinger Friedhof bei Klosterneuburg nahe Wien zu Grabe getragen.

Lenaus Beziehung zu Frauen Nikolaus Lenau war nicht nur der sensible Dichter empfindsamer Reime, viele Seiten seines Lebens sind handfest und reichen bis hin zum Skandalösen, sein Charakter erwies sich oft als schwierig, der Umgang mit ihm als ein Balanceakt zwischen Respekt und aufbrausendem Gemüt. Wie sahen seine Beziehungen zu Freunden und Bekannten im Detail aus? Vielleicht einer der spannendsten Aspekte ist Lenaus emotionale Abhängigkeit von einer Frau, die er liebte, von der er aber wusste, dass er sie nie würde erreichen können, denn sie war verhei­ ratet. Sophie von Löwenthal verstand es zehn Jahre hindurch, Lenau auf der einen Seite zu locken, auf der anderen ihn stets auf Distanz zu halten. Ihr Mann Max wusste um die gegenseitige Leidenschaft der beiden füreinander, er unter­ nahm aber nie etwas dagegen. In der letzten Zeit vor Ausbruch seiner Krankheit kursierten in Wien und in Stuttgart sehr konkrete Gerüchte über Lenaus Mesal­ liance. War es eine unerfüllte Liebe? Oder schenkte Sophie von Löwenthal Lenau – heimlich und ohne Kenntnis der Freunde und Bekannten, vielleicht aber sehr wohl des Ehemannes Max – Momente der Erfüllung, stillte sein Be­ gehren? Solche Überlegungen sind zwar nicht abwegig, können aber nur Spe­ kulation bleiben. Die unerfüllte Liebe und das unerfüllte, auch sexuelle Begehren gegenüber Sophie von Löwenthal kann durchaus ein Auslöser der Erkrankung Lenaus gewesen sein, die im Wahnsinn endete. Sogar in der Zeit seines Aufenthaltes in der geschlossenen Anstalt schrieb ihm Sophie Briefe und löste den Kontakt zu ihm nicht, obwohl ihm dies vielleicht bei seiner Genesung hätte helfen können. Sogar Lenaus Arzt hatte ein Aussetzen des Kontaktes von Sophie von Löwen­thal gefordert, diese wollte darauf jedoch nicht eingehen. Sophie hatte es immer sehr raffiniert verstanden, Lenaus Beziehungen zu Frauen neben ihr zu torpedieren. Nie wäre sie bereit gewesen, ihn freizugeben. Ihre Briefe sind dafür zahlreiche Belege, in denen sie Lenau immer dann eine grössere Nähe zueinan­der in Aus­

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sicht stellte, wenn dieser sich von ihr zu emanzipieren drohte. Bis zuletzt, bis zu seiner Unterbringung in der geschlossenen Anstalt richtete sie ihre Briefe an ihn, und bis zuletzt hatte sie sich in Lenaus Geist und Seele festgesetzt. Bertha Hauer ist die erste belegte Liebe in Lenaus Leben. Das Liebesver­ hältnis dauerte von 1820 bis 1828. Doch Lenau war immer wieder von Eifer­ sucht geplagt und zweifelte an der Treue seiner Geliebten. Nach der Trennung heiratete Bertha schnell einen griechischen Geschäftsmann. Ob es je das gemein­ same Kind, das Lenau von einigen Stimmen nachgesagt wurde, gegeben hat, kann nicht belegt werden. Auch galt Berthas Lebenswandel nicht gerade als vorbildlich, sodass eine eventuelle Vaterschaft auch einem anderen Mann hätte zugeschrieben werden können. Seit Juni 1839 ist die Sängerin Karoline Unger in Lenaus Leben belegt. Der Anlass war ein Liederabend in privatem Rahmen, und Lenau verliebte sich rasch in sie. Sophie von Löwenthal erkannte schnell, dass ihr hier eine Konkur­ rentin erwuchs, und wenn sich Karoline Unger auf Konzertreisen befand, in­ tensivierte Sophie den Kontakt zu Lenau entsprechend, bis dieser das Gefühl hatte, zwischen die Fronten geraten zu sein. Sophie erhöhte den Druck auf Lenau (wie es denn mit ihrer gemeinsamen Beziehung weitergehen solle) so sehr, dass dieser schliesslich die Beziehung zur Unger, die er sich sogar zu hei­ raten hatte vorstellen können, beendete – nach ziemlich genau einem Jahr. Lenau hatte eine Chance, sich von der einengenden Beziehung zu Sophie von Löwenthal zu befreien, ungenutzt verstreichen lassen. Eine weitere sollte sich ihm erst einige Jahre später in Gestalt der Marie Behrends eröffnen. Lenau lernte die um neun Jahre jüngere Frau im Juni 1844 kennen. Bereits im August kam es zur Verlobung. Lenau erwähnte Marie in seinen Briefen an Sophie von Löwenthal mit keinem Wort, den Kontakt zur verehrten Frau in Wien hielt er aber aufrecht, doch er wurde für ihn immer mehr zu einer seeli­ schen Belastung. Lenau wollte die Heirat mit hohem Tempo vorantreiben, und als sich erste Anzeichen seiner Erkrankung in Form einer Gesichtslähmung zeigten, war er verunsichert und wollte Marie einen kranken, ja zerstörten Mann nicht zumuten. Doch es kam die Phase, da er von seiner voranschreitenden Genesung überzeugt war, und wieder trieb er das Unterfangen der Hochzeit voran. Und was schwebte ihm in Bezug auf seine Beziehung zu Sophie vor? Es

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war tatsächlich eine Dreiecksbeziehung, die er sich vorstellen konnte. Doch was für heutige Zeiten modern anmutet, war bei Lenau die Ausgeburt seiner Ver­ zweiflung. Als er schliesslich so schwer erkrankte, dass an eine Heirat nicht mehr zu denken war, war es Emilie von Reinbeck, die Marie in zahlreichen Briefen über den Gesundheitszustand ihres Verlobten auf dem Laufenden hielt. Sie durfte ihn in der geschlossenen Anstalt in Winnenden nicht besuchen, und nachdem Lenau nach Wien überstellt worden war, war es der Schwager Anton Schurz, der sie in recht harschen Briefen von Lenau fernhielt. Anton Schurz war Lenaus Schwager, verheiratet mit dessen älterer Schwes­ ter Therese. Sie lebten in einem Haus in Weidling bei Klosterneuburg, wenige Kilometer von Wien entfernt. Während seiner Wiener Aufenthalte wohnte Le­ nau oft bei seiner Schwester, mit dem Schwager war er eng verbunden. Schurz war es auch, der die erste Niederschrift über Lenaus Leben in Buchform her­ ausbrachte. Das Bleibendste in Bezug auf Lenau, was bis heute zu besichtigen ist, ist das Grabdenkmal, das Schurz für den Dichterschwager auf dem Weid­ linger Friedhof hat errichten lassen. Bis heute legt die Stadtgemeinde Stockerau an Lenaus Geburtstag einen Kranz zu dessen Gedenken dort nieder.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Der österreichische Literaturwissenschaftler Michael Ritter hat im Jahr 2002 die Biografie «Zeit des Herbstes» über Nikolaus Lenau veröffentlicht.

