Die Hamletmaschine

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DIE HAMLETMASCHINE

WOLFGANG R IHM


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DIE HAMLETMASCHINE WOLFGANG RIHM (* 1952) Musiktheater in f端nf Teilen nach dem gleichnamigen Text von Heiner M端ller Urauff端hrung: 1987 in Mannheim

Mit freundlicher Unterst端tzung der

Ringier AG



Eine Funktion von Drama ist TotenbeschwĂśrung. Der Dialog mit den Toten darf nicht abreissen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist. Heiner MĂźller


INHALT 9 «Die Hamletmaschine» – der Originaltext von Heiner Müller 20 Zur Bedeutung von Heiner Müllers «Hamletmaschine» Ein Essay von Ludwig Haugk 33 Schichten statt Geschichten Ein Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Rihm 45 Extrem verdichtete Geschichte Ein Gespräch mit dem Regisseur Sebastian Baumgarten 55 Wolfgang Rihm trifft Heiner Müller – aus einem Gespräch zwischen Alexander Kluge und Wolfgang Rihm 63 Wolfgang Rihms Musiktheater «Die Hamletmaschine» Ein Essay von Reinhard Kager 73 Über Musiktheater Ein Text von Wolfgang Rihm aus dem Jahr 1986


80 Ein Brief zur «Hamletmaschine» von Wolfgang Rihm aus dem Jahr 1987 84 Sechs Punkte zur Oper von Heiner Müller 86 Ich will eine Maschine sein – Parallelen im Autorenverständnis zwischen Heiner Müller und Andy Warhol 94 Der Engel der Geschichte Walter Benjamin und Heiner Müller im Vergleich 100 Impressum





DIE HAMLETMASCHINE Heiner Müller

1 FAMILIENALBUM Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und sprach mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein, Mörder und Witwe ein Paar, im Stechschritt hinter dem Sarg des hohen Kadavers die Räte, heulend in schlecht bezahlter Trauer WER IST DIE LEICH IM LEICHENWAGEN / UM WEN HÖRT MAN VIEL SCHREIN UND KLAGEN / DIE LEICH IST EINES GROSSEN / GEBERS VON ALMOSEN Das Spalier der Bevölkerung, Werk seiner Staatskunst ER WAR EIN MANN NAHM ALLES NUR VON ALLEN. Ich stoppte den Leichenzug, stemmte den Sarg mit dem Schwert auf, dabei brach die Klinge, mit dem stumpfen gelang es, und verteilte den toten Erzeuger FLEISCH UND FLEISCH GESELLT SICH GERN an die umstehenden Elendsgestalten. Die Trauer ging in Jubel über, der Jubel in Schmatzen, auf dem leeren Sarg besprang der Mörder die Witwe SOLL ICH DIR HINAUFHELFEN ONKEL MACH DIE BEINE AUF MAMA. Ich legte mich auf den Boden und hörte die Welt ihre Runden drehn im Gleichschritt der Verwesung. I’M GOOD HAMLET GI’ME A CAUSE FOR GRIEF AH THE WHOLE GLOBE FOR A REAL SORROW RICHARD THE THRID I THE PRINCEKILLING KING OH MY PEOPLE WHAT HAVE I DONE UNTO THEE WIE EINEN BUCKEL SCHLEPP ICH MEIN SCHWERES GEHIRN ZWEITER CLOWN IM KOMMUNISTISCHEN FRÜHLING SOMETIHING IS ROTTEN IN THIS AGE OF HOPE LET’S DELVE IN EARTH AND BLOW HER AT THE MOON Hier kommt das Gespenst das mich gemacht hat, das Beil noch im Schädel. Du kannst deinen Hut aufbehalten, ich weiss, dass du ein Loch zu viel hast. Ich

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wollte, meine Mutter hätte eins zu wenig gehabt, als du im Fleisch warst: ich wäre mir erspart geblieben. Man sollte die Weiber zunähn, eine Welt ohne Mütter. Wir könnten einander in Ruhe abschlachten, und mit einiger Zuversicht, wenn uns das Leben zu lang wird oder der Hals zu eng für unsere Schreie. Was willst du von mir. Hast du an einem Staatbegräbnis nicht genug. Alter Schorrer. Hast du kein Blut an den Schuhn. Was geht mich deine Leiche an. Sei froh, dass der Henkel heraussteht, vielleicht kommst du in den Himmel. Worauf wartest du. Die Hähne sind geschlachtet. Der Morgen findet nicht mehr statt. SOLL ICH WEILS BRAUCH IST EIN STÜCK EISEN STECKEN IN DAS NÄCHSTE FLEISCH ODER INS ÜBERNÄCHSTE MICH DRAN ZU HALTEN WEIL DIE WELT SICH DREHT HERR BRICH MIR DAS GENICK IM STURZ VON EINER BIERBANK Auftritt Horatio. Mitwisser meiner Gedanken, die voll Blut sind, seit der Morgen verhängt ist mit dem leeren Himmel DU KOMMST ZU SPÄT MEIN FREUND FÜR MEINE GAGE /KEIN PLATZ FÜR DICH IN MEINEM TRAUERSPIEL. Horatio, kennst du mich. Bist du mein Freund, Horatio. Wen du mich kennst, wie kannst du mein Freund sein. Willst du den Polonius spielen, der bei seiner Tochter schlafen will, die reizende Ophelia, sie kommt auf ihr Stichwort, sieh wie sie den Hintern schwenkt, eine tragische Rolle. HoratioPolonius. Ich wusste, dass du ein Schauspieler bist. Ich bin es auch, ich spiele Hamlet. Dänemark ist ein Gefängnis, zwischen uns wächst eine Wand. Sieh was aus der Wand wächst. Exit Polonius. Meine Mutter die Braut. Ihre Brüste ein Rosenbeet, der Schoss die Schlangengrube. Hast du deinen Text verlernt, Mama. Ich souffliere WASCH DIR DEN MORD AUS DEM GESICHT MEIN PRINZ / UND MACH DEM NEUEN DÄNMARK SCHÖNE AUGEN Ich werde dich wieder zur Jungfrau machen, Mutter, damit der König eine blutige Hochzeit hat. DER MUTTERSCHOSS IST KEINE EINBAHNSTRASSE. Jetzt binde ich dir die Hände auf den Rücken, weil mich ekelt vor deiner Umarmung, mit deinem Brautschleier. Jetzt zerreisse ich dein Brautkleid. Jetzt musst du schreien. Jetzt beschmiere ich die Fetzen deines Brautkleids mit der Erde, die mein Vater geworden ist, mit den Fetzen dein Gesicht deinen Bauch deine Brüste. Jetzt nehme ich dich, meine Mutter, in seiner, meines Vaters,

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unsichtbaren Spur. Deinen Schrei ersticke ich mit meinen Lippen. Erkennst du die Frucht deines Leibes. Jetzt geh in deine Hochzeit, Hure, breit in der dänischen Sonne, die auf Lebendige und Tote scheint. Ich will die Leiche in den Abtritt stopfen, dass der Palast erstickt in königlicher Scheisse. Dann lass mich dein Herz essen, Ophelia, das meine Tränen weint.

2 DAS EUROPA DER FRAU Enormous room. Ophelia. Ihr Herz ist eine Uhr. OPHELIA [CHOR / HAMLET] Ich bin Ophelia. Die der Fluss nicht behalten hat. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten. Ich bin allein mit meinen Brüsten meinen Schenkeln meinem Schoss. Ich zertrümmere die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das Schlachtfeld das mein Heim war. Ich reisse die Türen auf, damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt. Ich zerschlage das Fenster. Mit meinen blutenden Händen zerreisse ich die Fotografien der Männer die ich geliebt habe und die mich gebraucht haben auf dem Bett auf dem Tisch auf dem Stuhl auf dem Boden. Ich lege Feuer an mein Gefängnis. Ich werfe meine Kleider in das Feuer. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust, die mein Herz war. Ich gehe auf die Strasse, gekleidet in mein Blut.

3 SCHERZO Universität der Toten. Gewisper und Gemurmel. Von ihren Grabsteinen (Kathedern) aus werfen die toten Philosophen ihre Bücher auf Hamlet. Galerie (Ballett) der toten Frauen. Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern usw. Hamlet betrachtet sie mit der Haltung eines Museums(Theater )-Besuchers. Die toten Frauen reissen ihm die Kleider vom Leib. Aus einem aufrechtstehenden Sarg mit der Aufschrift HAMLET 1 treten Claudius und, als Hure gekleidet und geschminkt,

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Ophelia. Striptease von Ophelia. OPHELIA Willst du mein Herz essen, Hamlet. Lacht. HAMLET Hände vorm Gesicht: Ich will eine Frau sein. Hamlet zieht Ophelias Kleider an, Ophelia schminkt ihm eine Hurenmaske, Claudius, jetzt Hamlets Vater, lacht ohne Laut, Ophelia wirft Hamlet eine Kusshand zu und tritt mit Claudius/Hamlet Vater zurück in den Sarg. Hamlet in Hurenpose. Ein Engel, das Gesicht im Nacken: Horatio. Tanzt mit Hamlet. STIMME(N) aus dem Sarg: Was du getötet hast sollst du auch lieben. Der Tanz wird schneller und wilder. Gelächter aus dem Sarg. Auf einer Schaukel die Madonna mit dem Brustkrebs. Horatio spannt einen Regenschirm auf, umarmt Hamlet. Erstarren in der Umarmung unter dem Regenschirm. Der Brustkrebs strahlt wie eine Sonne.

4 PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND Raum 2, von Ophelia zerstört. Leere Rüstung, Beil im Helm. HAMLET Der Ofen blakt im friedlosen Oktober A BAD COLD HE HAD OF IT JUST THE WORST TIME JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A REVOLUTION Durch die Vorstädte Zement in Blüte geht Doktor Schiwago weint Um seine Wölfe IM WINTER MANCHMAL KAMEN SIE INS DORF ZERFLEISCHTEN EINEN BAUERN legt Maske und Kostüm ab. HAMLETDARSTELLER Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus.

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Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nichts angeht. Mich interessiert es auch nicht mehr. Ich spiele nicht mehr mit. Bühnenarbeiter stellen, vom Hamletdarsteller unbemerkt, einen Kühlschrank und drei Fernsehgeräte auf. Geräusche der Kühlanlage. Drei Programme ohne Ton. Die Dekoration ist ein Denkmal. Es stellt in hundertfacher Vergrösserung einen Mann dar, der Geschichte gemacht hat. Die Versteinerung einer Hoffnung. Sein Name ist auswechselbar. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Das Denkmal liegt am Boden, geschleift drei Jahre nach dem Staatsbegräbnis des Gehassten und Verehrten von seinen Nachfolgern in der Macht. Der Stein ist bewohnt. In den geräumigen Nasen- und Ohrlöchern, Haut- und Uniformfalten des zertrümmerten Standbilds haust die ärmere Bevölkerung der Metropole. Auf den Sturz des Denkmals folgt nach einer angemessenen Zeit der Aufstand. Mein Drama, wenn es noch stattfinden würde, fände in der Zeit des Aufstands statt. Der Aufstand beginnt als Spaziergang. Gegen die Verkehrsordnung während der Arbeitszeit. Die Strasse gehört den Fussgängern. Hier und da wird ein Auto umgeworfen. Angsttraum eines Messerwerfers: Langsame Fahrt durch eine Einbahnstrasse auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, der von bewaffneten Fussgängern umstellt ist. Polizisten, wenn sie im Weg stehen, werden an den Strassenrand gespült. Wenn der Zug sich dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einem Polizeikordon zum Stehen. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes erscheint ein Mann mit schlecht sitzendem Frack und beginnt ebenfalls zu reden. Wenn ihn der erste Stein trifft, zieht auch er sich hinter die Flügeltür aus Panzerglas zurück. Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Man beginnt die Polizisten zu entwaffnen, stürmt zwei drei Gebäude, ein Gefängnis eine Polizeistation ein Büro der Geheimpolizei, hängt ein Dutzend Handlanger der Macht an den Füssen auf, die Regierung setzt Truppen ein, Panzer. Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweissgeruch der Menge und werfe Steine auf Polizisten Soldaten Panzer Panzerglas. Ich blicke durch die Flügeltür aus Panzerglas auf die andrängende Menge und rieche meinen Angstschweiss. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust

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gegen mich, der hinter der Glastür steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden Menge mich, Schaum vor meinem Mund, meine Faust gegen mich schütteln. Ich hänge mein uniformiertes Fleisch an den Füssen auf. Ich bin der Soldat im Panzerturm, mein Kopf ist leer unter dem Helm, der erstickte Schrei unter den Ketten. Ich bin die Schreibmaschine. Ich knüpfe die Schlinge, wenn die Rädelsführer aufgehängt werden, ziehe den Schemel weg, breche mein Genick. Ich bin mein Gefangener. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Meine Rollen sind Speichel und Spucknapf Messer und Wunde Zahn und Gurgel Hals und Strick. Ich bin die Datenbank. Blutend in der Menge. Aufatmend hinter der Flügeltür. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase über der Schlacht. Mein Drama hat nicht stattgefunden. Das Textbuch ist verloren gegangen. Die Schauspieler haben ihre Gesichter an den Nagel in der Garderobe gehängt. In seinem Kasten verfault der Souffleur. Die ausgestopften Pestleichen im Zuschauerraum bewegen keine Hand. Ich gehe nach Hause und schlage die Zeit tot, einig / Mit meinem ungeteilten Selbst. Fernsehn Der tägliche Ekel Ekel Am präparierten Geschwätz Am verordneten Frohsinn Wie schreibt man GEMÜTLICHKEIT Unseren täglichen Mord gib uns heute Denn dein ist das Nichts Ekel An die Lügen die geglaubt werden Von den Lügnern und niemand sonst Ekel An die Lügen die geglaubt werden Ekel An die Visagen der Macht gekerbt Vom Kampf um die Posten Stimmen Bankkonten Ekel Ein Sichelwagen der von Pointen blitzt Geh ich durch die Strassen Kaufhallen Gesichter Mit den Narben der Konsumschlacht Armut Ohne Würde Armut ohne die Würde Des Messers des Schlagrings der Faust Die erniedrigten Leiber der Frauen Hoffnung der Generationen In Blut Feigheit Dummheit erstickt

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Gelächter aus toten Bäuchen Heil COCA COLA Ein Königreich Für einen Mörder ICH WAR MACBETH DER KÖNIG HATTE MIR SEIN DRITTES KEBSWEIB ANGEBOTEN ICH KANNTE JEDES MUTTERMAL AUF IHRER HÜFTE RASKOLNIKOW AM HERZEN UNTER DER EINZIGEN JACKE DAS BEIL FÜR DEN / EINZIGEN / SCHÄDEL DER PFANDLEIHERIN In der Einsamkeit der Flughäfen Atme ich auf Ich bin Ein Privilegierter Mein Ekel Ist ein Privileg Beschirmt die Mauer Stacheldraht Gefängnis Fotografie des Autors. Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten. Zerreissung der Fotografie des Autors. Ich breche mein versiegeltes Fleisch auf. Ich will in meinen Adern wohnen, im Mark meiner Knochen, im Labyrinth meines Schädels. Ich ziehe mich zurück in meine Eingeweide. Ich nehme Platz in meiner Scheisse. Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheisse. Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich allein sein kann mit meinem Blut. Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehn kein Schmerz kein Gedanke. Bildschirme schwarz. Blut aus dem Kühlschrank. Drei nackte Frauen: Marx Lenin Mao. Sprechen gleichzeitig jeder in seiner Sprache den Text ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE UMZUWERFEN, IN DENEN DER MENSCH … Hamletdarsteller legt Kostüm und Maske an. HAMLET DER DÄNE PRINZ UND WURMFASS STOLPERND VON LOCH ZU LOCH AUFS LETZTE LOCH ZU LUSTLOS

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IM RÜCKEN DAS GESPENST DAS IHN GEMACHT HAT GRÜN WIE OPHELIAS FLEISCH IM WOCHENBETT UND KNAPP VORM DRITTEN HAHNENSCHREI ZERREISST EIN NARR DAS SCHELLENKLEID DES PHILOSOPHEN KRIECHT EIN BELEIBTER BLUTHUND IN DEN PANZER Tritt in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao. Schnee. Eiszeit.

