MAG 85: Angels' Atlas

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MAG 85

Rafaelle Queiroz tanzt in «Angels’ Atlas»


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Editorial

Crystal Pites Rückkehr Verehrtes Publikum, erinnern Sie sich noch, als vor dreieinhalb Jahren die Insekten auf der Bühne des Opernhauses ausschwärmten? Im Ballett Emergence der kanadischen Choreografin Crystal Pite waren sie zu erleben, und man kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich schlüpften durch das grosse Flugloch eines Bienenstocks ins Scheinwerferlicht. Die abgewinkelten Ellenbogen sahen aus wie Heuschreckenbeine, die Arme schwirrten wie Libellenflügel, und die Compagnie tanzte in rätselhaft synchronen Bewegungsmustern, als wäre sie durch ein Netz unsichtbarer Fühler untereinander verbunden. So etwas hatte man bis dahin noch nicht gesehen. Pite hatte sich für ihre Choreografie vom Kollektivverhalten der Bienen inspirieren lassen und deren «Schwarmintelligenz» auf die Kreativität einer Ballett-­ Compagnie übertragen. Emergence ist ein grossartiges Kunstwerk der kanadischen Ausnahme-Choreografin und wurde in Zürich ein sensationeller Erfolg. Jetzt kommt Crystal Pite wieder ans Opernhaus mit ihrem neuen Stück Angels’ Atlas, das seine europäische Erstaufführung erlebt. Die Anfang vorigen Jahres in To­ ronto uraufgeführte Kreation ist eine Koproduktion des Kanadischen Nationalballetts mit dem Ballett Zürich. Das komplexe, mit Wahrnehmungstäuschungen spielende Bühnenbild von Jay Gower Taylor und Tom Visser wurde in unseren Opernhaus-Werkstätten gebaut, und Ballettdirektor Christian Spuck ist zu Recht stolz darauf, dieses Projekt nach Zürich geholt zu haben. Denn Crystal Pite ist zwar weltweit eine der gefragtesten Choreografinnen, aber sie macht sich rar auf den internationalen Tanzbühnen, arbeitet lieber zu Hause im kanadischen Vancouver mit ihrer eigenen Compagnie «Kidd Pivot», ist ganz Künstlerin, der das Business wenig und die Kunst alles bedeutet. Deshalb wird die internationale Ballettszene neugierig nach Zürich schauen, wenn sich am 1. Oktober der Vorhang zur Pite-Premiere hebt. Worum es in Angels’ Atlas geht, lässt sich freilich in einem Satz nicht sagen, um Bienen geht es dieses Mal nicht. Vielleicht nur so viel: Die Engel, sagt Crystal Pite, stünden für das, was wir nicht wissen, der Atlas für das, was wir wissen – und das Stück für die Grenze dazwischen. Die aufsehenerregende Eröffnungspremiere des Balletts Zürich wird perfekt durch das dritte Stück des Abends – Almost Blue von Marco Goecke, der in Zürich ebenfalls kein Unbekannter ist. Gerade wurde er von der internationalen Tanzkritik zum «Choreografen des Jahres» gewählt. Welche persönlichen Umstände er in Almost Blue ver­arbeitet, erzählt er im MAG-Interview mit unserem Ballett-Dramaturgen Michael Küster. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre unserer MAG-­ Ausgabe zum Ballettstart. Claus Spahn

MAG 85 / Okt 2021 Unser Titelbild zeigt Rafaelle Queiroz, die in Crystal Pites neuer Choreografie «Angels’ Atlas» tanzt. (Foto Florian Kalotay)

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Inhalt

10 Die Ausnahme-Choreografin Crystal Pite und ihr neues Stück «Angels’ Atlas» – ein Porträt von Dorion Weickmann 16 Ein Gespräch mit dem «Choreografen des Jahres» Marco Goecke über die Gefühls­lagen hinter seinem Ballett «Almost Blue» 24 Volker Hagedorn trifft den «Philharmonia»-­Konzertmeister Bartłomiej Nizioł 30 Seit 20 Jahren gibt es das Junior Ballett Zürich

Drei Fragen an Andreas Homoki – 6,  Opernhaus aktuell – 7, Wie machen Sie das, Herr Bogatu? – 9,  Volker Hagedorn trifft … – 24,  Der Fragebogen – 26,  Die geniale Stelle – 28,  Auf der Couch … – 40

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Der besondere Blick von Monika Rittershaus

11.09.202


1.13:40  +  HAUPTPROBE L'INCORONAZIONE DI POPPEA  +


Blindtext Drei Fragen an Andreas Homoki

Nach Zürich kommt Berlin Herr Homoki, am 1. Oktober beginnt unsere neue Ballett-Saison. Sie findet plötzlich unter neuen Vorzeichen statt: Es ist die vorletzte Spielzeit von Christian Spuck. Er hat seinen Weggang aus Zürich angekündigt. Können Sie etwas über die Hintergründe dieser Veränderung sagen? Es stimmt, Christian Spuck wird uns am Ende der Spielzeit 2022/23 verlassen und das Staatsballett in Berlin über­ nehmen. Das ist natürlich sehr traurig für uns, weil Christian das Ballett Zürich zu einem unglaublichen Erfolg beim Zürcher Publikum und in der internationalen Tanzszene geführt hat, den kann man gar nicht hoch genug bewerten. Trotzdem kann ich seinen Abschied nachvollziehen. In vier Jahren endet meine Amtszeit in Zürich, da ist es nur logisch, dass sich meine künst­ lerischen Partner im Leitungsteam lang­ sam umschauen, wie es für sie weiter­ geht. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass Christian bis 2025 bleibt, aber in der Theaterwelt kann man sich den Zeitpunkt für einen Wechsel nicht im­ mer aussuchen. Es war klar, dass er noch einen weiteren künstlerischen Schritt machen würde, und der wird jetzt das Berliner Staatsballett sein, die grösste deutsche Compagnie, die nahe­zu dop­ pelt so gross ist wie das Ballett Zürich. Die Ballettfans werden sich trotzdem fragen, warum er geht. Was hat Berlin zu bieten, das Zürich nicht hat? Ich verstehe die Ballettfans gut, die sich das fragen, denn ich selbst habe für mich entschieden, dass Zürich nicht mehr zu toppen ist. Ich werde kein wei­ teres Haus mehr übernehmen. Aber Christian ist deutlich jünger als ich, und man muss in der Kunst immer weiter gehen, sich neuen Orten, einem neuen künstlerischen Umfeld stellen. In Berlin kommt einiges auf Christian zu. Er muss eine künstlerisch verwaiste Com­ pagnie neu aufbauen und mit drei Opernhäusern kooperieren. Die Berli­ner

wollten ihn eigentlich schon früher als 2023 haben, aber Christian war es sehr wichtig, dass der Übergang in Zürich freundschaftlich, verantwortungsvoll und gut vorbereitet vonstatten gehen kann. Den haben wir jetzt organisiert. Die britische Choreografin Cathy Marston wird ab der Spielzeit 2023 das Ballett Zürich für zwei Jahre übernehmen, eventuell auch länger, wenn meine Nach­folgerin oder mein Nachfolger in der Intendanz des Opernhauses das wollen. Dass der Übergang im Ballett kooperativ und freundschaftlich ver­ laufen wird, kann man zum Beispiel da­ ran erkennen, dass Christian seine Zürcher Pläne geändert hat und Cathy Marston schon in der übernächsten Spielzeit eine Premiere überlässt, bei der sie sich mit einem grossen abendfüllen­ den Stück vorstellt. Wie sind Sie auf Cathy Marston gekommen? Wir haben uns gründlich umgesehen, wer für diese Position in Frage kommt. Unsere Ansprüche sind sehr hoch. Wir wollen, dass das von Christian Spuck künstlerisch Erreichte fortgesetzt wird. Das heisst, wir haben jemanden ge­ sucht, der die grosse narrative Tanzform beherrscht, die auch Christians Arbeit auszeichnet, und der in der Lage ist, modernes, emotional packendes Ballett mit der Kompetenz der klassischen Tradition zu kombinieren. Diese Vor­ aussetzungen erfüllt Cathy Marston sehr gut. Nach ihrer Zeit in Bern, wo sie die Tanzsparte leitete, hat sie sich inter­ national einen hervorragenden Namen gemacht. Sie ist natürlich anders als Christian Spuck, das ist wichtig und richtig für Zürich. Und sie geht sehr entspannt damit um, dass sie eventuell nur zwei Jahre in Zürich arbeiten kann, falls die nächste Intendanz andere künstlerische Pläne hat. Sie freut sich sehr darauf, mit unserer tollen Com­pag­ nie zu arbeiten, und vielleicht werden es ja auch mehr als zwei Jahre.

Fotos: links, Frank Blaser, rechts, Marco Borggreve

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Opernhaus aktuell

Musikalisches Erdbeben Der eindrucksvolle musikalische Abschied von Nikolaus Harnoncourt aus Zürich ist als Live-Mitschnitt auf CD erschienen

CD «Farewell from Zurich» Mozart: Serenade Nr. 10 für Bläser, KV 361 («Gran Partita») Beethoven: Sinfonie Nr. 5, c-Moll op. 67 Nikolaus Harnoncourt Philharmonia Zürich PROSP0020/63083552376 2 CDs, Booklet

Wer das Glück hatte, damals, an einem Novemberabend im Jahr 2011, in der Tonhalle Zürich zu sitzen, konnte nicht so schnell vergessen, was sich da gerade ereignet hatte: eines der verrücktesten Konzerte, erschütternd, existenziell, ein Ereignis jenseits des normalen Konzert­ alltags. Auf dem Programm dieser «atemberaubenden Sternstunde» (SRF) standen Wolfgang Amadeus Mozarts Bläsersere­nade Gran Partita sowie Ludwig van Beethovens Fünfte Sinfonie. Es war das Abschiedskonzert des damals 82-jährigen Nikolaus Harnoncourt von der Limmatstadt, von seinem Orchester und dem Opernhaus Zürich, dem er seit dem legendären Monte­verdi-­ Zyklus fast vier Jahrzehnte lang treu verbunden war, und wo er immer wieder Aufführungsgeschichte geschrieben hatte. Dass er auch in diesem Konzert Geschichte schrieb – davon kann man sich jetzt im soeben erschienenen CDLive-Mit­schnitt erneut überzeugen.