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Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit. Nikolaus Lenau






LUNEA – EINE MONDOPER Zur Musik von Heinz Holligers neuem Werk für Musiktheater Roman Brotbeck

Heinz Holliger ist in all seinen musikalischen Tätigkeiten ein Entdecker und Förderer, sei es als Oboist oder Dirigent in den wichtigen Konzertsälen der Welt, oder eben auch als Komponist. Als Interpret spürt er vernachlässigtes Re­pertoire auf, und beim Komponieren sucht und findet er immer wieder ver­ gessene Texte. Holligers Vertonungen lösen meist weitere Kompositionen aus: Nachdem er sich mit Robert Walser musikalisch auseinandersetzte, ist der Bie­ ler Dichter zu einem der meistvertonten Schriftsteller geworden. Eine ähnliche Wirkung hatte Holligers musikalische Entdeckung der späten Gedichte von Friedrich Hölderlin. Auch Lunea – ein Anagramm von «Lenau» – ist erneut eine solche Entdeckung, denn die 23 einzelnen Lenau-Sätze, die Holliger für den 2013 uraufgeführten Lunea-Zyklus für Bariton und Klavier ausgewählt hat, zeigen einen radikalen Schriftsteller, der nichts mit jenem romantischen Le­ nau-Bild zu tun hat, von dem die Wahrnehmung des Dichters nach wie vor geprägt ist. Aus diesen 23 Sätzen des Lunea-Zyklus wurden die 23 Blätter der Oper Lunea geschaffen. Der Librettist Händl Klaus baute in jedes Blatt einen der Sätze ein und schuf um sie herum eine Szene. Er ist bei seiner Libretto-Arbeit ins gesamte Schaffen und Leben von Lenau eingetaucht; verschiedenste Episo­ den der Lebens- und Krankheitsgeschichte werden in den 23 Blättern ohne erkennbare Logik evoziert. Es vermischen sich Orte, Figuren, Begegnungen, Zeitabschnitte und auch die unterschiedlichen Ruf- und Kosenamen des als Nikolaus Franz Niembsch im ungarischen Csatád (heute Rumänien) geborenen Dichters, der ab 1820 den Adelstitel Edler von Strehlenau trug und daraus ab

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1830 sein Pseudonym Lenau ableitete. Episoden, die in Lenaus Leben Jahrzehn­ te auseinanderliegen, werden in der Oper wie im Nu miteinander verbunden. Die musikalische Zeitbehandlung – so Holliger – sei wie ein kaputtes Uhrwerk, das manchmal fast stillstehe und dann wieder überraschend vorwärts- oder rückwärtsrase. In Lunea erscheint alles ist wie in einem Traum, in dem Schreckliches und Glückliches, lange Zurückliegendes und eben gerade Erfahrenes ineinander­ fliessen und ein kontrollierendes und erklärendes Bewusstsein ausgeschaltet ist. Dabei ist nichts verschwommen, sondern alles glasklar und von Holliger auf höchste Durchsichtigkeit hin angelegt. Die Oper erinnert an die ambivalente Erfahrung einer hellen Mondnacht, wie sie Lenau liebte: Man hat einerseits das faszinierende Gefühl, die Welt klarer, konturierter zu sehen als bei Tag, anderer­ seits ist das Mondlicht doch nicht hell genug, um ein Buch lesen zu können.

Im Bann von Robert Schumann und Hölderlin 1833 begründete Robert Schumann einen fiktiven Bund lebender und verstor­ bener Künstler, den er in Anlehnung an den biblischen Kämpfer und Sänger die «Davidsbündler» nannte. Auch Heinz Holliger hat seine «Davidsbündler». Es sind viele Künstler darunter, die ihr Leben bis zum Äussersten ausschritten und oft im Wahnsinn endeten. Dabei gibt es eine biografisch-künstlerische Konstel­ lation, die Holliger als Komponist wie Interpret schon fast obsessiv beschäftigt: Es sind die Einfluss- und Wirkungskreise von Friedrich Hölderlin und Robert Schumann, auf die er immer wieder zurückkommt. Auch die Oper Lunea, die sich mit dem geisteskranken Nikolaus Lenau biografisch auseinandersetzt, spielt erneut in diesem Kreis, wenn auch quasi als Hohlform. Denn Lenau erwähnte Hölderlin nie, aber dessen Sprache ist in Lenaus Texten virulent. Schumann sah den Dichter 1838 in Wien in einem Kaffeehaus, wagte ihn aber nicht anzuspre­ chen, später wurde er Lenau bei einem privaten Empfang vorgestellt, aber eine persönliche Beziehung zwischen den beiden musikalisch-literarischen Doppel­ begabungen entstand nicht. Und doch sind diese ‹Abwesenden› in Lunea prä­ sent und werden von Holliger in unterschiedlichen Emanationen und Figuren

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evoziert. Und auch die Schatten anderer tauchen in der Oper auf: Der schwä­ bische Poetenkreis um Ludwig Uhland, Gustav Schwab und Justinus Kerner; dann der Lenau-Verehrer Franz Liszt, aber auch J. S. Bach, W. A. Mozart und Franz Schubert, der 1827 zusammen mit Lenau zu den Trägern der Kranzbän­ der an Beethovens Sarg zählte.

Anton Schurz – eine wichtige Figur in Lenaus Leben Lunea ist eine ernste Oper, und wie in einer Opera seria weist sie fünf Haupt­ rollen auf, zwei Männer- und drei Frauenpartien, aber das ist dann auch schon das einzige, was mit der Operntradition vergleichbar ist. Denn die Rollenver­ teilung ist sehr ungewöhnlich: Die drei Frauen repräsentieren insgesamt sieben verschiedene Figuren, und die beiden Baritone – auf Bass- und Tenorlage wird verzichtet – stellen die gespaltene Figur von Lenau dar. Hinzu kommt ein klei­ ner Madrigalchor (12 Stimmen), der eng in die musikalische und sprachliche Textur eingebunden ist und wie ein Echoraum die Hauptrollen spiegelt, kom­ mentiert oder die musikalischen und sprachlichen Figuren weiterspinnt. Zudem werden gewisse Instrumente dermassen solistisch verwendet, dass sie quasi zu dramatischen Figuren werden, insbesondere die Violine. Lenau hat eine Guar­ neri besessen, mit der er sich nach seinem Schlaganfall 1844 von seinem begin­ nenden Wahnsinn therapieren wollte. Wie einen Säugling soll der kranke Lenau sie in den Armen gehalten und von ihr Genesung erhofft haben. Die wichtigste Achse der Oper ist das Duo Lenau/Schurz, das manchmal in getrennten Rollen auftritt, oft im Duett verschmilzt, wobei Schurz haupt­ sächlich die Rolle von Lenaus alter ego spielt. Mit der Erhebung von Anton Xaver Schurz (1794–1859) zur Opernfigur lassen Heinz Holliger und Händl Klaus einer sehr wichtigen Person in Lenaus Leben gebührende Gerechtigkeit widerfahren. Denn der Wiener Spitzenbeamte, der auch als Gelegenheitsschrift­ steller tätig war, wurde schon zu Lenaus Lebzeiten seiner beschützenden Rolle wegen angegriffen und später oft unterschätzt. Schurz heiratete 1821 Lenaus Schwester Therese und war Lenau dann ein wichtiger Begleiter, vor allem bei dessen Anfängen als Dichter und während der sechs Jahre von Lenaus psychi­

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scher Erkrankung. Schurz ist auch dafür verantwortlich, dass Lenaus späte Texte, die die Grundlage der Oper Lunea bilden, mindestens teilweise erhalten blieben und nicht als Produkte eines Geisteskranken weggeworfen wurden. Wenn Schurz in der Oper wie ein geistiges Hologramm von Lenau erscheint, so entspricht das also bis zu einem gewissen Grade auch der Realität mindestens von Lenaus letzten Lebensjahren, während derer das Ehepaar Xaver Anton und Therese Schurz ihren Schwager und Bruder Lenau sehr eng betreuten und in den Tod begleiteten.