5 Wildharrend / in der furchtbarren Rüstung / Jahrtausende Tiefsee. Ophelia im Rollstuhl. Fische Trümmer Leichen und Leichenteile treiben vorbei. OPHELIA Während zwei Männer in Arztkitteln sie und den Rollstuhl von unten nach oben in Mullbinden schnüren. Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stosse allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. Ich ersticke die Welt, die ich geboren habe, zwischen meinen Schenkeln. Ich begrabe sie in meiner Scham. Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen. Männer ab. Ophelia bleibt auf der Bühne, reglos in der weissen Verpackung.

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EIN RADIKALER BLICK IN DEN ABGRUND Zur Bedeutung von Heiner Müllers «Hamletmaschine» von Ludwig Haugk

In The Tragical History of Hamlet, Prince of Denmark verlegt William Shake­ speare die Handlung der alten Sage nach Helsingör, zu seiner Zeit das reichste Königshaus Europas, in eine Situation konjunktureller und politischer Sicherheit. Es läuft glänzend am Ostseesund. Doch das Stück beginnt mit der existentiellen und alle Gewissheiten infrage stellenden Frage: «Who’s there?» und der Erscheinung eines Untoten. Gleich in der ersten Szene baut Horatio das apokalyptische Szenario auf: «Als Rom im Stand der höchsten Blüte war / Standen die Gräber leer, verhüllt die Toten / Kreischten und heulten durch die Gassen Roms / Blutig der Tau, feuergeschweift die Sterne / Die Sonne fleckig, und der feuchte Mond». Damit ist die Doppelbödigkeit der Tragödie aufgerissen: es gibt die politische Wirklichkeit der «höchsten Blüte» und die Wahrheit der Toten, der Geschichte, die im Moment des Triumphes das Bewusstsein für die eigene Schuld und die schweigenden Opfer einfordert. 1977 übersetzte Heiner Müller Hamlet für eine Inszenierung von Benno Besson an der Berliner Volksbühne. Eine Übersetzung unter Hochdruck: Sie entstand, während die Proben bereits liefen. Hamletmaschine, Müllers vielleicht berühmtester Text, war gewissermassen ein Nebenprodukt dieser Arbeit an Hamlet. Der Text ist nur neun Seiten lang. Er umfasst fünf Akte, hat also die klassische Dramenstruktur. Ansonsten gibt es auf den ersten Blick nicht viel, was an Hamletmaschine klassisch erscheint. Das Wort «machine» taucht in Shake­ speares gesamten Stücken exakt einmal auf: im zweiten Akt des Hamlet, im Brief an Ophelia. «Thine evermore, most dear lady, whilst this machine is to him, Hamlet.» – «Dein für immer, teuerste Lady, solange diese Maschine ihm gehört, Hamlet.» Die elisabethanische Zeit war die Zeit der anatomischen Theater, der

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öffentlichen Leichen-Sektionen, «machine» bezeichnet die wundersame Mechanik der Anatomie. Müllers Hamletmaschine ist in diesem Sinne eine anatomische Untersuchung eines 400 Jahre alten Textes, den er auseinanderschneidet und nur die Essenz aussortiert, neu zusammenmontiert, wieder zerschneidet und mit anderem Material kombiniert. «Who’s there?» 1977: Wer ist die Hamletmaschine, der Hamletkörper, und gehört ihm seine Maschine noch? Hamlet als der Intellektuelle zwischen zwei Denksystemen, zwischen Katholizismus und Wittenberg, der Reformation? Oder der Mensch, der «in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte» (Nietzsche) geblickt hat, und diesen Blick zu nichts verarbeiten kann als zu Ekel? Müllers Fortschreibung liegt in der Konkretisierung: seine einander gegenüberstehenden Systeme sind der Kapitalismus als zugleich alte und neue Übermacht und der sich selbst vernichtende Gegenentwurf einer kommunistischen Weltrevolution. Sein Blick in den Abgrund ist der des berühmten Engels der Geschichte, den Walter Benjamin entworfen hat: den Blick mit aufgerissenen Lidern auf die Geschichte als Katastrophe gerichtet, wird der Engel von einem Sturm «vom Paradiese her» in die Zukunft getrieben, ohne Zeit zu haben, die Trümmer der Geschichte zusammenzufügen, zu einem Sinn ergebenden Ganzen. Zu Hilfe kommt Müller bei seiner Operation die andere, die moderne Bedeutung von «Maschine» als Technologie, als Transportmittel, als Beschleuniger, als Rotation. Die Hamletmaschine durchpflügt den Boden der Gewalt-Geschichte seit Shakespeare mit der Gewalt einer Maschine, das heisst gnadenlos, ohne Rücksicht. Eine dritte Dimension des Titels: eine Maschine ist immer auch das Gegenteil von Mensch, sein Ersatz, sein Werkzeug, das ihn selbst an Fähigkeit und Präzision übertrifft. «Who’s there» im technischen Zeitalter? Findet da das HamletTheater, der radikale Blick in den Abgrund und das Verzweifeln an der Unaussprechlichkeit der daraus gewonnenen Erkenntnis noch statt? Wie klingt ein Theater, das mit Atomkrieg und Vollautomatisierung zu rechnen hat?

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben

1. Akt Die fünf Akte in Hamletmaschine folgen erstaunlich genau der Dramaturgie des Originals. Der erste Akt von Hamlet führt in den Konflikt: Der apokalyptischen

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Begegnung mit dem Geist auf den Zinnen folgt die seltsame Mischung aus Leichenfeier und Hochzeit von Hamlets Mutter mit dem Mörder Claudius. Horatio und Polonius treten auf, und am Ende des Ersten Akts wird Hamlet vom Geist seines Vaters auf Rache eingeschworen. Der erste Teil der Hamletmaschine ist mit FAMILIENALBUM überschrieben. Er antwortet direkt auf Shakespeares Frage, wer da sei, mit der Aussage: «Ich war Hamlet». Hamlet gibt es nicht mehr, er ist abgeschafft. Ein Ich blickt zurück auf eine Theaterfigur, die an der Küste stand und mit der Brandung redete: «BLABLA». Es folgt die Beschreibung einer Leichenschändung: Der tote König wird in Einzelteilen an die umstehende Bevölkerung verteilt. Müller legt hier drei verschiedene Bilder übereinander: Zum einen die Grundsituation von Hamlet, der nach Dänemark reist, um der Beerdigung seines Vaters beizuwohnen und in die Feierlichkeiten zur Krönung seines Nachfolgers gerät. Die Hochzeit auf dem Grab. Das zweite Bild ist das Beerdigungsbild Ophelias aus dem fünften Akt von Hamlet, dem die Totengräberszene vorausgeht und der Konflikt mit Laertes folgt. Das dritte Bild, das über der Szene wie über dem ganzen Stück liegt, ist ein historisches. Hamletmaschine sollte – folgt man den Manuskripten – ursprünglich «HiB» heissen, ein Kürzel für Hamlet in Budapest. Dahinter steht die Figur Laszlo Rajk, eines ungarischen Kommunisten, der bei Stalin in Ungnade gefallen und in einem Schauprozess hingerichtet worden war. Die sogenannte Tauwetterperiode nach Stalins Tod führte in Ungarn zur Rehabilitierung Rajks. Als er bestattet wurde, folgten dem Trauerzug Hunderttausende. Er bildete den Beginn des Aufstandes in Ungarn, der schliesslich blutig niedergeschlagen wurde. Das Bild dieses Leichenzugs und anderer politischer Leichenzüge wird in der Müller-Maschine zusammengelegt mit Hamlets Ausbruch vor dem Sarg der toten Ophelia in Shakespeares Drama. Müllers erster Akt kennt kein Geheimnis mehr, das Ende wird zum Anfang: «Ich war Hamlet». Der Geist des Vaters spricht hier nicht, er liegt als Körper in Ophelias Sarg und kann von den umstehenden in einem Akt von ideologischem Kannibalismus verspeist werden. Was ist Hamlets Position? Die des guten Sohns? Oder die von Richard, dem Dritten, des «PRINCEKILLING KING»? Müller greift zurück auf einen über 15 Jahre alten Text, wenn er Hamlet sich selbst als «Zweiten Clown im Kommunistischen Frühling» bezeichnen lässt. Das Zitat

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stammt aus Müllers Stück Der Bau, 1965 geschrieben nach Erik Neutschs Roman Spur der Steine. In diesem Stück, das vom Aufbau eines Chemiewerks in Leuna in Sachsen-Anhalt erzählt, ist eine der Hauptfiguren der Ingenieur Hasselbein. Als Intellektueller zwischen Arbeitern, auf verlorenen Posten, nennt er sich selbst: «Hamlet in Leuna, Hans Wurst auf dem Bau, Zweiter Clown im kommunistischen Frühling. Mein Kopf ist mein Buckel. Und wenn wir in den Wolken baun, am Ende sind wir Baugrund, was nicht auf den Mond fällt, wächst nach unten.» Die Maschine Heiner Müllers bringt diese Bilder in Kontakt. Der Kommunistische Frühling, das Tauwetter weicht den Boden auf, die Toten, die Opfer, die verborgene und verbuddelte Geschichte wird sichtbar. Who’s there? Gespenster einer Dramaturgie: die Mutter, der Vater und Ophelia, und Gespenster der Geschichte: Marx, Stalin, Rosa Luxemburg.

Das komplette Programmbuch 2. Akt können Sie auf Der zweite Akt in Hamlet gehört der Geschichte von Ophelia und ihrer Familie undwww.opernhaus.ch/shop der Intrige gegen Hamlet. Müllers zweiter Akt heisst: DAS EUROPA DER FRAU. Als Ortsangabe schreibt Müller: «Enormous room. Ophelia. Ihr oder Vorstellungsabend im Foyer Herzam ist eine Uhr». Enormous room ist der Titel eines Romans von E.E. Cummings über seine Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg. Ophelia im Gefängnis als Zeitbombe. Der Text beginnt mit dem Satz: «Ich bin Ophelia.» Während des Opernhauses erwerben Hamlet sich ausagiert hat, sein Drama nicht mehr stattfindet, gibt Müller Ophelia, der Toten, der Selbstmörderin, dem Opfer des männlichen Rachespiels, die Perspektive der Anwesenheit. «Die Frau mit dem Kopf im Gasherd» rekurriert auf die dramatische autobiografische Erfahrung Müllers: Erst die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau Inge, die sich als Autorin schon einen Namen gemacht hatte, brachte Müller erste Erfolge im Theater der jungen DDR. Inge Müller stand dabei meist im Schatten ihres Mannes, erst lange nach ihrem Tod wurde sie als herausragende Lyrikerin wieder entdeckt. Im Krieg war Inge Müller verschüttet worden und hatte viele Stunden in den Trümmern verbracht. Diese traumatische Erfahrung war einer der Hintergründe für ihre Depression. Am 1. Juni 1966 musste Müller seine Frau «mit dem Kopf im Gasherd» vorfinden, Inge Müller hatte sich das Leben genommen. Die empfundene Schuld und

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Ratlosigkeit angesichts des Selbstmords seiner Frau taucht immer wieder in seinen Texten auf. In «DAS EUROPA DER FRAU» ist dieses Bild übereinandergelegt mit einer Art terroristischem Befreiungsschlag der Frauen gegen den Terror der Männer. Ophelia befreit sich aus ihrem Gefängnis, eine Wiederauf– erstehung des Schreckens. Immer wieder taucht in Heiner Müllers Werken das Motiv der Frau als möglicher Rettung, als Hoffnung vielleicht, auf. Im zweiten Teil der Hamletmaschine schliessen sich diese Motive mit dem Bild der Ulrike Meinhof kurz, die sich nur ein Jahr vor der Entstehung der Hamletmaschine in Stuttgart Stammheim selbst getötet hatte. «Ich reisse die Türen auf, damit der Wind herein kann und der Schrei der Welt.» Gegen den aus sich selbst bezogenen männlichen Blick der Selbstzerstörung setzt Müller die Perspektive einer weiblichen Revolte, die es vielleicht anders machen könnte. Darin eingeschrieben ist immer die Perspektive des Mannes, Müllers Frauen sind eine Projektion der Hoffnung der Erlösung aus der männlichen Unfähigkeit. Sie wird aus einer feministischen Perspektive zu beantworten sein.

3. Akt Im dritten Akt von Shakespeares Hamlet geht es um das Theater. Hamlet entschliesst sich, selbst die Rolle des Irren zu spielen und er engagiert eine Schauspielertruppe, die durch ihr Spiel den Mörder entlarven soll. Am Ende des Akts steht der Tod von Polonius und die grosse Szene zwischen Hamlet und seiner Mutter in Anwesenheit einer Leiche. Müller nennt seinen dritten Akt «SCHERZO» also nach dem dritten Satz der klassischen Sonatenform. Es ist eine «Universität der Toten» und ein «Ballett der toten Frauen». Es ist ein Auftritt der Theater-Maschine, ein Totentanz, der die Motive der ersten beiden Teile ineinander verschränkt. Während bei Shakespeare Hamlet der Regisseur ist, der dritte Akt ein Akt, in dem sein Drama aufzugehen scheint, ist die Hamletfigur bei Müller passiv, wird getrieben von den Geistern: Horatio als Engel der Geschichte, «das Gesicht im Nacken», Claudius und Ophelia entsteigen einem Sarg. Auferstehung der Toten in der Kunst als maschineller Alptraum. Hamlet selbst wird zu Ophelia umgebaut. Die Kunst als der Ort, an dem das Undenkbare denkbar wird. Die Kunst als Täterin,

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als letzter Ort der lebendigen Toten, in einer Welt, die den Tod für sich als Realität abgeschafft hat. Dieses Verständnis von Theater als Gegenwartsort der Geschichte, oder konkreter: der Toten, ist für Müllers Schreiben essentiell. Sein Blick auf den Kommunismus war immer auf Geschichte gerichtet. Das Grundmotiv dabei war die «Befreiung der Toten» als revolutionärer Akt, die Erlösung derer, die für irgendetwas gestorben sind. Sein Misstrauen gegen den Kapitalismus bestand in der Fixierung auf Gegenwart, in der geschichtslosen Dimension. Den ersten Schritt zu einer möglichen Zukunft für die Menschheit sah Müller in der Erlösung der Toten aus der Sinnlosigkeit ihrer Tode; eine Aufgabe als Dichter, die Aufgabe der Kunst vielleicht darin, diese Erlösung möglich zu machen, indem die Toten auf dem Theater wieder ins Bewusstsein rücken, eine körperliche Anwesenheit bekommen. Das heisst nicht, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, sondern das Gegenteil: Wie können die Toten durch ihre Anwesenheit uns in unserer Realität und ihren Gewissheiten verstören? Folgerichtig formulierte Müller Kunst als «Störung des Sinnzusammenhangs». In SCHERZO findet dies als danse macabre statt.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop 4. Akt oder am Vorstellungsabend im Foyer Der vierte Akt bei Shakespeare ist geprägt von der Abwesenheit des Helden. Er erzählt die Geschichte des Aufstands von Laertes, der Volk um sich versammelt, des Opernhauses erwerben um gegen Claudius vorzugehen. Müllers vierter Teil ist «PEST IN BUDA SCHLACHT UM GRÖNLAND» überschrieben und stellt eine verzerrte Spiegelung des ersten Teils dar. Hamlet meldet sich zu Wort mit einem Zitat von T.S. Eliots Gedicht Journey of the Magi, das Müller verfremdet zu einer sarkastischen Bewertung der russischen Okoberrevolution: «Der Ofen blakt im friedlosen Oktober / A BAD COLD HE HAD OF IT JUST THE WORST TIME / JUST THE WORST TIME OF THE YEAR FOR A REVOLUTION.» Müllers Hamlet ist ein Anti-Melancholiker, die bürgerliche Wehmut wird zerrissen durch ein Bild aus Müllers eigenem Stück ZEMENT aus dem Jahr 1972. Ein Grossgrundbesitzer, an die Wand gestellt von der Roten Armee, weint um seine Wölfe. Dass Hamlet bei Shakespeare im vierten Akt abwesend ist, nimmt Müller zum Anlass für einen Ausstieg des

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Schauspielers aus seiner Rolle: «Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Mein Drama findet nicht mehr statt.» In diesem vierten Teil werden wieder verschiedene Bilder übereinander gelagert: der Aufstand von Laertes, der nicht Hamlets Aufstand ist und der von Claudius umgelenkt wird gegen Hamlet. Der eingangs schon erwähnte Aufstand in Ungarn 1956. Der Aufstand in der DDR von 1953, den Müller nach eigenen Beschreibungen tatsächlich als Spaziergänger erlebt haben will, hineingeratend zwischen die Fronten. Und schliesslich die Fotografie des Autors selbst, der Hamlet ist und nicht mehr sein kann. Ein Autor, der weiss, dass dieser seltsame Versuch DDR, auf dem kontaminierten deutschen Boden einen nichtfaschistischen, nichtkapitalistischen Staat aufzubauen, die einzige historische Möglichkeit ist. Und der andererseits sieht, dass dieser Versuch von Anfang an scheitert, weil er nicht aus einer Revolution geboren ist, sondern durch die Panzer der Roten Armee. Der Ekel – Hamlets Grundmotiv angesichts der Welt – wird zum Ekel des Autors Müller vor seiner eigenen Position in diesem Spiel: «In der Einsamkeit der Flughäfen / Atme ich auf Ich bin / Ein Privilegierter Mein Ekel / Ist ein Privileg / Beschirmt mit Mauer / Stacheldraht Gefängnis.» Müller geht in die Offensive: Er nimmt sich selbst in dieses Drama, das er nicht mehr spielen lassen kann, mithinein, wissend, das er so automatisch Rolle wird, das Drama verlängert. Hamlet, der philosophische Terrorist, der zum Mörder an sich selbst und anderen wird, wird von Müller kurzgeschlossen mit Stalin, der in den Panzer kriecht. Der Autor, der das sieht, aber nicht aufhalten oder beantworten kann, hat keine Wahl, als in der Sprache des Terrors Zeugnis zu geben.

