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Face to Face: Zwei Menschen, zwei Sichtweisen

Zwei Menschen, zwei Sichtweisen

Die Spitzenkandidatin der niedersächsischen Grünen zur Landtagswahl am 9. Oktober Julia Willie Hamburg, MdL, (36) und der CDU-Bildungspolitiker Stephan Albani, MdB, (54) diskutierten auf Einladung von Standpunkte aktuelle Fragen der Bildungspolitik, mit dem Schwerpunkt Aus-, Fort- und Weiterbildung.

Standpunkte: Der Fachkräfte- und Azubimangel, die Notwendigkeit intensiver Fort und Weiterbildung angesichts der Transformation und dann auch noch die Pandemie ohne Praktika oder Berufsorientierung für viele Jugendliche – im Bildungsbereich ist in den letzten zweieinhalb Jahren besonders viel liegen geblieben. Wie wollen Sie den Aufholprozess gestalten?

Hamburg: Ein wichtiger Fokus sollte jetzt darauf liegen, wie wir mit den Kindern und Jugendlichen das Lernen lernen können. Da müssen Kompetenzen in den Mittelpunkt gestellt werden, die das selbstständige Aufholen möglich machen. Das wird vielleicht nicht überall gelingen, für bestimmte Jahrgänge ist das eine echte Herausforderung. Aber wir dürfen da nicht locker lassen. Was die Berufsorientierung angeht, merken jetzt ja viele Firmen, was ihnen fehlt. Auszubildende kommen nicht mehr ausreichend in den Betrieben an, manche beenden die Lehre dort nicht. Berufsmessen können da einiges nachholen. Und wir müssen jetzt die Berufsorientierung für die aktuell relevanten Jahrgänge intensiver denn je in die Schulen tragen.

Standpunkte: Reicht das, Herr Albani?

Albani: Die frühere Bundesregierung setzte auf schnelle Hilfe für Schüler, Azubis und Studierende. Ganz vorbei ist die Krise sicher nicht. Zudem droht uns durch Ausbildungsflaute und Akademisierung eine gewaltige Schieflage bei den Fachkräften. Die Ausbildung muss daher attraktiver werden. Hier hilft eine verpflichtende, zielorientierte und moderne Berufsorientierung, wie sie auch von der CDU in Niedersachsen gefordert wird. Auf Bundesebene setze ich mich für die tarifliche Gleichstellung von gleichwertigen Abschlüssen ein: Meister sind im Deutschen Qualifikationsrahmen auf einer Niveaustufe mit Bachelorabsolventen, verdienen aber deutlich weniger. Hier brauchen wir endlich eine faire Lösung!

Standpunkte: Die Schulabbrecherquoten sind in den letzten Jahren gestiegen oder zumindest nicht weiter gesunken. Niedersachsen liegt im Bundesländervergleich zwar im oberen Drittel, allerdings schafft das Nachbar-Flächenland Hessen sogar den Spitzenplatz mit den niedrigsten Quoten, auch Hamburg ist besser. Was muss da in Niedersachsen geändert werden?

Hamburg: Der Stadtstaat Hamburg hat es da ja ein bisschen leichter, weil Kommune und Land identisch sind und nah vor Ort agieren können. Das ist in Niedersachsen leider schwieriger. Wir haben Einrichtungen, die den Hamburger Regionalen Bildungs- und Beratungszentren ähneln, aber die entfalten keine Breitenwirkung im Flächenland. Und noch dazu sind uns in Coronazeiten Kinder verloren gegangen. Schulabsentismus hat sich durch Ausfall oder Einschränkung des Präsenzunterrichts bis jetzt verstärkt. Wir müssen nun dringend die schulische und die soziale Arbeit deutlich ausbauen und stärker vernetzen, besonders in Schulen, die mit vielen herausfordernden Kindern zu tun haben. Initiativen, die Erfahrungen mit den Themen Schulabsentismus und Kinderschutz haben, die müssten wir jetzt mehr einbinden.