Lenaus leidenschaftliche, aber brüchige Frauen-Beziehungen Den beiden Baritonen werden drei Sängerinnen gegenübergestellt, die jeweils in Hauptrollen die drei wichtigsten Frauenfiguren und dazu noch in Neben­ rollen weitere Frauen in Lenaus Leben darstellen. Das ist zuallererst Sophie (Sopran), die langjährige Geliebte Sophie von Löwenthal. Weil Sophie verhei­ ratet war, blieb es vermutlich eine platonische Liebe. In der Oper singt dieselbe Sopranistin zudem die Rolle von Lenaus Mutter, die ihren Sohn fast inzestuös liebte und verwöhnte. Damit steht das Sophie/Mutter-Paar in der Oper für die kontrollierenden Figuren, die auch andere Frauenbeziehungen Lenaus über­ wachten und verhinderten, ihn selber aber letztlich nicht verstanden. So schreibt Sophie dem schwer kranken Lenau geradezu empörend banal, indem sie einen Spruch aus einem Volkslied zitiert, was bei Lenau einen Wutanfall auslöst: «Duck dich und lass vorüber gahn, das Wetter will sein Willen han!» Die zweite Figur (Sopran) ist Marie Behrends, Bürgermeistertochter aus Frankfurt und Lenaus Braut, die er kaum gekannt hat, denn er war ihr erst zwei Monate vor seinem Schlaganfall im mondänen Baden-Baden zum ersten Mal begegnet, projizierte jedoch übertrieben in sie alle seine Schwärmereien und Sehnsüchte hinein. Marie bleibt als Figur engelhaft blass und in sich selbst gekehrt. Ihre Darstellerin singt allerdings auch die kurze dramatische Rolle von Karoline Unger. Lenau hatte die führende deutsche Sängerin für das italienische Fach und die Opern von Donizetti 1839 kennengelernt. Mit Karoline Unger dringt für einen kurzen Moment die grosse Musikgeschichte in Lunea ein:

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Mozarts Sohn Franz Xaver war einer ihrer Klavierlehrer, sie selber sang bei der Uraufführung von Beethovens Neunter die Altpartie; Gesangsunterricht nahm sie beim Schubert-Freund und -Sänger Johann Michael Vogl und bei Mozarts erster grosser Liebe und seiner späteren Schwägerin Aloisia Lange-Weber. Im elften Blatt kann sich Karoline in Szene setzen: Textlich wird die Antonia aus Donizettis Belisario zitiert, die Karoline Unger 1836 an der Uraufführung in Venedig sang. Dazu kommt die berühmte Arie «Lascia ch’io pianga» aus Händels Rinaldo. Die dritte Frauenfigur (Mezzosopran) ist Therese, Lenaus Schwester. Ihre Darstellerin singt zudem die Rolle der mütterlichen Stuttgarter Freundin Emilie Reinbeck und auch Berta Hauer, mit der Lenau in seinen frühen Zwanzigern mehrere Jahre eine Beziehung und wohl auch eine Tochter hatte. Die Therese-­ Darstellerin singt jene Frauen, die Lenaus Entwicklung empathisch begleiteten; vor allem in seiner Stuttgarter Zeit ist ihm Emilie Reinbeck eine wichtige Be­ raterin.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Der «Riss» im Kopf als zentrale Achse oder am Vorstellungsabend im Foyer Der Schlaganfall vom 29. September 1844, den Lenau als «Riss» in Briefen und Gesprächen Jahre im Voraus erwähnt und gefürchtet hatte, ist in der Oper desschon Opernhauses erwerben der zentrale Drehpunkt. Der Riss wird im zweiten Blatt mit einer abrupten Pause von acht Sekunden sehr deutlich markiert. Im weiteren Verlauf von Lunea geht es symmetrisch sowohl nach vorne ins zunehmende Verdämmern als auch reziprok zurück, indem unterschiedliche Erinnerungen aufblitzen – an die un­ garische Jugend, an die Geliebten, an das Amerika-Abenteuer, bei dem Lenau der Enge des restaurativen Europas entkommen wollte. Wie zwei Magnete, die in gegensätzliche Richtungen ziehen, wirkt in der Oper dieses zeitliche Auseinanderstreben. Bei den in der Oper immer wieder auftretenden symmetrischen Gebilden spielt der Arzt und Schriftsteller Justinus Kerner, ein naher Freund Lenaus, eine bedeutende Rolle. Als zwanzigjähriger Medizinstudent betreute und beobachtete Justinus Kerner 1806 in der Tübinger Universitätsklinik von Johann Hermann Heinrich Ferdinand von Autenrieth den neu eingelieferten

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Patienten Friedrich Hölderlin. Kerner wurde später einer der wichtigsten deut­ schen Ärzte und Psychiater und führte als Oberamtsarzt in Weinsberg eine offe­ne Klinik, in der die Patienten durch Gartenbau, Musik und andere kreati­ ve Tätigkeiten geheilt werden sollten. Im Jahr von Lenaus Tod 1850 begann Kerner, sogenannte Klecksografien zu machen, gemäss eigener Aussage seien ihm wegen seiner zunehmenden Erblindung beim Schreiben immer mehr Tintenkleckse aufs Papier gekommen, bis er schliesslich das Papier gefaltet habe, was zu symmetrischen Gebilden führte, in denen oft wie ein Todessymbol das Gerippe des Menschen erschien. Diese Klecksografien von Kerner waren der formale Impuls zur spiegelsymme­ trischen Grundstruktur der gesamten Lunea-Oper. Im Libretto sind ganze Verse in Spiegelschrift übertragen, und gewisse Wörter werden fast leitmotivisch repetiert, etwa «gidlusch», die Umkehrung von «schuldig», oder «(F)euer» «Reue». «Wir falten dich und spalten dein Gesicht», singen Schurz, Sophie und die Chorsolisten in symmetrischer Anlage, während der Chor den Text stück­ weise rückwärts flüstert: «chid netlaf riw netlaps dnu tchi-seg nied». Dadurch entsteht bisweilen eine Kunstsprache, die wohl nur bei einzelnen Wörtern als Spiegelform unmittelbar erkennbar ist.