«Die Bläserserenade verwandelt sich mit ihren seligen Stimmen und traumhaf­ten Klangfarben, ihren dramatur­gischen Umschwüngen von tänzelnder Delikates­se hin zu intimer Würde quasi in eine Mozart-Oper ohne Worte. Bei Beet­ hovens c-Moll-Sinfonie kann man sich hingegen allzu lebhaft vor­stel­len, wie die Musiker bei Harnoncourts Laserstrahl­ blicken kerzengerade und haarscharf auf der Stuhlkante sassen. Denn mit einer irrwitzigen Power setzte man Beethoven unter elektrisierende Hochspannung, wie sie so zuvor eigentlich nur einem Carlos Kleiber gelang», jubelte das Rondo­magazin anlässlich der Veröffentlichung der CD. Dem Zürcher Konzert gingen zwei Jahrzehnte intensiver Beschäftigung mit Beethovens Sinfonien voraus, in denen sich Harnoncourt zusehends von Konventionen befreite und sich einem schlanken Beethoventon zuwandte. Die rasenden, immer wieder modifizierten Tempi etwa sind das Ergebnis eines genauen Studiums von Beethovens Metro­nom­angaben, die lange Zeit als un­spielbar galten. Harnoncourt forder­te sie nun mit aller Konsequenz von den Musikern ein – durchaus mit Lust am Risiko. In der gerne als «Schick­­ salssin­fo­nie» bezeichneten Fünften sah Har­noncourt weniger das an die Tür pochende Schicksal, als vielmehr eine Erzählung von «Unterdrückung, Leiden, Auf­be­gehren und Befreiung». Der Kriti­ker Peter Hagmann, der das Konzert als «Erdbeben» wahrgenommen hatte, schreibt im Begleittext zur CD: «In Beethovens Fünfter schien Niko­laus Harnoncourt ganz er selbst zu sein; frei von jeder Rücksicht sagte er, was er als Musiker sagen wollte – als der vom Pionier der Alten Musik zum Ausdrucks­­ musiker par excellence gewordene Künstler.»

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Podcast

s odcast Die P a­turgie ram der D weiter! gehen Zwischenspiel Die aktuelle Podcast-Folge ist online. Zu Gast: Rafaelle Queiroz

Rafaelle Queiroz tanzt in Crystal Pites neuer Choreografie «Angels’ Atlas». Die gebürtige Brasilianerin war im Badischen Staatsballett Karlsruhe engagiert, bevor sie 2019 ins Ballett Zürich wechselte. Hier war sie u.a. in Christian Spucks «Messa da Requiem» und in Choreografien von William Forsythe zu erleben. Mit Michael Küster spricht die charismatische Tänzerin über ein Leben mit Brasilien-Klischees, böhmische Wassernymphen und dänische Feenköniginnen.

Unterstützt von

Foto: mauritius images / JT Vintage

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Wie machen Sie das, Herr Bogatu?

Ein Feuerwerk aus Licht Der dreiteilige Ballettabend Angels’ Atlas ist für die Bühnentechnik bitter und gleichzeitig ein absoluter Leckerbissen – nein eher ein Festschmaus. Im ersten Teil des Abends, Emergence, geht es technisch noch ganz harmlos zu: Die Bühne wird mit Hilfe eines bemalten Hintergrundes und eines Tunnels in einen Bienenstock verwandelt. Hier beeindruckt mich nicht die Technik, sondern die unglaubliche Bewegungskunst unserer Tänzerinnen und Tänzer, die in der Choreografie von Crystal Pite zu einem Organismus aus Insekten werden. Bitter ist, dass wir nach diesem Teil nicht nur das Bühnenbild abbauen, sondern auch den Tanzboden wechseln müssen. Wenn Künstler*innen mit der Idee kommen, die Bühne in Schutt und Staub zu legen, dann ist das schon eine Herausforderung. In Almost Blue möchte der Bühnenbildner Thomas Mika genau das und bekommt auch genau das: Aus dem Schnürboden lassen wir grosse Mengen von Schutt und Staub auf die Tänzer*innen fallen. Der Staub ist gesundheitlich unbedenklicher «Theaterstaub» und der Schutt ein spannendes Material aus dem Baumarkt: Es handelt sich um ökologisch und gesundheitlich unbe­denkliche «Ausgleichsschüttung» – mit Zement überzogene Holzspäne. Sieht wie Beton aus, ist aber überraschend leicht und wird niemanden verletzen. Aber bitter: Danach werden wir in Windeseile mit einem extra angeschafften Hochleistungs­sauger die ganze Bühne putzen müssen. Nach dem Umbau, bei dem natürlich auch wieder der Boden gewechselt werden muss, geht es weiter mit einem unglaublichen Lichteffektfeuerwerk. Die Idee: Ein ultraheller, stark gebündelter Lichtstrahl wird auf die Kante eines mit Spiegelfolie überzogenen Objekts ausgerichtet. Dadurch, dass sich die Spiegelfolie nie ganz gerade, sondern mit kleinen Falten, Rundungen und Erhebungen kleben lässt, wird der Strahl nicht wie in einem Spiegel einfach nur 1:1 umgelenkt, sondern er wird ganz zufällig gebrochen, reflektiert, gebündelt und gefächert auf eine grosse Projektionsfolie reflek­ tiert. Wenn man nun den Strahl ganz langsam entlang der Kante wandern und gleich­ zeitig das Objekt rotieren lässt, entstehen fantastische Lichteffekte auf der Projektions­ folie. Darauf muss man erst einmal kommen! Der Lichtdesigner Tom Visser und der Bühnenbildner Jay Gower Taylor haben ihre Idee in ausgeklügelten Experimenten immer weiter verfeinert und treiben sie in der Aufführung Angels’ Atlas auf die Spitze. Sie benutzen drei rotierende Objekte, eine am Boden liegende Spiegelfolienfläche und unzählige Scheinwerfer, mit denen Strahlen mit unfassbar schönen Farben und Formen auf die Folie geworfen werden. Jede Vorstellung wird ein optischer Genuss – und ein Unikat: Obwohl wir hochpräzise Scheinwerfer einsetzen und die Spiegel auf hundertstel Grad (!!!) genau steuern können, ist es nicht möglich, das Ganze völlig identisch zu reproduzieren. Aber das macht es für uns noch spannender. Die Spiegel und Scheinwerfer sehen Sie übrigens nicht: Diese stehen vom Publikum aus gesehen hinter der Projektionsfolie. Das Publikum kann so das Zusammenspiel der Choreografie von Crystal Pite mit dem bewegten Licht von Tom Visser voll geniessen.

Illustration: Anita Allemann

Sebastian Bogatu ist Technischer Direktor am Opernhaus Zürich

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Umtost von kosmischen Winden Das Ballett Zürich eröffnet die neue Saison mit einer aufsehenerregenden Produktion – der europäischen Erstaufführung von Crystal Pites neuem Stück «Angels’ Atlas», das als Koproduktion mit dem Kanadischen Nationalballett entstanden ist. Die Choreografin wagt darin nicht weniger als eine Vermessung des Himmels und des Menschseins in Tanzform. Dorion Weickmann hat mit der Ausnahmekünstlerin gesprochen und beleuchtet in ihrem Porträt ästhetische, persönliche und politische Aspekte ihrer Arbeit.


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«Angels’ Atlas» beim National Ballet of Canada (2020) Fotos: Karolina Kuras

s war einmal ein kleines Mädchen, das oft in den Himmel schaute und sich vom Kosmos und seinen Gestirnen erzählen liess. Manchmal verspürte es dabei einen schwindelerregenden Kitzel. Dann fuhr der Blitz der Erkenntnis in seinen Körper – ein Gefühl, als falle es durch Raum und Zeit. Diese Augenblicke haben das Mädchen beflügelt. Haben es später angespornt, nach den grössten Rätseln zu greifen. Ist nicht jedes Menschenkind klein «im Angesicht der unbeantwortbaren Fragen über Liebe, Tod und die Unendlichkeit»? So steht es in Crystal Pites Notizen zu Angels’ Atlas. Sacht sinkt ein Nebelrelief hernieder, eine galaktische Wolke, aus der stalaktitenartige Gebilde dem Erdboden entgegenwachsen. So spitz, dass sie die Menschen, die da dicht beieinander kauern, aufzuspiessen drohen. Eine Fata Morgana? Das Himmlische Jerusalem, jenes postapokalyptische Paradies, dessen Kerzenkranz in Kirchenräumen die Zukunft verheisst? Noch liegen die Leiber gefangen im Staub. Als das Licht sie berührt, fährt ferner Atem in sie hinein. Schenkt ihnen Kraft, sich aufzurichten. Auszuschreiten. Fortzugehen. Und doch lösen sich längst nicht alle. Aus dem Dunkel erklingt Engelsgesang. Er hält sie fest. Fest auf der Erde. Ein Spätsommertag, über Vancouver hängt seit Wochen schon eine Hitzeglocke. Die Wälder brennen. Die Menschen stöhnen und flüchten tief ins Innere ihrer Häuser. Crystal Pite sitzt an ihrem Schreibtisch, die Zoom-Kamera läuft. Über den Atlantik hinweg spricht sie von ihrer Arbeit, der Pandemie, von den Fragen, die uns alle umtreiben: Wie soll, wie kann es weitergehen mit der Welt, mit dem Planeten, den wir sehenden Auges ruinieren? In ihrem Rücken steht eine Tür weit offen, dahinter brütet die Wärme, bohrt sich in Terrassenplatten, Gartenbank und Geländer. In die flimmernde Luft hinein überlegt Pite, was Angels’ Atlas bedeutet: «Engel stehen für das, was wir nicht wissen. Der Atlas für das, was wir wissen. Und das Stück für die Grenze dazwischen.» Das Limit also, das wir gerade permanent überschreiten – in Richtung Abgrund. Angels’ Atlas, von Crystal Pite vor zwei Jahren fürs Kanadische Nationalballett entworfen und jetzt nach Zürich übernommen, ist ein Wunderwerk an Präzision, gekreuzt mit den Launen des Zufalls. Dramaturgie und Choreografie sind minuziös ausgestaltet. Aber die Lichtarchitektur, die das Geschehen überwölbt, ist ein aleatorisches Spiel. Der Lichtdesigner Tom Visser und Jay Gower Taylor, Pites Bühnenbildner und Lebenspartner, haben die Mechanik über Jahre hinweg ersonnen. Bis sie zum Ausgangspunkt des tänzerischen Grenzgangs wurde, den Pite 2019 unternahm. Und zwar im Zustand totaler Erschöpfung, wie sie freimütig erzählt. Was kein Wunder ist: In zwanzig Jahren hat sie über fünfzig Werke in Szene gesetzt, das Arbeitspensum ist enorm. Seinerzeit kam sie zudem gerade aus einer Mammutproduktion an der Pariser Oper: Body and Soul tastet die Topografie der menschlichen Existenz zwischen Ich und Wir, Körper und Seele ab. Es ist fast eine Art Vorläufer für die Himmelsvermessung, der freilich nichts über die Strapazen verrät, die solche Kreationsprozesse mit sich bringen. Selbst wenn sie Krisen und Konflikte anspricht, fliegt Crystal Pites Stimme hell und klar über den Ozean. Sie ist zugewandt, aufmerksam, offen. Das Aussergewöhnliche ihrer Person spiegelt sich auch im Resonanzraum ihrer Kunst, die nahbar ist, einfühlsam, phantasievoll und kommunikativ. Die Kanadierin ist sichtlich und hörbar verbunden mit dem, was sie tut. Mit den Menschen, die ihr begegnen, den Tänzern, für die sie choreografiert und die stets von ihr schwärmen: «authentisch», «hierarchie­ frei», «empathisch», «inspirierend», «hochkreativ und null arrogant». Prädikate wie diese haften ihr an, sind fast schon ein Markenzeichen. Ein Qualitätssiegel, das ihre Werke beglaubigen. Weil sie berühren, vom allerersten Moment. Weil sie beim Zusehen längst verstummte Saiten zum Klingen bringen: Staunen, Mitgefühl, Erkenntnis. Crystal Pites Thema ist die Condition humaine und ihre metaphysische Verankerung. Jenseits aller materiellen, aller dramatischen Aspekte werden ihre szenischen Geflechte von transzendenten Fäden zusammengehalten. Die Choreografie orientiert sich an horizontalen Prinzipien, die geistige Matrix wurzelt in der Vertikale. Kosmische


