I Capuleti e i Montecchi

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I CAPULETI E I MONTECCHI

VINCENZO BELLINI


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I CAPULETI E I MONTECCHI VINCENZO BELLINI (1801–1835)

Partner Opernhaus Zürich


Hier h채lt mich eine Macht, die st채rker ist als die Liebe. Giulietta, 1. Akt



HANDLUNG Vorgeschichte Seit Jahrzehnten ist die Familie der Capuleti mit der Familie der Montecchi verfeindet. Aus der Familienfehde ist mittlerweile ein regelrechter Bürgerkrieg geworden; die Montecchi beanspruchen seit Jahren die Vorherrschaft in Verona, haben aber ihr Ziel trotz blutiger Auseinandersetzungen nicht erreichen können. In einem der letzten Kämpfe hat Romeo, der Anführer der Montecchi, den Sohn von Capellio, dem Oberhaupt der Capuleti, getötet. Nun möchte Romeo dem Krieg ein Ende setzen. Niemand ahnt, dass Giulietta, die Tochter Capellios, und Romeo sich lieben.

Erster Akt Am frühen Morgen. Capellio hat seine Anhänger um sich versammelt. Man erwartet einen Gesand­ ten der Montecchi, der ein Friedensangebot unterbreiten will. Capellio ist ent­ schlossen, den Krieg weiterzuführen und überträgt seinem Vertrauten Tebaldo die Ober­befehlsherrschaft. Zudem verspricht er ihm die Hand seiner Tochter Giu­lietta und ordnet noch für den heutigen Tag die Hochzeitsfeier an. Tebaldo liebt Giulietta sehr, ist sich aber nicht sicher, ob er wiedergeliebt wird. Lorenzo, der Arzt der Familie, rät Capellio von der so plötzlich angeordne­ ten Hochzeit ab. Giuliettas Gesundheitszustand sei bedenklich, sie sei schwach und von unendlicher Trauer über den Verlust des Bruders erfasst. Doch Capel­ lio ist fest entschlossen, seine Tochter mit Tebaldo zu verheiraten. Inzwischen spricht der Gesandte der Montecchi vor. Bei dem Gesandten handelt es sich um niemand anderen als Romeo selbst, der seit vielen Jahren im Verborgenen gelebt hat und deswegen von seinen Feinden nicht wiedererkannt wird. Im Namen von Romeo wirbt «der Gesandte» um die Hand Giuliettas. Diese Verbindung soll für immer den Streit zwischen den beiden Familien beenden.


Capellio weist seinen Vorschlag höhnisch zurück und stellt ihm Tebaldo als den Bräutigam Giuliettas vor. Romeo kann sich mit Mühe zurückhalten und schwört eine blutige Fortsetzung des Krieges. Am Mittag. Giulietta wurde inzwischen davon unterrichtet, dass sie noch heute den ihr vollkommen fremden Tebaldo heiraten soll. Schon seit Monaten hat sie Romeo nicht mehr gesehen und verzehrt sich nach ihm. Lorenzo, der von ihrer heim­ lichen Liebe zu Romeo weiss, ermöglicht ein Wiedersehen zwischen den beiden Liebenden. Romeo will Giulietta zur sofortigen Flucht überreden. Doch sie ist von die­sem Gedanken entsetzt und erklärt Romeo, dass sie ihren Vater nicht in die­ser Weise verraten und verletzen könne. Romeo verlässt sie unter bitteren Vor­würfen. Am Abend. Schnell wurde ein Hochzeitsfest arrangiert. Doch Romeo hat einen Angriff auf die unbewaffneten Gäste vorbereitet und ist entschlossen, Giulietta im Tumult zu entführen. Noch bevor die Trauung vollzogen werden kann, greifen die Montecchi an. Capellio und Tebaldo wiederum überraschen Romeo dabei, wie er Giulietta gewaltsam mit sich nehmen will. Tebaldo erkennt in Romeo nun einen Rivalen und zudem bald auch den Anführer des feindlichen Lagers. Während die Mon­ tecchi ein Massaker beginnen, ist es Giulietta unmöglich, ihren Vater und ihre Familie zu verlassen.

Zweiter Akt In der Nacht. Giulietta wartet auf Nachrichten, wie die Kämpfe ausgegangen sind und fürch­ tet um das Leben der Ihren, aber auch um das von Romeo. Wiederum bringt Lorenzo Neuigkeiten. Romeo habe überlebt und fordere sie noch einmal auf, den Vater und ihre unselige Familie zu verlassen. Lorenzo selbst hat eine List erdacht. Ein Medikament, das sie in einen todesähnlichen



Schlaf versetzt, sei die Rettung. Der vermeintliche Tod würde sie der Hochzeit mit Tebaldo entziehen; als aufgebahrte Tote würde sie in der Familiengruft er­ wachen und von Romeo und ihm, Lorenzo, anschliessend in Sicherheit und Freiheit gebracht werden. Giulietta nimmt den Schlaftrunk und vertraut sich dem Tod an. Als ihr Vater kommt, um sie daran zu gemahnen, dass sie am nächsten Morgen ihrem Gemahl Tebaldo folgen muss, steht er einer Sterbenden gegen­ über. Giulietta bittet den Vater, ihr seine Liebe nicht zu entziehen und bricht wie tot zusammen. Capellio lässt Lorenzo, dessen Verhalten ihm seit langem verdächtig ist, beobachten. Noch später in der Nacht. Romeo wartet vergeblich auf Nachricht von Lorenzo. Wieder hat er sich in das Haus von Capellio geschlichen und trifft dabei auf seinen Rivalen Tebaldo. Als die Aggressionen zwischen den beiden sich in einem tödlichen Duell entladen wollen, werden sie von einem Trauergesang unterbrochen. Man betrauert den plötzlichen Tod Giuliettas. Romeo sieht in seinem Leben keinen Sinn mehr und bittet Tebaldo darum, ihn zu töten. Tebaldo, selbst von grösster Trauer und Schuldgefühlen erfasst, weist Romeos Ansinnen entsetzt zurück. Im Morgengrauen. Romeo hat sich von seinen Anhängern zu der aufgebahrten Giulietta bringen lassen und nimmt von seinen Freunden Abschied. Er ist entschlossen, Giulietta in den Tod zu folgen und vergiftet sich. Als Giulietta, die sich tatsächlich nur in einem todesähnlichen Schlaf befunden hat, erwacht, kann sie Romeo nur noch in den Tod begleiten. Christof Loy






SEHNSUCHT NACH DEM TOD Christof Loy und Christian Schmidt im Gespräch

Vincenzo Bellinis Oper I Capuleti e i Montecchi dürfte den wenigsten Zu­ schauern bekannt sein, hinter dem Titel verbirgt sich jedoch ein be­ rühmter Stoff: die Capulets und die Montagues sind die verfeindeten Familien von Romeo und Julia. Was hat Sie an dieser Oper interessiert? Christof Loy: Zunächst die Tatsache, dass die Oper so extrem weit weg ist von Shakespeares Version, denn der Librettist Felice Romani hat andere, italienische Quellen benutzt. Das hat mich anfangs befremdet, aber auch sehr neugierig gemacht. Das einzig Vergleichbare zu Shakespeare ist gerade noch die Grundkonstellation: zwei junge Menschen, die sich lieben, obwohl sie aus verfeindeten Familien stammen. Ansonsten ist die gesamte Atmosphäre der Oper anders, über dem Stück liegt ein Schleier von Melancholie. Es wird keine Geschichte einer Liebe erzählt, die langsam erblüht, sondern deren Ende, die letzten 24 Stunden im Leben von Romeo und Giulietta. Rein äusserlich betrachtet ist es ein sehr handlungsarmes Stück. Auffällig sind die Dominanz der langsamen Tempi und die langen Musiknummern, alles wird in die Länge gezogen und der Bogen so sehr gespannt, dass man es kaum aushält. Das hat viel mit der Hauptfigur Giulietta selbst zu tun, die während des ganzen Abends wie gelähmt scheint und sich gewissermassen nicht vom Fleck bewegt. Alles, was passiert, passiert um sie herum und wegen ihr. Romeo möchte sie befreien, aber sie kann diese Befreiung aus mehreren Gründen nicht zulassen. Christian Schmidt: Ich konnte nach dem ersten Hören durchaus nach­vollziehen, dass sich sowohl Richard Wagner als auch Giuseppe Verdi sehr für dieses Werk interessierten, denn es ist aus einem unglaublich stringenten, homogenen Blickwinkel auf den Stoff komponiert, ohne dass Zugeständnisse


an die Opernkonvention mit Tanzszenen, Marktplatzbildern oder Ähnlichem gemacht worden wären. Ich empfinde das als sehr modern. Wir erleben eine hermetische Nahaufnahme des Kosmos’ der Capuleti, denn alles spielt sich in deren Haus ab. Es ist im Prinzip ein Kammerstück mit nur fünf Haupt­rollen: Vater Capellio, sein Schwiegersohn in spe Tebaldo, Giulietta, der Arzt Lorenzo und Romeo als Aussenseiter. Es erscheint mir spannend, so eine Familienstruktur einmal unter die Lupe zu nehmen und den Fragen nachzu­ gehen, warum sich Familien blockieren, sich gegenseitig schaden und wehtun können. C.L.: Mich hat besonders die Biografie von Giulietta interessiert und die Frage, warum sie sich so vehement dagegen wehrt, dieser Liebe, die sie für Romeo empfindet, konsequent nachzugehen und das Leben mit dem Vater hinter sich zu lassen. Man hat bei ihr deutlich das Gefühl, dass sie eine grosse Angst vor Nähe hat. Romeo gegenüber bringt sie zunächst Begriffe wie Pflicht und Familienehre ins Spiel, später spricht sie von einer Liebe, die ihr wich­tiger erscheint; dieser Liebe gegenüber fühlt sie eine grössere Verant­ wortung, und man muss annehmen, dass damit ihr Vater gemeint ist. Ich habe mich da sofort an andere Konstellationen von Töchtern zu ihren Vätern erinnert ge­fühlt, an Stücke, die ich bereits einmal gemacht habe: etwa an Louise von Gustave Charpentier, wo es ganz deutlich ist, dass die Titelfigur zu ihrem Vater in einer unseligen Verbindung steht, oder an Daphne in Richard Strauss’ gleichnamiger Oper, deren tiefe sexuelle Verstörung und Angst vor dem erotischen Begehren der Männer wohl auch mit einer früheren missbräuchlichen Erfahrung zusammenhängt. Giuliettas Verhalten erinnert daran, was wir heute von der Aufarbeitung von Missbrauchsopfern kennen und wofür wir den Begriff «Stockholm-Syndrom» verwenden: das Opfer fühlt sich gegenüber dem Täter in der Schuld und möchte ihn nicht verletzen; da ist die Angst, etwas zu tun, wofür man dann nicht mehr geliebt wird.