Heinz Holligers persönliche Referenzen Der Ton H taucht in vielen biografisch geprägten Kompositionen Holligers auf – auch bei Lunea. Er ist so etwas wie der symbolische Schlüssel zur Oper, denn hier wird keine ‹objektiv-medizinische› Darstellung gezeigt. Vielmehr wirkt Holliger auf einer Meta-Ebene wie als zweiter Schurz, der sich biografisch mit Lenau identifiziert. Die ganze Oper ist von entsprechenden persönlichen und autobiografischen Anspielungen und Referenzen durchzogen. Immer wieder tauchen stilistische Anspielungen an Holligers ungarischen Lehrer Sándor Veress auf. Eine ganze Reihe von eigenen Werken oder Werkentwürfen wird verarbei­ tet. Ins achte Blatt hat Holliger eine ganze Komposition übernommen, nämlich das Solo für die Geigerin Marieke Blankestijn aus dem COncErto?. In An­spielung auf den Namen der Geigerin wird die Sage vom weissen Stein integriert: Ein

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Knabe versteht wegen eines weissen Steins in seiner Hosentasche plötzlich die Sprache der Vögel. In diesem achten Blatt ‚übersetzt‘ die Geigerin mit dem weissen Stein den Text der stumm lesenden Figuren in einen zwitschernden Vogelgesang. In gewissen biografischen Details ist Holliger als Meta-Schurz weniger objektiv als der reale Lenau-Biograf: Lenaus von Sophie diktierter Abschieds­ brief (elftes Blatt) an Karoline von Unger wird als Duett von Lenau und Sophie gesungen und mit zwei Piccolos, Kontrafagott und Peitschen begleitet. Holliger macht daraus eine kleine Folterszene; und das Duett selber habe er so «bünzlig» gesetzt, wie man in der Schweiz in den dreissiger Jahren komponiert habe. Als Meta-Schurz setzt Holliger im dreizehnten Blatt auch den zweischneidigen Amerika-Aufenthalt um, denn er evoziert mit einer Art Urwaldmusik jene Aben­ teuer-Klischees, die Lenau von Amerika wohl in sich trug, die er aber dort nicht vorfand. Deshalb war er enttäuscht, dass auf seinen riesigen Ländereien nur Eichhörnchen herumtollten und «dass Amerika gar keine Nachtigall hat.» Mit ähnlicher Direktheit wird im vierzehnten Blatt jene Begebenheit umgesetzt, als sich Lenau mit dem Spiel eines steirischen Tanzes auf der Geige vom beginnen­ den Wahnsinn befreien wollte, wozu er mit den Füssen fürchterlich gestampft haben soll. Diese verrückte Szene wird von der verstärkten Geige allein beglei­ tet, deren Klang im ganzen Theatersaal über Lautsprecher widerhallt. Neben der bereits erwähnten Bedeutung der Geige, die in Lenaus Leben eine so wichtige Rolle spielte, ist das Cymbalom das zentrale Instrument in Lunea. Das Cymbalom hat als Schlaginstrument eine enorme dynamische und klangfarbliche Spanne, und es kann harmonische wie melodische Funktionen übernehmen. Bei Holliger hat es zuweilen Continuo-Charakter, es tritt aber auch solistisch mit verschiedensten Instrumenten kombiniert auf und spielt einmal eine veritable Solokadenz in Blatt vierzehn. In der Oper steht es aber auch generell für alle ‹ungarischen› Konnotationen. Neu in Holligers Komponieren sind die zahlreichen Ensembles in Form von Duetten und Terzetten, zumal solche, die wie jene von Mozart auf höchs­ te musikalische und textliche Verständlichkeit angelegt sind. Sie erinnern auch in ihrer dramatischen Funktion an die Ensembles in Mozarts Opern, denn sie stehen nicht für Einigkeit und Harmonie, sondern für die Differenz und das

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Auseinanderstreben der Figuren. In diesen nummernähnlichen Gebilden wer­ den Stilmasken aus der ganzen Musikgeschichte verarbeitet: Melodiebildungen, die an Gregorianik erinnern, Renaissance-Polyphonie, Choräle, strenge Kanons, eine Chaconne, Opernhaftes, Pseudo-Volksmusikalisches (oft chromatisch ge­ staucht), eine Deklamationsarie oder eine Bach-Arie mit obligater Begleitung – aber alles das nur angespielt, ohne konkrete Zitate, sondern nur so dem Sinn nach bzw. aus Holligers Gedächtnis heraus entwickelt. Eine entscheidende Be­ deutung bei all diesen Stilmasken hat der kleine Madrigalchor, der von Holliger über weite Strecken wie ein zweites und quasi «vokales Orchester» verwendet wird: Im Chor spinnen sich die Stimmen der Solisten weiter, er kontrapunktiert sie, antwortet ihnen, flüstert einen Kommentar, übernimmt teilweise auch so­ listische Aufgaben und strukturiert grössere musikalische Abschnitte mit stren­ gen Kanons und Chorälen.

Ein Schluss ohne Schluss Die Teile, welche aus Heinz Holligers Lunea-Zyklus für Bariton und Klavier stammen und in alle Szenen eingearbeitet sind, erweisen sich in der Gesamtoper als architektonische Stützen, denn sie sind sehr viel reicher instrumentiert und schaffen neben den weitgehend kammermusikalisch gehaltenen Abschnitten über die 23 Szenen hinweg einen grossformalen Rhythmus. Feuer, Asche und Todes­ kerze bilden ein mit dem Tod und Auslöschen assoziiertes zentrales Motiv der Oper. Nach dem Schlaganfall hat Lenau viele seiner Schriften und Briefe ver­ brannt, so als wollte er sich geistig auslöschen und reinigen. Die Todeskerze geht auf eine von Schurz erzählte Anekdote zurück: In Weidling hatte man dem starken Raucher Lenau zum Anzünden seiner Zigarre versehentlich nämlich eine angebrannte Todeskerze gebracht, ein schlechtes Omen. Als man sich da­ für entschuldigte, meinte Lenau, er werde ohnehin bald neben jenem Toten zu liegen kommen, für den man diese Kerze angezündet habe. Tatsächlich wurde Lenau dann Jahre später auf dem Friedhof Weidling neben eben diesem Toten begraben. Dieses Kerzenmotiv wird bis zum Ende der Oper geführt, denn «candela» ist das letzte Wort des Librettos; es entstammt dem lateinischen Lenau-­Satz «Transsubstantiatio florum per apes in ceram, quae in altari ardet

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candela» und führt mit den Bienen, die Blumen in Wachskerzen verwandeln, direkt in den magischen Schluss bzw. Nicht-Schluss der Oper. Holliger hat diesen Schluss erst spät, nämlich in den letzten Tagen des Jahres 2017 geschrieben. Es ist ein Schluss ohne Schluss, denn er müsste ewig weiterklingen. Es ist fast nichts mehr komponiert; wie durch einen extremen Filter ist ein sechsstimmiger Choral der Blechbläser zu vernehmen, die Holz­ bläser evozieren Vogelstimmen, und nur noch wie ein Raunen artikuliert der Chor im Strohbassregister «Lunea». Eine Musik wie im Schatten einer Kerze, fast nicht mehr hörbar und doch glasklar, wieder das Mondlicht, irreal wirken­ de Klänge, alles transzendiert, senza fine.