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Winde, irdische Fragen – so gesehen ist Angels’ Atlas ein Manifest, das Crystal Pites Ästhetik idealtypisch ausformuliert: Alles ist mit allem verbunden, nichts geschieht ohne Sinn und Hintersinn. Ein Blick auf den musikalischen Anfang genügt. Pjotr Tschaikowski steht für das Ballett, seine Kompositionen sind die Signatur der Klassiker schlechthin. Der Cherubim-Hymnus, den er 1878 schrieb, ist das geistliche Gegenstück: eine Ode auf die Herrlichkeit des Himmels, das Jenseits. Das freilich nur erblickt, wer die sterbliche Hülle verlassen, das Instrument des Tanzes abgelegt hat. Wenn Pite Angels’ Atlas mit Tschaikowskis Sakralchor eröffnet, knüpft sie das tänzerische Traditionsband neu – und anders: Innigkeit statt Spitzenschuhglamour. Gleichzeitig findet ein Akt der Einschreibung statt: Auf den Flügeln der Musik gleitet der vergängliche Körper hinüber in die Ewigkeit. Wer Angels’ Atlas betrachtet und Tschaikowski lauscht, wird im Strom der Gedanken vielleicht noch ein anderes Ufer erreichen, nah gelegen und fern zugleich: Charles Ives’ The Unanswered Question, jene 1908 veröffentlichte Komposition, die wieder und wieder eine einzige Frage in den Klangraum wirft und ohne Antwort bleibt. Kein Geringerer als der choreografische Titan George Balanchine hat Charles Ives’ elegisches Klangmonument 1954 ins Tänzerische verlängert, unter Beibehaltung der Nichtkorrespondenz. Auch Angels’ Atlas stellt die Frage nach dem Schicksal des Menschen, dem Wesen der Menschlichkeit. Aber anders als Balanchine baut Pite sphärische Brücken zwischen Diesseits und Jenseits. Sie denkt Welten zusammen, statt sie auseinanderzudividieren. Dieses Talent zieht sich durch Crystal Pites Biografie wie durch ihr Schaffen. Seinen Anfang nimmt beides in Terrace, British Columbia. Ein Städtchen mit rund 12’000 Einwohnern, das von der Holzindustrie lebt, aber für Familie Pite – Vater, Mutter, Tochter und Söhne – bald zu klein ist. Nächste Station ist Victoria, wo Crystal Tanzunterricht nimmt und schon bald beginnt, für andere Kinder zu choreografieren. 1988 startet sie in die Profikarriere als Tänzerin am Ballet BC (für British Columbia), zwei Jahre später hebt sie dort ihr erstes Bühnenwerk aus der Taufe. Zudem begegnet sie dem Choreografen, der sie künstlerisch wie kein anderer prägt: Mit der Extremetüde In The Middle, Somewhat Elevated hebt die junge Tänzerin ab in den Orbit von William Forsythe. Mitte der 1990er-Jahre wechselt sie zu seiner Truppe nach Frankfurt am Main. Was handwerkliches Können betrifft, weist ihr der Amerikaner den Weg. Gleichwohl schlägt sie stilistisch eine andere Richtung ein: Wo Forsythe mit lässiger Eleganz das postmoderne Ballettzepter schwingt, emanzipiert sich Pite und arbeitet mit allen Schattierungen der Tanzpalette. Ihre Schöpfungen sind poetisch und politisch. Sie pulsieren organisch, betören mit dichten Tanztexturen und bringen jedes Corps de ballet zurück zu seiner eigentlichen Bestimmung: gemeinsamer Herzschlag, kollektive Atmung. Noch als Geheimtipp gehandelt, kehrt Pite 2001 nach Kanada zurück und gründet in Vancouver ihre eigene Kompanie «Kidd Pivot» – bis heute Labor ihrer kreativen Ideen. Alljährlich bringt sie eine Neuproduktion heraus, zwei Jahre Vorlauf sind durchaus üblich. Anders verhält es sich im Theaterbetrieb, den sie von Toronto über London bis Zürich inzwischen in- und auswendig kennt – samt Privilegien und Problemen: Die Produktionsbedingungen sind gut, die Probenzeiten kurz, und ein Riesenensemble zu dirigieren, erfordert anderes Geschick und Gespür als für die Handvoll Tänzer, die bei «Kidd Pivot» unter Vertrag sind. Indes hat gerade die überschaubare Grösse des eigenen Teams ein Pionierprojekt begünstigt, das der Choreografin wie ihrem Co-Direktor Eric Beauchesne enorm am Herzen lag: «Kidd Pivot» reist und arbeitet klimaneutral und behauptet sich damit als Vorreiter im internationalen Tourneegeschäft. Was zur Überzeugung einer Künstlerin passt, die Tanz als Universalie begreift – als Stoff, aus dem sich Gesellschaftspanoramen ebenso modellieren lassen wie intime Beziehungsdramen. Als Werkzeug, das Wirtschaftskomplexe erhellen und Weltliteratur übersetzen kann. Exemplarisch für Pites politische Ader steht ihre preisgekrönte,


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mit dem Royal Ballet London entwickelte Flüchtlingsparabel Flight Pattern (2017) – eine surrealistische und deshalb nur umso wahrhaftigere Reflexion über globale Migration und Menschen, die schutzsuchend über Meere und Kontinente treiben. Auch Betroffenheit (2015) verhandelt eine Tragödie von antiken Ausmassen: den Tod der Tochter, den Co-Autor Jonathon Young erlitten hat. Nie kippt das Trauma ins Pathetische, die Erinnerung in Verklärung. Stattdessen agiert Young inmitten der Tänzerschar von «Kidd Pivot», den grotesken Platzhaltern seiner widerstreitenden Traueraffekte. 2016 entwarf der Schauspieler auch die Sprachpartitur für The Statement, das am Nederlands Dans Theater herauskam. Der Text steuert ein Tänzer-Quartett im Krisenmodus, das die Ursache eines kapitalen Betriebsfehlers aufzudecken sucht – Inquisitionstribunal im Konzernvorstand. Ebenfalls im Tandem haben Young und Pite zuletzt Gogols Revisor (2019) in ein schillerndes Tanzspektakel verwandelt. Dann schlug Corona zu, und die gerade in Amsterdam gastierende Compagnie musste heimreisen, statt Europa zu beglücken. Das war im März 2020. Seitdem hat die Choreografin kein Studio betreten, keine Proben abgehalten, keine Reise angetreten. Bis in den Spätsommer 2021 sass sie in Vancouver fest, mit Mann und zehnjährigem Sohn, der immerhin noch zur Schule gehen und Freunde treffen konnte. War es Vorsehung, war es Zufall – für 2020 hatte Crystal Pite ohnehin ein Sabbatical geplant: Durchatmen, Tempo rausnehmen und den jahrelangen Dauerlauf von Termin zu Termin, von Ort zu Ort, Theater zu Theater unterbrechen. Sie wollte Zeit haben für das Kind, und für neue Projekte. Statt-


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dessen rollte die Pandemie heran: sämtliche Aktivitäten eingefroren, alle physischen Kontakte ausgehebelt. Ein Umstieg auf Digitalformate kam nicht infrage: Ausgeschlossen, so mit Tänzern zu arbeiten! Zumindest für eine wie sie. Pites Kunst lebt von Achtsamkeit, Wahrnehmung, Austausch, von Anwesenheit mit allen Sinnen und ohne Kamerafilter dazwischen. Die Auszeit hat viele Fragen aufgeworfen, hat sie mit dem eigenen Selbst- und Weltverständnis konfrontiert: «What can I bring to the conversation?»: Was ist ihre Rolle als Künstlerin? Jedenfalls nicht, in Aktivismus zu verfallen. Den katastrophischen Zeitläuften setzt sie die Macht der Bilder, der Schönheit wie des Schreckens entgegen: «Die beste Möglichkeit, Menschen zu erreichen, ist, gute Kunst zu machen.» Unmerklich schiebt sich der Nebelschleier himmelwärts. Eine Theaterewigkeit lang hat er die Menschen begleitet – Liebende, Sterbende, Trauernde, Tröstende, Zweifelnde. Das Leben, es bleibt ein Geheimnis. Magnum Mysterium, das über der Szene schwebt und die Reprisen des Anfangs begleitet: weltumarmende Ports de bras, gedrehte Arabesques. Die letzten Sekunden gehören Mann und Frau. Da ist nichts Trennendes mehr. Nur tiefe Ruhe. Überirdische Vollkommenheit. Das kleine Mädchen, das so gern in die Sterne schaute, pflückt sie heute vom Tanzhimmel. Von der Bühne funkeln und strahlen sie dann in die Herzen der Menschen hinein, die ihren Glanz nicht wieder vergessen. Kein Märchen, sondern die reine Wahrheit über Crystal Pite und ihre Werke. Worte reichen nicht hin, um den Zauber einzufangen.