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Davon handelt ja auch Giuliettas Arie im zweiten Akt, wenn sie den Schlaf­trunk in der Hand hält und zunächst einmal zögert, ihn zu trinken... C.L.: Wenn sie diesen Schlaftrunk nimmt, scheint sie zu glauben, dass es auch ein Todestrank sein könnte und sie womöglich sterben werde. Sie fürchtet


sich davor, ihren Vater zu verletzen, indem sie ihn verlässt: weil sie zu einem anderen Mann geht oder in den Tod. Daraus resultiert die sich anschliessende Cabaletta, die eine Art Liebesgeständnis an den Vater ist. Bellini sprengt hier die Konvention der Form, denn es ist äusserst un­­gewöhnlich, dass eine Cabaletta als Andante komponiert ist. Dadurch scheint diese Arie endlos aus­einandergezogen. Giulietta quält sich hier selbst unglaublich, und dieses Gequältsein muss ihr unendlich lange vorkommen. Was bedeutet es vor diesem Hintergrund, dass Romeo für eine Hosenrolle geschrieben ist und demnach von einer Frau gesungen wird? C.L.: Ich finde es symptomatisch, dass die Figur, die Giulietta am nächsten an sich heran lässt, kein «viriler» Mann ist, sondern eine Frauenstimme in Männer­kleidern. Bellini hatte ja freie Wahl beim Stoff und wusste, dass ihm zwei fantastische Sängerinnen zur Verfügung standen. Dennoch hat er sich für die Romeo-und-Julia-Erzählung entschieden und damit bewusst für eine Frau als Romeo. Natürlich verschmelzen die beiden Frauenstimmen gerade im Gegen­satz zum männerdominierten Umfeld klanglich sehr mit­einander. Aber auch wenn sich die Stimmen beispielsweise im Duett des ersten Aktes ei­nander annähern, bleibt festzustellen, dass es in diesem Stück keine typische Liebesszene zwischen Romeo und Giulietta gibt. Die Beziehung dieser beiden, in der Romeo stets versucht, die Mauer zu durchbrechen, die Giu­lietta um sich herum aufgebaut hat, bleibt problematisch. Düster ist auch der Rahmen dieser Oper: Von Anfang an ist der Tod allgegenwärtig, es wird von Massakern und Gemetzeln unter den ver­feindeten Parteien berichtet, bei denen auch Giuliettas Bruder umgekommen ist. C. L.: Heute würde man sagen, dass man sich in bürgerkriegsähnlichen Zu­ständen befindet. Am Anfang herrscht ein halbherziger Waffenstillstand vor, und es ist die Frage, wer wen innerhalb der nächsten Tage angreift. C.S.: Es ist typisch bei dieser Art von Konflikt, dass man sich an den engsten Familienangehörigen vergreift und sich gezielt die Angehörigen aussucht, um die Familie am extremsten zu treffen; in diesem Falle ist es mit




Giuliettas Bruder der Erbe, der in dieser Geschichte umgebracht wird. Giu­lietta hat also nicht nur unter dieser krankhaften Verbindung zu ihrem Vater zu leiden, sondern ist zusätzlich durch die Gewalt um sie herum traumatisiert. Im Gegensatz zu anderen Romeo-und-Julia-Versionen fehlt in dieser Oper auch die Rolle einer Mutter, einer weiblichen Beschützerfigur... C.L.: Dadurch ist die Isolation der Giulietta innerhalb einer Männerwelt, in der die Aggression zur Tagesordnung gehört, natürlich noch stärker. In Giuliettas Wahrnehmung ist Romeo eine Figur wie Richard Wagners Lohen­ grin, den sie sich herbeisehnt und der sie da rausziehen soll. Es spricht für eine sehr subjektive Wahrnehmung Giuliettas, dass sie sich einen Mann, den sie lieben könnte, ganz anders vorstellt, als die Männer, die um sie herum sind: ein Mann mit der Stimme einer Frau.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Romeo gibt sich anfangs vital und leidenschaftlich. Wie entwickelt sich diese Figur? www.opernhaus.ch/shop C.L.: Ich empfinde Romeo von Anfang an als eine sehr zerrissene Figur. Er ist von Kindesbeinen an damit aufgewachsen, mit Gewalt und Aggression umoder am Foyer zugehen, und –Vorstellungsabend vergessen wir das nicht – er ist auch ein Mörder, im der Mörder von Giuliettas Bruder. Er möchte diesem Krieg wahrscheinlich tatsächlich ein des Ende setzen und der Liebe eine Chance geben.erwerben Er selbst beschreibt sich in Opernhauses der ersten Szene mit Giulietta als jemand, der nur noch die Möglichkeit sieht, entweder einen klaren Schnitt in seinem Leben zu machen und ganz neu anzu­fangen, oder zu sterben. Da ist auch dieses Tristanhafte in ihm: bevor das Leben so kompliziert weitergeht, wie bisher, ist der Tod sicher eine Alternative – und sogar die bessere! Diese selbstdestruktive Seite trägt er von Anfang an in sich. Die beinahe glücklichste Musik singt er übrigens am Schluss, wenn er stirbt. Es scheint daher fast, als ob er dieses Ziel unbewusst schon immer angesteuert hätte. In­teressant ist, dass er da Giulietta nicht sagt, sie solle mit ihm in den Tod gehen. Er trägt ihr eigentlich auf, weiterzuleben. Während Romeos Tod auskomponiert ist, ist das bei Giulietta seltsamer­ weise nicht der Fall. Von ihr heisst es in einer Szenenanweisung bloss,


dass sie über seinem Leichnam zusammenbricht. C. L.: Offenbar war es Bellini in diesem Moment wichtiger, den Tod Romeos zu komponieren. Tatsächlich wundert man sich sehr darüber, weil ja gerade Giulietta diejenige ist, die während des ganzen Stückes davon spricht, dass sie sich dem Tode so nahe fühlt und glaubt, bald zu sterben. Das ist schon eine merk­würdige Gegenläufigkeit... Findet die insgesamt sehr morbide, ja depressive Atmosphäre dieses Stücks eine Entsprechung im Bühnenbild? C. S.: Wir zeigen das Haus der Familie Capellio wie aus einer Rückblende. Die tragischen Ereignisse liegen schon etwas länger zurück, man sieht Spuren des Verfalls. Oder anders gesagt: als ob man etwas aufleben lassen würde, was dort bereits einmal stattgefunden hat. Es sind nur noch skizzierte Objekte vorhanden, einzelne Möbel, ein paar Lampen, vieles hat einen Grauschleier und Patina bekommen. Es ist uns wichtig, dass man dadurch auch einiges im Unklaren belässt. Innerhalb ihres Hauses scheint sich Giulietta nur wie eine Gefangene bewegen zu können, gleichzeitig ist sie eine Gefangene ihrer selbst. Was bedeutet das für die Räume? C. S.: Es gibt bei uns die spezifischen Raumsituationen, die aber in einer merkwürdigen Verdichtung aufeinander treffen: Neben einem öffentlichen Saal und einem engen Flur sehen wir die intim-private Sphäre von Giulietta mit Schlaf- und Badezimmer, Wand an Wand mit dem Zimmer Capellios, gewissermassen dem Zimmer der Macht, in dem die Männerwelt ein- und ausgeht. C. L.: Diese beiden Räume von Giulietta und Capellio waren für uns sehr wichtig, um den Konflikt des Stücks zu verdeutlichen: neben der Person, die die grösste Macht hat und im wahrsten Sinne des Wortes den grössten Raum einnimmt, befindet sich in geringer Distanz die Figur, die das grösste Opfer seiner Macht ist. Ausserdem wollten wir eine bildnerische Umsetzung für die Tatsache finden, dass sich hier jemand erinnert und damit ausei­nandersetzt, was ihm im Leben alles geraubt wurde. Räume verwandeln


sich fliessend in die nächsten Räume, einige Bilder bleiben, andere Bilder über­lagern sich bereits mit den nächsten. C. S.: Wir sehen einen nicht abschaltbaren Bewusstseinsstrom von Giu­liet­tas Erinnerungen und Wahrnehmungen in den immergleichen Raumstrukturen. C. L.: Das Paradoxe ist nun aber, diese grausame Geschichte mit dieser schönen Musik zu hören. Das ist wirklich sehr seltsam. Als ob in der Schönheit der Musik auch ein Appell stecken würde: die Hoffnung, dass es doch noch etwas anderes geben müsse. Gibt es denn gar keine Zuversicht, dass durch Liebe eine andere Welt­ ordnung hergestellt werden könnte? C. L.: Da sind ein paar wenige Momente, in denen die Menschen etwas zarter miteinander umgehen, weil sie es gerade in diesem Augenblick brauchen. Leider muss man aber feststellen, dass die Figuren dann am glücklichsten sind, wenn sie ihre Sehnsucht nach dem Tod artikulieren, weil das für sie einen Ausweg darstellt. Es ist wirklich eines der hoffnungslosesten Stücke, die ich kenne. Die letzten Takte der Oper erinnern mich sehr an den trostlosen Schluss der Traviata, wenn der Arzt nach dem todesvisionären Aufschwingen Violettas emotionslos feststellt, dass sie jetzt tot ist und im Orchester sieben­ mal diese imaginäre Guillotine herunterfällt. So auch in diesem Stück: Am Ende siegt ein Tyrann, und es bleibt die Gewissheit, dass Gewalt und Tod eine ewige Spirale bilden. Die Realität wird in all ihrer Härte erneut zuschlagen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Das Gespräch führte Kathrin Brunner