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Der Zweifel in Ketten kann nicht schlafen und klirrt. Nikolaus Lenau

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KAMMERSPIELARTIGE VERDICHTUNG Regisseur Andreas Homoki über die szenische Realisierung von Heinz Holligers «Lunea»

Andreas, kannst du die Begeisterung Heinz Holligers für die Künstler­ figur Nikolaus Lenau, die er zu Haupt­figur seiner Oper gemacht hat, nach­voll­ziehen? Klar kann ich die nachvollziehen. Obwohl ich Nikolaus Lenau erst im Zu­­sam­­menhang mit dieser Oper wirklich wahr­genommen habe. Allerdings finde ich die Begeisterung für die Figur vor allem wichtig im Hinblick darauf, was durch die Musik aus ihr geworden ist. Das ist der Punkt, an dem ich als Regisseur ansetze. Holligers Musiktheater kennt keine Handlung im herkömmlichen Sinn. Es setzt sich aus schlaglichtartigen Momenten zusammen. Was heisst das für die Regie? So aussergewöhnlich ist das gar nicht. In der Oper haben wir es in den seltensten Fällen mit einer wirklich stringent durchkomponierten Handlung zu tun. In den Arien retardiert die Handlung von jeher, und es kommt zur extre­men Vergrösserung von emotionalen Zuständen. In den Rezitativen wird sie dann beschleunigt vorange­trieben. Wir Opernregisseure beschäftigen uns immer stark mit den Innenwelten von Fi­gu­ren, denn das macht Musik­ theater aus: Dass ich mit und durch die Musik in eine Figur hineinhöre. Von daher ist die Form, die Heinz Holliger in Lunea geschaffen hat, gar nicht so weit weg von – sagen wir – Verdis Macbeth. Was bindet die Aufmerksamkeit des Publikums, wenn keine Geschichte auf der Bühne erzählt wird?

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Das Ganze ist mehr eine Reise in den Kopf einer Figur. Wir sind unterwegs in Nikolaus Lenaus Gedanken, Er­inne­r un­gen, Halluzinationen, die durch­ brochen sind von Momenten der Re­ali­tät. Das Textmaterial besteht aus Lyrik und Briefen von Lenau und seinem Lebensumfeld, ist extrem ver­dichtet und so zusammengesetzt, dass stark Kontrastierendes unmittelbar aufeinander trifft – emotionale Auf­schwün­ge, Momente der Innigkeit, depressive Zusammen­brüche usw. Alles ist sehr frag­mentarisch angelegt. Mitunter wechseln die imaginierten Bilder sekündlich. Aber es entsteht eine hochinteressante expressiv-dramatische Struktur. Und die versuchst du als Regisseur möglichst genau abzubilden? Das wäre kaum zu schaffen. Man kann hier nicht auf jedes Umschlagen dieser inneren Bilder mit einem Szenenwechsel reagieren. Aber über die starken Emotionen lassen sich Beziehungen zwischen den Figuren entwickeln, etwa zwischen Lenau und der Liebe seines Lebens, Sophie von Löwenthal, die aber mit einem anderen Mann verheiratet war, oder zwischen Lenau und seinem Schwager Anton Schurz. Diese Be­ziehungen bilden Konstanten über alle Szenen hinweg. Ihre szenische Ausgestaltung muss ich mir natürlich aus­ denken, die steht in keiner Lenau-­Biografie. Das ist dann eine Konkretisierung der Figuren-Beziehungen, die ich aus der Musik ableite und mit eigenen Assoziationen theatralisch anreichere auf der Grundlage der Informationen, die ich über die Figuren habe. Bei der Inszenierung einer Oper steht man eigentlich immer vor der Aufgabe, komplexe Situationen auf klar ablesbare Figurenkonstellationen herunterzu­brechen. Jede Szene muss den Inhalt fassbar so zur Darstellung bringen, dass der Zuschauer ihn versteht, ohne andauernd die Übertitel mitlesen zu müssen. Das gilt nicht nur für das zeit­ genössische Musiktheater. Und wie bringt man ein fragmen­ta­risches Szenenkaleidoskop fassbar auf die Bühne, das schnell wechselt und zeitlich vor- und zurückspringt? Mein Bühnenbildner Frank Schlössmann hat ein Bühnenkonzept entwickelt, das die Schnittfolge der Bilder erkennbar macht. Lunea besteht ja aus 23 «Lebens­blättern». So hat Heinz Holliger die einzelnen Bilder genannt, die

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jeweils mit einer biografischen Episode oder einer Beziehungssituation aus dem Leben des Dichters korrespondieren. Diese Struk­tur zeigen wir. Der Verwandlungs­­me­cha­­nismus unseres Bühnenbilds erlaubt es, die Lebens­ blätter voneinander ab­­zusetzen und trotzdem einen überge­ord­neten Kontext herzustellen und ganz flexibel auf die Musik zu reagieren. Obwohl die Oper emotional weit ausgreift, ist sie stark von einer kammerspiel­­artigen Ver­dichtung geprägt, der unsere Bühne ebenfalls Rechnung tragen wird. Die 23 Lebensblätter, so hat Heinz Holliger es sich beim Komponieren ge­dacht, bewegen sich in den ersten elf­einhalb Bildern vorwärts und beginnen dann, spiegelbildlich rückwärts zu laufen. Auch für diese Vorstellung des Kom­ponisten haben wir nach einer Ent­sprechung gesucht. Wir wollten Holligers Formideen unbedingt ernst nehmen und nicht irgendein Regie­kon­ zept von aussen über die Partitur stülpen. Vor allem wollten wir auch, dass der Zuschauer ganz nahe an der Hauptfigur Lenau dran ist. Lenau führt uns durch das Stück. Wir sind als Zuhörer auf seiner Seite. Wir nehmen die Geschehnisse aus seiner Sicht wahr und erleben, warum er mit der Welt nicht klar kommt. Ist es ein Unterschied, ob man als Regisseur eine noch nie aufgeführte Oper inszeniert oder eine bekannte von Verdi oder Wagner? Spielt bei einer Uraufführung die Demut vor dem Werk eine grössere Rolle? Dann läge ja der Schluss nahe, dass ich als Regisseur vor einem existierenden Werk keine Demut habe. Das ist aber nicht der Fall. Aber natürlich rea­giere ich mit meiner Inszenierung auf ein be­kanntes Werk, das eine lange Auf­ führungstradition hat, anders als auf ein Werk, das zum ersten Mal zu erleben ist, auf dem noch keine szenischen Erwartungen und kein Rezeptionsballast lasten. In beiden Fällen ist die grundsätzliche Vorgehensweise allerdings die gleiche: Ich versuche herauszufinden, was der inhaltliche Kern des Stückes ist. Heinz Holligers Musik war für die Planungsprozesse relativ spät fertig. Das Bühnenbildkonzept musste fertig sein, bevor das Team die Partitur kannte. War das ein Problem? Wir hatten das Libretto von Händl Klaus, und das bildete schon ziemlich