Matthew Knight, Katja Wünsche

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Ich bin doch nur Marco In seinem Stück «Almost Blue» verarbeitet Marco Goecke seinen Abschied vom Stuttgarter Ballett. Inzwischen leitet er das Ballett am Staatstheater Hannover und wurde soeben zum «Choreografen des Jahres» gekürt. Ein Gespräch über schmerzliche Abschiede und neue Horizonte

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Fotos  Admill Kuyler

Marco, schon zum zweiten Mal nach 2015 bist du von der Zeitschrift «tanz» als «Choreograf des Jahres» ausgezeichnet worden. Was bedeutet dir diese Ehrung? Als ich jung war, waren solche Auszeichnungen noch aufregender. Man macht so einen Beruf ja nicht, wenn man kein Echo auf seine Arbeit bekommen möchte. Es wäre gelogen, wenn man behauptet, dass man nicht auch Achtung haben und die eigene Arbeit goutiert sehen möchte. Dass die Kritiker, die diese Auszeichnung vergeben, von der Qualität der letzten Arbeiten überzeugt waren, freut mich natürlich. Das Gefühl, bei solchen Sachen leer auszugehen, war für mich früher immer mit einer unheimlichen Enttäuschung verbunden. Heute ist das zum Glück nicht mehr so. Aber ich erinnere mich, dass ich am Beginn meiner Karriere manchmal noch um Mitternacht zur Tankstelle gefahren bin, um in der druckfrischen Zeitung meine Premierenkritik zu lesen. Jemand Berühmtes und Hochdekoriertes hat mir mal gesagt, man müsse bei Preisen genau hinschauen, wer sie einem verleiht und aufpassen, dass das nicht Leute sind, die sich durch dich selber feiern und denen deine Arbeit absolut nichts bedeutet. Wenn so eine Auszeichnung als Ergebnis einer Kritikerumfrage zustande kommt, ist das hoffentlich etwas anderes. Wie ist dein Verhältnis zur Kritik heute? Wahrscheinlich fährst du nachts nicht mehr zur Tankstelle… Nein. Die Fähigkeit, Tanz professionell und kompetent zu beurteilen, hat abgenommen. Es gibt immer weniger seriöse Journalisten, und im Grunde kann heute jeder in seinem Blog seine Meinung in die Welt hinausposaunen. Ich bin nicht mehr so versessen darauf, das alles zu lesen. Vielleicht hat uns die Pandemie auch gelehrt, etwas entspannter damit umzugehen. In der Welt geschehen genug schreckliche Dinge, über die es sich aufzuregen lohnt. Da müssen wir uns wirklich nicht noch Hasstiraden um die Ohren hauen.


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Viele Kritikerinnen und Kritiker waren in den letzten Monaten, glaube ich, froh, wenn überhaupt etwas stattgefunden hat. Etwas, wovon sie auch selber leben! Ich bin nicht für das Empfinden anderer Menschen und deren Geschmack verantwortlich. Natürlich wird es immer Leute geben, die mit meiner Arbeit nichts anfangen können. Ich sehe aber zum Glück auch, wie viele sie erreicht. Das Ballett Zürich tanzt in seinem neuen Ballettabend deine Choreografie Almost Blue. Das war 2018 dein letztes Stück als Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts. Eine Position, die du 13 Jahre innehattest. Wie hat sich das in dem Stück niedergeschlagen? Almost Blue ist die Antwort auf das unfreiwillige Ende meiner Stuttgarter Zeit, nachdem mein Vertrag als Hauschoreograf nicht verlängert wurde. Inzwischen habe ich zum Glück bereits wieder dort gearbeitet und ein neues Stück für das Stutt­ garter Ballett kreiert. Die Zeit damals war jedoch nicht einfach, weil ein wichtiger Abschnitt meines Lebens von heute auf morgen zu Ende war. Abgelehnt zu werden und das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass jemand deine Kunst nicht mehr haben will, ist eine tragische Erfahrung. Der Titel Almost Blue bezieht sich eigent­lich auf einen berühmten Song von Chet Baker. «Beinahe traurig», so habe ich mir das übersetzt. Das hat meine damalige Stimmung ziemlich gut beschrieben. Ich war natürlich traurig, vor allem aber war ich wütend und verletzt. Umso schöner, dass sich alles, was bei einer Trennung so bitter zurückbleibt, inzwischen aufgelöst hat… Du sprichst von Trauer und Wut in Almost Blue. Reflektieren deine Stücke generell die Umstände ihrer Entstehung? Meine Choreografien sind nie am Reissbrett entworfen oder von langer Hand vorbereitet. Selbst wenn ich ein Handlungsballett choreografiere, nährt sich das von der Zeit, durch die ich gerade gehe, nährt sich durch jeden einzelnen Tag. Im Theater, wo es für viele der beteiligten Gewerke um Sicherheiten und verlässliche Fakten geht, ist das oft eine schwierige Situation. Auch für die Tänzerinnen und Tänzer, die mit mir arbeiten. Die fragen gelegentlich schon mal: Kommt da jetzt noch was? Mein Leben könnte vielleicht einfacher sein, wenn ich mich langfristiger auf meine Stücke vorbereiten würde, aber das ist nicht meine Art zu arbeiten. Manchmal jammere ich, dass ich zu viel arbeite. Aber gestern Abend hatte ich genau den anderen Gedanken. Da habe ich mich gefragt: Habe ich eigentlich jemals gearbeitet? Oder ist das einfach Teil des Lebens? Bei unseren letzten gemeinsamen Arbeiten hier in Zürich hatte ich immer das Gefühl, dass es neben dem Augenblick vor allem die Menschen sind, die dich umgeben und bestimmte Dinge in dir freisetzen… Was ich mir abends im Bett als etwas Magisches vorstelle, hat meist nur wenig mit der Arbeitsrealität des nächsten Tages zu tun. Der Weg zur Magie ist meist alles andere als magisch. Es gibt Tänzer, bei denen du in der Probe denkst, wie unkoordiniert und fürchterlich das gerade aussieht. Aber wenn dann der Vorhang aufgeht, ist es genau das Richtige! Es ist toll, dass dieses Choreografieren bis zum letzten Moment so ein Element der Überraschung birgt. Wenn ich diesen Gedanken wirklich zu Ende führe, würde ich fast sagen: Nach der Premiere kann das für mich verschwinden, das Zeug… Diese wenigen Minuten der Premiere, in denen sich die ganze Energie entlädt, haben etwas Rauschhaftes. Bei der zweiten Vorstellung ist das für mich dann eigentlich schon gegessen… Ist die Wiederaufnahme eines deiner Stücke durch eine andere Compagnie für dich dann nicht eine völlig anachronistische Geschichte? Mit neuen Menschen an einem anderen Ort kommt da doch wieder ein kreatives Element hinein, weil das Stück für die Tänzer neu ist. Dennoch muss ich mich jedes


Mal unheimlich disziplinieren, um nicht frustriert mit mir selber zu sein. Manchmal ist es ein Kampf, alte Stücke wiederzusehen, weil man sich sofort auf die Dinge fokussiert, die man verpasst hat oder die nicht stimmen. Da muss ich dann die Augen zukneifen und denken: Okay, das gehört jetzt den Tänzerinnen und Tänzern, die es neu machen. Ich hoffe, dass ich mit dem Alter gnädiger mit mir selbst werde. Die Sucht richtet sich immer auf das nächste Stück. Aber oft bin ich auch überrascht, wenn ein neuer Tänzer in einem älteren Stück Gefühle für sich entdeckt, die dann auch mir etwas bedeuten. In Almost Blue verwendest du Musik von Antony and the Johnsons und der amerikanischen Soul-Legende Etta James. Der erste Teil mit der geradezu süchtig machenden Stimme von Antony Hegarty hat einen sehr elegischen Charakter, der Gesang verbindet sich auf magische Weise mit deinem choreografischen Material. Mit Etta James bekommt das Ganze so einen Zug nach vorn, und man spürt eine Aufbruchsstimmung… Das ist dann ja wie ein Stück im Stück. Da wollte ich nochmal Luft holen, auf die Pauke hauen und den ganzen Dreck von oben runter schütten auf alle. Da ist schon ein bisschen Trotz und Wut und Kraft drin. Am Anfang fallen sogar ein paar Schüsse, und der Körper eines Solisten ist am Schluss blutrot verschmiert… Du siehst, dass ich da ziemlich «aggro» drauf war… Ein besonderer Moment ereignet sich am Beginn des letzten Drittels, wenn ein Tänzer allein auf der Bühne verbleibt und dann die Bühne, nach hinten gehend, verlässt. Da empfinde ich diesen Moment des Abschieds sehr präsent, auch in dieser unnachahmlichen Verschiebung des Oberkörpers. Rücken­ ansichten der Tänzerinnen und Tänzer, aber auch die Choreografie des Rückens waren in deinen frühen Arbeiten ein wichtiges Thema. Woher kommt das? Ich bin immer wieder überrascht, wie sensibel der Rücken ist und was da alles an physiologischen Prozessen nötig ist, um überhaupt zu gehen oder zu fühlen. Schon sehr früh habe ich Rücken-Zeichnungen von Picasso gesehen, die ich unheimlich erotisch fand. Meine Mutter hat zu Hause immer noch einen Rückenkratzer. Das ist schon eine wahnsinnig sensible Gegend, und ich staune auch immer wieder, wie viele gesundheitliche Leiden primär mit dem Rücken zusammenhängen. In meinen ersten Stücken hatten die Rückenansichten aber noch einen anderen Grund. Da habe ich die Tänzer umgedreht, weil ich noch so schüchtern war. Ich wollte einfach nicht, dass sie mich beim Tanzen ansehen. Aber das ist anders geworden in den jüngeren Stücken… Da erlebt man Tänzer­ persönlichkeiten, die sehr auf einen zukommen und mit dem Blick sogar gelegentlich provozieren. In Almost Blue finden sich aber noch andere charakteristische Goecke-Elemente wie die Flatterarme oder das fahrige Abtasten und Klopfen auf Torso und Gliedmassen. Die Oberkörper sind aber oft nicht mehr nackt, sondern mit T-Shirts und langen Handschuhen bedeckt… Auch das war sicher ein Wutreflex, dass ich die freien Oberkörper und Arme, die so etwas wie mein Markenzeichen waren, dem Blick entzogen habe… Nach 24 Minuten prasselt plötzlich Erde auf die Bühne! Eigentlich hatte ich Lust, den Dreck aus sämtlichen Ritzen des Stuttgarter Theaters herauszukratzen, was natürlich nicht möglich war. So ist es nun eine Mischung aus Sand und Erde. Ich wollte einfach, dass der ganze Dreck von oben nach unten fällt, auf alle drauf… Mark Geilings, Jan Casier