MUSIKDRAMATISCHE WAHRHEIT Fabio Luisi im Gespräch

Herr Luisi, nach der Rarität La straniera setzen Sie Ihren Bellini-Zyklus am Zürcher Opernhaus mit I Capuleti e i Montecchi fort. Auch dies ein Werk Bellinis, das eher selten auf den Spielplänen der Opernhäuser anzu­ treffen ist. Können Sie sich erklären, warum? Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich habe das Werk vor vielen Jahren in Martina Franca als Zuschauer kennengelernt und war damals sofort davon eingenommen. Möglicherweise liegt es am sperrigen Titel, dass sich die Häuser scheuen, dieses Stück aufzuführen. Die Oper lebt nicht von vorder­ gründiger Dramatik, sondern erzählt die Geschichte von Romeo und Giulietta auf eine äusserst subtile Weise, die mich persönlich sehr berührt. Es ist gerade diese poetische Qualität Bellinis, die ihn so sehr von Donizetti und Rossini, den beiden anderen grossen frühromantischen Komponisten der italienischen Oper, unterscheidet. Allein die Art, wie er die Melodik be­handelt oder die vielen überraschenden harmonischen Wendungen in seinen Partituren, machen ihn einzigartig. Bellini ist ja leider bereits im Alter von 34 Jahren verstorben, und so ist jede seiner zehn Opern, wenn Sie so wollen, ein Jugend­werk; als er I Capuleti e i Montecchi schrieb, war er gerade mal 29 Jahre alt. Jedes Mal, wenn ich eine Oper von Bellini dirigiere, geht es mir durch den Kopf, welcher Verlust sein früher Tod doch für die Musikwelt darstellt. Was hätte er uns nicht noch alles schenken können, hätte er so lange wie Rossini oder Verdi gelebt! Ich bin mir sicher, dass Bellini gerade auch im Vergleich zu Rossini oder Donizetti das grösste Potenzial gehabt hätte, sich noch weiterzuenwickeln. Dieses visionäre Element haben offensichtlich auch schon Bellinis Zeit­ genossen erkannt. Nach der Uraufführung der Capuleti 1830 am Teatro


La Fenice lobte man explizit das «neue Genre» dieser Oper. Was genau war daran neu? Neu war sicher die differenzierte psychologische Tiefenausleuchtung der Personen und ihre Authentizität. Das betrifft nicht nur Romeo und Giulietta, sondern selbst einen Tebaldo: Obwohl er Romeos Rivale ist, ist er hier für einmal nicht als der klassische Bösewicht gezeichnet, wie es noch in der Vorgängeroper Giulietta e Romeo von Nicola Vaccaj der Fall war. Tebaldo ist genauso verliebt in Giulietta wie Romeo und sagt ganz deutlich, dass er auf Giulietta verzichten würde, wenn er erkennen müsste, dass sie ihn nicht liebt. Wenn am Ende der Trauerchor erklingt und Romeo und Tebaldo annehmen müssen, dass Giulietta gestorben ist, kommen sich die beiden in ihrem Schmerz sogar näher. Das steht völlig quer zur Konvention der Zeit. Hat Bellini mit den Capuleti nun seinen Personalstil gefunden? Gerade auch im Vergleich zur ein Jahr jüngeren, doch noch sehr experimentellen Straniera? Auf jeden Fall. Die scheinbar endlosen Melodien sind hier erstmals in vollster Ausprägung da und widerspiegeln sich auch in den wunderbaren Instru­men­ tal­soli von Klarinette, Horn und Violoncello. Selbstverständlich sind manche Chornummern typisch für den damaligen Stil und waren vielleicht nicht gerade Bellinis Stärke. Aber wenn wir die Musik von Romeo anschauen oder die Arie der Giulietta im ersten Akt hören, muss man sagen, dass es kaum etwas Schöneres gibt, das in dieser Zeit komponiert wurde. Es ist ein absolutes Meisterwerk, dem man erstaunlicherweise nicht anhört, dass es Bellini in der für ihn sehr knappen Zeit von nur sieben Wochen geschrieben hat – normalerweise brauchte er ein Jahr für eine Oper. Die Partitur ist auch kein Patchwork, obwohl sich Bellini aus Zeitnot oder um ein paar besonders schöne Nummern zu retten bei der im Vorjahr entstandenen und beim Publi­kum durchgefallenen Oper Zaira bedient hat. Erstaunlich erscheint mir auch die formale Vielfalt dieser Oper. Es lässt sich beobachten, dass sich rezitativischer und arienhafter Gesang ei­nander annähern.


Das ist richtig. Bellini hat möglicherweise erkannt, dass die geschlossenen Nummern keine Zukunft haben werden. Er wäre wahrscheinlich derjenige gewesen, der diese starre Form als erster konsequent abgeschafft hätte, noch vor Verdi oder den deutschen Komponisten. Die Übergänge in dieser Oper sind fliessend und kaum noch auf die traditionelle Abfolge von Rezitativ, Arie und Cabaletta zurückzuführen: Da gibt es ein Rezitativ, dann wird ein Arioso dazwischen geschoben, und erst danach entwickelt sich die Arie. Ein schönes Beispiel dafür ist Romeos erster Auftritt in dieser Oper. In einem kurzen Rezitativ präsentiert er sich den Capuleti als Friedensbote, aus dem sich ein zehntaktiges Arioso ableitet. Dieses Arioso («Lieto del pari») hat im Grunde gar keinen richtigen Beginn, sondern man ist bereits mittendrin in einem musikalischen Gedanken. Das Arioso mündet anschliessend wieder in einem Rezitativ und leitet dann erst die Arie «Se Romeo t’uccise un figlio» ein, der etwas später die Cabaletta folgt. Diese Szene ist für mich ein Indiz dafür, dass Bellini die Opernkonvention als Korsett empfunden haben muss. Er war immer auf der Suche nach dem passenden musikdramatischen Ausdruck.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Gibt es diese musikdramatische Wahrheit auch im Orchester? oder amDas Vorstellungsabend imnichtFoyer Natürlich. Orchester behandelt Bellini entgegen aller Vorurteile schablonenhaft und ist in dieser Hinsicht sicher viel origineller als wir es von den meisten Opern Donizettis kennen. Bellini weiss genau, was er des Opernhauses erwerben möchte. Zwischen der ersten und der zweiten Strophe von Giuliettas Arie im ersten Akt, «O quante volte ti chiedo al ciel piangendo», gibt es zum Beispiel eine kleine, abwärtsgerichtete Terzpassage der Holzbläser, die zunächst von den Oboen gespielt wird und anschliessend von den Klarinetten über­ nommen wird. Die Oboen haben natürlich eine brillantere Farbe, die Klarinetten eine weichere, melancholischere. Als Dirigent muss ich das bewusst unterstreichen, denn auch das hat eine inhaltliche Bedeutung.

Etwas vom Berührendsten in dieser Oper ist die tragische Schlussszene. Die Zeitung Eco dei Teatri schrieb nach der Uraufführung, dass man sich gewünscht hätte, dieser Todeskampf möge ewig dauern... Das Finale ist in der Tat sehr kühn gestaltet und wiederum beispielhaft dafür,


dass bei Bellini der musikalische Ausdruck im Dienste des Dramas steht. Es ist eine sehr intime Szene, in der die Welt der grossen Krieger oder Familien­ oberhäupter keinen Platz mehr hat. Manchmal hört man zwischen abgerisse­ nen melodischen Phrasen nur noch gestammelte, einzelne Sätze; die vielen, ausgedehnten Pausen sind hier genauso wichtig wie die gesungenen Noten. Bellini schreibt hier auch präzise Angaben zur jeweiligen Stimmfärbung: mal soll etwas bedeckt oder erstickt gesungen werden, oder dann wieder wie ein Schrei klingen. Das ist etwas völlig Neues für die Zeit und war etwas, was nicht einmal Verdi in seinen ersten Opern gemacht hat. Ziemlich bald nach der Uraufführung wurde dieses Finale übrigens immer mal wieder durch die viel konventionellere Sterbeszene der Romeo-und-Julia-Oper von Vaccaj ersetzt und war erstaunlicherweise noch bis vor wenigen Jahren als Alterna­ tivversion im Klavierauszug von Ricordi abgedruckt. Zur Glaubwürdigkeit des Ausdrucks gehört sicher auch die richtige Wahl der Tempi. Gibt es in dieser Hinsicht genaue Angaben von Bellini? Nein, das muss man fühlen. Hier sind Sensibilität und vor allem sehr viel Liebe zu diesem Stil gefragt. Man darf bei Bellini nie etwas nur schwarz-weiss malen, sondern muss differenzieren: Wenn ein Allegro geschrieben steht, ist das nicht einfach nur schnell zu dirigieren. Oder nehmen wir ein Andante: Es gibt langsamere und schnellere Andanti. Dirigiert man etwas zu langsam, wird der Ausdruck sofort sentimental, ist man zu schnell, wirkt es gehetzt. Informationen geben uns die Harmonien: Je nachdem, wohin die Harmonie führt, ist ein kleines Vorwärtsdrängen oder ein leichtes Abbremsen möglich. Man muss die richtige Mitte finden und die Tempi in Relation zueinander betrachten, dabei aber stets eine gewisse Flexibilität behalten. Das Gespräch führte Kathrin Brunner





BELLINIS VERWEGENER PLAN FÜR VENEDIG Anselm Gerhard

Wie gerne mokieren wir uns über das lange Sterben auf der Opernbühne! Wer an die (pseudo-)realistische Ästhetik des Films gewöhnt ist, hat Mühe, die stimmlichen Kraftakte eines Edgardo am Ende von Donizettis Lucia di Lammermoor, einer Gilda in Verdis Rigoletto oder eines Tristans in Wagners gleich­ namiger «Handlung» mit deren schweren Verletzungen in Übereinstimmung zu bringen. Gern wird jedoch bei solchen Diskussionen über bizarre Eigenhei­ ten des Musiktheaters eines übersehen: Beileibe nicht jeder Tod wird auf der Opernbühne in die Länge gezogen. Nicht weniger häufig fällt der Vorhang, kaum dass eine Heldin oder ein Held um ihr Leben gebracht worden ist. Mey­ erbeers Les Huguenots, Verdis Il trovatore, Puccinis Tosca sind nur besonders grelle Beispiele für solche Opernschlüsse nach dem Motto: Knall auf Fall. In Bellinis eigenwilliger Anverwandlung der Geschichte von Romeo und Julia aus dem Jahre 1830 begegnen nun beide Extreme gleichzeitig: Romeo hat nach dem Schlucken des Giftes – zählt man einmal ganz mechanisch nach – noch genau hundert Takte, also mindestens dreieinhalb Minuten lang zu singen, bevor er sein letztes «Giulie…» haucht. Eben diese Giulietta hingegen bricht über dem Leichnam ihres Verlobten zusammen, kaum dass sie realisiert hat, dass ihr nur die Wahl zwischen einem Leben ohne Romeo und dem Ver­ stummen bleibt: Fünf Viertelnoten, kaum mehr als ein Takt trennen ihr Ende von dem ihrer grossen Liebe. Der hereinstürzende Chor kann nur noch ein «barbaro fato», ein «barbarisches Geschick» bilanzieren. Mit dieser Entscheidung hat ausgerechnet der «romantische» Opernkom­ ponist par excellence ein erstes, schlagendes Beispiel für eine damals völlig neue