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ver­bindlich die musikalische Struktur der Oper ab, weil es in sehr enger Zu­sam­men­arbeit mit dem Komponisten entstanden ist. Viele musikalische Vorstellungen sind bereits im Libretto angelegt. Daran konnten wir mit unserer Bühnenkonzeption anknüpfen. Man überlegt sich etwas und hofft, dass es funktioniert. Als ich die Partitur dann in Händen hielt, war ich zunächst ein bisschen in Sorge, weil die Grenzen zwischen den einzelnen Blättern so offen und fliessend sind und es er­war­tungs­gemäss nicht, wie in der traditio­nel­len Oper, eine begründbare Logik der Auf- und Abtritte von Figuren gibt. Aber dann habe ich festgestellt, dass das Prinzip unserer Bühne doch sehr gut mit der kompositorischen Struktur zusammengeht. Ich hatte Heinz Holliger ja von Anfang ermutigt, sich völlig frei zu fühlen beim Komponieren. Ein Komponist soll schreiben, was ihn umtreibt, und sich keine Sorgen um die szenische Realisierung machen. Ich finde es furchtbar, wenn Regisseure sagen: Hier brauche ich bitte noch eine Minute Musik für dieses und jenes. Damit soll sich ein Komponist nicht beschäftigen müssen. Das muss der Re­gis­seur lösen, und wenn er sich darauf einlässt, inspiriert es ihn hoffentlich zu Ungewöhnlichem. In Lunea verschwimmt die Identität der Figuren. So werden etwa mehrere Frauenfiguren von einer Sänger­solistin dargestellt. Oder Lenaus grosse Liebe, Sophie, spricht in einer Szene plötzlich als seine Mutter zu ihm. Der Schwager Schurz ist zugleich eine Art Alter Ego von Lenau. Sind das Dinge, die dir als Regisseur Kopf­zerbrechen bereiten? Ein Problem ist das zunächst schon, wenn man es ernst nehmen und erzählen möchte. Aber dann muss man Entschei­dungen treffen: Wir haben bei­­ spielsweise aus der Figur, die mehrere Verlob­te Lenaus darstellt, eine relativ klar umrissene gemacht, die wir die «Braut» nennen. Es ist eine recht surreale Braut, die durch das Geschehen irrt, geheiratet werden will und Zuneigung, Erwartungsdruck, Irritation und Enttäuschung ins Spiel bringt, ohne dass der biogra­fische Hintergrund konkret erklärt wird. Viele Szenen und Begeg­ nungen sind ja vom Komponisten als Projektionen und Halluzinationen Lenaus gedacht, so­dass das Surreale immer ein Thema ist. Das Stück folgt einer Traumdramaturgie, ebenso wie unsere Inszenierung. Szenen wechseln un-

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vermittelt oder gehen surreal ineinander über, mehrere Figuren verschmelzen zu einer. Das sind Vorgänge, die wir aus Träumen kennen. Erwächst daraus auch Theatralik? Aber ja. Die Partitur zeigt, dass der Komponist sehr viel vom Theater versteht. Sie ist sehr theatralisch, allerdings nicht im konventionellen Sinn. Hier werden nicht über vier Akte hinweg dra­matische Konflikte ausgebreitet, die dann in die Katastrophe münden. Der Inhalt wechselt ständig, ist assoziativ und offen in seinen Bedeutungsmöglich­keiten. Szene entsteht hier aus der verdichteten Emotion des Textes. Das Theatralische ist in der Mikro­ struktur der Figuren angelegt, vor allem natürlich in Lenau. Man muss nur dieser expressiven Musik genau zuhören, dann hat man als Regisseur keine Probleme, Szenisches zu entwickeln. Nikolaus Lenau ist ein Wahnsinniger. Was bedeutet das für die Regie? Den grössten Fehler, den man als Regisseur machen könnte, wäre, eine sin­gende Figur mit irgendwelchen pathologisch-präzisen Eigenschaften zu ver­sehen. Man muss jede einzelne Nuance von Lenaus inneren Ausnahme­zu­ ständen von der Musik abnehmen und ge­mein­sam mit dem Darsteller szenisch ent­wickeln, denn er kann den gestischen Ausdruck überzeugend nur so auf die Bühne bringen, wie er ihn selbst emp­fin­det. Christian Gerhaher ist da für mich als Regisseur ein ganz starker künst­le­rischer Partner, weil er sehr genaue Vorstellungen hat und trotzdem offen ist gegenüber den Vor­gaben und Vorschlägen, die ich mache. Er bringt ja aus der minutiösen musikalischen Einstudie­r ung immense Erfahrungen in die szenische Arbeit mit, die es zu nutzen gilt. Auch der Komponist Heinz Holliger bringt viele wertvolle Informationen in den Probenprozess ein. Wenn er sagt, ich habe mir das beim Komponieren soundso vorgestellt, greifen wir das auf. Man kann sich als Regisseur bei einem solchen Uraufführungsprozess nicht hinstellen und behaupten: Ich weiss, wie es geht. Wir suchen in den Proben gemeinsam nach einem Weg. Diese kollektiven, produktiven Suchbewe­gungen mit allen Beteiligten empfinde ich als künstlerisch sehr befriedigend.

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Eine Opern-Uraufführung ist immer mit der Hoffnung verbunden, dass die Form des Musiktheaters insgesamt neu befragt und weiter gebracht wird. Ist das für dich hier gegeben? Absolut. Diese Musik überrascht einen in jeder Sekunde. Sie etabliert eine ganz eigenständige Form und entfaltet eine unfassbare Bandbreite an Aus­drucks­ mitteln – vokal, harmonisch, rhyth­misch, klangfarblich. Und sie hat bei aller Elaboriertheit grosse Zugänglichkeit. Ich finde es schlichtweg genial, was Heinz Holliger da komponiert hat. Das Gespräch führte Claus Spahn

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ASCHE, IM MÖRSER ZERRIEBEN Der Librettist Händl Klaus über seine Seelenverwandtschaft mit dem Komponisten Heinz Holliger

Seit ich vor mehr als dreissig Jahren erstmals sein Trema für Cello hörte, ist Heinz Holligers Musik in meinem Leben – als eigene Kraft, die ich regelrecht brauche. Und seit ich ihm während der Holliger-Walser-Woche 1996, die seinem und Robert Walsers Werk gewidmet war, in meiner Heimatstadt Biel persönlich begegnet bin, schreibe ich für ihn, wobei ich mir mit meiner Langsamkeit selbst im Weg stehe (ehe ich auch nur die Rohfassung eines Librettos läutern konnte, hatte Heinz schon seine Oper Schneewittchen vollendet). Vor fünf Jahren schliesslich begegnete ich in seinen 23 Sätzen für Bariton und Klavier, genannt Lunea, einem radikal hellsichtigen Nikolaus Lenau – mir als Lyriker lieb; jetzt aber war ich Satz für Satz erschüttert. Das waren gerette­ te Sätze, Lenaus Selbstauslöschung entgangen – im Wahn hatte er eine Unzahl von Briefen und Zetteln verbrannt, Lebensblätter, wobei er noch die Asche im Mörser zerrieb. Uns beide, Heinz wie mich, beschäftigt das Verbrennen seit je. So bezieht sich beispielsweise Heinz’ Komposition Romancendres für Cello und Klavier auf eine Feuerstelle: Clara Schumann hatte die späten Cello-Romanzen ihres Gatten Robert Schumann nach dessen Tod verbrannt, was Heinz so beschäftigte, dass er mit Romancendres eine Aschenmusik über die Schumannschen Romanzen schrieb. Mein Libretto Buch Asche für eine Oper von Klaus Lang äschert ein Buch ein. Wir sahen nun Lebensblätter vor uns, aus Lenaus Leben – seinem Innern – gehoben, die im Verbrennen den Anfang ans Ende, das Ende an den Anfang bringen, zerfressen von sengenden Löchern, lodernd zerstoben in Fetzen und