5. Akt Im fünften Akt von Hamlet läuft alles auf die Katastrophe des Duells zu. Der Beerdigungszug rückt an. Im Sarg: Ophelia. Am Ende liegt die Bühne voller Leichen. Mit Fortinbras taucht eine neue Figur auf, ein neues System. Nicht Hamlet oder Claudius gehört die Zukunft, sondern einem unbekannten Regime. Müller lässt in Spiegelung zum zweiten Akt Ophelia sprechen. Der Ort: «Tiefsee. Ophelia im Rollstuhl. Fische Trümmer Leichen» – Ophelia überlebt auf dem Meeresgrund als Elektra, der ersten weiblichen Rächerfigur der Theatergeschichte. Elektra kann warten. «Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand,

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der Tod. Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.» Was ist diese Wahrheit? Hamlet ist nicht mehr anwesend in diesem Schluss. Die Wahrheiten der philosophischen Systeme des weissen Mannes haben in diesem Text Heiner Müllers keine Zukunft, sie sind abgespielt durch die Katastrophen der Jahrhunderte. Wenn Müller am Ende die amerikanische Mörderin Susan Atkins zitiert, die mit Charles Manson in den Sechzigerjahren die USA verstörte, dann ist dies die Hoffnung auf eine blinde, revolutionäre Energie, die nicht mehr aus den bekannten Systemen kommt. Diese Gewalt wäre ein Schrecken, sie wäre nicht moderiert, nicht Teil dieser Welt. Hamletmaschine, ein Text aus dem Jahr des «deutschen Herbstes», der totalen Verhärtung der Fronten zwischen Ost und West, der ausweglosen Gegenüberstellung von Systemen endet so in einer vernichtenden Perspektive. Was kann das dritte sein, die Erlösung? Für Müller ist sie 1977 nicht mehr auf einer der beiden Mauerseiten erkennbar. «Who’s there?»: Müller antwortet: «Männer ab. Ophelia bleibt auf der Bühne, reglos in der weissen Verpackung.» Der Rest ist Schweigen.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop Epilog oder am Vorstellungsabend im Foyer Die Hamletmaschine ist ein Text über Texte in ihrer Gegenüberstellung zur Wirklichkeit. ist die «Hamletmaschine» ein erwerben Theaterstück, denn Theater des Damit Opernhauses entsteht genau aus dieser Konfrontation. In Müllers Texten wird die Krise der Wirklichkeit, die er zu beschreiben versuchte, zu einer Krise der Texte selbst. Nirgendwo ist das so deutlich wie in «Hamletmaschine». In einem Text aus dem zeitlichen Umfeld zur Hamletmaschine heisst es: «Maschine des Dramas, deren Sprache der Terror ist, der gegen mich ausgeübt wurde und wird und den ich wieder ausüben will und nur wieder ausüben kann in meiner Sprache, die mir nicht gehört.» Der Text, der Terror in Hamletmaschine ist der Terror einer Welt, er schreibt sich in das Schreiben ein, wird zum Terror der Kunst. Von Antonin Artaud erbte Müller den Gedanken, dass ein solches Terror-Theater die Sehnsucht wecken könnte nach einer anderen Welt. Müllers Texte sind deshalb nie allgemeine Betrachtungen. Seine wichtigsten Metaphern sind Versuche, die Permanenz der

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Verletzung in eine Sprache der Körperlichkeit zu überführen. Die Haut, die Knochen, die Eingeweide, das Gehirn: Müllers politisches Theater ist immer ein anatomisches. Hamlet war deshalb für Müller ein Schlüsseltext: ein Text, der «in die Eingeweide» der Kunst, der Geschichte führt. Nach Walter Benjamin ist jede Übersetzung endgültig, weil sie nicht mehr übersetzt werden kann. Bei Müllers Maschine ist dies einerseits auch so. Seine Hamlet-Auseinandersetzung ist eine endgültige Auseinandersetzung. Andererseits schliesst das Wort «Maschine» die Perspektive ein, dass die Technik blinder Archäologie, die nicht ahnt, was sie findet, eine Zukunft sein könnte für ein Theater als Ort der produktiven Verstörung.

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SCHICHTEN STATT GESCHICHTEN Der Komponist Wolfgang Rihm über seine «Hamletmaschine» Lieber Wolfgang Rihm, die Kompo­sition Deiner Hamletmaschine liegt mehr als dreissig Jahre zurück. Vor einem Vierteljahrhundert wurde das Stück zuletzt auf einer Bühne auf­geführt, nämlich an der Hamburger Staatsoper. Wie schaust Du heute als 63-Jähriger auf eine Partitur, die Du mit Anfang dreissig komponiert hast? Wolfgang Rihm: Mit Wohlgefallen. Ich sehe das Verkantete und fest Verschraub­te in diesem Stück. Das muss so sein, denn der Text von Heiner Müller, der mich damals sehr fasziniert hat, ist es auch. Müllers Text setzt Bild an Bild und schiebt diese ineinander. Die Bilder behindern und verletzen sich gegen­ seitig, in jedem Bild steckt schon ein anderes. Dem Text wohnt etwas Gewalttätiges inne. Er entfaltet Atemlosigkeit, strahlt eine Kontamination ab. Ich bin gespannt, wie das in Zürich realisiert wird. Ich sehe allerdings auch, dass ich heute mit meinem Komponieren in gelasseneren kompositorischen Gestaltungsbereichen angelangt bin, ohne dass ich sage: Was ich damals geschrieben habe, ist nicht gut. Überhaupt nicht. Die Partitur ist, so wie sie ist, genau richtig. Begegnet man einem eigenen Stück, das so lange zurückliegt, mit einem fremden Blick? Man guckt schon erst einmal fremd, denn es sind ja viele Jahre vergangen. Die Auseinandersetzung mit Heiner Müller begann nach meiner Oper Jakob Lenz. Ich war auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, musiktheatralisch weiter­­zuarbeiten. Die Welt von Antonin Artaud kam in mein Blickfeld. Heiner Müller wuchs doppelgängerisch aus Artaud hervor.

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«Bild und Anrufung, Zeichen, Traum­­logik und rituelle Energie statt Handlung», so hast Du Dir damals – man kann es in Deinen Schriften nach­lesen – eine neue Musiktheaterform vorgestellt. Das hat mich damals sehr interessiert. Obwohl ich mir heute wieder ganz andere Formen vorstellen kann … (holt ein vergilbtes Taschenbuch hervor) Ich habe etwas mitgebracht, es ist die Ausgabe von Heiner Müllers Dramentexten, die ich damals benutzt habe. Ich habe mit Bleistift schon bei der Erstlektüre Notizen an den Rand geschrieben. Unter dem Titel Hamletmaschine steht «Text und Musik». Genau. Aber gleich daneben steht «Musik und Theater». Text und Musik und Theater sind als Einheit zu denken. Es ist nicht gemeint: Hier gibt es einen Text, und zu dem schreibe ich Musik, und zu der machen wir dann ein Theater. Das ist von Anfang an von mir als eine Gestalt gedacht gewesen, schon in diesem ersten Leseprozess. Hier lese ich: «Schauspieler und Sänger». Auch das war als Anfangsidee für das Musiktheater, das mir vorschwebte, sofort klar: Ich wollte Sänger und Schau­spieler mischen. Zunächst war noch nicht klar, dass es eine Figur, nämlich Hamlet, in mehreren Brechungen geben würde. Aber auch das ist in den folgenden Notizen bereits angedeutet. Du hast auch musikalische Assozia­tio­nen an den Rand geschrieben. «Monodram» zum Beispiel: eine Asso­zia­­tion zu Arnold Schönbergs Erwartung. Und bei «I’M GOOD HAMLET GI’ME A CAUSE FOR GRIEF» habe ich an eine Händelarie gedacht. Deshalb steht da «Arios, Lucrezia, hän­del­haft». Das bezieht sich auf die Kantate Lucrezia von Händel. Davon gibt es eine wunderschöne Aufnahme mit Janet Baker, die habe ich damals oft gehört. «Elektra-Stil» steht neben dem nächsten Satz. Ein weiterer Verweis. Eine Idee war, musikalische Stilbilder, die mich geprägt haben, mit den Szenenbildern in Müllers Text zu überblenden, also mehr­­fach zu belichten. Man kann ja die erste Szene des Müllertextes als ein Blättern

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in Hamlets Familienalbum verstehen: Schau mal, das ist der Leichenzug hinter dem Sarg meines ermordeten Vaters. Hier ist meine Mutter und hier, an ihrer Seite, Onkel Claudius, der Mörder. Meine musikalischen Stilnotate dazu sind Assoziationen der ersten Lektüre. Wir kennen Shakespeares Hamlet als den intelligenten hellhörigen Helden, der durchschaut, dass die Welt einen verbrecherischen Verlauf nimmt, sich aber nicht zu einer rettenden Tat durchringen kann, weil er sein Han­­ deln reflektiert, weil er Ängste kennt, weil er zweifelt. Hamlet als der durch­­­blickende, aber blockierte Intel­lek­tuelle – dieses Bild korrespondiert mit der ausweglosen Situation, in der sich der Dichter und DDR-Drama­ tiker Heiner Müller befand, als er den Hamletmaschinentext schrieb. Was war für dich hamlethaft an Deiner Situation damals als Komponist? Wenn ich das jetzt auf eine einfache For­mel bringen soll, dann vielleicht so: Der Künstler ist umstellt von Tradition, von einer enormen Vielfalt geschicht­­ licher Abkunft, und muss trotzdem stän­dig künstlerische Entscheidungen für die Zukunft treffen, und das kann zu Entscheidungs­unfähigkeit führen. Das Überdenken und Hinterfragen künst­le­rischer Mittel als geschichtlich ge­worde­ne war damals ein grosses Thema. Ich konnte nie sagen: Was ich hier mache, entstammt der historischen Tendenz des Materials. Ich konnte immer nur mit mir selbst für mein Schaffen einstehen. Das Ich ist aber ein unsicherer Kantonist. Ein Büh­nen­werk zu erschaffen, das die Reflexion in sich trägt, was ein Bühnenwerk ist, und trotzdem pralles Theater sein soll, ist wie Stochern im Nebel. Genau das hat mich gereizt: Dieses Gleichzeitig­sein an vielen Orten. Gleich­zeitig Hamlet zu sein und seine Über­windung. Und selbst­ver­ ständ­lich öffnet man als künstlerisch Schaffender immer wieder die Särge der Toten und verteilt das Fleisch der Ahnen.

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Ist die Hamletmaschine ein schwarzes Stück? Ja, buntschwarz. Grellfarbig schwarz. Immer wieder schwarz glänzend, schwarz matt, völlig farblos, dann weiss, plötzlich wieder bunt. Aber hauptsächlich dunkel, dunkelschwarz, farbschwer.

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Ein Stück, das keine Hoffnung erkennen lässt? Es wird aus der Position eines Aussenstehenden entwickelt, von einem, der auf die Ausweglosigkeit draufschaut. Das lässt hoffen. Er betrachtet das Pessi­ mistische, sieht in dem Moment aber nicht wirklich seinem Ende entgegen. Komödiantisches ist in der Hamlet­maschine höchst präsent. Sie hat irre komische Momente. Wenn das ein Regisseur herausbrächte, fände ich das gut. Heiner Müller hat selbst einmal gesagt: Wenn man die Hamletmaschine nicht als Komödie begreift, muss man mit dem Stück scheitern. Das wusste ich gar nicht. Das Faszinierende an dem Text ist seine Vielgestalt, allein die vielen Bühnen, die da ein­ge­zogen sind, auch in den Personen selbst. Es ist eine ungeheure Assoziations­dich­te. Weisst Du, an was mich die Ham­let­maschine erinnert? An ein spätes Bild von Max Beckmann, es hängt in Frankfurt im Städel Museum und heisst Back­stage. Es ist vielleicht das letzte Bild, das Beckmann vollendet hat. Es zeigt einen Raum hinter der Bühne, wie der Name schon sagt, in dem alles mögliche herumsteht, das auf der Bühne seine Funktion hat und hinter der Büh­ne den Weg verstellt. Man sieht Kro­nen, Schwer­ter, den Wald aus Mac­beth, Leuchter, Waffen, das ganze Arsenal der klassischen und wohl vor allem Shakespeareschen Bühne. Dieses Arsenal lehnt ineinander verkeilt und in falscher Funk­­tion aneinander. Man blickt in Räu­me, die vollgestellt sind, und aus denen es kein Entkommen mehr gibt. So kommt mir auch der Text von Heiner Müller vor. Eine irrsinnige Dichte. Das macht auch den Gesang zu einem anderen. Ich möchte natürlich, dass die Ophelia eine Hochdramatische ist und sich auch aussingen kann. Sie singt in dicker oder dünner Luft, je nachdem. Das Singen selbst ist ja auch eine Gestalt, die auftritt. Es ist auch eine Bühne, die aus der Figur herauswächst. Wann singt jemand? Diese Frage hat mich damals sehr beschäftigt. Und sie ist heute noch nicht be­antwortet. Natürlich habe ich Ahnungen … Wie könnte die Antwort lauten? Das Singen ist ein herausgehobener Zustand, der einen Menschen auszeichnet, ihn aber gleichzeitig – überspitzt gesagt – entmenscht und zu einer Kunst­ figur macht. Dieser Grat ist schmal. Singen bedeutet, das Menschliche in einer

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Weise auszudrücken, wie es nirgends sonst möglich ist und wie nirgends sonst mit der Möglichkeit einhergeht, uns zu berühren. Singen bedeutet aber gleichzeitig auch, sich in die menschenfernste, künstlichste und fremdbestimmteste Situation zu begeben, in der ein Mensch sich artikulieren kann. Diese Gefährdung auf schmalem Grat macht den Gesang so attraktiv für das Komponieren – etwas zu gestalten, das sich der Realität völlig entzieht und uns trotzdem auf einfache Art ungemein nahe gehen kann. Ein wichtiger Aspekt im Musiktheater der 80er war der Raum. Ob in Luigi Nonos Prometeo, bei Pierre Bou­lez, Karlheinz Stockhausen oder in Deiner Hamletmaschine – der Raum spielte als Parameter der Komposition eine wichtige Rolle. War das aus heutiger Sicht eine Mode? Eine Mode ist das sicherlich nicht. Denn dieser Entwicklung lag die Idee des skulpturalen Komponierens zugrunde. Wenn ich in einigen Stücken die Räumlichkeit mit einkomponiert habe, dann immer in dem Bestreben, es so öko­nomisch wie möglich zu tun und beispielsweise nur wenige Instrumente im Raum zu positionieren. Manchmal genügen ein paar Violintöne von fern, und schon dehnt sich der Raum. In meiner Oper Die Eroberung von Mexiko gibt es eine plastisch geformte Or­ches­ter­einheit im Graben und drei insel­ artigen Klangpunkte im Raum, und bereits dadurch kann ich beim Hörer den Eindruck fördern, er befinde sich innerhalb eines skulpturalen Geschehens.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Warum ist die Hamletmaschine so lange nicht mehr aufgeführt worden? Weil in der Zwischenzeit so viele andere Werke von mir entstanden sind und andere Werke von anderen Komponisten. Es wird enorm viel produziert. Wir wissen doch alle, wie es am Theater ist: Von einem produktiven Kompo­ nisten will man am liebsten etwas Neues. Ausserdem gehört die Hamletmaschine nicht gerade zu den Bühnenwerken, die mit bescheidenem Aufwand aus­ kommen. Das Stück ist ein Grosskaliber. Es braucht grosses Orchester, Chor, her ­vor­­ragende Solisten, enorme Bühnen­­ak­ti­vitäten, eine starke Präsenz der Büh­­ne, der Bühne als Person und vieles mehr. Das ist schon eine Heraus­ forderung.