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Dieser Dreck ist dann aber auch der Boden, auf dem wieder Tanz stattfindet. Der Tanz hinterlässt Abdrücke, wirbelt Staub auf, verwischt die Spuren… ein schönes Bild für Abschied und die Endlichkeit von Tanz. Es bleiben hoffentlich ein paar Spuren. Aber ich wollte auch Dreck hinterlassen, den man danach noch wegräumen muss. Er war das Ventil für meine Traurigkeit. Wie schaust du jetzt mit dem Abstand von drei Jahren auf die Stuttgarter Zeit? Wie schon gesagt, bin inzwischen wieder öfter in Stuttgart, auch durch meine Verbindung zu Gauthier Dance. Rückblickend weiss ich natürlich, wie wichtig Abschiede im Leben sind, aber es hat mir trotzdem zugesetzt, diese Stadt zu verlassen. Ich bin mit 29 nach Stuttgart gekommen, um dann mit 46 wegzugehen. Das war eine wichtige Zeit und der Grundstein für alles, was ich heute bin. Dass ich meine Wohnungstür in Stuttgart nach so vielen Jahren wirklich zugemacht habe und von dort weggegangen bin, ist bis heute noch nicht richtig bei mir angekommen. Vielleicht hat dir aber auch eine innere Stimme gesagt: Mach was Neues! Seit 2018 bist du Chef des Balletts am Staatstheater Hannover. Wie geht es dir in dieser neuen Rolle? Sicher ist das erst einmal eine sehr privilegierte Position. Als problematisch empfinde ich, dass sich das Verhältnis zu den Tänzerinnen und Tänzern verändert. Wenn ich irgendwo gastiere, ist das wie eine Affäre. Am Tag nach der Premiere setze ich mich in den Zug, und das Verliebtsein ist vorbei. Mit einer eigenen Compagnie ist es mit diesem Verliebtsein etwas anderes, weil man für eine viel längere Zeit zu­ sammengeschweisst ist. In den Gesprächen bemerke ich, wie viel meine Arbeit und ich als Person den Tänzerinnen und Tänzern bedeuten. Das hat mich am Anfang ganz schön erschlagen, weil man sich natürlich sorgt, ob man das alles überhaupt jemals zurückgeben kann. Man trägt da eine grosse emotionale Verantwortung. Verschwindet der Choreograf jetzt manchmal hinter dem Ballettdirektor? Das Ballett Hannover hat 29 Mitglieder. Das ist nicht riesig, aber auch nicht so klein. Es ist genau die Grösse, wo man den Leuten noch nahe ist und die Tänzerinnen und Tänzer nicht in der Anonymität verschwinden. Ich bin in der glücklichen Situation, dass mir mein stellvertretender Direktor viele administrative Dinge abnimmt. Aber er sagt mir auch oft: Die Leute wollen dich haben! Sie wollen dich sehen, den «Direktor»! Das klingt immer so, als wäre ich Heinz Erhardt in den Sechziger Jahren mit Schreibtisch und Aktentasche… Wir sind ja gerade in einer Zeit, wo diese ganzen Begriffe zerfallen. Man will nicht mehr den grossen Urtypen des Intendanten, der alles bestimmt. Und Direktor ist auch so ein altes Wort… Hast du ein besseres? «Ballettchef» gefällt mir besser… aber so sehe ich mich eigentlich auch nicht. Gestern Abend bin ich ins Bett gegangen mit dem Gedanken: Bloss nicht erwachsen werden! Bloss nicht mit so einer Position aufhören zu spielen. Aber es ist heute auch so, dass man kaum noch verrückt spielen kann, weil man Gefahr läuft, jemand könne daran Anstoss nehmen. Nur jemanden in den Arm zu nehmen, kann schon falsch verstanden werden… Wenn ich heute in einen Ballettsaal komme, bemerke ich manchmal so eine Barriere aus Respekt und Bewunderung. Das hat sicher mit dem Erfolg und dem Älterwerden zu tun. Dann denke ich: Mensch, ich bin doch nur Marco, der für euch ein Stück machen will. Aber das geht nicht mehr so wie früher. Zum Glück gibt es manchmal noch so etwas wie den Liebhaber, wo ich mich dann doch freue, dass das gelungen ist. Der Liebhaber, dein Ballett nach dem Buch von Marguerite Duras, war während der Pandemie als Stream aus Hannover zu sehen – mit unglaublicher Reso­nanz. Überhaupt hat Corona deiner Kreativität keinen Abbruch getan…


Obwohl ich in Bezug auf Krankheiten eher ängstlich bin, habe ich manchmal total vergessen, was da gerade los war. Nach drei Monaten zu Hause habe ich gedacht: Existiere ich eigentlich, wenn ich nicht arbeite? In diesen Konflikt gerate ich jeden Sommer, aber im Lockdown ist mir noch einmal sehr bewusst geworden, was Arbeit für ein Geschenk ist. Als dann der Anruf von Eric Gauthier kam, ob ich nicht einen Abend bei ihm in Stuttgart machen wolle, habe ich ganz schnell meine Taschen gepackt! In dieser armen Zeit ein Stück kreieren zu dürfen, war ein grosses Geschenk! Für eine Weile konnte ich die Pandemie vergessen. Dennoch: Es bleibt die Erkenntnis, dass das, was wir machen, gesellschaftlich und politisch gesehen, überhaupt keine Rolle spielt. In den grossen Diskussionen ging es in erster Linie um Fussball, vielleicht noch um ein paar Konzerte. Aber zum Tanz hat niemand was gesagt. Bitter! Das Streaming von Ballett- und Opernproduktionen hat durch die Pandemie eine neue, ganz ungeahnte Bedeutung erlangt. Das Ballett Hannover war da sehr aktiv. Haben diese gestreamten Produktionen eine Zukunft, oder waren sie mehr ein Gebot der Stunde? Ich hätte dieses Echo früher nicht für möglich gehalten. Nach der Premiere von The Big Crying am Nederlands Dans Theater habe ich bis spät in die Nacht Nachrichten aus aller Welt bekommen. Da schrieben Leute aus Wellington und waren begeistert! Viele meinten, sie seien emotional total in die Aufführung hingezogen worden und hätten völlig vergessen, nicht live dabei gewesen zu sein. Offenbar vermag Tanz also auch in diesem Format zu berühren. Du hast von der «Sucht» nach dem nächsten Stück gesprochen. Was wird das sein? Gerade freue ich mich auf ein neues Stück für das Ballett der Wiener Staatsoper, aber im Grunde ist der Ort gar nicht so wichtig. Wie mein Hund Gustav Witterung aufzunehmen, die Chance zu spüren, etwas Neues und Schönes zu machen, das gibt mir viel Energie. Doch irgendwie wünsche ich mir auch, dass alles noch ein bisschen so bleibt, wie es ist. Dass ich gesund bin, die Mutter noch lebt, der Hund noch eine Weile da ist… Das sind Gedanken, die ich mit Zwanzig, Dreissig, auch mit Vierzig noch nicht hatte. Und dann erinnere ich mich an «Junge Choreografen» in Stuttgart. Wie damals auf der Treppe zu sitzen und zu warten, dass ein Studio frei wird, um mit ein paar Tänzern zu arbeiten. Mit den Leuten zu quatschen, eine zu rauchen. Das suche ich immer noch. Es war die aufregendste Zeit… Das Gespräch führte Michael Küster

William Moore


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Angels’ Atlas Choreografien von Crystal Pite und Marco Goecke Emergence Choreografie Crystal Pite Musik Owen Belton Bühnenbild Jay Gower Taylor Kostüme Linda Chow Lichtgestaltung Alan Brodie Almost Blue Choreografie Marco Goecke Musik Antony and the Johnsons, Etta James Bühnenbild und Kostüme Thomas Mika Lichtgestaltung Udo Haberland Angels’ Atlas Choreografie Crystal Pite Musik Owen Belton, P. I. Tschaikowski, Morten Lauridsen Reflective Light Backdrop Design Jay Gower Taylor, Tom Visser Kostüme Nancy Bryant Lichtgestaltung Tom Visser (Koproduktion mit dem National Ballet of Canada) Premiere 1 Okt 2021 Weitere Vorstellungen 8, 15, 16, 21, 23, 31 Okt; 5 Nov 2021; 27 März; 2, 6, 8 Apr 2022 Partner Ballett Zürich

ab

Mark Geilings, Giulia Tonelli


24 Volker Hagedorn trifft …

Bartłomiej Nizioł Bartłomiej Nizioł wurde in Stettin geboren. Er ist 1. Konzertmeister der Philharmonia Zürich. 1997 bis 2003 war er Stellvertretender Erster Konzertmeister im Ton­ halle-­Orchester Zürich. Seit 2008 ist er Dozent an der Hoch­schule der Künste in Bern. Am 26. September ist Bartłomiej Nizioł im 1. Philharmonischen Konzert dieser Saison als Solist in Krzysztof Pendereckis «Concerto doppio» zu hören.

Im Oktober 1991 tauchte in Hannover, beim frisch gegründeten, höchstdotierten Geigerwettbewerb der Welt, Joseph Joachim gewidmet, ein siebzehnjähriger Pole auf, der Paganini so spielte, als habe er die Capricen mit dem Komponisten selbst erarbeitet. Nicht als Wettbewerbsmusik. Er liess die Effekte wegperlen, als schaue er einem Spielzeug zu, er zeigte Stimmungen und Charaktere. Und er war der erste Kandidat, der einer kleinen Romanze von Joseph Joachim etwas abgewinnen konnte. Die Hannoveraner schlossen diesen Bartłomiej Nizioł schnell ins Herz, nicht zuletzt seine Gastgeber bis zum Finale, denn das waren meine Eltern. «Wie geht es ihnen? Leben sie noch?», fragt er gleich. «Und ob!» Das freut ihn. Der 47-Jährige, der gerade aus einer Opernprobe kommt, hat immer noch viel Jungen­ haftes mit seinem Dreitagebart, ein bisschen Silbergrau im Haar, blaue Augen, rost­ rotes Hemd. Sein Deutsch ist natürlich fliessend inzwischen, trotzdem entschuldigt er sich lachend: «In der Schweiz lernt man nicht richtig Deutsch!» In einem Opernhaus ist das ohnehin nur eine Sprache von vielen. Seit 2004 ist Bartłomiej Nizioł – leichter gesagt, Bartek Nischou, mit weichem «sch» – Erster Konzertmeister in der Philharmonia Zürich. Er ist früh bei den Helvetiern gelandet, der Geige wie der Liebe folgend, Zufällen auch, die den Wunsch seines Vaters zu erfüllen schienen. «Er hat immer gesagt, ‹Bartek, du musst in der Schweiz leben, das ist das Beste.› Dabei war er nie dort!» Aber Gründe gab es in Polen um 1990 genug, vom westlichen Ausland zu träumen. Das Land hatte eines seiner dramatischsten Jahrzehnte hinter sich. Im Dezember 1981, als Bartek sieben Jahre alt war, wurde das Kriegsrecht verhängt, um die demokratische Bewegung zu stoppen; erst acht Jahre später war Polen eine autarke Republik, aber noch lange keine stabile. In Stettin geboren – er spricht die Orte deutsch aus, vielleicht damit ich nicht in die Verlegenheit komme, an der Aussprache zu scheitern –, war der Vierjährige fasziniert von der Geige, auf der seine ältere Schwester spielt. «Meine Eltern hatten Musik gern und kauften ein Klavier, darauf hat sie angefangen. Dann kam die Geige dazu, und ich wollte auch Geige spielen.» Mit fünf Jahren bekam Bartek Unterricht. «Ich habe immer gern gespielt, meine Eltern haben mich nie zum Üben gezwungen. Es war nicht wahnsinnig viel am Anfang, ich habe auch immer Fussball gespielt!» Vieles flog ihm zu. Aber gute Geigensaiten waren knapp: Die brachte ein befreundeter Lastwagenfahrer aus dem Westen mit. Barteks Begabung war so offenkundig, dass der Dreizehnjährige nach Poznań geschickt wurde, in ein Musikinternat. Und während dort das Essen rationiert wurde – «wir waren hungrig, für alles brauchte man Lebensmittelmarken» – ermöglichten die Behörden ihm Reisen nach Folkestone zum Menuhin-Wettbewerb. 1987 wie 1989 kam er als Preisträger zurück. Es folgten London, Adelaide, Hannover … Wettbewerbe, sagt Bartek, waren für ihn eine Chance, anderswo Kontakte zu knüpfen, andere Lehrer kennenzulernen, überhaupt sich «im Ausland zu präsentieren. Meine Eltern konnten so etwas nicht bezahlen.» Der erste Karriereschub begann dennoch in Polen, in Poznań, wo er nach dem dritten Preis in Hannover den ersten bei einem der renommiertesten Geigergipfel errang, dem Wieniawski-Wettbewerb, gefolgt von zahlreichen Konzerten. Nachdem er 1993 auch noch beim Long/Thibaud-Wettbewerb in Paris abgeräumt hatte, «da dachte ich, ich glaube, das reicht.» Er folgte dem Solisten und Geigendozenten Pierre Amoyal an die Hochschule von Lausanne – und war mit neunzehn bereits Vater. Mutter seines ersten Sohnes war die Pianistin, die er mit fünfzehn Jahren im Internat kennengelernt hatte, nun seine Frau. «Darum entschied ich mich, eine feste Stelle zu suchen.»