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Flocken. Ich tauchte und fühlte mich ein – auch befremdet, auch verloren – in dieses disparate Werk, seine Gedichte, Stücke und Briefe, erschmeckte den eins­ tigen Alltag, suchte seine Gegenwart, machte mich mit Lenaus Freundeskreis vertraut – und der Kreis weitete sich; ich entdeckte doppelte Böden, Verstrickun­ gen, geheimgehalten: Zärtlichkeit. Je mehr ich erfuhr, desto stärker empfand ich mich als Eindringling. Mich befiel eine Scheu, diesen Menschen, die in aller Widersprüchlichkeit tatsächlich gelebt hatten und denen ich unmöglich gerecht werden kann, etwas in den Mund zu legen. Also arbeitete ich allein mit ihren Spuren, den hinterlassenen Worten – die Briefe, die Lenau geschrieben oder gelesen hatte, und seine Dich­ tungen waren das Vokabular. Zunächst entstanden neue Gedichte aus den alten, von Doppelpunkten durchbrochen: in ihre kleinsten Sinneinheiten – wie Soll­ bruchstellen – zerteilt. Dann nahmen innere Bilder Form an, allein an Heinz gerichtete Bildbeschreibungen. Ganz abgesehen davon muss die Regie ihren eigenen Weg gehen, um in Lenau zu gelangen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

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Ich habe meine Augen mit Unglßck gewaschen und nun einen schärferen Blick. Nikolaus Lenau


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HÖCHSTE FREUDE UND TIEFSTE DÜSTERKEIT Aus den Briefen von Nikolaus Lenau an Sophie von Löwenthal

Penzing, Mai 1837 Der plötzliche Wechsel meiner Stimmungen von der höchsten Freude zur tiefs­ ten Düsterkeit zeigt mir eine krankhafte Spannung meiner Seele. Du irrst ent­ setzlich, wenn du glaubst, es gebe Augenblicke, wo ich dich weniger liebe. Ich liebe dich immer. Aber es ist eine Verfinsterung, ein Vergehen meiner geistigen Sinne, welche ich Dir nicht beschreiben kann. Aber Du bist immer da. Wenn ich Dich auch nicht sehen kann, so greif’ ich im Dunkeln nach Dir und fühle Dich; und fühl’ ich Dich nicht, so fühl’ ich durch Dich, denn Du bist mein Herzblut. Darum hab’ ich nie den Wunsch, ohne Dich leben zu können, wie Du ihn hast, ohne mich. Versuch’ es nur einmal, ohne mich zu leben.

12. Juni 1837 Ich bin an diesem Abend lange im Garten gesessen allein, an dich denkend. Man hat uns heute ein wenig üble Laune zu fühlen gegeben. Mag es drum sein! Unser Glück ist unantastbar, unnahbar jeder Macht auf Erden. Wenn man uns je den Untergang beschränkt, unser Gefühl wird man nie beschränken können. Man spielt ein gefährliches Spiel, wenn man es wagt, ein Verhältnis, das man bis­her geduldet und gewissermassen selbst veranlasst hat, zu stören, zu hemmen. Es ist gewiss, dass dann in unseren Herzen ein Trotz erwacht, gegen welchen alle äusseren Veranstaltungen zuschanden werden. Wir lieben uns, und die Liebe hat ihren Heldenmut von Ewigkeit her. Könnten wir uns auch seltener sehen,

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wir haben einmal den Entschluss gefasst, einander anzugehören für immer. Doch so weit wird es nicht kommen. Es ist vielleicht sehr gut, dass ich jetzt reise. Max scheint es sehr zu wünschen. Ich will ihm das zugute halten. Es ist menschlich. Er ist wohl überzeugt, dass wir nicht zu weit gehen; aber es wurmt ihn, dass Du mir mehr bist, dass ich Dir mehr bin als er. Zurücksetzung schmerzt an sich, wenn auch kein tieferes Interesse dabei verletzt ist, wie hier offenbar. Er ist ein guter Mensch und verdient darum schon, dass wir uns Wort halten. Aber er soll uns unser ungefährliches Glück auch fortan gönnen.

25. August 1837 Die Trennung von Dir ist ein schleichendes Gift. Meines ganzen Wesens hat sich eine innere Unlust bemächtigt, die mir nach allen Richtungen das Leben anfrisst und verleidet. Heute dachte ich öfter an den Tod, nicht mit bitterem Trotz und störrischem Verlangen, sondern mit freundlichem Appetit. Das sind Folgen meines verödeten Lebens. Meine ganze Poesie erscheint mir auch immer ärmlicher, je länger ich darüber nachdenke. Gott möge mir’s verzeihen, dass ich ohne Dich weniger warm für seine Sache strebe. Ich bin eben krank, ich bin unglücklich ohne Dich, und ich werde nur bei Dir wieder froh oder nie mehr.

Wien, 26. Oktober 1837 Mir zittert die Hand und mein Herz klopft noch von Deinen letzten Küssen. Ich habe Dein Bett geküsst, während Du fort warst, und gerne wäre ich davor knien geblieben. Die Stätte, wo Du schläfst, hat etwas so schmerzlich Süsses; sie erscheint mir wie das Grab unserer Nächte, unserer lieben Nächte, der unwie­ derbringlichen. O Sophie! Das, was wir uns erlauben, unsere Küsse verrauschen auch; aber wir hatten sie doch, und sie haben sich unseren Seelen eingeprägt für immer. Jene Nächte aber sind vorüber und auch verloren. O so lass uns doch wenigstens alles zusammenfassen in diese Küsse!

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Stuttgart, 23. Oktober 1838 So wird uns in unserem ganzen Leben wahrscheinlich keine Freude ganz und rein werden, ohne bitteren Bodensatz und Beigeschmack: dass ich meine liebs­ te Freude bis zum Grab unterm Mantel werde tragen müssen, das ist eben der wundeste Punkt meines Lebens. Ich möchte doch einmal die schöne freie Sonne Gottes darauf scheinen lassen. Eine solche Liebe ist gewiss ein wertes Geschöpf Gottes, und die arme, unglückliche muss immer nur Kellerluft atmen.

