MAG 55: Idomeneo

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48 Auf dem Nachhauseweg

Pirouetten auf dem Eis Dass in Ballettvorstellungen ein Publikum sitzt, das sich vom Opernpublikum unterscheidet, ist Frau Mani schon lange aufgefallen. Beim Ballett aber von ihren Freunden geradezu mit Erstaunen begrüsst zu werden – damit hatte sie nicht gerechnet. «Sie hier, Frau Mani, beim Ballett?» Was soll das nun bitteschön heissen? Darf man denn immer nur mit Begeisterung für die angestammte Sparte aufwarten? Die eingängige Nussknacker-Suite noch im Ohr, eilt Frau Mani hinaus auf den Sechseläutenplatz, sie verfällt am Ausgang in einen Trippelschritt, wobei sie auch schon die Arme ausstreckt, in Erwartung des schlimmen Aufpralls – der allerdings ausbleibt. Dennoch ist ihr, als würde sie sich auf den flachen Fusssohlen ein wenig um ihre Achse drehen. Da steht sie jetzt, von einem leichten Schwindel befallen, steht wie auf dem Kopf, den böigen Wind im Gesicht, umrauscht von Tschaikowskis extremem Legato, das sie doch stets so wehmütig macht. Sie streckt erneut die Arme aus, öffnet die Augen: vor ihr eröffnet sich auf dem Sechseläutenplatz anstelle des Weihnachtsmarktes mit den gelben Lichtlein ein raumgreifendes Eislauffeld. Wann wurde dieses errichtet? War ihr etwas entgangen? Eis über Eis. Frau Manis Blick streicht drüber, er verliert sich bald im Ungefähren und dessen Spiegelung. Sie schreitet voran. Frau Mani wendet den Kopf zum Opernhaus zurück, das, nüchtern beleuchtet, nun in der Entfernung immer kleiner wird: Frau Mani gleitet rückwärts, das Sprungbein ausgestreckt, sie sticht mit der linken Zacke ins Eis und stösst sich ab zu einer Pirouette im Uhrzeigersinn. «Frau Mani», hört sie im Rausch der Drehung, «Sie waren beim Ballett! Bravo! Bravo!» Als sie landet, wird sie von ihrem Jugendfreund Andreas aufgefangen. Er trägt eine blaue Soldatenuniform aus dem 19. Jahrhundert mit goldenen Schnüren und Knöpfen und eine Kappe mit roter Feder. An seinem Arm schwebt sie hinaus in die dunkle Nacht. Die Musik in ihrem Kopf wirbelt die Schneeflocken auf, die das spärliche Licht der Strassenlaternen in die Dunkelheit hinaustragen. «Man meint es doch zu kennen», sagt Frau Mani, die Arme tief im warmen Muff, «und trotzdem habe ich den Nussknacker so nicht gekannt … » Frau Mani legt den Kopf auf Andreas’ Schulter, während sie, seitlich geneigt, synchrone, schnelle Übersetzschritte vollführen und dann dahingleiten in Richtung des Opernhauses, das nun grünlich leuchtet wie das Mariinski-Theater in Sankt Petersburg. «Ich finde das schön, dass du dich auch auf Geschichten einlässt, die du nicht gleich verstehst», flüstert ihr Andreas ins Ohr. Im Hintergrund ertönt der Chor zum Schneeflockenwalzer: «Aa-a-a-a-a … » Frau Mani singt mit, und ihre Stimme geht in die Harmonie des Ganzen ein, während die schöne Elena Vostrotina vom Himmel heruntersteigt, in schwanenhafter Grazie, mit glänzenden Punkten im schwarzen Tütü.

Illustration: Anita Allemann

Dana Grigorcea


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