25

Sieben Jahre lang spielte er als Zweiter Konzertmeister im Zürcher Tonhalle-Orchester, wo man ihm eine Stradivari zur Verfügung stellte. Als Bartek dann im Orchester der Oper Zürich Erster Konzertmeister wurde, fragte er den damaligen Intendanten Alexander Pereira nach einem vergleichbaren Instrument. Der liess seine Kontakte zur Welt derer spielen, die gern viel Geld in Kostbarkeiten investieren. Ein Small Talk beim Pferderennen soll eine Rolle gespielt haben… «Nach ein paar Monaten rief er mich an: ‹Kommen Sie in mein Büro›. Er hat eine Geige aus dem Schrank geholt und nicht gesagt, welche es ist.» Es war die Guarneri del Gesù von 1727, mit der Bartek Niziol noch immer glücklich ist. «Dieses Instrument hat so viel Geschichte erlebt, so viele haben darauf gespielt, man spürt das. Es ist auch eine geistige Beziehung. Und diese Feinheit des Klanges – man hat das Geheimnis noch nicht entdeckt. Man kann das nicht kopieren. Aber die Geige klingt nicht von selbst so. Die Beziehung zwischen Spieler und Instrument ergibt den Klang, die Symbiose ist wichtig.» Als Symbiose sieht er auch die Beziehung zwischen Orchester, Solisten und Diri­ genten. «Als Solist versuche ich immer, ganz eng mit dem Orchester zu musizieren. Und als Konzertmeister versuche ich, die Energie vom Dirigenten auf das Orchester zu übertragen. Es ist enorm wichtig, nicht einfach nur die eigene Partie zu spielen, man ist Teil des Organismus. Auch die besten Dirigenten sind das. Mit Diktatur funktioniert nichts.» Für den autoritären Stil, meint er, sei inzwischen auch das Niveau der Orchestermusiker zu hoch. Er sieht sich als Konzertmeister, der auch Solokonzerte spielt, um «in Form zu bleiben». Als Solist hat er mit Krzysztof Penderecki zusammengearbeitet, zwei Jahre vor dessen Tod. Der 84 -jährige Komponist leitete selbst die Einspielung seines Concerto doppio für Violine, Viola und Orchester, die in Warschau entstand. «Er hat nur ein paar tutti dirigiert, er war schon ein bisschen krank», sagt Bartek. «Er konnte streng sein und hat zum Orchester auch mal sarkastische Bemerkungen gemacht, wenn ihm zu wenig Klang da war. Aber er war sehr zufrieden mit uns Solisten. Er hatte es gern, wenn man ohne Show, ehrlich und natürlich spielt.» Sprach er auch über seine eigene Arbeit? «Ja, er hat gern betont, dass er auch Geiger war und eine klare Vorstellung habe, wie die Geige klingen muss.» In Zürich wird das einsätzige Werk in der Version für Violine und Violoncello zu hören sein, Bartek selbst schlug es vor. «Es liegt nicht einfach, ist aber angenehm zu spielen. Die Stimmung ist das wichtigste. Auch wenn es sehr atonal klingen kann, mit vielen Dissonanzen, ist es nicht aggressiv, sondern melodisch. Der Rhythmus kommt erst an zweiter, dritter Stelle. Es gibt mehrere Kadenzen, die man sehr frei gestalten kann, und jeder Spieler hat Momente für sich allein. Das Orchester spielt nicht sehr viel, ist dann aber ebenso wichtig wie die Soli. Ich spiele es genauso gern wie das Doppelkonzert von Brahms!» Auch die weniger bekannten polnischen Komponisten liegen ihm am Herzen. Er nimmt sämtliche (guten) Violinsonaten auf, die in seinem Land geschrieben wurden, und er hat Entdeckungen gemacht. Etwa Sigismond Stojowski, dessen Violinkon­ zert er für die BBC aufnahm, Julius Zarębski, dessen Quintett er mit Martha Argerich spielte – «unvergesslich!» –, oder das Violinkonzert, dessen Partitur die Komponistin Grażyna Bacewicz versteckte – zu Unrecht, wie der Mitschnitt der späten Uraufführung in der Warschauer Philharmonie beweist. Wegen solcher Projekte gibt es für den Geiger immer etwas vorzubereiten, und der Lockdown, gesteht er, war für ihn keine schlechte Zeit, «auch wenn ich das Zusammenspielen und das Spielen vor Publikum vermisst habe.» Er hat mit dem Joggen begonnen. Und sich zugleich, mit Blick auf die sonst so randvollen Terminpläne gefragt: «Muss man immer so rennen?» Die Entschleunigung kam aber auch aus einem besonderem Grund passend. «Wir sind Grosseltern geworden! Unsere Enkelin wurde vor vierzehn Monaten geboren, Ophelia.» Bartek dürfte einer der jüngsten Grossväter weit und breit sein. Was er ja auch dem Talent verdankt, das ihn einst ins Internat von Poznań führte… Volker Hagedorn


26 Fragebogen

Annette Weber Aus welcher Welt kommen Sie gerade? Aus Deutschlands Norden. Drei Jahre durfte ich in der schönen Stadt Hamburg arbeiten. Nahe der rauen Nordsee und unweit der schönen Ostsee, aber fern der Berge, die ich so sehr liebe. Beruflich aus einer Welt, die in den letzten anderthalb Jahren sehr durch Corona geprägt war und sehr arm an musikalischen Live-Erlebnissen. Glücklicherweise ändert sich das ja gerade wieder. Worauf freuen Sie sich in Ihrer ersten Spielzeit? Auf das neue Team hier am Haus, das mich sehr herzlich aufgenommen hat. Auf die Salome-Vorstellungen in der Inszenierung von Andreas Homoki mit dem Orchester, das wieder im Or­­ches­ ter­­graben spielen darf, und auf den Start der Ring-Tetralogie unter der mu­si­ka­ lischen Leitung von Gianandrea Noseda. Wagner und Strauss sind mitunter meine Lieblingskomponisten. Was haben Sie sich inhaltlich für Ihre Arbeit vorgenommen? Musikalische Topqualität, kombiniert mit guten Darstellern. Jeder Abend soll auf ganz hohem Niveau ein Fest für alle Sinne sein. Welches Erlebnis hat Sie beruflich nachhaltig geprägt? Mein erster Bayreuth-Besuch. Das war 1997, und ich sah Siegfried. Der Orchesterklang war für mich ein Schlüsselmoment. So hatte ich Musik noch nie wahrgenommen und wusste, dass ich das zu meinem Lebensinhalt machen möchte. Welches Buch würden Sie niemals aus der Hand geben? Mein Notizbuch. Darin sammle ich all meine Ideen, Bemerkungen, und natürlich enthält es meine nicht enden wollende TO DO-Liste.

Welche CD hören Sie immer wieder? Die 32 Beethoven-Sonaten, eingespielt von Igor Levit. Für jeden Gemüts­ zustand finde ich die richtige Sonate. Oft Seelentröster, oft Energiespender, oft Gute-Laune-Booster. Welchen überflüssigen Gegenstand in Ihrer Wohnung lieben Sie am meisten? Meinen Zentrifugal-Entsafter. Der frische Saft gibt mir Energie und Kraft für die langen Tage in der Oper. Mit welchem Künstler oder welcher Künstlerin würden Sie gerne essen gehen, und worüber würden Sie reden? Woody Allen. Ich liebe seine Filme und seinen Humor. Ich glaube wir hätten viel zu lachen, und ich lache so gerne. Nennen Sie drei Gründe, warum die Arbeit einer Operndirektorin be­ glückend ist? 1) Wenn am Abend alles, nach langjähriger Planung und Vorbereitung, auf dem Punkt ist, und der Funke zwischen Bühne und Zuschauer springt. 2) Zu sehen, wenn junge Talente aus dem Opernstudio ihren Weg gehen und eine erfolgreiche Karriere starten. 3) Probenbesuche, bei denen ich wirklich ganz nah an den Sängerinnen ­ und Sängern bin und schon dort Gänse­ haut und Vorfreude auf die bevor­ stehenden Vorstellungen bekomme.

Annette Weber ist seit dieser Spielzeit Opern­ direktorin am Opernhaus Zürich. Sie studierte in Mainz Theater- und Musikwissenschaft, war Regieassistentin und Spielleiterin u.a. an der Staatsoper Unter den Linden Berlin und arbeitete regelmässig mit Stefan Herheim zu­ sammen. Von 2013 bis 2018 war sie Re­feren­tin der Künstlerischen Be­triebsdirektion der Semperoper Dresden, wo sie für künst­lerische Angelegenheiten und Besetzungen verant­ wortlich war. Im Anschluss daran wechselte sie an die Staatsoper Hamburg.