Dramaturgie des Plötzlichen realisiert, wie sie noch ein halbes Jahrhundert später Verdis Nachdenken über ein möglichst abruptes Ende seines Don Carlos zugrunde liegen sollte: «Philipp hat nichts mehr zu sagen. Elisabeth kann nichts anderes tun als zu sterben; und zwar so schnell wie möglich.» Fünf Jahre zuvor hatte hingegen ein anderer Komponist das Sterben Romeos und Julias so gestaltet, wie es zwischen 1820 und 1840 der italienischen Oper allein angemessen schien: Nicola Vaccaj schloss 1825 seine Giulietta e RomeoPartitur mit langen Arien für jeden der beiden, so dass nach Romeos Tod noch etwa zehn Minuten für Giuliettas Dahinscheiden bleiben – für Romeos Abschieds­ arie, nicht aber diejenige Giuliettas wurde seit 1831 und noch im 20. Jahrhundert regelmässig Vaccajs «klassischere» Fassung in Bellinis Partitur implantiert.

Das komplette Programmbuch Träume fern der Realität können Sie auf Wie schon ein Jahr zuvor in La straniera zeigen sich Bellini und sein Librettist Felice Romani einerseits in den klassizistischen Konventionen der italienischen www.opernhaus.ch/shop Operntradition gefangen. So lassen sie den kämpferischen Romeo mit martia­ lischen Rhythmen ein «rächendes Schwert» beschwören («La tremenda ultrice oder am Vorstellungsabend Foyer spada»), derselbe Romeo greift für die simple Beobachtung, dassim er im Palast der Capulets keine Menschenseele sieht, zur biblischen Metapher von einem wüstenhaften Ort («Deserto è il loco»). Und im Duett mit Tebaldo wird die des Opernhauses erwerben Herausforderung des Rivalen mit einem exquisiten, Tassos Renaissance-Epos Gerusalemme liberata entlehnten Bild verschärft: Jener werde sich noch danach sehnen, von ihm durch die Alpen und das Meer getrennt zu sein («Tu bramerai fra noi / L’alpi frapposte e il mar»). Andererseits gewährt Bellini seinen Figuren jedoch immer wieder die Möglichkeit, sich aus den Realitäten herauszuträumen, so gleich in Romeos erstem Auftritt, wenn – völlig unerwartet – zweieinhalb Rezitativverse («Lieto del pari / Possa udirmi ciascun, poiché verace / Favella io parlo d’amistade e pace») in eine chromatisch vagierende, immer wieder von Moll-Wendungen eingetrübte und von unruhigen Streicher-Rhythmen begleitete Melodie gefasst sind. Und nicht zuletzt experimentiert der damals 28-jährige Komponist auf verwegene Weise mit dramatischen Knalleffekten: Im Finale des ersten Aktes



will Giulietta durch ihr unerschrockenes Dazwischentreten den offenen Ausbruch von Gewalt verhindern. Aber nicht dieser «colpo di scena» führt die erregten Kontrahenten – für einen Moment – zum Innehalten, sondern erst eine unge­ ahnte Enthüllung als Konsequenz von Giuliettas Auftritt: Romeo gibt sich gegen ihren Willen nicht nur als Montagu, sondern auch hinsichtlich Giulietta als Tebaldos Rivale zu erkennen.

Ein verwegener Plan Als verwegen muss allein schon Bellinis Plan bezeichnet werden, in Venedig ausgerechnet mit einem «remake» des Romeo-und-Julia-Stoffs zu debütieren. Der Komponist war an das Teatro La Fenice gerufen worden, um seine zwei Jahre alte Oper Il pirata, seinen ersten grossen Erfolg einzustudieren. Als sich abzeichnete, dass Giovanni Pacini vertragsbrüchig werden würde, fragte man Bellini, den aufsteigenden neuen Star, ob er zusätzlich an Stelle des fünf Jahre älteren Komponisten die dem Publikum versprochene neu zu komponierende Partitur für das Ende der Winter-Spielzeit übernehmen würde. In der knappen Zeit war an eine wirklich neue Oper nicht zu denken. Denn im Gegensatz zu Rossini oder Donizetti war Bellini ein sehr langsamer Arbeiter; gerade sieben Wochen blieben ihm für das neue Werk, war doch das Ende der Stagione durch die Fastenzeit vorgegeben. Die Uraufführung fand schliesslich am 11. März statt, was gerade sechs Aufführungen bis zum letzten Spieltag am 20. März, dem Samstag drei Wochen vor Ostern erlaubte. So überarbeitete Felice Romani das fünf Jahre zuvor für Nicola Vaccaj geschriebene Textbuch Giulietta e Romeo. Der Librettist, dem wir unter vielen anderen Opern auch Il pirata und La straniera, Norma und Donizettis L’elisir d’amore verdanken, übernahm ziemlich genau ein Viertel der Verse des alten Librettos, strich aber so radikal, dass der Text für Bellini schliesslich um ein Drittel kürzer ausfiel als die Vorlage. Gemessen an der für damalige Verhältnisse extremen Kürze des neuen Textbuchs, das sogar um ein Fünftel kürzer ausfiel als die ungewöhnlich Norma ein Jahr später, waren somit nicht weniger als 40% der von Bellini komponierten Verse mit denen identisch, die auch Vaccaj vertont hatte, forderten also den direkten Vergleich geradezu heraus.

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Diesen ostentativen Bezug auf eine damals allgemein bekannte Oper kann man nur als tollkühn bezeichnen, zumal dadurch Vergleiche nicht nur mit der Par­ titur von 1825 provoziert wurden, sondern auch mit Zingarellis immer noch gespieltem Klassiker aus dem Jahre 1796. Man stelle sich einmal vor, Ruggero Leoncavallo hätte nach seinen ersten Erfolgen Anfang der 1890er-Jahre das Textbuch zu Verdis Otello kürzen und überarbeiten lassen, um den Altmeister aus Busseto herauszufordern! Aber Bellini, der seinerseits an immerhin elf wichtigen Stellen Melodien aus eigenen älteren Opern, wenn auch fast immer tiefgreifend überarbeitet über­ nahm – zehn davon aus der knapp zehn Monate zuvor in Parma uraufgeführten Zaira –, war sich seiner Sache sehr sicher. Seinem neapolitanischen Gewährsmann Florimo schrieb er am 20. Januar 1830: «Romani, der schon gestern hier in Ve­ ne­dig angekommen ist, wird mir das Libretto Giulietta e Romeo neu schreiben, aber mit einem anderen Titel und abweichenden Situationen.» Der merkwürdige Titel I Capuleti e i Montecchi war also eine Notlösung, da der viel näher liegende Titel Giulietta e Romeo eben schon von Vaccajs Oper besetzt war. Dennoch hatte der neue Titel durchaus eine tiefere Bedeutung: Romani fokussiert auf die beiden verfeindeten Adelsfamilien, die in der chorreichen Partitur gleichsam in Kompaniestärke auftreten. Shakespeare spielte für das damalige italienische Bewusstsein allenfalls in den französischen Bearbeitungen eine Rolle, die Jean-François Ducis nach 1769 vorgelegt hatte. Romani orientier­te sich jedoch nicht an diesem Versuch, Shakespeare im Sinne einer klassischen Dramaturgie zu zähmen, er nahm vielmehr verschiedene neuere und von Shakes­ peare weit entfernte Bearbeitungen des Stoffes für das italienische Sprech- und Tanztheater als Inspirationsquelle. Wie der zeitgenössische Veroneser Drama­ tiker Luigi Scevola verlegte auch er die Handlung in das frühe 13. Jahrhundert, um den Fokus auf die epischen Kämpfe zwischen Guelfen und Ghibellinen legen zu können. Denn seit den Verwüstungen der napoleonischen Kriege wollte man auch auf der italienischen Opernbühne Kollektive hören und sehen. So gibt es in Bellinis Oper am Ende nur zwei Situationen, die ohne Bei­sein irgendeines Chors entwickelt werden: die erste Begegnung der Liebenden und deren Ab­ schied. Der neue Titel ist also nicht nur dem Zwang geschuldet, sich um jeden Preis von Vaccaj abzusetzen, wobei «Capuleti» als Italianisierung der englischen


Namensvariante statt dem geläufigeren Cappelletti übrigens sogar eine Anleh­ nung an Shakespeare bedeutete. Bellinis verwegener Plan sollte tatsächlich auf­ gehen. In der offiziellen Tageszeitung Venedigs schrieb Tommaso Locatelli nach der vierten Aufführung: «Das Theater ist immer gefüllt, vom Öffnen bis zum Fallen des Vorhangs bleiben die Leute ununterbrochen im Zuschauerraum, als ob es sich um eine Premiere handelte.» Von der zweiten Aufführung wurde berichtet, Bellini sei 24 Mal vor den Vorhang gerufen worden. Sogar die Leser­ schaft der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung konnte von diesem «delirio» lesen: Die Oper habe «furore» gemacht, «der mit jeder Vorstellung wuchs und in der letzten in eine wahre Phrenesie ausartete. Man traut seinen Augen und Ohren nicht mehr. […] Sänger und Meister wurden mehrmalen zu Ende eines jeden Acts auf die Scene gerufen. Wie gesagt, wuchs der Beyfall täglich, und […] in der […] letzten Vorstellung, wo die Stagione endigte, […] flogen ausgelassene Tauben und andere Vögel von Geheule, Aufjauchzen, Toben und Händeklatschen der Zuhörer erschrocken im Theater umher.»