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Kann es auch inhaltliche Gründe ha­ben, wenn ein Stück nicht mehr gespielt wird? Das weiss ich nicht. Das anzunehmen, wäre ja eine unterstellte Motivation. Ich glaube nicht, dass etwa Angst vor der Textgewalt mögliche Realisatoren zu­rück­gehalten hat. Oder könnte das doch sein? Was denkst Du? Nach der deutschen Wiederverei­ni­gung wurde Müller wenig gespielt. Das Interesse an seinen dramatischen Texten ist erst in letzter Zeit wieder gestiegen. Was lässt denn ein Kunstwerk zeitgebunden oder überzeitlich werden? Ist das in ihm selbst angelegt, oder entscheidet sich das immer in der Wahrnehmung von aussen? Eine interessante Frage, die kann aber nur die Rezeptionsforschung beant­ worten. Was soll ein Autor dazu sagen? Der kann ja nur sein Werk schreiben, und dann ist es da. Ich erinnere mich, dass es damals, als die Hamletmaschine entstand, diese Diskussionen gab: War­um schreibt man nicht mal eine Oper über ein aktuelles Thema? Ja, warum? Weil ein Musiktheaterwerk zu kompo­ nieren eine langwierige Angelegenheit ist. Das braucht Zeit. Das muss durch mich hindurch. Trotzdem: Was macht ein Stück überzeitlich? Ich würde sagen: Meistens ist es die Darstellungsform. Die meisten Puccini-Opern sind vom Sujet her für mich ziemlich uninteressant, aber in der Darstellungsform menschlicher Leidenschaft unwiderstehlich komponiert. Mit welcher Einstellung begegnest Du Aufführungen Deiner Werke? Versuchst Du, Einfluss zu nehmen? Nein. Ich versuche, die Gestalt und die Details des Werkes in einer genauen, aber nicht überbezeichneten Partitur niederzulegen, sodass die Ausführenden wissen, was sie zu tun haben und es möglichst wenig offene technische Fragen gibt – und dann entlasse ich die Kinder in die Welt. Alles weitere muss die Interpretation liefern. Die kann man als Komponist nicht kontrollieren. Inter­pretation ist etwas sehr Wichtiges. Die Musik lebt davon. Versucht ein Komponist, alles bis ins kleinste Detail festzulegen, wird dem Interpreten der Mut genommen, das Werk von einer ganz anderen Seite zu betrachten und tötet womöglich den Reiz, sich überhaupt mit dem Stück zu beschäftigen.

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Deshalb gebe ich meine Werke frei. Sie sind Individuen, die ihr eigenes Leben leben sollen. Was erwartest Du von einem Regisseur Deiner Musiktheaterwerke? Dass er seine Aufgabe erfüllt und erfin­de­risch mit dem Werk umgeht. Er soll sich nicht mit dem Meinen begnügen, sondern das Seine dazu beitragen. Das ist ein anderer Begriff von Werktreue als ihn die Gralshüter eines vermeintlichen Komponistenwillens etwa bei Mozart oder Wagner ins Feld führen. Bloss das nicht. «Kinder schafft Neues», lautet ein vielzitierter Satz von Richard Wagner. Er meinte damit nicht, dass wir Neues komponieren sollen, denn er war ja davon überzeugt, dass er schon alles Bedeutende komponiert habe und dem nichts hinzuzufügen sei, nein, er hat seine Interpreten gemeint. Die sollen nicht immer das Gleiche machen und Neues schaffen aufgrund der Partituren. Es ist doch eine grauenhafte Vorstellung, dass die Interpretation, an der ein Künstler zu Lebzeiten mitgewirkt hat, bis in alle Ewigkeit gespielt wird. Da lang­weile ich mich ja schon bei dem Gedanken.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer Die Hamletmaschine ist voll von Regie­­anweisungen. Diedes sind als Anregungen gedacht. Anders als der Notentext, der – mit Verlaub – Opernhauses erwerben nicht als Anregung gedacht ist, sondern als unverrückbare Textgestalt. Aber die szenische Realisierung ist selbst­verständlich offen. Deshalb gehe ich ja in die Oper, um neue Reali­sie­r ungen zu erleben.

Bei der Hamletmaschine stösst man mit dem Anspruch, alles in einem Kunstwerk verstehen zu wollen, schnell an seine Grenzen. Was sagst Du den Menschen, die nach einer Aufführung eines Deiner Werke zu Dir kommen und erklären: Ich habe nichts verstanden? Diese Haltung begegnet einem ja nicht nur bei zeitgenössischem Musiktheater, sondern überhaupt gegenüber Kunst. Man kann sagen: Kunst hat insofern mit dem Leben zu tun, dass sie einen Prozess zeigt, der in allen auslösenden Momenten und scheinbaren Zielpunkten niemals ganz verstanden werden

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kann. Darin gleicht die Kunst dem Leben. Und das Nichtverstehen des Lebens ist ja nicht nur etwas Schlechtes. Es gibt da äusserst viele Differenzierungen. Nicht­verstehen heisst ja nicht einfach nur dumpf davorzustehen, sondern aktiviert zu werden, Teilbereiche zu ergründen und eine Art Grundvertrauen in die Daseinsform des Lebens aufzubauen. Alles verstehen zu wollen, ist – um mal einen semireligiösen Zusammenhang herzustellen – letztlich die teufli­­sche Haltung. Gott ist nicht verstehbar, der Teufel schon. Das generierende pro­duktive Lebensprinzip ist nicht verstehbar, das Gegenprinzip schon. Es wird heutzutage noch immer als Problem wahrgenommen, wenn Musik­theater keine Handlung hat. Die Hamletmaschine erzählt keine Geschichte. Aber sie hat Geschichte. Sie besteht aus Ge-Schichten und zwar in diesem schö­nen althergebrachten Sinn von Schichten und Geschichtetsein. Dass da­mit auch eine geschichtliche Ladung gemeint ist, finde ich gravierend. Und mit Opernhandlungen ist das ja sowieso so eine Sache. Was ist eigentlich die Handlung von Verdis La forza del desti­no oder von Un ballo in maschera? Hast Du heute noch oft mit Widerspruch von Seiten des Publikums zu kämpfen? Ich gehöre trotz geradezu erdrückender Anerkennung wohl immer noch zu denen, die von zwei Seiten angefeindet werden. Für das «gemeine» Publi­kum ist man der kakophone Avantgardist, und für die zukunftstrunkene Fach­ kritik, der man nie fortschrittlich genug sein kann, ist man der indiskutable Altmodische. (lacht) So kämpft man immer nach beiden Seiten und tröstet sich mit dem Bewusstsein, dass man den einzig richtigen Ort zum Überleben gefunden hat, nämlich den dazwischen. Obwohl man den ja nicht sucht. Man läuft als Komponist nicht herum und fragt: Wo bitte kann ich mich hier zwi­schen die Stühle setzen? Sie müssen wissen, ich bin nämlich Künstler und muss deshalb zwischen den Stühlen sitzen … Aber keine Sorge: Ich liege schon richtig. Das Gespräch führte Claus Spahn

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Der Klang ist Akteur, seine Hervorbringung kann komponierte Aktion sein, Handlung. Wolfgang Rihm





EXTREM VERDICHTETE GESCHICHTE Ein Gespräch mit Sebastian Baumgarten, dem Regisseur von Wolfgang Rihms «Hamletmaschine» Herr Baumgarten, was ist das für ein ungewöhnlicher Theater-Text, mit dem wir es bei der Hamletmaschine zu tun haben? Heiner Müller hat die Hamletmaschine als eine Art «Schrumpfkopf» in Bezug auf Shakespeares Hamlet bezeichnet. Er arbeitete an einer Übersetzung des Shake­speare­­-Dramas – was bei ihm immer auch einer Interpretation gleichkommt – und hat dann in einer einzigen Nacht diesen neunseitigen Text zusammengeschrieben. Es ist ein Destillat des Shakespeare-Hamlet geworden, das aber auch die Situation von Heiner Müller selbst thematisiert: Der Intel­ lektuelle, der ausweglos zwischen zwei Systemen steht. Man kann die Hamletmaschine auch als ein Künstlerdrama lesen. Wie viel Shakespeare steckt in dem Text? Die bekannte Figurenkonstellation taucht auf: Hamlet, der Schulfreund Horatio, Claudius als böser Stiefvater und Gertrud als Mutter und jetzige Ehefrau des Usurpators Claudius, auch der Geist des Vaters kommt vor und natürlich Ophelia. Alle wichtigen Figuren sind in den Text eingeschrieben, übersetzt und angewandt auf Biografisches, das Heiner Müller selbst erlebt hat, aber natürlich auch auf all­gemeine politische Situationen. Es ist keine ShakespeareBearbeitung, sondern ein Postdrama, das nicht mehr versucht, eine Geschichte mit dramatischen Höhe­punkten zu erzählen. Es geht darin um die Komprimierung von Gedanken des Hamlet-­Materials und die dialektischen Widersprüche, die sich bei Shakespeare auftun. Shakespeare dagegen entwickelt das Ganze als Drama, das Hamlet schliesslich zum Serienmörder werden lässt, was im Widerspruch zu seiner intellektuellen Aus­bildung steht. Das Stück mündet in der Ablösung des verbrecherischen Clau­dius-­Systems und führt zu einer Figur,

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deren Bedeutung bei Shakespeare immer zu klären ist – nämlich Fortinbras. Wer ist Fortinbras? Oder allgemein gefragt: Was folgt als Zukunft? Und welche Antwort gibt die Hamletmaschine? Der Schlussteil gehört Ophelia. Die Geschichte der Männer und des Patriarchats ist mit dem vorletzten Teil beendet. Was danach kommt, kann eine Formu­ lierung von positiver oder negativer Utopie sein. In dem letzten Teil, der mit «WILDHARREND /IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG / JAHR­ TAUSENDE» überschrie­ben ist und als Ort «Tiefsee» in der Regieanweisung nennt, stellt sich eine Frage, die Müller stark beschäftigt hat: Was kommt nach der Dialektik? Shakespeares Hamlet ist gefangen im dialektischen Widerspruch zwischen seiner Bildung in Wittenberg und der archaischen Lebens­ erfahrung im verbrecherischen Dänemark, die sich komplett gegen das aufklärerische Wittenberg verhält. Und die Frage lautet: Was kommt, wenn man sich, wie Hamlet, zwischen Gewalt und Humanität entscheiden muss und es nicht kann? Müller öffnet in der Hamletmaschine dem Weiblichen den Raum. Ophelia tritt aus ihrer Opferrolle heraus und wird zur Täterin. Da tendiert Müller in gewisser Weise auch zum Kitsch, wenn er eine Aufgabe ausschliesslich an das Weibliche delegiert, die uns alle betrifft und von allen angegangen werden müsste, nicht nur vom weiblichen Geschlecht. Eine Strategie, die wir von Richard Wagner kennen – die Frau als Erlöserin. Die Frau soll es richten. In der Hamletmaschine erscheint sie als Elektra, also als Rächerfigur. Sie zeigt auf, dass Veränderung nur in Verbindung mit äusserster Brutalität möglich wäre. Solche Brachialität hat Müller gefordert, aber gleichzeitig auch gefürchtet. Heiner Müller war selbst eine Art Hamletfigur als desillusionierter DDR-­ Dichter, der die Fäulnis der Verhältnisse in seinem Staat wahrgenommen hat. In welcher Situation hat er die Hamletmaschine geschrieben? 1974 hat die Beschäftigung mit dem Text begonnen, 1977 hat ihn Müller geschrie­ben. In dieser Zeit wurde er als Schriftsteller in der DDR totgeschwiegen. Er wollte seinen Stücken nicht mehr die positive Vision des sozia-

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listischen Systems einschreiben, was von den Kulturfunktionären gefordert war. Deshalb hat er das Drama als Form insgesamt aufgegeben. Er hat sich in eine Art innere Emigration bewegt, die ihn zu einem Autor werden liess, der zwar ein grosses Interesse unter den Intel­lektuellen hervorrief, aber keine wirklich präsente Autorenpersönlichkeit der DDR war. Bekannt wurde er allerdings in Amerika, etwa durch die Arbeit mit Bob Wilson. An den dortigen Universitäten und Theater-Akademien war er ein gefragter Autor seiner Zeit, ebenso in Frankreich. Der Glaube an den Sozialismus war ihm abhanden gekommen? Die Hamletmaschine handelt von der Aufgabe jeglichen Glaubens an dieses Gesellschaftssystem. Sie markiert in gewisser Weise einen Endpunkt linker Utopie. Aber, wie wir wissen, sind Endpunkte künstlerisch oft neue Anfangspunkte. Und mit der Hamletmaschine hat Heiner Müller einen der bedeutendsten Texte der Litera­tur­geschichte geschrieben, der weit über seine Entstehungszeit hinauswirkt. Er war wegweisend für den Wechsel von der Klassischen Moderne hin zur Postmoderne zumindest in der deutschsprachigen Literatur. Postdramatische Strömungen gab es natürlich auch schon vor der Hamletmaschine, aber Müllers Text offenbart in seiner Formensprache eine besondere Qualität. Der Text ist, um mit Müller zu sprechen, geräumig. Er kann zu verschiedenen Zeiten immer wieder neu gelesen werden.

Das komplette Programmbuch können Sie auf www.opernhaus.ch/shop oder am Vorstellungsabend im Foyer des Opernhauses erwerben Von der Schweiz aus könnte man kritisch fragen: Was interessiert uns heute ein frustrierter DDR-Intellektueller? Was macht denn Müller über den Kontext seiner Zeit hinaus interessant? Das Geschichtsbewusstsein, das aus seiner Arbeit spricht. Seine Texte öffnen die grosse geschichtliche Perspektive. Sie haben eine Bezüglichkeit in die Vergangenheit und in die Zukunft. Das macht sie auch für heute interessant, für eine Epoche, die die Gegenwart verabsolutiert. Der weite Blick, die Einordnung in die grossen Zusammenhänge, das ist etwas, das heutzutage immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird.