Standpunkte: Hat da der SPD-Kultusminister in der rot-schwarzen Landesregierung genug getan?

Albani: Die Abbrecherquoten sind leider weniger stabil als etwa der Trend zu höheren Schulabschlüssen. Niedersachsen liegt nach den neuesten Zahlen von 2020 wieder mit 5,9 Prozent im Bundesschnitt. Von den Nachbarländern stehen aktuell nur Hessen und NRW besser da, Hamburg hat sich deutlich verschlechtert. Ich fürchte, dass wir auch einen Coronaeffekt sehen. Langfristige Probleme sehe ich bei den niedrigen Abschlussraten im Förderschulbereich und bei der erhöhten Abbrecherquote bei Schülern mit Migrationshintergrund. Da diese Probleme aber nicht nur auf Niedersachsen beschränkt sind, wäre eine Inklusions- und Integrationsinitiative der Kultusministerkonferenz sinnvoll. Mit Bundesprogrammen wie den Bildungsketten gibt es aber auch noch Jahre nach dem Abbruch eine neue Chance.

Standpunkte: Lassen Sie uns zum Thema Aus- und Weiterbildung kommen. Die Grünen haben zum Tag der Arbeit ein Weiterbildungsgesetz gefordert, das es Beschäftigten ermöglichen soll, sich für individuelle berufliche Weiterbildung von der Arbeit freistellen zu lassen. Zur Sicherung des Lebensunterhalts soll dann die Agentur für Arbeit einspringen, ein Rückkehrrecht an den Arbeitsplatz ist auch angedacht. Ist so was ohne Einvernehmen mit dem Arbeitgeber praktikabel?

Albani: Raum für Weiterbildung im und neben dem Beruf gibt es ja schon: Sabbaticals, Aufstiegs- oder Anpassungsfortbildungen etwa. Für meine Fraktion habe ich 2019 eine Projektgruppe zur Weiterbildung geleitet und dafür mit Betrieben und Experten gesprochen. Unternehmen muss man Freistellungen nicht aufzwingen, die haben selbst ein großes Interesse an Qualifizierung. Aber es fehlt an Finanzierung und Flexibilität. Unser Vorschlag ist daher mehr finanzielle Unterstützung für Betriebe und bei den Weiterbildungskosten, ein regionaler Weiterbildungsatlas zur Information und modulare sowie digitale Angebote. Wenn man Qualifikationen in mehreren kleinen Fortbildungen statt einer großen erwerben kann, ist das wesentlich besser mit Familie und Beruf zu vereinbaren.

Hamburg: Wir wissen ja, dass viele Unternehmenskulturen es möglich machen, so etwas im Dialog zu regeln. Die allermeisten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben ein großes Interesse daran, dass Weiterbildung stattfindet, gerade in Transformationszeiten. Deshalb sehen wir unsere Vorschläge eher als Unterstützung für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, gerade für kleine und mittelständische Unternehmen, die keine eigene Akademie haben, wie etwa VW. Und als ein Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dass sie da in Anspruch nehmen können, wo Unternehmen gerade nicht auf diese Entwicklungen aufspringen.

Standpunkte: Wie läuft es in Niedersachsen eigentlich mit der Integration der vielen Flüchtlinge aus der Ukraine in den Arbeitsmarkt?

Hamburg: Wir haben da einen riesigen Bedarf an zusätzlichen Sprachförderangeboten. Da ist Niedersachsen unserer Meinung nach nicht ausreichend aufgestellt. Und gleichzeitig sehen wir, dass wir viele gut ausgebildete Fachkräfte haben, die aber häufig dann an der Anerkennung ihrer Abschlüsse scheitern. Da müssen wir flexibler und schneller werden, ganz generell gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund. Ich glaube, dass wir da auch auf Bundesebene viel mehr in eine Ermöglichungsstrategie gehen müssen, zugunsten der Menschen und der Unternehmen.