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Innenräume oder Vorstellungsabend im Foyer Aberam warum diese frenetischen Reaktionen? Locatellis Kritik gibt uns einen wichtigen Hinweis: «Eine der Qualitäten seiner Musik ist eben eine gewisse Lieblichkeit Manier, manche eingängigen Melodien reissen einen mit durch desderOpernhauses erwerben ihr gewisses Etwas an Süsse.» Bellinis lieblich-schmachtende Melodien hatten nach den Erfolgen in Mailand nun also auch das venezianische Publikum in den Bann gezogen. Durch die Reduktion des Dramas auf einen letztlich häuslich-familiären Konflikt hatte Romani es dem ehrgeizigen Komponisten noch leichter gemacht, intime Gefühle als verinnerlichte Gesten zu vergegen­ wärtigen. Dieser Dramaturgie einer Verinnerlichung korrespondiert die eigenwillige Entscheidung Romanis und Bellinis, das Geschehen ausschliesslich in Innen- oder aber in Aussenräumen zu zeigen, die zwar offen sind wie zum Beispiel der Innen­ hof des Palasts der Capulets im zweiten Teil, aber doch eindeutig begrenzt – hier durch eine grosse Treppe und Balkone. So kann der Fokus unmittelbar auf die Gefühle, ja die Stimmen der Solisten gerichtet werden, etwa in der Auf­trittsszene


Giuliettas, wenn diese nach dem Orchestervorspiel mit dem weitgespannten Horn-Solo zunächst völlig alleine singt. Die entschiedene Ferne von Shakespeares Tragödie erlaubt aber auch eine dramaturgische Zuspitzung, wobei die Liebenden förmlich eingeschlossen scheinen: Nicht einmal in geschlossenen Zimmern und Innenhöfen sind sie vor den allgegenwärtigen Vertretern der familiären Bande geschützt. Nur in einem extremen Innenraum wähnen sie sich zum bitteren Ende ihrer Liebe sicher: in der Grabstätte des letzten Bilds. Romanis Szenenanweisung unterstreicht aus­ drücklich: «Der Ort ist geschlossen; erst nach wiederholten Versuchen öffnet sich eine Tür.»

Romeo als androgyne Stimme Romeo ist einer Frauenstimme zugewiesen. Bellini folgt der aus dem 18. Jahr­ hundert überkommenen Tradition, heroische Männerrollen von einem Kastra­ ten oder eben einem Mezzosopran singen zu lassen – wie zum Beispiel die Titelrolle von Rossinis Tancredi aus dem Jahre 1813. Er konnte kaum ahnen, dass es sich um den letzten herausragenden Auftritt einer Frau in Männerkleidern handeln sollte, als er der damals 24-jährigen Giuditta Grisi diese halsbrecherische Rolle auf den Leib schrieb. Zwar plante er wenige Monate später, auch die Rolle eines Ernani mit einem Mezzosopran zu besetzen. Und auch Verdi, der dann tatsächlich eine Oper mit diesem Titel komponieren wollte, dachte zunächst an diese altertümliche Besetzungsvariante, entschied sich dann im Jahre 1844 aber doch für einen Tenor. Trotz oder gerade wegen seiner Stimme ist Romeo auch als tapferer Krie­ ger gezeichnet: Wie Giulietta tritt er in seinem ersten Solo ohne Orchesterbe­ gleitung, jedoch mit grosser Geste auf. Im anschliessenden langsamen Satz seiner Arie füllen die Vokalisen dieser androgynen Partie zwei Oktaven vom tiefen bis zum zweigestrichenen g aus. In der ebenfalls in G-Dur, der eigentlichen Tonart Romeos stehenden «cabaletta», dem schnellen Finalsatz seiner Arie mit der schon erwähnten Anrufung des «rächenden Schwertes», wird die Stimme auf das Wort «patria» sogar bis zum hohen h geführt.



Dagegen verfügte Rosalbina Carradori, die Uraufführungssängerin der Giulietta, nach zeitgenössischen Berichten zwar über grosse schauspielerische Fähigkeiten, jedoch nur über eine zarte Stimme. Bellinis Orchesterbehandlung, so lobte ein Kritiker ausdrücklich, habe solche Eigenheiten seiner Sänger berück­sichtigt: «Er hat den grössten Vorteil aus seinen Sängern gezogen, indem er die Carradori und Bonfigli [den Tebaldo der Uraufführung] entweder fast ohne Orchester singen oder nur im Pianissimo begleiten liess.» Giuliettas Partie unterscheidet sich aber nicht nur hinsichtlich der Orchesterbegleitung und durch einen etwas geringeren Stimmumfang (vom d bis zum hohen b) von jener Romeos, sondern auch in der Tonartenwahl. Ihr erster Auftritt beginnt nicht in G-Dur, sondern in Es-Dur. Diese Tonart wird über die Septime sogleich nach c-Moll gewendet, bevor dann ihre eigentliche Arie in g-Moll anhebt, einer Tonart, die uns im Trauer­­zug des vorletzten Bildes wieder begegnen wird. Für diese kleine Arie hat Bellini auf eine strophische Romanze aus seiner allerersten Oper Adelson e Salvini, einer 1825 als Schülerarbeit im Konservato­ rium von Neapel aufgeführten Partitur, zurückgegriffen. In der neuen Tonart g-Moll wird noch deutlicher, wie eng Bellini einem Modell Rossinis folgt, nämlich dem grossen Gebet des Moses («Al tuo stellato soglio») aus dessen neapolitanischer Oper Mosè in Egitto von 1818. Wie der ältere Kollege wendet auch Bellini das düstere Moll am Ende der ersten Strophe in ein lieblicheres B-Dur. Aber im Gegensatz zu Rossinis «Ohrwurm» folgt am Ende der dritten Strophe keine plötzliche Aufhellung nach G-Dur. In der Neufassung für die venezianische Oper hat Bellini die zweite Strophe gestrichen und lässt Giulietta am Ende der neuen zweiten und nun zugleich letzten Strophe ebenso regulär wie hoffnungslos nach g-Moll kadenzieren. Die zur passiven Frauenrolle erzo­ gene Tochter lässt hier wie fast immer den Kopf hängen: Jede ihrer melodischen Phrasen ist abwärtsgerichtet.

Weder Balkon noch Ball Nicht erst heute gelten Romeo und Julia als das prominenteste Liebespaar aller Zeiten. Jedes Jahr pilgern Hunderttausende zu einem Palast in Verona, der tatsächlich einmal von einem Teil der Familie Cappelletti bewohnt worden war.


Jeder von uns hat sich seine Vorstellung von dieser «love story» gemacht – so auch der Architekt, der vor knapp achtzig Jahren in einer sehr eigenwilligen «Rekonstruktion» diese «casa di Giulietta» in den heutigen Zustand versetzen liess. Natürlich brauchte es 1938 auch einen Balkon, der diesem Gebäude in Tat und Wahrheit gefehlt hatte: prominenter Blickfang für alle, die sich in die my­ thische Liebesgeschichte am «authentischen» Schauplatz hineinträumen wollen. Aber auch in Bellinis Oper fehlt – wie schon bei Vaccaj – ein Balkon, ge­ nauer: die Balkonszene und ebenso die bei Shakespeare nicht weniger entschei­ dende Ballszene. Hector Berlioz, der sich ein knappes Jahrzehnt nach Bellini des Stoffes in einer «dramatischen Symphonie» mit Chor annehmen wird, war ausser sich: «Was für eine Enttäuschung!!! Im Libretto gibt es keinen Ball bei den Capulet, keinen Mercutio, keine geschwätzige Amme, keinen schwermü­ tigen und ruhigen Eremiten, keine Balkonszene, keinen erhabenen Monolog für Julia, wenn sie das Fläschchen vom Eremiten erhält, kein Duett in der Klause zwischen dem verbannten Romeo und dem verzweifelten Eremiten; keinen Shakespeare, nichts; ein verfehltes Kunstwerk. Und dabei handelt es sich um einen grossen Dichter, um Felice Romani, den die armseligen Gewohnheiten der italienischen Opernhäuser dazu gezwungen haben, ein derart klägliches Libretto aus dem Shakespearschen Meisterwerk herauszuschneiden!» Aber selbst er, einer der schärfsten Kritiker der italienischen Gesangsoper, war von einer Schlüsselszene bei Bellini hingerissen: «Diese beiden Stimmen, die wie eine einzige gemeinsam erbeben, geben der Melodie als Symbol einer vollständigen Vereinigung eine ausserordentliche stürmische Kraft; […] ich gestehe, dass ich zu meiner eigenen Überraschung ergriffen war und begeistert applaudiert habe.» Nicht von ungefähr gilt diese schweifende, rhythmisch durch ihren Wechsel zwischen Halben, Vierteln und Vierteltriolen immer als bedroht erscheinende Melodie im Finale des ersten Aktes – auch sie ist übrigens Zaira ent­lehnt – bis heute als ein Höhepunkt der Oper und von Bellinis Schaffen. Sie ist ein weiteres Beispiel für die Prägnanz von Bellinis Knall - auf - Fall-Dramatur­ gie: Giulietta und Romeo sind zwar getrennt, aber zugleich auf einer höheren, sinnlichen Ebene vereint.