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Worin zeigt sich die Geräumigkeit von Müllers Texten? Seine Hamletmaschine-Bilder erzählen von extrem verdichteter Geschichte, sind aber andererseits so offen, dass sie sich, wie gesagt, zu anderen Zeiten und an anderen Orten als aktuell erweisen. Das kann die Flüchtlingssituation in Europa sein oder die Frage, wie es mit dem Kapitalismus weitergeht. Wichtig ist auch, dass Müller als DDR-Schriftsteller Kosmopolit war. Sein Denken ging weit über die Engstirnigkeit der DDR-Kulturlogik hinaus. Er war offen für alle möglichen Formen von Kunst und hat sich mit dem japanischen Theater ebenso beschäftigt wie mit der Pop-Art von Andy Warhol in New York. Nun inszenieren Sie ja nicht den Text von Heiner Müller, sondern ein Musiktheater von Wolfgang Rihm. In welchen Zustand wird das Postdrama von Müller durch Rihms Vertonung versetzt? Was mir einen Einstieg in Rihms Musik ermöglicht hat, war ein Text des Komponisten aus der Entstehungszeit der Hamletmaschine. Darin sprach er von einem Musik­theater, das durch rituelle Beschwörung, durch Bild und Anrufung in Gang gebracht wird. Diese Vorstellung fand ich hochinteressant: Durch die Musik von Rihm wird der Müller-Text reaktiviert und wieder­ belebt, indem man die Bilder anruft. Die Musik beschwört Spielsituationen, Tableaux vivants, Videosequenzen, Fotografien und bringt sie gleichsam hervor. Ein Problem dabei ist, dass der Text formal gesehen postdramatisch ist und die Partitur ihn in eine dramatische Klammer fasst, nicht in dem Sinn, dass sie die Handlung wieder einführt, die Müller abgeschafft hat, sondern schlicht in dem Umstand, dass die Partitur dem Postdramatischen eine feste Zeitstruktur gibt. Man kann aus Rihms Werk nicht, anders als im Schauspiel, Text-Teile herausbrechen, verschieben, wiederholen. Die Partitur liefert so einen Widerstand gegen den Text, den ich sehr produktiv finde. Der setzt Fantasie frei. Die Disparatheit der Partitur verlangt, dass man szenische Vorgänge ganz anders begründet als in der herkömmlichen Oper. Normalerweise baue ich als Regisseur Szenen und führe sie zu ihrem dramatischen Höhepunkt. In Rihm / Müllers Hamletmaschine ist man aber, bildlich gesprochen, ständig herausgefordert Häuser zu bauen, bei denen kurz vor dem Richtfest abgebrochen und ein neues Haus zu bauen angefangen wird. Das macht

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die Sache komplex. Wir machen in den Proben gerade die Erfahrung, dass einem die hundert Minuten Musik in der Erarbeitung aufgrund der Vielschichtigkeit von Text und Komposition wie fünf Stunden vorkommen. Das Stück ist wie eine komprimierte Computerdatei, die erst beim Öffnen ihren riesigen Umfang entfaltet. Was heisst das für Sie als Regisseur, wenn Sie so ein vielschichtiges und anspruchsvolles Musiktheater für ein Publikum nachvollziehbar auf die Bühne bringen wollen? Wo liegen die Gefahren und Chancen? Die Gefahr ist natürlich, dass das Publikum bei diesem hochkomplexen Text und dieser hochkomplexen Musik den Abend zehn Minuten lang als interessante Erfahrung wahrnimmt und dann aussteigt. Wenn das passiert, haben wir verloren.

Das komplette Programmbuch können Sie auf Und was ist Ihre Strategie, dieser Hermetik-Gefahr aus dem Weg zu gehen? www.opernhaus.ch/shop Wir versuchen den Abend über reale, zeitlich verortete Situationen erfahrbar zu machen. Europa als Festung, wie wir es aktuell erleben, findet eine Ent­ oder amim Bühnenbild. Vorstellungsabend im Foyer sprechung Wir greifen historische Situationen auf, etwa den Fall der Berliner Mauer als Leichenzug für ein zu Grabe getragenes politisches System, dann über ein historisches Bild westlicher Kunstbefreiung, nämdes Opernhauses erwerben lich Andy Warhols New Yorker Pop-Art Factory. Wir haben nach konkreten Orten und Zeiten gesucht, an die der Zuschauer assoziativ anknüpfen kann wie an Eisenbahnen, die ihn durch ein dis­parates Klang- und Texterlebnis ziehen. Hinzu kommt, dass wir Heiner Müller als Figur und allgemeines Rollenmodell für das Künstlerdrama durch das System Hamletmaschine führen.

Welche Künstler braucht man, um so ein Projekt zu realisieren? Mit der Grösse der Herausforderung, die dieser Abend an alle Beteiligten stellt, wächst auch die Notwendigkeit, mit Leuten auf der Bühne arbeiten zu können, die tatsächlich begreifen, was mit diesem Stück gemeint ist – begreifen in dem Sinne, dass sie es mit Sinnlichkeit verkörpern und umsetzen können. Da haben wir, was die Besetzung angeht, grosses Glück: Nicola Beller Carbone

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als Ophelia und Scott Hendricks als Hamlet III sind auf grossartige Weise in der Lage, solche ungewöhnlichen Prozesse mitzugehen. Das gilt auch für den Chor, dem in diesem Musik­theater eine zentrale Rolle zukommt: Auch hier ist die Bereitschaft enorm, das Aben­teuer mitzumachen und zu gestalten. Die beiden Schauspieler Anne Ratte-­Polle und Matthias Reichwald wiederum, mit denen ich schon zusammengearbeitet habe, sind als produktive Fremd­ körper des Opernbetriebs in dieser Produktion ein unglaublicher Gewinn. Das gilt natürlich auch für Gabriel Feltz, unseren Dirigenten, der die Arbeit mit grosser Metiersicherheit, Gelassenheit und Loyalität musikalisch leitet. Keiner der künstlerisch Beteiligten in diesem Projekt, der Regisseur eingeschlos­ sen, kann sich auf das verlassen, was er normalerweise auf der Bühne so tut. Wir machen gerade alle neue Erfahrungen. Ich glaube, ich kenne kein anderes Opernhaus der Welt, das aktuell den Mut aufbrächte und in der Lage wäre, so eine Partitur auf die Bühne zu bringen. Ein Kunstabenteuer mit einem offenen Ende, auch für das Publikum? Genau. Wir wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was passiert, wenn alle Ebenen dieses Theaterabends zusammenkommen: die spektakuläre Klang­ erfahrung, Szene, Sprache, Gesang, Kostüme, Video, Licht. Im besten Fall könnte da ein Kunst­werk entstehen, das über den gängigen Rahmen einer Interpretation von existierenden Opern weit hinausreicht. Das ist natürlich unsere grosse Hoffnung. Das Gespräch führte Claus Spahn

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Der Ideenhimmel ist verbraucht. Es gibt nur noch M채rkte, und dadurch entsteht eine grosse Leere. Die Frage ist, ob der Mensch das aush채lt. Heiner M체ller

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ICH BOT IHM EINE ZIGARRE AN Über die Art der Zusammenarbeit zwischen Wolfgang Rihm und Heiner Müller Kluge: Sie haben mit Heiner Müller zusammengearbeitet? Rihm: Ja. Kluge: Hamletmaschine. Rihm: Was heisst «zusammengearbeitet»? Durchaus im Sinne seiner Thesen zur Oper kommt jeder von seiner Seite und bringt das Seinige. Das Seinige war schon da, und das Meinige kam hinzu und begann durch die kompositorische Arbeit zu etwas Neuem zu werden – Hamletmaschine. Ich halte das für einen der bedeutendsten Texte der letzten Zeit überhaupt. Kluge: Was ist Ihre Auffassung von Oper? Rihm: Gleich. Eigentlich habe ich ja immer versucht, wenn ich selber versucht habe, Texte zu kompilieren oder zusammenzufassen, kam immer ein Text heraus, der von der Dramaturgie der Hamletmaschine lebt. Das ist vielleicht das Ergebnis dieser Zusammenarbeit – dass ich ein für allemal verbildet bin für Plapper-Libretti. Kluge: Was ist die Auffassung von Heiner Müller von der Oper? Rihm: Es gibt «sechs Thesen zur Oper» von Heiner Müller. Ich habe den Text jetzt nicht parat, aber da steht unter anderem drin … Kluge: Man muss sie abschaffen, man muss sie chaotisieren, man muss sie … Rihm: Das wäre zu plump. Aber dass die Bildebene, die Klangebene und die Sprachebene nicht aus einem gemeinsamen Zusammenhocken entwickelt werden, entspricht mir sehr. Diese Zusammenarbeitsmentalität ist nämlich ein frommer Betrug. Sondern dass wirklich fremd, fremd, fremd zusammenkommt. Dass man nicht den Hut zieht und sagt: Jetzt sind wir bekannt, sondern: Wir sind fremd und bleiben fremd, und gehen dann wieder auseinander. Aber an der Stelle, wo sie zusammenkamen, bleibt ein Mal, ein

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Zeichen zurück, und das ist dann das, was entstanden ist. Das habe ich durch dieses Zusammenkommen erfahren. Vielleicht ist die Schilderung des Umstands der Begegnung charakteristisch. Ich habe den Text der Hamletmaschine gelesen und war sofort überzeugt: Das ist der Text, den ich jetzt für Musiktheater brauche, oder: Der bringt mich auf den Weg in ein Musiktheater. Ich war dann ein paar Tage später in Berlin und bin in ein Lokal gegangen. Da kam Heiner Müller herein, wir waren die einzigen Gäste. Ich sprach ihn an, was ich sonst nie tue, weil ich ihm ein paar Tage vorher einen Brief geschrieben hatte, und er erinnerte sich gleich. Er sah, dass ich Zigarre rauchte, da war alles klar. Ich bot ihm eine Zigarre an und hatte die Möglichkeit, Hamletmaschine zu machen. Aus einem TV-Gespräch zwischen Wolfgang Rihm und Alexander Kluge, «News and Stories», 1993

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Die Bedeutung des Musiktheaters liegt in seiner Nicht-Wirklichkeit, seiner Abstraktion, im Zauber seiner Ungebundenheit an Logik, seinem Ereignis-Charakter. Wolfgang Rihm


THEATER AUS DEM GEIST DER MUSIK Annäherungen an Wolfgang Rihms Musiktheater «Die Hamletmaschine» Von Reinhard Kager

Es war keine einfache Zeit für junge Komponisten, damals in den 1970er und 1980er Jahren. Während Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono, die Begründer der seriellen Musik, längst wieder deren allzu streng konstruierte Bahnen verlassen hatten, beherrschten damals oft weit rigidere Postserialisten die einschlägigen Festivals. Der Hang der Epigonen zu perfekter rationaler Konstruktion der Musik mündete nicht selten in ernüchternde Sackgassen. Ihm setzte der junge Wolfgang Rihm den unbeugsamen Willen zu emotionalem Ausdruck entgegen. Bereits 1979 erklärte der heute 63-jährige Komponist in der Neuen Zeitschrift für Musik: «Ich will bewegen und bewegt sein», und begründete diesen Anspruch mit dem vieldiskutierten Urteil: «Alles an Musik ist pathetisch.» Schon damals wollte Rihm freilich nicht einer naiven Unmittelbarkeit das Wort reden. Nicht zufällig schloss er seinem Plädoyer die Forderung an, dass «die Emotion aber voller Komplexität» sein müsse. Vor dem Hintergrund des sakrosankten postseriellen Komponierens wirkten Rihms Kompositionen aus dieser Zeit, wie seine Orchesterstücke Dis-Kontur (1974) und Sub-Kontur (1974/75), durch Rückgriffe auf vorserielle Traditionen wie eine Provokation. Vor allem sein Wölfli-Liederbuch (1980/81) für Bassbariton, Klavier und zwei grosse Trommeln auf Texte des psychisch erkrankten Schweizer Malers und Dichters Adolf Wölfli erregte die Gemüter: Sieben Lieder, in denen Rihm den grossen Intervallsprüngen der seriellen Musik wieder das Melos des romantischen Lieds entgegensetzte. Während in der Architektur und der Literatur dieser Zeit längst über die Postmoderne diskutiert wurde, erfand die Musikkritik für solche Rückbesinnungen auf alte Traditionen das noch problema-

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tischere Etikett der «Neuen Einfachheit». Worüber sich Rihm noch fünfzehn Jahre später erregte: «Dieses blöde Gewäsch von ‹neuer Einfachheit› war doch bloss ein Rettungsanker, dessen man sich bedient hatte, um eine ganze Generation von Komponisten unter ein Diktat zu stellen! Deswegen hatte ich auch so scharf und furchtbar gekränkt reagiert auf diese Zuordnungen», erinnerte sich Rihm 1996.

Der junge Rihm suchte nach einem neuen Musiktheater Tatsächlich kann selbst bei den frühen Kompositionen Rihms von einer unbefangenen Einfachheit nicht die Rede sein. Der Rückgriff auf Tradiertes erfolgt nämlich keinesfalls unvermittelt, keinesfalls als regressive Wiederherstellung von unwiederbringlich Vergangenem. Vielmehr blitzen in Rihms Werken Elemente aus der Tradition wie Schlaglichter auf die Historie auf, deren herrschaftliches Un-Wesen in veränderter Form in der Gegenwart fortlebt. Rihms Umgang mit der Vergangenheit ist also alles andere als verklärend. Weshalb heute, 35 Jahre nach den erbosten Diskussionen, die Aufregung kaum noch verständlich ist. Zu diesen Problemen mit der instrumentalen Musik in einer von der AltAvantgarde besetzten Zeit gesellte sich für einen am Musiktheater interessierten jungen Komponisten wie Rihm Ende der 1970er Jahre noch eine weitere Schwierigkeit: Mit Vehemenz hatten sich die Vertreter der seriellen Musik – wohl auch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs, der ungebrochen kunstvollen Schöngesang problematisch erscheinen liess – von der herkömmlichen Opernästhetik distanziert, ohne Neuansätze zu erproben, sieht man von dem ohne Operngesang auskommenden ‹instrumentalen Theater› ab, wie es etwa von John Cage oder Mauricio Kagel gedacht wurde. Fast einsam nehmen sich Luigi Nonos Musiktheater Intolleranza 1960 und Al gran sole carico d’amore (1972/74) innerhalb der seriellen Avantgarde aus, die die Opernhäuser zu dieser Zeit eher in die Luft sprengen wollte. Deshalb war zeitgenössisches Musiktheater auf den deutschen Bühnen damals überwiegend mit Opern Hans Werner Henzes und ähnlich denkender Komponisten präsent, die – bei allem Respekt vor Henzes grossem kompositorischen

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Können – den doch sehr traditionellen Erzählstrategien der üblichen Literaturoper folgen. Jungen Komponisten, wie Wolfgang Rihm, die auch neue musiktheatralische Wege gehen wollten, schlug daher auch von dieser Seite Skepsis entgegen. Rihm liess sich trotzdem nicht beirren. Bereits in seiner zweiten Kammeroper Jakob Lenz (1977/78) nach der Novelle Georg Büchners sucht er nach neuen theatralen Möglichkeiten: Als «Chiffren der Verstörung» des allmählich an seiner Umwelt psychisch zerbrechenden Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz lassen sich die für Baritonstimme komponierten Gesangslinien des Protagonisten hören: Sie sind von immer grösser werdenden Intervallsprüngen gekennzeichnet und bewegen sich auch im Falsettbereich. Obwohl weitgehend dem Erzählstrang Büchners folgend, lässt sich an diesem Dissoziationsprozess in Jakob Lenz bereits die Auflösung üblicher musikdramaturgischer Prinzipien erahnen.