Kierling, 21. Mai 1839 Ich träume jetzt viel von Dir. Mein Leben ist ein stilles Horchen, Sinnen und Sehnen und unablässiges Wühlen in meiner Seele.

Stuttgart, 5. Oktober 1844 Heute ist Dr. Schelling wieder bei mir gewesen. Er suchte es mir auszureden, dass meine Gesichtslähmung schlaghaft sei. (...) Was nach meiner festen Über­ zeugung das Übel hervorbrachte, war lediglich ein ungeheuer heftiger Affekt von Zorn, Kummer und Verzweiflung. Ich schrie und fuhr auf, und ich hatte ein dunkles und plötzliches Gefühl über mein Gesicht hinzuckend, und, an den Spiegel tretend, sah ich mich auf der linken Seite des Gesichts verzerrt, auf der rechten war ich lahm und erstarrt bis ans Ohr zurück. Das Auge blieb zwar frei und beweglich, doch hatte es ein stieres und glänzernes Ansehen. Dieser Zustand dauert mit einer kaum merklichen Minderung, das Auge ist wieder hell und klar, noch heute fort, es ist der siebte Tag. Mein Gefühl auf der rechten Seite ist das einer ganz eigentümlichen, von allen rheumatischen Spannungen ganz verschiedenen Todesschwere.

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Stuttgart, 13. Oktober 1844 Meine Nacht von gestern Abend 9 ½ Uhr bis 3 Uhr früh ist so merkwürdig und furchtbar erschütternd, dass ich zur Darstellung derselben ein eigenes Album angelegt habe, dass Sie, nur Sie allein in der ganzen Welt, lesen, ich aber behal­ ten werde. In dieser Nacht habe ich in einer schauerlichen Beleuchtung des Schicksals bis auf den Grund meines Herzens gesehen und habe gesehen, dass meine ganze Seele Ihnen gehört, auf ewig. Den Schlag lasse ich mir nicht neh­ men. Es war zwar kein Blut- oder Gehirnschlag, doch war’s gewiss ein Nerven­ schlag, der jedoch in seinen Folgen nicht so sehr bedrohlich ist. Meine Augen sind zu angegriffen, als dass ich in der Dämmerung weiter könnte. Tausend Segen, gute Stimmung! Alles wird gut gehen; mein grösster Beruf im Leben, der mir noch über jenen der Kunst gehen wird, soll ein neues und liebevolles Bestreben, Ihnen recht viel Freude in Ihr schönes und grosses Herz zu bringen; vale carissima.

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Der Mond ist ein leuchtendes, schwebendes Grab. Nikolaus Lenau


LUNEA HEINZ HOLLIGER (*1939) Libretto von Händl Klaus

Personen

Lenau

Bariton

Sophie von LĂśwenthal Anton Schurz

Sopran

Bariton

Marie Behrends/Karoline Unger Therese Schurz

Mezzosopran

Sopran


Erstes Blatt Kein Vorhang. In völliger Finsternis - ein Kopf, unbewegt LENAU Um Mitternacht entstand dies Lied, Zwölfmal erklang das Glockenerz, Und zwölfmal Antwort gab mein Herz Im dumpfen Strophensang Dem dumpfen Glockenklang. Döbling. Lenau bedeckt die Wand mit seiner Schrift - ein schwarzes Band (wie unter Strom, mit falschem ungarischen Akzent - ausstoßend) LENAU (mit CHOR) Liebe Schwester! Meine gestörte Lebensfülle hat sich so bald in Heu zersplittert und sie ist so zersplittert daß mein Herz sich goldgeiret und suß verzürnt in ein einem Heiligsten mit vier Kammern fortte Pirato Simongi und Sitschakkotapotlo Hurrah etcetera Niklikniploktjo hal Er reißt daran, halb hängt es herab; er hält die Flamme der Lampe daran - es entzündet sich, er bläst wild hinein. Ascheflocken sinken zu Boden, er reißt sich die Schuhe von den Füßen, zermalmt bloßfüßig die Asche, hält inne LENAU/SCHURZ Ich glaub an diesen süßen Kuß. Ich glaube, daß ich sterben muß. Die Asche singt CHOR daß : mein herz : harruh : ein : in : zer : heu : in heilig : vier :


Zweites Blatt Die Wand bedeckt sich mit unleserlichen Schlingen, die teils durchgestrichen sind Lenau sitzt mit Familie Reinbeck zu Tisch, sie singen aus den Waldliedern EMILIE, GEORG Das Bächlein, sonst so mild, Ist außer sich geraten, Springt auf an Bäumen wild, Verwüstend in die Saaten.

Es rauschet wie ein Träumen Von Lie -

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Lenau ist vom Schlag getroffen

SOPHIE, MARIE, THERESE, SCHURZ Leib. Beil. Leid. Lieb. Lid.

Weit griff sein Schatten am Boden hin.

LENAU Ein Riß durch mein Gesicht. Nicht reden! Nicht reden. Leis und leiser, Müd zum Grunde. Die Musik.

Weit griff sein Schatten am Boden hin.


Programmheft LUNEA Lenau-Szenen in 23 Lebensblättern von Heinz Holliger (*1939) Libretto von Händl Klaus Uraufführung am 4. März 2018, Spielzeit 2017/18

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich

Zusammenstellung, Redaktion

Claus Spahn

Layout, Grafische Gestaltung

Carole Bolli

Titelseite Visual

Anzeigenverkauf

Andreas Homoki

François Berthoud Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept und Logo

Druck

Textnachweise: Die Hinweise zu den Lebensblättern (S. 6) stammen von Händl Klaus und Claus Spahn. Die Gespräche mit dem Komponisten Heinz Holliger (S. 14) und dem Regisseur Andreas Homoki (S. 52) sowie die Aufsätze von Michael Ritter (S. 25), Roman Brotbeck (S. 39) und Händl Klaus (S. 62) sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. – Die Zitate von Nikolaus Lenau sind zitiert nach dem «Lunea»-Libretto von Händl Klaus. – Die Ausschnitte aus den Briefen von Nikolaus Lenau (S. 66) sind zitiert nach: Niko-

Studio Geissbühler Fineprint AG

laus Lenau «Briefe an Sophie von Löwenthal», München 1968. Bildnachweise: Paul Leclaire fotografierte die Klavier­­hauptprobe am 23. Februar 2018. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Walter Haefner Stiftung Freunde der Oper Zürich Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG PROJEKTSPONSOREN AMAG Automobil- und Motoren AG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation Freunde des Balletts Zürich Ernst Göhner Stiftung Max Kohler Stiftung

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Was uns mit Musikern verbindet, ist die Liebe ZUR PERFEKTEN KOMPOSITION.

DAS IST CLARIANT: LEIDENSCHAFTLICHER FÖRDERER DER KÜNSTE

Das perfekte Zusammenspiel von Harmonie, Tempo und Rhythmus erschafft Musik, die uns alle bewegt. Fast wie bei uns: Denn wenn wir etwas bewegen wollen, entstehen aus Engagement, Know-how und Forschung innovative Lösungen für die Spezialchemie, die Emissionen senken, Rohstoffe sparen – und nachhaltig Wert schaffen. Das ist uns wichtig.


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