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DRAMATISCHE INNENSCHAU Zum Personalstil von Vincenzo Bellini Marco Frei

In seinem Roman Die Entdeckung der Langsamkeit entwirft Sten Nadolny 1983 ein Portrait des englischen Polar­forschers John Franklin. Dieser John Franklin findet sich in der schnelllebigen Gegenwart nicht zurecht, weil er alles langsam angeht und sich Zeit nimmt. Es fällt ihm schwer, Schritt zu halten mit dem Zeit­mass der Anderen. Doch um­so grösser sind seine Erfolge! Erst dank seiner entschleunigten Beharrlichkeit und seines konzentrierten Reflexionsvermögens wird er zu einem grossen Entdecker. Sten Nadolnys Franklin-Porträt lässt sich auf den 1801 geborenen Kompo­ nisten Vincenzo Bellini übertragen: Auch er stand in seiner Zeit für eine höchst innovative Entschleunigung. Arthur Schopenhauer war einer der ersten, der die singuläre Position Belli­ nis klar benannte. Für ihn zeichnet sich die «ächt tragische Wirkung der Katastro­ phe» durch eine Resignation und Geisteserhebung aus, die in den Helden her­­­ beigeführt werde. Ein Prinzip, das er in den Opern Bel­li­nis exemplarisch er­füllt sah. Die «plötzlich eintretende Ruhe der Musik» bezeichne nämlich ganz deut­ ­lich die «Um­wendung des Willens». Diese Äusserungen finden sich in Scho­pen­ hauers philosophischem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, das 1844 vollständig erschienen ist. Tatsächlich ist die Entschleunigung das zentrale Leitmotiv bei Bellini, und zwar gleichermassen in Leben und Schaffen. Zurecht stellt der Bellini-Forscher Fabrizio Della Seta fest, dass Bellini vor Giuseppe Verdi der einzige Kompo­nist Italiens war, der seine Karriere langfristig plante samt einem langsamen, ent­ schleunigten Schaffensrhythmus. Während Zeitgenossen wie Giovanni Pacini


zwischen 1825 und 1835 teils aberdutzende Bühnenwerke auf den Musikmarkt warfen, legte Bellini in diesem Zeitraum gerade einmal zehn Opern vor – durch­ schnittlich also eine pro Jahr, gänzlich atypisch zu jener Zeit. Wirtschaftlich war das nur möglich, weil Bellini geschickt mit den Impresa­ rios verhandelte und die Verdienstmöglichkeiten des Theatersystems klug aus­ schöpfte. Dagegen wird schöpferisch Bellinis Entschleunigung vollends hörbar, wenn man dessen Opern mit Gioachino Rossini vergleicht. Beide kannten und schätzten sich; auf dem Weg zu seinem eigenen Stil hatte Bellini die Partituren Rossinis eifrig studiert, um sich bald radikal von ihnen zu lösen. Die Unterschiede zwi­schen Rossini und Bellini wurden seinerzeit von manchen Zeitgenossen genauso wahrgenommen. In einer bemerkenswerten Kritik zur Oper Il pirata, die am 5. November 1828 in der Gazzetta Privelegiata aus Mai­land erschienen ist, wird Bellini attestiert, den Gesang wie­der zur «schönen Einfachheit» gebracht zu haben. Ausdrücklich wird die schlichte Begleitung des Orchesters gelobt – weil sie den Gesang her­vorhebe, ohne ihn zu überwältigen. Ein schnörkellos-­ schlichter Gesang und eine reduzierte Orchestrierung: Dies sind die Aspekte, die schöpferisch ganz wesentlich die Entschleunigung bei Bellini bestimmen. Sie berühren zugleich die Frage des Tempos, die eng mit dem spezifischen Cha­ rak­ter von Bellinis Gesang verbunden ist. So verzichtet zwar Bellini keineswegs auf Koloraturen, aller­dings kommen sie wohldosiert und gezielt zum Einsatz – als Ausdrucksmittel nämlich für be­ stimmte Situationen oder Empfindungen wie Wut, Verzweiflung oder Liebes­ schmerz, wie Della Seta feststellt. Sonst aber ist Bellinis typischer Vo­kal­­stil der sogenannte canto spianato, ein Gesang, der mehr durch das getragene Legato wirkt und eben nicht durch reiche Ornamentation. Deshalb wurde seinerzeit Bellinis Stil bald schon gemeinhin als das Gegenstück zu Rossini betrach­tet, der insgesamt einen heiter-gelösten Tonfall und einen stark verzierten Gesang pflegte. Wenn der Belcanto-Forscher Peter Berne schreibt, dass als typisches RossiniTempo das Allegro gelten könne und bei Bellini eher das Andante cantabile, so trifft er ins Schwarze. In der 1830 uraufgeführten Oper I Capuleti e i Montecchi kommt Bellinis typischer Vokalstil mit seinen weitgespannten Gesangslinien erst­mals in voller Ausprägung zur Geltung. Giuseppe Verdi hat diese weitgespann­ ten Bögen, die sich oftmals über bis zu sechzehn Takte erstrecken, als «melodie

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lunghe, lunghe, lunghe» gepriesen. Mit I Capuleti e i Montecchi schuf Bellini we­sentliche Voraussetzungen für seine späteren Opern Norma und La sonnambula. Demzufolge stellt Berne in seinem Belcanto-Lehrbuch zur historischen Aufführungspraxis in der italienischen Oper von Rossini bis Verdi fest, dass man bei Bellini vorsichtiger als bei anderen Komponisten Verzierungen vornehmen soll­te – wie auch Änderungen generell. «Was die Freiheit des Sän­gers anbelangt, so steht Bellini dem strengen Verdi bereits nahe», betont Berne. «Er wollte, dass man seine Opern so singe, ‹wie sie geschrieben sind› – was aber nicht pedantische Texttreue im modernen Sinn bedeutet, sondern nur weniger Willkür, als damals üblich war.» Die individuelle Auszierung der Melodie, zur Zeit Bel­­li­nis eine gängige Praxis, solle strikt vermieden werden, emp­fiehlt Berne, da sie Bellini bereits aus­ geschrieben habe – ähnlich wie die Appoggiaturen in den Rezitativen. Und wer die Schlussakkordfolgen ausziere, riskiere eine unangemesse­ne Veränderung der Atmosphäre und des Charakters. Denn zugleich instrumentiert Bellini seine Opern derart schlicht und reduziert, fast schon spärlich wie sonst kein anderer Belcanto-Komponist. Oftmals besteht der Orchester­satz im Grunde nur aus Arpeggien der Streicher, zumal der Violinen. Die Sänger sind gewissermassen auf sich selbst zurückgeworfen, um im Alleingang sowohl den dramatischen Aus­druck zu schärfen und zugleich weiter zu verdichten. «Deshalb müssen andererseits die einzelnen Ausdrucksmittel des Belcanto bei Bellini viel stärker eingesetzt werden als bei den anderen Kompo­ nisten der Zeit», schreibt Berne; sonst könne eine Melodie, die an sich ergreifend ist, nicht ihre volle Wirkung entfalten. Indessen schafft die Reduktion der orches­tr­ a­len Mittel ganz wesentlich die einzigartige Atmo­sphäre in den Opern Bellinis. Sie speist sich im Grunde aus einem originär kammermusikalischen Geist, dem die Ent­schleunigung im Sinne einer Konzentration und Reduktion per se innewohnt. Tatsächlich zählten ab 1810 vokale Kammermusiken zu den ersten Werken von Bellini, zumal kleine Arien oder Romanzen für Gesang und Klavier. Mit der­artigen vokalen Kammer­musiken hatte er sich seinerzeit in Neapel einen Namen gemacht. Doch während Bellinis Vokalstil und seine Melodie­erfindung



bewundert wurden, standen selbst grosse Bellini-­Verehrer der Reduktion seiner Orchestrierung eher ratlos gegenüber. Seine Instrumentation und Harmonik seien nicht «von grossem Reichtum», schreibt etwa Hector Berlioz 1836, was Giuseppe Verdi noch im Mai 1898 in einem Brief an Camille Bellaigue dezidiert bestätigt. Das Schicksal, in der Orchestrierung gänzlich missverstanden zu werden, teilte Bellini freilich mit Komponisten wie Robert Schumann oder Modest Mussorgski. Auch ihnen wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein instrumen­ tatorisches Unvermögen attestiert, ohne die kühne Innovation ihrer Orchestrie­ rungsästhetik zu begreifen. Heute ist unstrittig, dass in der Krönungsszene aus Mussorgskis Oper Boris Godunow erst die radikal karge, fast schon spröde Ori­ gi­nal­orchestrierung die shakespearehaft umdüsterte Atmosphäre beispielhaft einfängt. Jedweder instrumentatorische Pomp, wie ihn Nikolai Rimski-Korsakow oder Dmitri Schostakowitsch nachträglich ergänzten, läuft dem zuwider. Un­ strittig ist heute auch, dass beispielsweise in Schumanns Cellokonzert gerade die vielfach kammermusikalischen Reduktionen das neuartig Andere dieses Werks ausmachen – weil es faktisch ein Gegenentwurf zu jenen Virtuosenkonzerten ist, die seinerzeit das Musikleben beherrschten. Schumann lebt hier den Rück­ zug ins Private, in die Kammer. In seiner Instrumentation bilden Soloinstrument und Orchester ein klanglich in sich geschlossenes Miteinander und kein konflikt­ reiches Gegeneinander. Jede anreichernde «Neu­orchestrierung», wie sie auch Schostakowitsch vorgelegt hat, fusst auf einem gravierenden Missverständnis. Hinter den Vorbehalten gegenüber den schlicht-ent­schlack­ten Orchestrie­ rungen von Bellini, Schumann oder Mussorgski steht freilich die Idee, wonach musikalischer Fort­schritt nur durch anreicherndes Übertreffen bestehender Mittel erreicht werden könne. Dass sich hingegen gerade in der Reduktion der Mittel schöpferisch vielfältige Perspektiven für das Zukünftige eröffnen können, wurde gerne übe­rsehen. Natürlich kann Bellinis entschleunigte Schlichtheit wie eine Rückkehr zu Prinzipien der italienischen Operntradition des 18. Jahrhun­ derts erscheinen, für die Zeitgenossen Bellinis wirkte dies jedoch neuartig – aus der Zeit gefallen. Für Della Seta besteht Bellinis Beitrag zur Orchestrierung darin, in jeder Oper eine Arie mit einem obligaten Instrument zu verwenden – meistens ein