Artauds Theater der emotionalen Direktheit Noch einen Schritt weiter ging Rihm in Tutuguri (1980/82), das er als Poème dansé bezeichnet: Ein geradezu atavistisches Ballett, in dem der Komponist erstmals einen auf mexikanischen Mythen basierenden Stoff von dem französischen Theaterrevolutionär Antonin Artaud vertonte, dessen Schriften Rihm seither immer wieder bewegen. Mit den furchterregend-rabiaten Klangballungen von Tutuguri will er Bewusstseinstiefen erfahrbar machen, die in der modernen Zivilisation verdrängt wurden. Unüberhörbar ist die innere Verwandtschaft zwischen Rihms hochexpressiver Musik und der Forderung Artauds nach einem ursprünglichen, auf körperlichen Spannungen und befreiendem Loslassen basierenden Theater, das allein in der Lage sei, zivilisatorisch verschüttete Schichten jenseits des Ichs durch emotionale Direktheit freizulegen. Dieser Blick ins Unbewusste kann nach Artauds vielfach missverstandenem Konzept eines «Theaters der Grausamkeit» freilich erst durch die grösste Klarheit des Bewusstseins geöffnet werden, da eine Regression aufs Unbewusste zum Scheitern verurteilt wäre. Für Rihms, 1987 uraufgeführte, Hamletmaschine, in der sein neues, auf lineare Erzählungen gänzlich verzichtendes musikdramaturgisches Denken erstmals

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auf den Punkt gebracht wurde, spielt vor allem Artauds Schrift Un athlétisme affectif (Eine Gefühlsathletik, 1935) eine entscheidende Rolle. Darin entwickelt der französische Theaterrevolutionär eine Theorie der Atemtechniken für Schauspielerinnen und Schauspieler, durch die nichts mehr dem Zufall überlassen werden soll. Durch bewusstes Atmen, so Artaud, «kann sich der Schauspieler ein Gefühl, das er nicht hat, wieder zu eigen machen, unter der Bedingung, dass die Wirkungen des Atems klug miteinander kombiniert werden». Das Ziel wäre erreicht, könnten die Akteurinnen und Akteure nach langem Training ihren Atem so kontrollieren wie Athleten ihre Muskeln, um sich durch den Einsatz entsprechender Atemkombinationen in jene emotionalen Zustände zu versetzen, die sie im Theater gerade vermitteln sollen. Artauds Thesen schlagen sich in der Hamletmaschine direkt in der Besetzung der beiden Hauptrollen nieder – sofern Heiner Müllers bildgewaltiger Text überhaupt konkrete Rollenzuweisungen zulässt. Die Figur des Hamlet, schon bei Müller changierend zwischen dem Dänenprinzen Shakespeares, einem Hamlet-Darsteller und einer Chiffre für die lähmende Rolle der Intellektuellen in der DDR, wird bei Rihm dreigeteilt: Einem Bariton stehen zwei Schauspieler verschiedenen Alters gegenüber, die ihre Texte nicht nur sprechen, sondern manchmal auch lauthals schreien oder geheimnisvoll flüstern – ganz wie Artaud dies in seinen Schriften fordert. Auch Ophelia besitzt drei Doubles – zwei Soprane und einen Mezzosopran –, die als Stimmen aus dem Sarg oder als drei «nackte Frauen» in Gestalt von Marx, Lenin und Mao auftreten. Die Figur Ophelias selbst wird, wie bei Müller, mal als Opfer des Shakespeare’schen Dramas, mal als rächende Elektra der Antike dargestellt, weshalb sie bei Rihm mit einem hochdramatischen Sopran zu besetzen ist. Darüber hinaus sieht die Besetzungsliste vier Lachende (2 Frauen, 2 Männer) und drei Schreiende (Männer) vor, die vor allem im vierten Teil, der Bezug nimmt auf den Ungarn-Aufstand von 1956, geradezu exzessiv eingesetzt werden. Hinzu kommen noch, Artaud auch darin folgend, ein mindestens 48-köpfiger gemischter Chor, ein Sprechchor sowie Stimmen, Geräusche und Geschrei von Tonbandzuspielungen. Mit diesen üppigen Mitteln will Rihm in seiner Hamletmaschine auch musik­ theatralisch jene rituelle Energie erzeugen, die bereits Artaud von seinen Schauspielerinnen und Schauspielern forderte, um das Publikum in einen Zustand der

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Entrücktheit zu versetzen, der introspektive Einsicht gewährt in die bewusstseinsbeengende Macht fesselnder Rationalität und die fatalen Mechanismen der menschlichen Geschichte, die Heiner Müller in seinem vielleicht schwärzesten Text so eindringlich schildert. Auch wenn seine hochexpressive Musik in einem gewissen Gegensatz zu Müllers postdramatischem Defaitismus stehen mag, gelingt es Rihm hier, Nietzsche folgend, tatsächlich ein «Theater aus dem Geist der Musik» zu schaffen: «Musiktheater. Nicht: Theater mit Musik», wie er in einem Brief an den damaligen Verlagsmitarbeiter Peter Oswald anlässlich der Mannheimer Uraufführung der Hamletmaschine schrieb.

Ein weichenstellendes Werk für das Musiktheater der Moderne Angesichts dieses kreativen Denkansatzes ist es erstaunlich, dass Rihms innovativexperimentelles Musiktheater nach der Mannheimer Inszenierung Friedrich Meyer-Oertels nur noch zwei Mal szenisch zu erleben war: gleichfalls 1987 in Freiburg (Regie: Andreas Prohaska) und zwei Jahre später in Hamburg (Regie: John Dew). Gattungsgeschichtlich nimmt Die Hamletmaschine jedenfalls eine ähnlich weichenstellende Rolle ein wie Luigi Nonos Prometeo (1984) oder später Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1996) – als Musiktheater, das mit den klaren narrativen Linien der herkömmlichen Literaturoper bricht und stattdessen auf die theatralische Kraft der Musik vertraut. Dafür ist in der Hamletmaschine natürlich auch der dichte Text Heiner Müllers verantwortlich, der mit präzisen, gleichsam wie in Fels gemeisselten Worten im Zuhörer assoziationsreiche Bilder entstehen lässt, die sich übereinander zu legen beginnen. Diese Vielschichtigkeit und Offenheit, diese Fragmentierung und Unabgeschlossenheit von Müllers Text war dem damals mit Artauds nicht minder verschlüsselten Texten beschäftigten Rihm überaus attraktiv erschienen. Weil Rihm die innere Musikalität von Müllers «Drama» so schätzte, behandelte er es mit grossem Respekt. Im Gegensatz zu seine später entstandenen Bühnenwerk Die Eroberung von Mexico (1991), in der Rihm Ausschnitte aus verschiedenen Texten Antonin Artauds zu einer kryptischen, die historische Begegnung zwischen dem Azteken-Häuptling Moctezuma II. und dem spanischen

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Eroberer Cortés nicht nacherzählenden, sondern bloss reflektierenden Collage zusammenstellte, folgt er Müllers Hamletmaschine erstaunlich getreu. Beibehalten wird die ironisch auf die Aktfolge klassischer Dramen Bezug nehmende Einteilung in fünf Abschnitte, wobei Rihm deren Originaltiteln in seiner Partitur einige nochmals ironisierende Untertitel hinzufügt. Der Text selbst ist nahezu ungekürzt übernommen, nur verwandelt Rihm einige Passagen (vor allem des ersten Teils) in Regieanweisungen für theatralische Aktionen auf der Bühne. Einzig der bei Müller am Ende von FAMILIENALBUM exponierte Satz: «Dann lass mich dein Herz essen, Ophelia», taucht im Musiktheater auch in anderen Kontexten auf.

Das Finale klingt wie ein implodierender Protestschrei Was Rihm an Müllers Text faszinierte, war dessen parataktische Dramaturgie, wodurch «von vielen Seiten Licht auf den Gegenstand [fällt]. Gleichzeitig,» schreibt Rihm in dem erwähnten Brief an Peter Oswald, in dem er Schönbergs frühe Monodramen Erwartung und Die glückliche Hand als Ausgangspunkte seiner Überlegungen erwähnt. Auch um die verschiedenen Perspektiven auf die Zeitgeschichte, um die Müllers Text implizit kreist, herstellen zu können, splittet Rihm seine Figuren in verschiedene Darstellerinnen und Darsteller auf: «Nicht das Herstellen von Zusammenhang ist es, das meine Arbeit antreibt», schreibt Rihm in seinen Notizen neben einer Probe, «sondern die Suche nach Un-Bindung (die Parataxe als Denk- und Imaginationsform) heizt ihr und mir ein.» Insofern hat die Heterogenität der verwendeten musikalischen Mittel Methode. Über weite Strecken ist Die Hamletmaschine von mächtig sich auftürmenden, Tritonus-gesättigten Akkorden bestimmt, oft schroff aneinandergereiht und in grellen Sforzati ähnlich blockartig artikuliert wie die Worte Heiner Müllers. Ein enormes Perkussionsinstrumentarium, das von sechs, überdies im Raum verteilten Musikern – zwei auf der Bühne, zwei im Orchester und zwei im Zuschauerraum – gespielt wird, trägt zu einer weiteren expressiven Verdichtung bei. Doch dann tauchen wieder unvermutet historische Reminiszenzen auf: Choralartige Sequenzen des Chors im ersten Teil, der auch ein veritables, von

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Hamlet gesungenes Zitat aus Händels Kantate La Lucrezia sowie ein ritornellartiges Zwischenspiel beim Auftritt Horatios enthält. Erinnerungen an Loges züngelnde Flammen in Wagners Ring des Nibelungen werden wiederum im zweiten Bild wach, als Ophelia erzählt, Feuer an ihr Gefängnis legen zu wollen. Volksmusikalisches taucht hingegen bei der Sargöffnung im SCHERZO auf: Unterhaltungsmusik tönt in der Revolutionsszene aus vier Radios; später stimmen die drei Hamlets eine den Kapitalismus ironisierende Coca-Cola-Hymne an, die fatal an frühere Sieg-Heil-Rufe erinnert. Und allenthalben geistert Gustav Mahlers Symphonik durch die Partitur wie Hamlets toter Vater. All diese Einsprengsel wirken wie kurze, unvermittelte Spotlights auf die Historie, aufblitzend in einem expressiv aufgeladenen musikalische Szenario. Im Kontrast dazu gibt es aber noch die ganz andere, ruhige Seite in dieser Partitur: Generalpausen, schmerzhafte Stille, nichts. Vor allem im zweiten Bild DAS EUROPA DER FRAU operiert Rihm mit solchen Zäsuren, in denen sich Ophelias tonloser Aufschrei, unterstützt von einer Hell-Dunkel-Dramaturgie der Bühnenbeleuchtung, gleichsam stumm ins finstere Innere des lyrischen Ichs wendet. Auch das finale WILDHARREND/IN DER FURCHTBAREN RÜSTUNG/JAHRTAUSENDE ertönt bei allmählich erstarrender Rhythmik wie ein implodierender Protestschrei. Selbst Ophelia/Elektra gebricht die Stimme nahezu, als sie, nur noch sparsam begleitet, Müllers – von einer Massenmörderin der Manson-Sekte entlehnten – Schlusssatz singen muss: «Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.» In dieser zunächst ersterbend tönenden Sequenz opponiert Rihm gegen Müllers Pessimismus: Nach einem schwierigen Zwei-Oktaven-Sprung zu einem «so lang wie möglich» im Pianissimo verhauchenden ‹h›, mit dem das Wörtchen ‹wissen› vertont ist, muss die Sopranistin «mit dem letzten Atem» ein crescendo ins forte fortissimo singen: Noch ist die Stimme des Widerstands gegen die zerstörende Kraft von Herrschaft nicht restlos verstummt.

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ÜBER MUSIKTHEATER Von Wolfgang Rihm (1986)

Musik ist selbst schon Theater. Ihre rituelle Energie müsste ein Theater hervorrufen, das nicht von Handlung und Dialogverwicklung bestimmt ist, sondern von Bild und Anrufung. Ich kann in der gegenwärtigen musiksprachlichen Situation mir nicht vorstellen, dass ein Theater der «geschliffenen Dialoge» und «subtilen Handlungsverstrickungen» unbedingt als Musiktheater sich verwirklichen muss. Die Möglichkeiten reichen weiter, und weiter zurück. Keine Aufund Abtritte von Meinungsträgern, sondern Bild und Ruf, Anrufungen, Zeichen, Traumlogik. Bild und Anrufung stellen eigene Bedingungen an Rahmen und Akteure. 1. Das Bild muss Rätsel sein, um sich ungelöst einzugraben. Die Anrufung muss von einer Lautlichkeit sein, in der sich Kulturklang und Kreaturklang treffen und vielleicht mischen können. Kulturklang ist das, was zu unserer musiksprachlichen Realität geworden ist. Alle Vorstufen sind gegenwärtig, wir bekommen sie als vorverdaute Konserven von den Medien als «Gegenwart» verabreicht. Kulturklang wird von der Gesamtheit der historischen Klangerzeuger bis hin zum gestern erfundenen Klang-Generator hervorgebracht. Seine Bedingungen stehen also für ein neues Musiktheater bereit. Kreaturklang ist der dumpfe ungestalte Klang, den wir in uns tragen und dessen Hervortönen uns stets jenes formulieren hilft, dessen wir affektiv fähig sind. Der Kulturklang artikuliert unsere effektive Kunstfähigkeit, der Kreaturklang unsere affektive. Neues Musiktheater kommt ohne beides nicht aus: Ungestaltes Schreien muss auf seine klangliche Analyse treffen, gestalteter Schrei muss dem wirklichen physischen Schrei ausgesetzt sein. Die Hervorbringung von Musik bewahrt selbst im Routineablauf einer Konzertveranstaltung noch Reste des Rituellen, dem sie entstammt. Im traditionellen Musiktheater ist die Musik-Hervorbringung meist verborgen, scheinhaft

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gelegentlich sichtbar in der Beleuchtung einiger Notenpulte. Dafür steht die Musik als Klanggeschehen im Mittelpunkt. Aber ist sie noch Theater? Das Kino-Ideal der unsichtbaren Klangherkunft müsste vom Musiktheater nicht weiter nachgeahmt werden, nachdem das Kino-Ideal seinerseits einer Nachahmung speziellen Musiktheaters entstammt: des Wagnerschen.

Es handeln Zustände Also: Möglichkeiten sichtbarer Klangerzeugung müssen bereitstehen, damit verschiedene Grade der Sichtbarkeit komponiert werden können. Das Geheimnis des Klanges wird nicht unbedingt dort auftauchen, wo nichts zu sehen ist. Die rituelle Energie eines oder mehrerer Menschen im Akt der Klangerzeugung ist TheaterPotential, das im Orchestergraben ungenutzt abfliesst, verlorengeht. Der Klang ist Akteur, seine Hervorbringung kann komponierte Aktion sein, Handlung. 2. Neues Musiktheater fordert die Abwendung von einem arbeitsteilig spezialisierten Darstellertypus und die Hinwendung zu einem komplex aktionsfähigen Akteur. Das setzt voraus: gleichberechtigte Ausbildung der Sprach-, Gesangs- und Schreifähigkeit. Ferner: die Ausbildung einer psychophysischen Mobilität im Sinne der «Gefühlsathletik» Antonin Artauds. Der an die Rampe tretende Gesangsstar wird höchstens noch als perverses Zitat vorkommen. «Übernahme» und «Gestaltung» von «Rollen» und «Partien» wird es immer weniger geben. Möglicherweise nimmt der Künstler als Medium teil an Anrufung und Bild. Damit sind nicht gottesdienstartige Situationen gemeint, wohl aber Feste, aussergewöhnliche Akte. Die Bedeutung des Musiktheaters (und damit seine Chance) liegt in seiner Nicht-Wirklichkeit, seiner Abstraktion, im Zauber seiner Ungebundenheit an Logik, seinem Ereignis-Charakter. 3.  Das Bild – dessen Rätselhaftigkeit gefordert wurde – ist nicht mehr nur Rahmen, es ist selbst Aktion, Akteur, Körper. Dabei kann es fremd bleiben, wie überhaupt Verdoppelung nicht mehr stattfindet. Klang, Bild und Text können sich in gegenseitiger Unkenntnis ausformen. Wo eines auf das andere trifft, entsteht Handlung. Die Handlung hat ihren Schwerpunkt im Mythos, in einer kollektiven Bewegung; oder in einer subjektiv interpretierten historischen Konstellation. Es handeln Zustände.

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4.  Die Dramaturgie des neuen Musiktheaters wird immer mehr wirkliche DRAMA-t-URGIE sein müssen, solche, die das Drama mithervorbringt durch ihre Funde, offenen Enden, hete-rogenen Materialien. Kausaldramaturgie im Sinne eines «daher», «deshalb» und «weil» lebt weiter in historisierenden Formen des Musiktheaters wie zum Beispiel der Oper als Literatur- oder Spieloper, der Operette, dem Musical (dort ist übrigens die Auflösung der Kausaldramaturgie am weitesten vorgeschritten, in paradoxem Verhältnis zur offensichtlichen Unentwickelbarkeit der Musiksprache). «Durchgezeichnete» Charaktere und «schlüssige» Handlungsabläufe sind vollständig vom Film absorbiert und dort auch optimal darstellbar. Das Geschichtenerzählen ist für das Musiktheater kein notwendiges Anliegen mehr. Es kann – derart befreit – zu Formen totalen Theaters sich entwickeln. Totales Theater kann nur ein Musik-Theater sein.