Als Mitglied der Freunde der Oper Zürich sind Sie mehr als ein Opern­be­ sucher. Die Freunde der Oper Zürich sind ein wichtiger Partner des Opern­ hauses. Sie finanzieren jedes Jahr eine Neu­­pro­duktion und unterstützen das Inter­nationale Opern­studio – ein Aus­ bildungsprogramm für talentierte jun­ ge Sänge­rinnen und Sänger aus aller Welt. Sie blicken hinter die Kulissen, er­­ halten Einsicht in Probenprozesse, beob­ach­ten Kunst­­schaf­fende bei der Arbeit und er­ leben die Entstehung ei­ner Oper. Sie un­­ter­stützen, fördern, nehmen teil: Sie gehören dazu. Falkenstrasse 1, 8008 Zürich T 044 268 66 39 info@opernfreunde.ch www.opernfreunde.ch

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Die geniale Stelle 29

Gebrochene Schwingen Ein Arienanfang in Giacomo Puccinis «Tosca»

Hören und im Klavierauszug mitlesen können Sie die «Geniale Stelle» hier:

Nur wenige Minuten noch, dann wird Mario Cavaradossi in die Gewehrläufe des Hinrichtungskommandos sehen. Er wird sterben, weil er einem politisch Verfolgten zur Flucht verholfen hat. Aber das Bewusstsein, das Richtige getan zu haben, tröstet ihn nicht. Ihm bleiben nur Todesgrauen und unstillbarer Abschiedsschmerz. Für den Weg seines Helden zum Ort des Sterbens hat Puccini eine jener für ihn typischen Melodien erfunden, die schon beim ersten Hören so vertraut klingen, als habe man sie schon immer gekannt. Die tieftraurige, mehrfach ansteigende und immer wieder kraftlos zurücksinkende Linie in der tiefen Lage der Streicher zeichnet vielleicht die Bewegungen des Einsamen, der zum Himmel aufschaut und angesichts der end­ losen Leere den Blick sinken lässt. Vielleicht kommt man dem Gestus dieser Melodie noch näher, wenn man an die vergeblichen Flugversuche eines Vogels mit gebrochenen Schwingen denkt. Strukturell handelt es sich bei dieser Passage um das Vorspiel zu der Arie, die jeder Hörer, der mit den Konventionen der Oper einigermassen vertraut ist, an dieser Stelle erwartet. Aber der Komponist enttäuscht diese Erwartung gleich zweimal. Denn zwischen das Vorspiel und den eigentlichen Beginn der Arie schiebt sich ein rezitati­ visch trockener Dialog, gefolgt von der Verarbeitung eines Motivs, aus dem ersten Akt der Oper: Cavaradossi will einen Abschiedsbrief schreiben, vermag es aber nicht, weil ihn die Erinnerung an seine erste Liebesnacht mit Tosca überkommt. Nun ist alles für den Gesangseinsatz, den eigentlichen Arienbeginn, vorbereitet. Und Puccini scheint hier nun wirklich der Opernkonvention zu folgen, tut dies aber erneut auf unerwartete Weise: Nicht der Sänger intoniert die melodische Linie des Vorspiels, sondern, nun in hoher Lage und «dolcissimo», die Klarinette. Die Singstimme tritt erst vier lange Takte später hinzu, und nimmt die melodische Linie nicht auf. Vielmehr stammelt sie den Text emotionslos auf einem Ton, als würde jede Bewegung von der Last der Todesgewissheit erstickt. Zwischen der Orchestermusik und der Gesangsstimme entsteht ein wahrhaft herzzerreissender Kontrast, eine Wirkung die wohl keine noch so weit ausschwingende Bewegung der Singstimme erreichen könnte. Die Klarinette übernimmt «äusserst zärtlich» den Gesang, zu dem die menschliche Stimme nicht fähig ist. Sie lässt hörbar werden, was in Cavaradossi lebt und nicht nach aussen dringen kann. Puccini ist ein durchaus umstrittener Komponist. Wann immer von ihm die Rede ist, ist der Vorwurf schnell zur Hand, ihm sei auch das banalste Mittel recht gewesen, um die Tränendrüsen des Publikums recht ausgiebig zu massieren. Der rationale Kern dieser Unterstellung ist: Puccini kennt wie kaum ein anderer Komponist einen Tonfall für die Darstellung seelischer Zustände an der Grenze unserer Erfahrung und vermag, Situationen extremer Emotionalität so zu komponieren, dass der Zuhörer sie un­ mittelbar miterlebt und sich ihrer Kraft nicht entziehen kann. Indem er es geradezu demonstrativ vermeidet, die Emotionen des Todgeweihten auszumalen, eröffnet er einen Raum, in dem die Hörer das Unbegreifliche imaginieren können. Das wiederum bahnt den Weg zum Miterleben des existenziellen Aufschreis der gequälten Seele, der sich im Schlussteil der Arie dann doch Bahn bricht. Die Kraft des Mitleids, die Puccini hier entfesselt, macht es möglich, einen Blick in die schmerzlichsten Bereiche der menschlichen Existenz zu werfen. Werner Hintze


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Die Talentschmied Vor zwanzig Jahren hat Heinz Spoerli das Junior Ballett am Opernhaus Zürich gegründet. Heute ist es aus dem Betrieb nicht mehr wegzudenken. Wir fragen nach der Identität der jungen Truppe und werfen einen kleinen Blick zurück auf Produktionen und Choreografen aus zwei Dekaden.

Tänzerinnen des Junior Balletts in «Disrupted» von Benoît Favre


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Choreografen beim Junior Ballett von 2001 bis 2021

rechts: Madoka Kariya in «Iris» von Douglas Lee unten: Junior Ballett in «Bellulus» von Stephan Thoss

2001-2012 Choreografien von Heinz Spoerli, Filipe Portugal, Otto Bubeníček, Hans van Manen und Nandita Shankardass


2012/13

2014/15

2016/17

BELLULUS Choreografien von Douglas Lee, Christian Spuck und Stephan Thoss 21 Nov 1212

NEW CREATIONS Choreografien von Eva Dewaele, Filipe Portugal, Christian Spuck, Ben Van Cauwenbergh und Itzik Galili 17 Dez 2014

UN BALLO Choreografien von Jiří Kylián, Benoît Favre, Filipe Portugal und Cayetano Soto 28 März 2017

links: Mackenzie Farquhar in «Passing by» von Eva Dewaele oben: Surimu Fukushi in «Les Bourgeois» von Ben Van Cauwenbergh


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2018/19

2020/21

KREATIONEN Choreografien von Goyo Montero, Louis Stiens und Filipe Portugal 20 Okt 2018

IMPULSE Choreografien von Craig Davidson, Bryan Arias und Juliano Nunes 27 Feb 2021

links: Emma Antrobus in «Submerge» von Goyo Montero unten: Junior Ballett in «Wounded» von Louis Stiens


Auf Augenhöhe mit der Kunst Für das Junior Ballett bewerben sich junge Tänzerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt. In Zürich werden sie nicht im Corps de Ballet versteckt, sondern als Künstlerpersönlichkeiten ernst genommen und gefördert. Ein Gespräch mit Christian Spuck über den richtigen Umgang mit der Jugend, die die Zukunft des Tanzes verkörpert

Christian, im Oktober 2021 feiern wir das zwanzigjährige Jubiläum des Junior Balletts. Am 13. November 2001 ist es im westfälischen Neuss zum ersten Mal aufgetreten, damals wurden noch die «Junior Members des Zürcher Balletts» angekündigt. Was bedeutete es, eine Junior Company in Zürich zu gründen? Für Zürich war das eine wichtige Neuerung und ein grosser Fortschritt. Bereits 1978 hatte man beim Nederlands Dans Theater in Den Haag mit dem NDT2 eine Formation für junge Tänzerinnen und Tänzer ins Leben gerufen, die schon bald eine grosse internationale Strahlkraft entfaltet hat. Heinz Spoerli ist diesem Beispiel gefolgt, und mittlerweile haben die meisten grossen Ballettcompagnien entweder ein eigenes Juniorensemble oder schliessen sich direkt mit den renommier­ten Ballettschulen zusammen, um ihren Absolventen den Einstieg in den professionellen Ballettalltag zu erleichtern. Wie hat sich das Profil des Junior Balletts seit damals verändert? Das Ziel war und ist es, Absolventen der Ballettschulen einen fliessenden Übergang von der Ausbildung in den tänzerischen Betrieb zu ermöglichen. Aber ohne Frage sind die jungen Tänzerinnen und Tänzer auch eine personelle Bereicherung für grosse Tanzproduktionen. Gestartet ist man 2001 mit sieben Tänzerinnen und Tänzern, heute verfügen wir über vierzehn Positionen, die leicht variabel sind. Zur Zeit hat das Junior Ballett fünfzehn Mitglieder aus zehn Ländern. Was macht das Junior Ballett Zürich für diese jungen Frauen und Männer aus der ganzen Welt so attraktiv? Die Nachfrage nach Plätzen im Junior Ballett ist sehr gross und keineswegs auf Europa beschränkt. Immer wieder erhalten wir Bewerbungen aus den USA, Australien und Südamerika. Viele Direktoren internationaler Ballettschulen schreiben mich inzwischen direkt an, um mir besonders talentierte Absolventinnen und Absol­venten zu empfehlen. Unser Interesse ist es natürlich, das Junior Ballett genau wie das Ballett Zürich technisch und künstlerisch auf höchstem Niveau zu halten. Die Mitglieder des Junior Balletts tanzen und trainieren gemeinsam mit der Hauptcompagnie und treten mit ihr in vielen Vorstellungen auf. Der kreative Aspekt ist, glaube ich, sehr wichtig. Dass das Junior Ballett in seinen eigenen Ballettabenden, die alle zwei Jahre entstehen, mit renommierten Choreografen zusammenarbeitet,