Blas­­ instrument. Dieses obligate Instrument übernehme Charakterzüge der mensch­lichen Stimme oder lasse die Melodie vor und nachklingen. Della Seta spricht von instrumentalen Erweiterungen oder Kommentaren, die ein «ausser­ ordentliches Gespür für die Individualisierung einer Melodie mittels charakteris­ tischer instrumentaler Klangfarben» verrieten. Damit wird zugleich deutlich, dass Bellinis entschleunigte Reduktion der Mittel auch eine neuartige Innenschau zum Ziel hatte – ein Blick tief in das Innere der Seelen der Menschen. Bellini hat innerliche «Affekte» im Sinn und nicht äus­ser­liche «Effekte». Deswegen unterscheiden sich seine Sturm­szenen erheblich von Rossinis. Wo sich nämlich Rossi­ni auf «kurze, brillant zu einem Tosen geschichtete rhythmi­ sche Figuren» stütze, so Della Seta, überwöge in Bellinis Stürmen ein dezidiert melo­discher Charakter. «Sie basieren auf langsamen, fast menschlich klingenden Seufzermotiven. Auf diese Weise setzt Bellini die romantische Vorstellung einer an den menschlichen Leiden partizipierenden Natur um.» Für seine Analyse ver­­weist Della Seta konkret auf die Gewitterdarstellungen im ersten Akt von La straniera sowie im zweiten Akt von I puritani. Dass seinerzeit Bellini oft ein «Seufzer im Frack» genannt wurde, ist vor dem Hintergrund der irritierend ent­schleu­nig­ten Szenen von an sich grösster Dramatik nur ver­ständlich. Auch in der Oper I Capuleti e i Montecchi fällt Belli­ nis «Ent­deckung der Langsamkeit» in Szenen höchster Dramatik auf; generell vollzieht sich auch hier die Handlung im Grunde langsam, und im Gegensatz zu Verdis Bühnenwerken sind die Kontraste deutlich weniger scharf gezeichnet. Wenn schliesslich bei Giulietta im zweiten Akt die Anweisung «con espansione d’anima» auftaucht, steht dies exemplarisch für Bellinis Wollen. Denn die «Erweiterung der Seele» vollzieht sich im Kleinen, im Inneren, ohne äusserlich entfesselte Dramatik – ent­schleunigt, reduziert, durchaus kontem­ plativ. Es war der Komponist und Musikpublizist Ildebrando Pizzetti, der 1915 wohl erstmals das Bild eines lyrischen statt dramatischen Bel­lini zeichnete. Seine Kunst folge nicht dem «Ausdruck von Konflikten», sondern der «Auflösung von Dramen» – ei­ne «reinigende Konklusion der emotionalen Qual». Daraus ab­­zu­ leiten, dass Bellini die Bedingungen der Bühne und des Dramas ignoriere, gehört zu den grossen Missverständnissen in der Bellini-Rezeption der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Mit seiner Gegenüberstellung des Lyrischen einerseits und des Dramatischen andererseits hat Pizzetti indessen die­ses Missverständnis erheblich geschürt, ohne es zu wollen. Nicht Bellini an sich ist lyrisch, sondern seine Dramatik, weil sich seine Dramen im Inneren der Figuren abspielen – oder anders: Bellini «dra­mati­ siert» konsequent das Innenleben, zu einer Zeit, als oftmals reiche Verzierungen im Grunde da­­von ablenkten. Für Bellinis dramatische Innenschau hat sich be­ kannt­lich der radikale Bühnenneuerer Richard Wagner be­geistert. Die finale Grabesszene aus I Capuleti e i Montec­chi rechnete er zum Grössten im Musik­ theater. «Das ist, bei aller Pauvretät, wirkliche Passion und Ge­fühl», schwärmte Wagner. Darüber hinaus schärft jedoch Bellinis Entschleunigung, Reduktion und Innenschau die Wahrnehmung an sich. Mit seinen Opern öffnete Bellini die Ohren, lauschte tief hinein ins Innere, was zu seiner Zeit ähnlich subversiv und radikal erscheinen musste wie heute die Hörmusiken von Luigi Nono, Helmut Lachenmann, Morton Feldman, Salvatore Sciarrino oder Beat Furrer. In Zeiten einer total entfesselten Massenkommunikation und geschwätzigen Handy-Ge­ sellschaft ist auch Bellinis «Entdeckung der Langsamkeit» und «Ruhe der Musik» aktueller denn je.



EIN MANN DER GEFÜHLE Über die Konvention der Hosenrolle im italienischen Melodramma Cordula Knaus

Bellinis Oper I Capuleti e i Montecchi steht im Jahr 1830 durch die Entscheidung, die männliche Hauptfigur Romeo mit einer Sängerin zu besetzen, gleichsam am Ende einer Tradition, die sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Wie entstand aber eine solche Tradition und was sind die historischen Hinter­ gründe für diese Besetzungsentscheidung? Am Beginn der Operngeschichte sind Sängerinnen in Männerrollen zunächst noch nicht zu finden – vielmehr sind Sängerinnen generell unterrepräsentiert. Aufgrund moralischer Bedenken oder verschiedener von Männern dominierter Aufführungskontexte, war Sänge­ rinnen das Auftreten in Opern häufig versagt. So fand etwa die erste Aufführung von Claudio Monteverdis L’Orfeo im Palazzo Ducale in Mantua innerhalb einer Zusammenkunft der Accademia degli Invaghiti (1607) unter Beteiligung von ausschliesslich männlichen Sängern vor ausschliesslich männlichem Publikum statt. Kastraten oder Knaben übernahmen hierbei alle weiblichen Rollen, sangen aber auch männliche Rollen, die bereits zu dieser Zeit aus ästhetischen Gründen für hohe Stimmen geschrieben wurden. Etwa ab der Jahrhundertmitte etablierte sich in Italien schliesslich die Konvention, die männliche Hauptfigur immer mit einem virtuosen Kastratensänger zu besetzen. Bereits in den 1680er Jahren er­­oberten sich Sängerinnen diese Art von Rollen, sodass es zu einer gewissen Austauschbarkeit zwischen Kastraten und Sängerinnen in heroischen Männer­ rollen bzw. für männliche Liebhaberfiguren kam. Statistisch gesehen wurde die männliche Hauptrolle (der «primo uomo») in der italienischen «opera seria» des 18. Jahrhunderts dann in etwa 10 bis 15 Prozent aller Fälle nicht von Kastra­ ten sondern von Sängerinnen interpretiert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahr­


hunderts führten gesellschaftliche sowie auch opernästhetische Veränderungen schliesslich zu einer Marginalisierung der «opera seria» und der damit verbunde­ nen Konventionen. Das vermehrte, durch vielschichtige politische und kulturelle Faktoren bedingte Unbehagen mit der Figur des Kastraten machte den Weg da­fü ­ r frei, dass zwischen 1810 und 1830 «primo uomo»-Rollen vornehmlich von Sängerinnen interpretiert wurden. Diese Umwälzungen zeigen sich auch an der Besetzung des Romeo in verschiedenen Vertonungen dieses Stoffes. 1796 brachte Niccolò Zingarelli an der Mailänder Scala mit grossem Erfolg seine Oper Giulietta e Romeo zur Auf­ füh­r ung. Den Romeo übernahm hier der Kastrat Girolamo Crescentini, der zu den bedeutendsten Kastratensängern dieser Zeit zählte und in der Partie des Romeo unter anderem in Wien umjubelt wurde. Ab 1800 traten jedoch vermehrt Sängerinnen in dieser Rolle auf, allen voran Giuditta Pasta, die in den 1820erJahren in Zingarellis Oper internationale Erfolge erringen konnte. 1825 schrieb Nicola Vaccaj eine ebenfalls Giulietta e Romeo betitelte Oper für Mailand (auf ein Libretto von Felice Romani, das später auch Bellini verwendete). Romeo wurde hier nun von vornherein «en travesti» mit der Sängerin Isabella Fabbrica besetzt. Bellini knüpfte mit seiner 1830 am Teatro la Fenice in Venedig uraufge­ führten Oper I Capuleti e i Montecchi durch die Besetzung des Romeo mit Giuditta Grisi an diese Tradition an und hatte mit Grisi auch eine Sängerin zur Verfügung, die bereits in «primo uomo»-Rollen des italienischen melodramma aufgetreten war, etwa als Falliero in Rossinis Bianca e Falliero. Können die durch Sängerinnen interpretierten (häufig mit der ebenfalls von Kastratensängern herrührenden Bezeichnung «musico» versehenen) männ­ li­chen Hauptfiguren zwischen 1810 und 1830 auch in diese Traditionen ein­ geordnet werden, so entwickeln sie doch ein eigenes stimmästhetisches Profil. Viele dieser Rollen waren für einen Contralto oder einen Mezzosopran geschrie­ ben, womit eine Stimmlage bevorzugt wurde, die tiefer als diejenige der weibli­ chen Hauptfigur lag. Rossini etwa schrieb zahlreiche seiner heroischen männli­ chen Hauptfiguren für Contralto, wie etwa den Demetrio in Demetrio e Polibio von 1812, den Tancredi in Tancredi von 1813 oder den Edoardo in Matilde di Shabran von 1821. Damit vollzieht sich ein erster Schritt in Richtung einer stärkeren Geschlechtertrennung der Stimmlagen für die Liebespaare, die später


in die Konstellation Tenor und Sopran mündet, die das 19. Jahrhundert domi­ nie­ren wird. Es stellt sich allerdings auch die Frage, ob diese «musico»-Rollen ein spe­ zifisches Charakterprofil ausbilden, das mit der Besetzung der Figur durch eine Sängerin in Verbindung zu bringen wäre. Kommt es zu einer Verweiblichung dieser Figuren, die sich in der Figurenzeichnung selbst manifestiert? Wie wurden diese Rollen auf der Bühne wahrgenommen und wie ist die Figur des Romeo in Bellinis Oper vor diesem Hintergrund zu lesen? Insgesamt spricht die Positio­ nierung der Oper im beginnenden 19. Jahrhundert als eine ästhetische Kunst­ form, die auf Schöngesang und musikalische Darstellung von Affekten abzielte, dafür, dass Sängerinnen in männlichen Rollen als glaubwürdige Interpretinnen dieser Figuren wahrgenommen wurden. Insbesondere die Kombination von Jugendlichkeit mit einer seit dem späten 18. Jahrhundert verbreiteten Sensibi­ lität der männlichen Hauptfiguren machte die Sängerin zu einer Idealbesetzung für diese Figuren. Ein von der Opernforscherin Heather Hadlock vorgenom­ mener Vergleich zwischen Zingarellis Zeichnung der Romeo-Figur in seiner Oper von 1796 und derjenigen Vaccajs von 1825 und Bellinis von 1830 zeigt dennoch frappante Ergebnisse. Demnach präsentiert die für den Kastraten Crescentini geschriebene Rolle einen sensiblen Mann der Gefühle, während das von Vaccaj und Bellini vertonte Libretto von Felice Romani auch kriegerische Momente nicht auslässt und Romeo wesentlich aktiver zeigt als zuvor. Aus­ schlaggebend dafür ist die Auftrittsarie Romeos. Nach dem im langsamen Teil der Arie formulierten dauerhaften Friedensangebot schlägt Romeos Stimmung jäh um, als er hört, dass Tebaldo Giulietta heiraten soll. Im zweiten Arienteil, der Cabaletta, für die Bellini als Tempo ein Allegro marziale vorgibt, schwingt Romeo das Racheschwert. Die Hörner geben den marschartigen Rhythmus vor, dem Romeo mit kraftvoll und akzentuiert vorgetragenen Gesangsphrasen folgt. Zugleich kommt es zu einer Distanzierung von diesen Elementen dadurch, dass Romeo sich als Bote Romeos ausgibt und somit von sich selbst in der dritten Person spricht. Die drohende Gewalt bleibt also zunächst hypothetisch. Der Romeo wirkt in Bellinis Vertonung in seiner Ausdrucksvariabilität besonders vielschichtig; Bellinis Oper erweist sich zudem als besonders modern, indem eine neue Expressivität Einzug hält, die sich vor allem in der Schlussszene ma­