Fragmente von hoher Bindungsenergie Auf der Sprechbühne werden oft Möglichkeiten verschenkt, da die Musikauswahl der Regisseure meist anspruchslos bleibt im Verhältnis zu deren avanciertem Umgang mit Text und Bild. Die Inszenierungen partizipieren gleichwohl an opernhaften Topoi und tendieren zu Lautlichkeit und Klangtableau. Eine Entwicklung: Musikalisierung des Sprechtheaters parallel zur Steigerung einer bildhaften Begrifflichkeit beim Musiktheater. Wo beides aufeinandertrifft, könnte eine Handlung entstehen, eine szenische Aktion, deren «Begriffe» nicht vom Wort geprägt sind und deren Verläufe Klangbilder und Bildklänge evozieren, in denen Worte magisch aufscheinen. Auf dem Weg dorthin scheinen mir – bei aller offensichtlichen Unterschiedlichkeit von Ausgangspunkt und Ergebnis Werke wie zum Beispiel Prometeo von Luigi Nono und die bis jetzt vorliegenden Teile von Licht von Karlheinz Stockhausen zu sein. Diese Perspektiven rühren an eine Art «Geburt» des Theaters «aus dem Geist der Musik». 5.  Die Rolle des Textes hierbei wird der eines Steinbruchs gleichen. Texte von hoher imaginativer Qualität, die keine Ablaufstrategie mehr aufzwingen, münden in eine Art Gesamtklang, schiessen in Bildern zusammen. Der Dichter ist als VerDichter gefordert, nicht mehr als Librettist. Dichter und Dramaturgen

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formulieren den Text-Block, an den sich Musik anlagert, aus dem Musik das herausbricht, was sie in sich hineinzieht. Die Theater-Texte Heiner Müllers haben jene Qualität imaginativer Blöcke. Musik wird «hervorgerufen», Handlungsräume scheinen auf, beherrschen aber nicht den Verlauf. Paradox: Gebundene Offenheit kennzeichnet die Szene, argumentativer Bildersturz, Schlaglichtdramaturgie, Fragmente von hoher Bindungsenergie. Das Extrem ist denkbar: ein Musiktheater ohne Worte (NB: was anders sind Aufführungen in «Originalsprache» vor einem dieser Sprache nicht mächtigen Publikum?). «Ohne Worte» meint allerdings nicht: ohne Textebene. Alle menschlichen Äusserungen – auch die Körpersprache – sind «Text» im musikablen Sinn. Der Text für ein Musiktheater muss kurz sein. Fünfzehn Seiten Text können schon über zwei Stunden Musik-Zeit ergeben. 6.  Eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten halte ich erst dann für fruchtbar, wenn das Musiktheater in seiner Text- und Musikebene schon vorliegt. Zu frühe Verbindungen führen zu hindernden Verbindlichkeiten. 7.  Die Entstehungsvorgänge eines neuen Musiktheaters bedürfen vor allem der Freiräume. Geduldsfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit von Veranstaltern und Verlegern müssen aufs Höchste gefordert werden können. Die von verschiedenen Seiten eintreffenden Ergebnisse müssen von der Dramaturgie in stets neue Bezüge gesetzt werden. Die szenische und musikalische Leitung wird ihrerseits dramaturgische Arbeit zu übernehmen haben. So wenig Dichter und Komponist «eng» zusammenarbeiten müssen – sie können es selbstver-ständlich – , so eng müssen Regisseur und Bühnenbildner mit der musikalischen Leitung zusammenarbeiten. 8.  Die Vermittlung wird den Charakter aussergewöhnlicher energetischer Ereignisse erhalten müssen. Kollektive Spannung erwartet Teilhabe am rituellen Vorgang. Theater als das Besondere (Musiktheater erst recht) – jenseits von Belehrung und historizistischer Museumskunst. Eine Art dunkles oder helles Fest. Aber ein Fest. Für die Teilnehmer steht etwas auf dem Spiel, der Ausgang ist ungewiss. Das Ganze muss sich als Zeichen einprägen. Wie kann ein Komponist anders, wenn er von neuem Musiktheater spricht, als träumen. Von Möglichkeiten und Entwicklungen. Wenn ich von einem neuen

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Musiktheater träume als einem Theater der Bilder, der Klangzeichen und traumatischen Rufe, als einer diskursiven Verlängerung des Traumes in die Wirklichkeit, dann träume ich auch auf sehr reale Möglichkeiten hin: –  auf einen Darstellertypus hin, der im erweiterten Sinne des Schauens und Spielens mächtig ist und dessen Stimme vor Gesang und Schrei nicht versagt; –  auf einen Raum hin, in dem die Bilder aufsteigen und vergehen können, einen Traumraum; –  auf eine Dramaturgie der Inspiration hin, die das Drama immer neu hervorbringen hilft und die entstehenden Fragmente koordiniert, ohne sie aber zu verbinden; –  auf Texte hin, aus denen sich Musik brechen lässt, ohne dass sie Schritte vorzeichnen, Denkräume und Schauräume verstellen durch vorexerzierte Kausalitat; –  auf Freiräume hin, in denen all dies, ohne Ziel, entstehen kann. Nur von der Musik kann ich jetzt nicht träumen. Ihre Gestalt ist noch zu konkret. Die Frage ist ernst: Ist neues Musiktheater auch mit wirklich neuer Musiksprache möglich? Oder zwingt die Schwerkraft des Apparates immer wieder zurück in abgebrauchte Formulierungen? Und sei es nur, um verstanden zu werden, denn die Ohren der Menschen sind verstopft, und ein fremder Klang ist immer viel fremder als ein fremdes Wort. Deshalb muss unbedingt davon geträumt werden: von einem neuen Musiktheater mit einer wirklich neuen Musik. Es wird der einzige Weg sein, über die festgeklungene Musiksprache in den Ohren und Köpfen hinüberzugelangen: zu träumen … Ohne neue Klänge ist neues Musiktheater akademischer Staub, und sei es noch so «zeitgenössisch».

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GANGARTEN Wolfgang Rihms Brief zur «Hamletmaschine» an den Verlagsmitarbeiter Peter Oswald

Hamlet ist die Methode. Nichts ist sicher, selbst der doppelte Boden könnte vierfach oder gar nicht existieren. Die Figur, die in der Theaterwirklichkeit als Funktion, Mechanik, Maschine schon anwesend ist, bestimmt die Gangart der Annäherung an sie: gleichzeitig von allen Seiten, die Denkfigur implodiert. Heiner Müllers Text ermöglicht ein Theater aus dem Geist der Musik, Musiktheater. Nicht: Theater mit Musik. Die Verläufe seines Textes «gehen» wie Musik. Sie fallen ineinander und auseinander wie Klangzustände, Tonverläufe, DichtePerspektiven in der Zeit. Der Sog entsteht nicht durch ein «Schritt für Schritt», eher durch ein «Schicht für Schicht». Wir spüren die Gewichte der abgelagerten Massen. Stoff. In die Geologie dieses Textes eindringen heisst: ihn als Steinbruch lesen, das heisst: in seinem Material den Weg formen, um ihn dort zu suchen. Am Ende steht nicht Hamlet oder ein Täter oder eine Überführung oder ein «offener Schluss» – da es kein Ende gibt. Aber Ophelia «steht für» einen Schluss, sie ist zentral. Teil 2 und 5, die Opheliatexte, sind immer mehr: Frauen-Musik, Musik von der Frau, der Klang wird weiblich, die MannStimmen verlieren ihre Artikulationsfähigkeit, werden stumpfe Präsenzgeräusche. Ophelia erleidet. Hamlet, den es immer weniger «gibt», will immer irgend etwas. Stets will er Ophelias Herz essen. Wir kennen das von uns: Verzehr des Gefühlsortes macht Gefühl, das wir nicht haben! Aber – Frau kaputt. Mensch – weg. («Blut aus dem Kühlschrank» brüllt die Regieanweisung und gewinnt ein Bild aus dem alles verzehrenden Konsum-Exercierplatz.) Hamlet verliert sich, Ophelia übersteht. Gegenwart war immer schon Endzeit. Eine Musik dazu gibt es nicht, allenfalls eine davon. Für mich war die Einlassung Hamletmaschine ein schmerzhaft befreiender Vorgang: Der Weg in ein Musiktheater scheint möglich, dessen Ebene zwar das Theater, dessen Ort aber die Musik ist. Nichts sonst rechtfertigt, dass Menschen

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Töne aus dem Mund verlauten lassen. Sie müssen Teil eines Musikstromkreises sein, Lichter der musikalischen Energie. Auch die nicht abgetönte Äusserung, das gesprochene Wort, kommt hier in die Musik, fast als perkussive Schicht. Eine Figur spricht auf vielen Ebenen, aus vielen Schichten heraus. Aufspaltungen geschehen. Hamlet zum Beispiel fällt sich in Wort, Ton, Gebärde. Drei Körper vielleicht sind eine Hauptrolle. Auch ist diese in die Zeit gespannt, kennt sich von früher und später. Dies alles vor den «Ruinen von Europa», deren Staub immer noch die beste und kräftigendste Nahrung ist, dem, der die Dinge auseinandersetzt, der wissen will: woher und wohin, dem es nicht genügt, dass etwas funktioniert, der – selbst Maschine – sich abarbeitet an seinem Herkommen, seiner Prägung, gerade weil es keine Flucht gibt, steht alles offen. Ophelia weiss alles. Das «Nichts-geht-mehr» reisst sie in Räume hinein (Enormous Room, Tiefsee), die keine Begrenzung mehr aufweisen, woran etwas evident werden könnte: Projektionen, Sprüche, Grenzen, usw. Sie sprengt sie dennoch. Aber es ist nicht meine Sache, Müller zu erklären. Der Text, sein Text, steht für sich und ruft um sich hervor, worauf er steht. Und meine Musik ist meine Musik. Und doch habe ich sie immer weniger gekannt. Am Anfang – so legt es der Text im Vordergrund nahe – stemmen den Ablauf gerade noch die Familienbilder aus dem Album. In Tonfälle wird gefallen, Mama, Papa, der Onkel, Geisterbahn mit Schulfreund, im Bett, krank, auf dem Ausflug, Händel-Arie, auf der Bühne: Richard III. Und so fällt das alles heraus aus der Schachtel, achtlos gesammelt, aber prägend wie genetisches Material. Die Gangart ist wechselnd, bunt. Aber schon in Teil 2 setzt sich – Ophelia ruft es hervor – der Zusammenhang in Gang. Das Licht singt mit. Was am Anfang vielleicht noch Kulturmüll war, wird nach und nach durch Pressung zu Maschinenöl. Ein Scherzo knattert geschmiert heran. Überhaupt beherrscht blutiger Blödsinn nicht nur Shakespeare, sondern auch Heiner Müller; im Auf und Ab der Exegesen mag das manchmal verschütt’ gehen. Das bittere Lachen – auch eine Cantilene. Jedenfalls straucheln die eingeschlagenen Gangarten, der Ekel treibt den, der sich ekelt, also hier: Hamlet, aus dem Zusammenhang heraus, er wird (her) ausgedrückt, der stoffschwere Mitesser, und platzt aus dem Drama «nein, meine Rolle spiel’ ich nicht!» So tönt der Ausgedrückte und artikuliert – zuerst fast unmerklich, dann unüberhörbar – seine Herkunft aus dem geschichtlichen

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Ernstfall. Alles kippt und jeder Hintersinn gefriert mit dem Lachen, denn der Hamlet ist mitten in seiner Rolle aus der Rolle gefallen und alptraumhaft diktiert ihm seine Doppelbesetzung den Text. Er steht auf beiden Seiten: bei den Aufständischen und bei der Polizei; von beiden Standorten aus kann er sich auf der anderen Seite erkennen. Sein Ekel, gar nicht mehr intellektuell, wohl aber der des Intellektuellen, würgt ihn. Als letzte Rettung fällt ihm ein: «Mein Drama findet nicht mehr statt», so glaubt er sich entkommen zu können. Nun hat es ihn erst recht. Musik! Musik! «Auf beiden Seiten der Front» – tragischer Ort (je)der Musik, die sich immer genauso appellativ anhört, ob sie nun «links!» oder «rechts!» tönt. Musik kann Immer nur «kehrt» rufen. Die Kehre ist ihre Sache. Der andere Schritt, die andere Richtung. Sie erweist sich, tritt selbst nicht ein. Sowie sie gängige Richtung begleitet ohne Einrede, ist sie verloren, wird sie minimal, ephemer, Möbel, Coke, Fernsehen, Gemütlichkeit, Heil. – (Kehre, bitte, nicht Wende! Danke.) Das Drama stellt sich her durch die viel springende Projektionsebene der Musik. Durch sie bricht sich das Klanglicht, der tönende Anschein; die Kontur wird ausgeprägt nicht als Geschichtchen, sondern als geschichtlich. Selbst dieser anstrengende und angestrengte Zusammenhang muss durch die Brechung hindurch. In latenter Komik wird ihm krass das Lachen, das Lachhafte und Lächerliche abgepresst – ohne dass er Schaden nehmen muss. «Schaden» muss relativ verstanden werden. Von Beschädigung singt das Ganze, dieses aber vollständig. Von Beschädigung des Einzelnen durch Staat und Geschichte, Beschädigung der Staatsidee durch Staatstragende, Beschädigung der Geschichte durch Historiker (die neuesten Versuche einer Relativierung des Unvergleichlichen sind nicht ermessbar in ihrem unbegrenzten Schaden, Schaden in den Köpfen der Jetzt-Kinder, später: Spätgeborenen, ob mit Gnade oder ohne) … Schaden wird nicht nur genommen, er wird auch zugefügt, gegeben, gestiftet, geschenkt. Dass Ophelia von schreienden Männern Schaden angetan wird, ist kein Schlussbild. Überhaupt: Wovor sollte der Vorhang fallen? Vor Kunst? Theater, Oper? Schönbergs Musiktheater – Die glückliche Hand, Erwartung – ist mein Ausgangspunkt. Dort sehe ich angelegt: Musiktheater als psychologische Klangdramatik, die in Gedankengänge eingreift, diese weitertreibt, weit über das Denkbare. Klanghandlung. Hinzu kommt durch Heiner Müllers parataktische Dramaturgie

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die Loslösung von Aufenthalt durch lange und breite Erklärnisse. Szene-BildKlang schaffen Klarheit ganz anderer Art: von vielen Seiten fällt Licht auf den Gegenstand. Gleichzeitig. (Beispiel: Während vorne gerade der Drache hereingeschoben wird, hat ihn hinten Siegfried schon längst getötet, ja – ist er, Siegfried, selber schon getötet worden und wieder zurückgesprungen, dorthin, wohin die Erklärung seiner als Argument bedarf. Aber er ist Don Giovanni.) Schönberg, Wagner, Varese, der mit Antonin Artaud einen MusiktheaterPlan hegte – Namen, als wären es geschichtliche Gattungen, «Techniken», an denen Partizipation möglich wäre. Ophelia ist Elektra, auch Kundry – vor der Fusswaschung, ihrer Magdalenisierung. Hamlet ist nicht Siegfried, auch nicht Don Giovanni, wohl aber –, was ich meine: Kausalzusammenhänge sind aufgehoben, sowie ein Ton erklingt. Es ist absurd, Musik zur Unterstützung kausaler Abläufe heranzuziehen. Musiktheater hat die Kraft, wirklich «die Kunst der Zukunft» (Ruth Berghaus hörte ich neulich in einem Fernsehinterview in diese Richtung sprechen) zu werden. Zusammenwirkung der Bereiche, ohne Aufmischung und Schmelzprozess. Sondern dialektischer Verbund von Fremdkörpern. Aber davon mehr später. Vielleicht an Oedipus? Herzlichst W. (Wolfgang Rihm), 1987