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macht es genau wie der vielfältige Zürcher Ballett-Spielplan für junge Tänzerinnen und Tänzer sehr attraktiv. Der Umstand, dass das Ballett Zürich eine relativ kleine Compagnie ist, versetzt uns in die Lage, die Junioren auch an den grossen Pro­duktionen des Balletts Zürich zu beteiligen. Sie agieren also nicht irgendwo im Verborgenen, sondern stehen genauso im Fokus wie die Mitglieder des Balletts Zürich. Mittlerweile greifen viele Choreografen, die mit uns arbeiten, bei der Besetzung ihrer Stücke sehr oft auf Tänzerinnen und Tänzer aus dem Junior Ballett zurück. Das ist eine schöne Anerkennung ihrer künstlerischen Qualität. Das Junior Ballett ist eine Talentschmiede. Wie läuft der Aufnahmeprozess ab? Am Beginn meiner Direktionszeit haben wir mehrtägige Auditions durchgeführt, bei denen wir jedes Mal buchstäblich überrannt wurden. Inzwischen sind wir zu digitalen Bewerbungen übergegangen. Nach der Sichtung laden wir die viel­versprechendsten Tänzerinnen und Tänzer nach Zürich ein, die dann nach Möglichkeit ein bis zwei Tage gemeinsam mit unserer Compagnie trainieren. In dieser Zeit gewinnt man dann meist ein recht verlässliches Bild von der Eignung der Bewerberinnen und Bewerber. Wie sieht der Arbeitsalltag des Junior Balletts aus? Der Alltag der jungen Tänzerinnen und Tänzer ist sehr an der Praxis orientiert. Neben ihren eigenen Produktionen sind sie Teil fast aller Choreografien unseres Spielplans. Das ermöglicht es, die grossen Stücke in wechselnden Besetzungen zu präsentieren. Dennoch haben unsere Ballettmeister ein besonderes Augenmerk auf die Junioren. Ein- bis zweimal pro Woche trainiert das Junior Ballett für sich. Bei vierzehn bis fünfzehn Tänzern können die Ballettmeister gezielter auf indi­ viduelle Probleme eingehen, können besser und schneller korrigieren. Ansonsten ist das Junior Ballett aber komplett in den normalen Arbeitsalltag des Balletts Zürich integriert. Wie wirkt sich das auf das Arbeitsklima in den beiden Compagnien aus? Wie geht man miteinander um? Ich merke im täglichen Umgang eigentlich nicht, dass es sich um zwei Compagnien handelt. Man begegnet sich auf Augenhöhe und mit sehr viel Respekt. Es rührt mich, wie die gestandenen Tänzer die Junioren unter ihre Fittiche nehmen, sie fördern und unterstützen. Bei den Junioren entsteht ein sehr hohes Verantwortungsbewusstsein für das grosse Ganze. Sie merken, dass sie gefordert sind und auf höchstem professionellem Niveau arbeiten müssen. Man spürt jederzeit ihre grosse Motivation. Natürlich muss man ihnen genügend Zeit geben, die gestellten An­forderungen zu erfüllen. Am Anfang gehören sie vielleicht erst einmal zur B-­Besetzung oder agieren als Cover. Seitdem du 2012 die Leitung des Balletts Zürich übernommen hast, sind fünf mehrteilige Junior-Abende entstanden, die zum grossen Teil im Theater Winterthur kreiert und dann auch auf der Bühne des Opernhauses Zürich und bei verschiedenen Gastspielen gezeigt wurden. Was waren deine program­ma­ tischen Leitlinien für diese Abende? Mir ist besonders wichtig, dass die jungen Tänzerinnen und Tänzer mit vielen Choreo­grafen arbeiten und unterschiedlichste künstlerische Handschriften kennenlernen. Auf diese Weise durchlaufen sie bereits eine kreative Schule, bevor sie wirklich in den Alltag einer Berufscompagnie einsteigen. Diese jungen Künstlerinnen und Künstler verdienen es einfach, auch am Anfang ihrer Karriere ernst genommen und nicht als versteckte Corps de ballet-Mitglieder behandelt zu werden. Jeder neue Junior-Abend enthält mindestens eine Uraufführung, in deren Vor­bereitung sich die Tänzerinnen und Tänzer der kreativen Arbeit mit einem Choreo­grafen


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stellen müssen. Dazu kommen Einstudierungen von geeigneten Stücken namhafter Choreografen. Inwieweit sind diese Programme eigens auf junge Tänzerinnen und Tänzer zugeschnitten? Macht man da Zugeständnisse, was den tänzerischen Anspruch oder auch die Thematik der Stücke angeht? Überhaupt nicht, das fände ich auch absolut falsch. Man muss die Tänzer immer aufs Neue herausfordern. Das Ziel besteht darin, einen Abend zu kreieren, der für das Publikum genauso spannend ist wie für die Tänzer, die ihn tanzen. Die Choreografen haben übrigens längst erkannt, wie viel künstlerisches Potenzial im Junior Ballett schlummert. Einige fragen direkt nach der Möglichkeit, mit den Junioren zusammenzuarbeiten, weil der Lernprozess natürlich auch in der umgekehrten Richtung verläuft und die jungen Leute uns mit ihren besonderen Fähig­keiten immer wieder überraschen. Die Mitgliedschaft im Junior Ballett ist zeitlich befristet. Wie geht es danach für die jungen Leute weiter? Nicht alle kannst du wahrscheinlich direkt ins Ballett Zürich übernehmen… Die Mitgliedschaft ist zunächst auf ein Jahr begrenzt, allerdings mit der Möglichkeit, sie um eine weitere Saison zu verlängern. Das hat sich in den meisten Fällen bewährt, weil man erst im zweiten Jahr wirklich ermessen kann, wie die künstlerische Entwicklung eines Tänzers oder einer Tänzerin vorangeschritten ist. Bei Vakanzen in der Hauptcompagnie besetze ich diese Positionen gern mit Absolventen aus dem Junior Ballett. Der Vorteil ist, dass ich die Künstler kenne und sie mit unserem Repertoire vertraut sind. Das vereinfacht vieles. Aber es stimmt schon, nicht alle kann man übernehmen. In diesen Fällen versuchen wir dann aber, beim Finden von Nachfolge-Engagements so gut es geht, behilflich zu sein. Das ist uns bis jetzt auch in den allermeisten Fällen gelungen. Die Mitgliedschaft im Junior Ballett ist für den weiteren Verlauf einer Tänzerkarriere eine sehr gute Referenz. Wie werden wir das Jubiläum des Junior Balletts feiern? Ich freue mich, dass wir den Abend Impulse im Oktober in zwei Vorstellungen noch einmal einem grösseren Publikum präsentieren können. Er war bis jetzt nur als Streaming aus dem Theater Winterthur und vor einem sehr reduzierten Publikum in Zürich zu erleben. Im Ballettgespräch am 17. Oktober werden wir uns ausserdem ganz dem Junior Ballett widmen. Wir lassen die Geschichte des Junior Balletts Revue passieren, und offenbar werden gerade auch ein paar Überraschungen vorbereitet… Der Ballettabend Impulse mit neuen Choreografien von Craig Davidson, Bryan Arias und Juliano Nunes ist unter schwierigsten Bedingungen während der Corona-Pandemie entstanden. Einer Zeit, in der die Tänzer ganz auf sich selbst zurückgeworfen waren. Was hat das mit dem Junior Ballett gemacht? Das Wunderbare ist, dass man dem Abend die Schwierigkeiten seiner Entstehung überhaupt nicht anmerkt. Das Junior Ballett war in dieser Zeit von der Haupt­ compagnie getrennt, es musste als eigenständiges Kollektiv zusammenarbeiten. Die Tänzerinnen und Tänzer sind in dieser Zeit als Gruppe unglaublich zusammen­ gewachsen. Alle Widerstände haben sie als eine Art Familie zusammenge­schweisst. Sie wohnen ja zum Teil auch zusammen und verbringen ihren Alltag miteinander. Es berührt mich immer wieder zu sehen, wie sie in kürzester Zeit aufeinander achtgeben, sich unterstützen und gegenseitig Zuspruch schenken. Das Gespräch führte Michael Küster


Vereint in Poesie Zu seinem zwanzigjährigen Jubiläum ist das Junior Ballett in zwei Vorstellungen von «Impulse» zu erleben. Der Abend hatte im Februar 2021 in Winterthur Online-­Premiere und vereint neue Choreografien von Craig Davidson, Bryan Arias und Juliano Nunes. Vorstellungen: 22, 31 Okt 2021


Fotos: Admill Kuyler

Alle Infos zur Produktion


Scarpia aus Giacomo Puccinis Oper «Tosca» von Wolfgang Schmidbauer

Das Motiv der erzwungenen Liebe kommt in vielen Opern vor, etwa in Mozarts Entführung aus dem Serail, wo Bassa Selim grossmütig darauf verzichtet, die Liebe zu Konstanze zu erzwingen. Oder in der Zauberflöte bei Sarastro, der Pamina gefangen hält und in einer schönen Arie verrät, wie es um ihn steht: «Zur Liebe will ich dich nicht zwingen, doch geb’ ich dir die Freiheit nicht.» Wenn wir uns da­ ran erinnern, dass es im Unbewussten kein Nein gibt, sagt Sarastro: Wenn ich nur könnte – ich würde dich zwingen. Aber ich bin weise genug, zu erkennen, dass ich das, was ich eigentlich begehre, auf diesem Weg nicht finden werde. Und dann Tosca. Die Szene des Kon­ flikts ist modern: Ein diktatorisches Re­ gime erpresst durch Folter Verrat. So soll in kaltem Kalkül, das auf die Macht der Angst setzt, jeder Widerstand gebrochen werden. Dann begegnen wir dem Riss im System. Baron Scarpia ist mit der Macht nicht zufrieden, die ihm seine Spitzel und seine Grausamkeit verschaffen – er will auch noch Liebe haben. Hybris, einst ein Fall für die Rache der Götter. Der mächtige Mann, der Furcht weckt und sich Liebe wünscht, ist eine tra­gische Figur, die nur durch den Ver­ zicht Grösse gewinnen kann. Wenn er die Macht behalten will, muss er bereit sein, auf die Liebe zu verzichten; das hat bereits Machiavelli unmissverständlich klar ge­

macht. Scarpia möchte mit den liebevol­ len Bindungen, die er mit heftigem Neid beobachtet, sein Machtspiel treiben – und doch etwas von ihnen abhaben. Er lässt Cavaradossi foltern, und während dieser schweigt, kann Tosca das Leid des Gelieb­ ten nicht ertragen und wird zur Verräterin. Das ist psychologisch gut beobachtet: Ei­ gener Schmerz lässt sich leichter verarbei­ ten als das Leid eines geliebten Menschen. Die menschliche Liebe ist aus zwei Elementen komponiert: der sexuellen Lust und der zärtlichen Bindung, die in der Nähe von Mutter und Kind wurzelt. Im Tierversuch hat sich gezeigt, dass Säuge­ tiere (in den Experimenten meist Ratten) für ihre Kinder Schmerzen in Kauf neh­ men, die sie weder für Nahrung noch für Sexualpartner riskieren. Menschen sind da nicht besser, aber auch nicht schlech­ter. Für unsere Bindungen opfern wir mehr als für alles andere. Toscas Angst, Cavara­ dossi zu verlieren, überkreuzt sich mit der Angst Scarpias, Tosca nicht zu gewinnen. Die stolze Frau, die ihn verach­tet, wird für ihn zum Symbol einer Drohung, die er um jeden Preis aus der Welt schaffen möchte. Wer rätselt, was mächtige Männer an­treibt, Liebe zu erzwingen, kann von Scarpia lernen. Es ist nicht so sehr Lust, die er begehrt, es ist vor allem die Angst, der Grenze seiner Macht zu begegnen. Wenn die männliche Machtfantasie derart aufgebläht ist, wie Diktaturen das verspre­ chen, genügt die geringste Ohnmachts­ er­fahrung, um das Selbstgefühl bis in seine Grundfesten zu erschüttern. Ja, Liebe ist riskant und kann ent­ täuscht werden. Aber wer auf sie vertraut, gewinnt ein Stück lebendiger Intensität, nach dem sich der Machtmensch vergeb­ lich sehnt. Wo in Trennungskonflikten mo­derner Paare Liebesenttäuschung nicht betrauert werden kann, sondern in Miss­ trauen und Vernichtungswillen umschlägt, tragen die Kinder ihr Leben lang eine Last. Sie mögen wissen, dass ihre Eltern sich einmal geliebt haben müssen. Aber erlebt haben sie diese Liebe nie. Wir wissen nicht, ob Scarpia einmal ein solches Kind war, aber es ist gut dokumentiert, dass Menschen durch erlebte Bindungen bin­ dungsfähig werden und Eltern, die vor allem mit Hass beschäftigt sind, wenig Raum für Empathie haben.

Illustration: Anita Allemann

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