nifestiert. Romeos Trauer um Giulietta wird nicht mehr wie bei Vaccaj konven­ tionell affektiv musikalisch ausgedeutet, sondern in einer neuen Wahrhaftigkeit des Gefühlsausdrucks umgesetzt. Die zunächst seufzende, dann durch chromati­ sche Vorhalte angereicherte Melodieführung der Singstimme bei Romeos vier­ mal wiederholter Textpassage «non puoi, bell’anima, nel mio dolor, non puoi scordarmi» (Holde Seele, du kannst mich in meinem Schmerz nicht vergessen) macht das Leiden Romeos für das Publikum zur ganz unmittelbar erfahrbaren Emotion. Es waren jedoch genau diese Ansprüche an einen bühnenästhetischen Realis­mus, der Sängerinnen zunehmend aus den «primo uomo»-Rollen ver­ drängte. Im beginnenden 19. Jahrhundert markierte die Sängerin in der heroi­ schen Männerrolle jene Verbindung von stimmlicher Ästhetik, Jugendlichkeit, die den Figuren entsprach, und einem erst langsam sich abzeichnenden Anspruch an Realismus, der den Erfordernissen dieser Zeit mehr entsprach, als Kastrat oder Tenor. Erst allmählich gerieten die Sängerinnen in «musico»-Rollen ins Kreuzfeuer der Kritik, die auch mit Erwartungen an Weiblichkeitsentwürfe des 19. Jahrhunderts zu tun hatte. So wurde etwa Sarah Bernardts Darstellung des Hamlet dafür gerügt, dass sie zu männlich wäre. Richard von Krafft-Ebings Bemerkung in seiner berühmten Schrift Psychopathia sexualis, wonach Schau­ spielerinnen und Operettensängerinnen, die häufig in Hosenrollen auftreten, «Konträrsexuelle» wären, erscheint um 1900 als Höhepunkt jenes zunehmenden Unbehagens gegenüber Sängerinnen in männlichen Liebhaberfiguren. Eine realistische Darstellung von männlichen Figuren durch Schauspielerinnen oder Sängerinnen wirkte für die Geschlechterordnung des 19. und 20. Jahrhunderts bedrohlich. Bellinis Oper I Capuleti e i Montecchi steht 1830 hinsichtlich dieser Ent­ wicklungen am Scheideweg. Sängerinnen wie María Malibran oder Wilhelmine Schröder-Devrient prägten die Figur in Aufführungen der 1830er und 1840erJahre. Die männlichen Hauptrollen wurden jedoch zunehmend in der italieni­ schen Oper für Tenöre geschrieben und Sängerinnen traten nur noch in männ­ lichen Nebenrollen auf, häufig als Pagen oder Knaben. Die auch für Bellinis Oper im 20. Jahrhundert praktizierte Umarbeitung des Romeo für einen Tenor wurde ab den 1970er-Jahren dann wieder aufgegeben.





I CAPULETI E I MONTECCHI VINCENZO BELLINI (1801-1835) Tragedia lirica in zwei Akten (4 Teile) Libretto von Felice Romani Urauff체hrung: 11. M채rz 1830, Teatro La Fenice, Venedig

Personen

Capellio, Oberhaupt der Capuleti Giulietta, seine Tochter

Bass

Sopran

Romeo, Anf체hrer der Montecchi

Mezzosopran

Tebaldo, Anh채nger der Capuleti und Giulietta versprochen Lorenzo, Arzt und Vertrauter Capellios

Tenor

Bassbariton

Chor

Capuleti, Montecchi, Ehrenjungfrauen, Soldaten, Knappen Die Handlung spielt in Verona, im 13. Jahrhundert


ATTO PRIMO

ERSTER AKT

PARTE PRIMA

ERSTER TEIL

N. 1 INTRODUZIONE DELL’ ATTO PRIMO Galleria nel palazzo di Capellio

SCENA PRIMA

NR. 1 INTRODUKTION Galerie in Capellios Palast

ERSTE SZENE

A poco a poco si vanno radunando i Partigiani di Capellio.

Nach und nach treffen Capellios Anhänger ein.

PARTIGIANI I

1. GRUPPE

Aggiorna appena... ed eccoci sorti innanzi l’alba e uniti.

Der Tag ist kaum angebrochen... Noch vor dem Morgengrauen sind wir hier versammelt.

PARTIGIANI II

2. GRUPPE

Che fia? Frequenti e celeri giunsero a noi gl’inviti. TUTTO IL CORO sottovoce

Was ist geschehen? Mehrmals und dringend hat man uns hierher bestellt. DER GANZE CHOR leise

Già cavalieri e militi ingombran la città.

An jeder Strassenecke stehen Reiter und Soldaten.

PARTIGIANI I

1. GRUPPE

Alta cagion sollecito così Capellio rende.

Es muss etwas Wichtiges sein, wenn es Capellio so sehr beunruhigt.

PARTIGIANI II

2. GRUPPE

Forse improvviso turbine sul capo ai guelfi or pende: forse i Montecchi insorgono a nuova nimistà! TUTTI con forza

Vielleicht bedroht ein unerwarteter Sturm die Häupter der Welfen: Vielleicht erheben sich die Montecchi in neuer Feindschaft gegen uns! ALLE heftig

Peran gli audaci, ah! perano quei Ghibellin feroci! Pria che le porte s’aprano all’orde loro atroci, sui Capuleti indomiti Verona crollerà.

Tod den Verwegenen! Ah, Tod den dreisten Ghibellinen! Bevor sich unsre Tore diesen wilden Horden öffnen, wird erst Verona über den unbeugsamen Capuleti zusammenbrechen.

RECITATIVO DOPO L’INTRODUZIONE

REZITATIV NACH DER INTRODUKTION

SCENA SECONDA

2. SZENE

Capellio, Tebaldo, Lorenzo e detti TEBALDO

O di Capellio generosi amici, congiunti, difensori,

Capellio, Tebaldo, Lorenzo, die Vorigen TEBALDO

O edle Freunde, Verwandte und Beschützer Capellios,


è grave ed alta la cagion che ne aduna oggi a consesso. Prende Ezzelino istesso all’ire nostre parte, e de’ Montecchi sostenitor si svela. Oste possente ad assalirne invia... Duce ne viene de’ Ghibellini il più aborrito e reo, il più fiero. CORO

Chi mai? TEBALDO

Romeo.

CORO, LORENZO

Romeo!

der Anlass, der uns heute hier zusammenführt, ist äusserst ernst. Zu unserer Empörung hat Ezzelino Partei ergriffen und stellt sich auf die Seite der Montecchi. Er schickt ein mächtiges Heer, um uns anzugreifen... Und sein Anführer ist der verhassteste, schändlichste und hochmütigste der Ghibellinen. CHOR

Wer kann das sein? TEBALDO

Romeo.

CHOR, LORENZO

Romeo!

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben CAPELLIO

Sì, quel Romeo, quel crudo… del mio figlio uccisor: egli… (fra voi chi fia che il creda?) egli di pace ardisce patti offerir, e ambasciator mandarne a consigliarla a noi. CORO

Pace! Signor!... CAPELLIO

Giammai. LORENZO

Né udire il vuoi? Utili forse e onesti saranno i patti. A così lunghe gare giova dar fine omai: corse gonfio di sangue Adige assai. CAPELLIO

Fu vendicato… Il mio soltanto è inulto. Chi lo versò respira. E mai fortuna non l’offerse a’ miei sguardi... Ignoto a tutti, poiché fanciul partia, vise Romeo di terra in terra,

CAPELLIO

Ja, Romeo, der grausame Mörder meines Sohnes. Er… (wer könnte es glauben?), er wagt es, Frieden anzubieten und einen Gesandten zu schicken, um uns Ratschläge zu erteilen. CHOR

Frieden! Herr!... CAPELLIO

Niemals.

LORENZO

Willst du es denn nicht wahr haben? Vielleicht ist dieser Pakt ja nützlich und ehrlich gemeint. Es ist sicher sinnvoll, diesem langwierigen Kampf ein Ende zu machen. Es ist schon zu viel Blut die Etsch hinabgeflossen. CAPELLIO

Es wurde gerächt… Nur das meine ist noch ungerächt. Derjenige, der es vergoss, lebt. Und das Schicksal hat ihn mir noch nie vor Augen geführt... Keinem bekannt, da er als Knabe fortging, zog Romeo von Ort zu Ort


Programmheft I CAPULETI E I MONTECCHI Tragedia lirica in zwei Akten (4 Teile) von Vincenzo Bellini Premiere am 21. Juni 2O15, Spielzeit 2O14/15

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Zusammenstellung, Redaktion

Layout, Grafische Gestaltung

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Textnachweise: Die Handlung schrieb Christof Loy für dieses Heft. – Die Gespräche mit Christof Loy, Christian Schmidt und Fabio Luisi führte Kathrin Brunner für dieses Heft. – Anselm Gerhard, «Belli­nis verwegener Plan für Venedig», Originalbeitrag für dieses Heft. – Marco Frei, «Dramatische Innenschau – Zum Personalstil von Vincenzo Bellini», Originalbeitrag für dieses Heft. – Cordula Knaus, «Ein Mann der Gefühle – Über die Konvention der Hosenrolle im italienischen Melodramma», Originalbeitrag für dieses Heft. Bildnachweis: Monika Rittershaus fotografierte die Klavier­ hauptprobe am 11. Juni 2015. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nach­richt gebeten.

Opernhaus Zürich Andreas Homoki Kathrin Brunner Carole Bolli, Giorgia Tschanz Opernhaus Zürich, Marketing Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch Studio Geissbühler Fineprint AG


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

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