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SECHS PUNKTE ZUR OPER 1. Realismus, auf dem Theater wie in allen Künsten, ist Übersetzung von Realität in eine andere Form. Jede Form tendiert zur Konvention, jede Institution zum Konservatismus: Das Theater braucht den Widerstand der Literatur, die mit neuem Wirklichkeitsmaterial die Überprüfung seiner Mittel und Techniken und die Herausbildung neuer Mittel und Techniken erzwingt. Kein neues Theater mit alten Stücken. 2. Die Oper ist dem Formalisierungszwang und Traditionsdruck stärker unterworfen als das Schauspiel. Sie braucht den stärkeren Materialwiderstand. Die Schwierigkeit ist eine Möglichkeit: Distanz, als Funktion der Musik, muss nicht, geografisch oder historisch, vom Stoff beigebracht oder, formal, vom Libretto geleistet werden; die Oper kann in höherem Grad als das Schauspiel ein operatives Genre sein: Was man noch nicht sagen kann, kann man vielleicht schon singen. 3. In einer Rede Walter Ulbrichts auf einer Baukonferenz, ich glaube 1963, findet sich die Formulierung: Bei Anwendung der komplexen Fließbauweise «wird der Bauarbeiter zum Dirigenten der Baustelle». Die zunehmende Ästhetisierung der Praxis, die Aufhebung des Gegensatzes von Arbeit und Spiel, Alltag und Geschichte, Privatem und Gesellschaft in der Einheit von Sozialismus und wissenschaftlich-technischer Revolution, öffnet der Oper, die zur Darstellung nichtantagonistischer Widersprüche besser ausgerüstet ist als das Schauspiel, ein weites Feld. Jeder Gesang enthält ein utopisches Moment, antizipiert eine bessere Welt. Mit der Flucht nach vorn aus dem Teufelskreis der feudalen und frühkapitalistischen Geschichte in den utopischen Weltentwurf gewinnt in Shakespeares Spätwerk die Rolle der Musik an Umfang. Inzwischen ist die Utopie, im Sozialismus, Wissenschaft geworden, die Produktion, als Selbstverwirklichung des Menschen, Gegenstand der Kunst, statt Milieu oder Hintergrund für «EwigMenschliches». Das Interesse geht auf den konkreten Menschen, nicht mehr auf

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seine Abweichung von einer abstrakten Norm. Im Prozess der Entwicklung des Theaters vom Laboratorium zum Instrument sozialer Fantasie kommt der Oper eine führende Rolle zu. 4. Es versteht sich, dass die Oper Neues nicht darstellen kann, ohne sich selbst zu erneuern. Aus dem aristokratischen wird ein demokratisches Genre. Die Musik diskutiert mit dem Publikum. Paul Dessaus Puntila-Oper zum Beispiel wäre auf ihre Diskussionsqualität zu untersuchen. Einsatz neuer musikalischer Techniken als Kommunikationsmittel. Nicht Reduzierung von Emotionen, sondern Diskussion ihrer sozialen Grundlagen. Die Diskussion seiner Verbindlichkeit steigert und legitimiert den Genuss. Im Demokratischen ist das Kulinarische aufgehoben; eliminiert wird das parasitäre Moment. 5. Gegen den Historismus. Den Sozialismus aufbauend, tritt die Arbeiterklasse das Erbe allen Fortschritts an. Zu diskutieren wäre, ob der Anachronismus, Strukturelement der elisabethanischen und der großen spanischen Dramatik, in historisch neuer Qualität ein schöpferisches Prinzip sein kann (Geschichte im Zeitraffer). Wie weit, unter diesem Aspekt, die Unterscheidung zwischen historischem und Gegenwartsstück aufgegeben werden kann. 6. Entwicklungshemmend ist, scheint mir, die zu frühe Kooperation der Partner (Librettist, Dramaturg, Komponist, Regisseur usw.). Damit das Ganze mehr als seine Teile ist, muss jeder Teil zunächst ein Ganzes sein. Je später die Verbindung, desto mehr an Realität und Individualität wird eingebracht. Je stärker die Bauteile ihre Selbständigkeit behaupten, desto komplexer das Gesamtkunstwerk. Nebenbei: Es gab nie so viel Dramaturgie bei so wenig Dramatik wie heute. Eine russische Tänzerin wurde gefragt, was sie mit einem bestimmten Tanz sagen wollte. Ihre Antwort: »Wenn ich das mit Worten sagen könnte, hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, es zu tanzen.« Die Tatsache, dass Kunst hier und heute zunehmend ein gesamtgesellschaftliches Phänomen wird, bedingt die Erhöhung der Eigenverantwortlichkeit ihrer Produzenten. Heiner Müller

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ICH WILL EINE MASCHINE SEIN Zum Verhältnis von Autor und Werk bei Heiner Müller und Andy Warhol

Wie das Verhältnis von Autor und Werk jenseits der Idee individueller Urheberschaft zu bestimmen ist, fragt nicht erst Michel Foucault im Anschluss an Roland Barthes in seinem für die Literaturtheorie bedeutsam gewordenen Essay Was ist ein Autor?, sondern die Literatur der frühen Moderne von Anfang an. Auch für Heiner Müller war diese Frage zeitlebens prägend. Mit der Hamlet­ maschine, 1977 verfasst und von Müller selbst immer wieder als «Epochenmarke» seiner «Theaterarbeit» bezeichnet, erreicht die Negation autonomieästhetischer Autorschaft ihren Höhepunkt. Sie nimmt in Müllers Schaffen eine herausragende Stellung ein, denn aus der schon früh beobachtbaren Tendenz zur Auflösung der Verbindung von Autorschaft und neuzeitlicher Subjektidee entsteht mit ihr ein Drama, das die mens auctoris im Zitatcharakter des Werks, im breiten Spektrum eingespielter Diskurse und in einer eminenten Offenheit verschwinden lässt. In der Hamletmaschine findet Foucaults Idee einer subjektlosen Textgenerierung ihre mustergültige Realisierung. Bereits der Titel des Stückes evoziert die Substitution des Kunstwerks als museales Original individueller Schöpfung. Denn nicht nur auf eine Selbstcharakterisierung des Shakespeareschen Hamlet als Maschine in einem von Polonius zitierten Brief an Ophelia geht er zurück, sondern vor allem auf die Negation der organischen Zeugung in Anlehnung an Marcel Duchamp und Andy Warhol. Bereits Duchamps Hauptwerk Grosses Glas dekonstruierte die Idee vom autonomen Künstler, der seine Werke aus sich selbst heraus zeugt und gebiert. Die Hamletmaschine jedoch thematisiert nicht mehr nur wie Grosses Glas das Umschlagen des Begehrens autonomer Schöpfung in Fantasien der Selbstvernichtung, etwa über die viel zitierte Zerreissung der Fotografie des Autors, sondern realisiert analog zu Konzepten im Umkreis von Andy Warhol die Phantasien

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der Selbstvernichtung. Der programmierte Mechanismus der Selbstzerstörung besteht dabei in einer hypertroph verwendeten Zitatmontage am Ende des Stücks. So transzendiert Ophelias grosser Schlussmonolog das traditionelle Verfahren der Bezugnahme auf Einzeltexte, jenes Verfahren also, dass an sich schon geltend macht, dass jeder Text an Vorgaben und Traditionen gebunden bleibt, mithin für die Entstehung eines Werkes mehr als nur ein Autor nötig ist.

Kunstproduktion mit maschinellen Verfahren Im 4. Bild der Hamletmaschine formuliert der Hamletdarsteller nach der Zerreissung der Fotografie des Autors ein Bekenntnis zu einer Maschinenexistenz, die an die Stelle des genialen Künstlers treten soll. Den Wunsch Andy Warhols nach einem bewusstlosen Maschinendasein zitierend, weist es zurück auf das Ende des 1. Bildes, wo sich Hamlets Auflehnung gegen den väterlichen Genieanspruch in die Vision versteigt, die Leiche seines Vaters in den «Abtritt» zu «stopfen». Über die Referenz auf Andy Warhol evoziert der Rückzugswunsch in ein selbstvergessenes Dasein ohne Schmerz eine Kreativität als quasiindustrielle Angelegenheit. Der transzendente Wunsch, Maschine zu sein, gründet also nicht nur in der der Sehnsucht nach dem Ende aller Selbstzerfleischung, sondern auch in der Weigerung, Verantwortung für das eigene Schaffen zu übernehmen. Solcherart affirmiert er Verfahren der Kunstproduktion, in denen die Spuren individueller Fotografie, des Siebdrucks oder des blotted-line-Verfahrens, und Werke, die nichts mehr sind als Träger von Bildern entweder im Verhältnis eins zu eins oder in Serien. Damit findet sich der genieästhetische Schöpfungsbegriff zwar von Grund auf negiert, an die Stelle des väterlichen inventore individualistischer Prägung, verhasst und verachtet, worauf er neben der erwähnten Alptraumszene auch Hamlets Weigerung deutet, Rache für den Vatermord zu übernehmen, tritt die Idee des technisch versierten Künstlers, dessen Fähigkeit zu sehen und zu entscheiden, was sichtbar werden soll, massgeblich ist. Er schafft Neues insofern, als er mittels maschineller Verfahren eine neue Sichtweise für etwas schon Vorhandenes findet. Die Reproduktion des wohl berühmtesten Portraits der Kunstgeschichte, die Mona Lisa, die Warhol 1963 zu einem Original verarbeitet, das aus dicht gereihten kleinformatigen

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Schwarzweiss-Drucken besteht, symbolisiert diese Idee des Kunstschaffens. Darüber hinaus impliziert Warhols Entlastungsutopie im Mund des Hamletdarstellers, denkt man an die Serie der Do-it-yourself-Bilder, die Einsicht in die Bedeutung, die dem Rezipienten bei der Zerstörung der auratischen Schöpfungsidee zukommt.

Der Autor als ein in die Pluralität von Texten entgrenzter Schöpfer Dadurch, dass Ophelias Schlussmonolog Texte aufruft, die nicht mehr als Quellen markiert sind – sei es eine Passage aus Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness, eine Formel aus Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde und ein Wort von Susan Atkins aus der Manson-Bande – macht dieser polyphone Text nicht nur die Einsicht geltend, dass jedes Werk ein Zuvor enthält, welches im Modus der Verwandlung Aktivierung erfährt, sondern situiert darüber hinaus das dichterische Subjekt im Assoziationsbereich des Fremden, entgrenzt es zu einem anonymen Kollektivsubjekt, das Textteile, Gedanken und Zitate aufruft, die hinsichtlich ihrer Herkunft und Botschaft unbestimmt bleiben können und sollen. Ein Autor in diesem Verständnis ist ein in die Pluralität von Texten entgrenzter Schöpfer. Diese Entgrenzung am Ende der Hamletmaschine hat Kontinuität und ist doch speziell, denn von der früher geübten Aneignung der eigenen Tradition, die die Form der Genealogie besass – begriff sich doch der Künstler vor der Hinwendung zum Irregulären als in einer poetischen Erbfolge stehend und sah sich gezwungen, seine Abkunft durch Angabe der Vorgänger zu belegen –, unterscheidet sie sich durch die Empfänglichkeit für verschiedene, nur anonym und subjektlos verfügbare Überlieferungen, die als ebenbürtig angenommen und in den Bewusstseinshorizonts gehoben werden. Das traditionelle Verfahren der Bezugnahme auf Einzeltexte bleibt zwar erhalten, wie die vielen Markierungen von Selbst- und Fremdzitaten im Stück signalisieren, wird aber derart hypertroph verwendet, dass die Autorisierungsfunktion zerstört wird. Nicht mehr um ästhetische Dignität geht es daher, nicht um Unangreifbarkeit, Kohärenz oder Plausibilität hinsichtlich einer bearbeiteten Tradition, sondern um die vollständige Zerstörung des Anspruchs auf Wahrheit und Dauer.

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Andy Warhol fasst mit seiner Unsichtbaren Skulptur diese Parole der Zerstörung noch einmal zusammen. Dazu lässt er sich am 8. Mai 1985 im Schaufenster eines New Yorker Nachtclubs in einer Pose fotografieren, die seine androgyne Erscheinung noch betont. Die Werkbezeichnung, die währenddessen zu lesen war, trifft jedoch erst zu, nachdem er bereits gegangen ist. Erst seine Abwesenheit lässt die Skulptur entstehen. Wo ein Künstler ist, ist noch kein Werk, und wo ein Werk ist, ist viel und anderes mehr als nur ein Künstler. Liesse sich so das Motto dieser Skulptur formulieren, sei auch betont, dass Warhol mit dem Verzicht auf rezeptionslenkende Vorgaben die Bedeutung der koproduzierenden Rezeption unterstreicht. Denn der Künstler, der nicht ist, wo sein Werk ist, ist auch nicht mehr Ursprung im Sinne der auctoritas. gekürzter Auszug aus: Anja Pompe SHAKESPEARES FACTORY

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ÜBER DEN BEGRIFF DER GESCHICHTE Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heisst. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füsse schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradise her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. Walter Benjamin

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DER GLÜCKLOSE ENGEL Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttelt Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schliesst sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt. Heiner Müller, 1958

Glückloser Engel 2 Zwischen Stadt und Stadt Nach der Mauer der Abgrund Wind an den Schultern die fremde Hand am einsamen Fleisch Der Engel ich höre ihn noch Aber er hat kein Gesicht mehr als Deines das ich nicht kenne Heiner Müller, 1991

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Hoffnung ist nur ein Mangel an Information. Heiner M端ller


Programmheft DIE HAMLETMASCHINE Musiktheater in fünf Teilen von Wolfgang Rihm Premiere am 24. Januar 2016

Herausgeber

Intendant

Opernhaus Zürich Andreas Homoki

Zusammenstellung, Redaktion Claus Spahn

Layout, Grafische Gestaltung Florian Streit

Titelseite Visual

François Berthoud

Anzeigenverkauf Opernhaus Zürich, Marketing

Telefon 044 268 64 14, inserate@opernhaus.ch

Schriftkonzept

Druck

Textnachweise: Die Essays von Ludwig Haugk («Ein radikaler Blick in den Abgrund») und Reinhard Kager («Theater aus dem Geist der Musik») sind Originalbeiträge für dieses Programmheft, ebenso wie die Interviews mit dem Komponisten Wolfgang Rihm und dem Regisseur Sebastian Baumgarten. Der Interviewausschnitt Rihm/Kluge (S.55) ist zitiert nach https://kluge.library.cornell.edu/de/conversations /mueller/ film/100/segment /1826 Die Texte «Über Musiktheater» (S.73) und «Gangarten» (S.80) entstammen dem Buch «Wolfgang Rihm: Ausgespochen, Schriften und Gespräche», Bd.2, Amadeus-Verlag Winterthur, 1997.

Studio Geissbühler Fineprint AG

Der Text von Heiner Müller «Sechs Punkte zur Oper» (S.84) ist zitiert nach «Die Hamletmaschine» – Programmheft der Hamburgischen Staatsoper, 1990. Die Textpassage «Ich will eine Maschine sein» (S.86) ist zitiert nach Anja Pompe SHAKESPEARE-FACTORY in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 42. H.1, 2011 Bildnachweis: Tanja Dorendorf fotografierte die Klavierhauptprobe am 13. Januar 2016. Urheber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten


Unsere Vorstellungen werden ermöglicht dank der Subvention des Kantons Zürich sowie den Beiträgen der Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Zug und Aargau im Rahmen der interkantonalen Kulturlastenvereinbarung und den Kantonen Nidwalden und Obwalden. PARTNER

ab PRODUKTIONSSPONSOREN Evelyn und Herbert Axelrod Freunde der Oper Zürich

Swiss Re Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG

Walter Haefner Stiftung PROJEKTSPONSOREN AMAG Automobil- und Motoren AG Baugarten Stiftung Familie Christa und Rudi Bindella René und Susanne Braginsky-Stiftung Clariant Foundation Freunde des Balletts Zürich

Max Kohler Stiftung Ringier AG Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung Swiss Life Zürcher Festspielstiftung Zürcher Kantonalbank

GÖNNER Abegg Holding AG Accenture AG Josef Ackermann Alfons’ Blumenmarkt Allreal Ars Rhenia Stiftung ART MENTOR FOUNDATION LUCERNE Familie Thomas Bär Berenberg Schweiz

Ernst Göhner Stiftung Egon-und-Ingrid-Hug-Stiftung Walter B. Kielholz Stiftung KPMG AG Landis & Gyr Stiftung Lindt und Sprüngli (Schweiz) AG Stiftung Mercator Schweiz Fondation Les Mûrons Neue Zürcher Zeitung AG

Beyer Chronometrie AG

Notenstein La Roche Privatbank AG

Elektro Compagnoni AG

Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung

Stiftung Melinda Esterházy de Galantha Fitnessparks Migros Zürich

Else von Sick Stiftung Swiss Casinos Zürich AG

Fritz Gerber Stiftung FÖRDERER Confiserie Teuscher Frankfurter Bankgesellschaft (Schweiz) AG Garmin Switzerland Horego AG Istituto Italiano di Cultura Zurigo

Sir Peter Jonas Luzius R. Sprüngli Elisabeth Stüdli Stiftung Zürcher Theaterverein


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