MAG 09: Don Giovanni

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Sibylle Berg geht in die Oper

Euch soll geholfen werden Ich habe den besten Beruf der Welt. Sagt Heike Behrens und zeigt ihren Arbeitsplatz. Der sieht aus wie ein elektrischer Stuhl. Sie erreicht ihn, indem sie sich durch das Orchester zwängt und dann eine Leiter hochsteigt, an deren Ende sie eine Drehung um 180 Grad ausführt und sich schlangengleich unter ein Pult schiebt. Heike ist 1,80 gross, und wenn sie einmal sitzt, ist kein elegantes Entkommen mehr möglich. Wird auch nicht gewünscht, denn Frau Behrens ist: die Souffleuse. In der Oper. Singt sie Sängerinnen, die einen Hänger haben, was vor?, könnten Idioten wie ich fragen, und die nur für Idioten wie mich überraschende Antwort ist: Ja, Frau Behrens singt auch, sie hat eine Gesangsausbildung, kann Partituren lesen, den Takt angeben, und bei der Oper Lady Macbeth von Mzensk, die im russischen Original aufgeführt wird, hat sich die Souffleuse den russischen Text in Lautschrift angeeignet. Meine Frage, warum sie nicht schnell Russisch lernt, beantwortet sie ernsthaft, sich entschuldigend: Ich hatte in dieser Spielzeit viel zu tun. Nächstes Jahr. Ich glaube ihr sofort. Heike Behrens ist die Sorte Mensch, der man die Staatsführung, den Weltwirtschaftsgipfel und die Einsatzleitung bei mehreren Grosskatastrophen anvertrauen möchte. Sie kann alles. Oder wirkt immerhin so. Die Sänger vertrauen ihr, sie ist wie der Anker, der die Hochleistungssportler auf der Bühne am Boden hält. Wenn die Bühne zusammenbricht – Frau Behrens sitzt unter der Erde und beruhigt alle. Alles kein Drama, kommt her, beugt euch in meine Kombüse, euch soll geholfen werden. Können die sich nicht einmal den Text merken?, ist ein Satz von Laien, der Frau Behrens empört. Sie liebt und bewundert ihre Sänger. Die mit den Kostümen kämpfen müssen, agieren, mit Requisiten Schlachten austragen und singen, egal ob sie bei Stimme sind, ob sie schlecht gegessen haben, ob sie krank sind. Der Text ist nur ein kleiner Teil der Aufführung, die

Worte, nicht das Problem. Das Problem ist das Orchester, das im Takt bleibt, egal ob oben auf der Bühne ein Akteur gestolpert ist oder sich ein Kronleuchter aus der Verankerung gerissen hat. In ihrer Anfangszeit in Düsseldorf hat Frau Behrens in zwei Jahren 40 Inszenierungen betreut. Heisst: 40 Partituren, heisst: unzählige Nächte auf dem harten Stuhl, von dem aus sie unter die Kinne der Sänger sieht, von dem aus nichts verborgen bleibt. Von der ersten szenischen Probe an sitzt Frau Heike neben dem Pianisten, der beste Ort. Beteiligt sein ohne involviert zu werden. Die Souffleuse sieht alles: Affären, aus Unsicherheit brüllende Regisseure, böse Gerüchte, feine Intrigen, und sie selber ist niemals beteiligt, sie wird von allen mit Vorsicht behandelt, denn sie ist der Moses, der alle durchs Wasser führt, die Therapeutin, die Halt gibt, das sanfte Kissen, auf das die Darsteller sinken können, wie einst der Tenor, der ihr in die Kabine auf den Schoss fiel. Frau Behrens könnte für Opernfreunde eine Veranstaltungsreihe mit dem Titel «Meine schönsten Katastrophen» durchführen. Ihre Erinnerungen reichen vom Totalausfall eines Sängers, bei dem die Souffleuse drei Seiten Partitur einsang, über den verwirrten Tenor, dem sie durchs Bühnenbild hinterherkroch, um ihm den Weg durch das Stück zu weisen, bis hin zum Tod eines Dirigenten bei laufender Vorstellung. Frau Heike strahlt. Nicht wegen des Toten, sondern weil sie sich an ihr Berufsleben erinnert. Zehn Jahre Düsseldorf, zwölf Jahre Berlin, zehn Jahre Bayreuth, nun Zürich: Ich habe den besten Beruf der Welt, falls ich es noch nicht sagte, sagt Heike. Sie macht ein paar Scherze mit dem Paukisten, kriecht auf den elektrischen Stuhl und ist glücklich. Bis zum nächsten Mal Ihre Frau Berg


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