Albani: Wir haben glücklicherweise bereits 2015 politische Antworten gefunden. Der Personalmangel bietet Chancen am Arbeitsmarkt. Dank dem Anerkennungsgesetz und seiner Weiterentwicklung gibt es einen rechtssicheren Weg, um Qualifikationen zu prüfen. Ausnahmen darf es hier jedoch im Sinne der Gleichbehandlung nicht geben. Da die Ukraine zum europäischen Hochschulraum gehört, ist die Anerkennung von Studienabschlüssen deutlich leichter als 2015. In meinem Wahlkreis sehe ich das große Engagement von Menschen und Betrieben – ich bin sehr zuversichtlich!

Standpunkte: Thema Ausbildungsgarantie: Der Berliner Ampel-Koalitionsvertrag bleibt da relativ wolkig. Was verstehen Sie darunter?

Albani: Gefährliche Symbolpolitik, die Ausbildungsbetriebe verprellt und die Fehlsteuerung durch Entkoppelung von Marktentwicklungen bei den Fachkräften verstärkt, denn die garantierte Wahlfreiheit ignoriert den Bedarf und verlagert das Problem in die Arbeitslosigkeit. Es gibt schon jetzt und seit Langem mehr offene Lehrstellen als unversorgte Bewerber. Wir müssen daher Berufsorientierung, Mobilität und Ausbildungsfähigkeit stärken, statt einseitig auf Zwang zu setzen.

Hamburg: Kein Jugendlicher sollte die Schule ohne irgendeine Anschlussperspektive verlassen. Es ist an der Politik, Anschlussmöglichkeiten in Form von überbetrieblichen, öffentlich geförderten Ausbildungsangeboten zu bieten, die dann auch in eine reguläre Ausbildung münden können. Hamburg oder Bremen machen solche Angebote, wir sollten das auch tun.

Standpunkte: Die Ampel hat sich auch einen tariflich vereinbarten Ausgleichsfonds vorgenommen. Dahinter könnte sich die alte Idee der Ausbildungsumlage für Unternehmen verstecken, die nicht ausbilden können oder wollen. Ist das in Zeiten dramatischen Azubi-Mangels nicht eine Zumutung?

Hamburg: Wir wollen mit einer solchen Umlage den Unternehmen etwas geben, die ausbilden, und das von denen, die es nicht tun, einfordern. Ich finde das sehr sinnvoll. Im Bereich Altenpflege hat noch Rot-Grün dieses Instrument in Niedersachsen eingeführt, mit Erfolg.

Albani: Diese faktische Strafzahlung würde vor allem kleine und mittlere Betriebe treffen, die 90 Prozent der Ausbildungsplätze stellen. Viele kämpfen dank Preisexplosion und Krise um ihre Existenz. 2020 haben wir daher mit Ausbildungs- und Übernahmeprämien neue Hilfen und Anreize geschaffen, damit der Mittelstand seine Ausbildungsplätze erhält und sogar ausbaut.

Standpunkte: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Alexander Luckow

Julia Willie Hamburg

wurde 1986 in Hannover geboren und ist dort aufgewachsen. Seit neun Jahren sitzt sie für Bündnis 90/Die Grünen im Niedersächsischen Landtag. Dort beschäftigte sie sich in unterschiedlichen Funktionen mit Bildungspolitik und ist unter anderem bildungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Seit März 2020 ist sie Fraktionsvorsitzende und führt die Grünen in Niedersachsen als Spitzenkandidatin in die Landtagswahl am 9. Oktober 2022.

Stephan Albani

wurde in Göttingen geboren, wuchs in Schleswig-Holstein auf und ist gelernter Diplom-Physiker. 1996 gründete er das Hörzentrum Oldenburg als universitäres An-Institut und 2001 das gemeinnützige Kompetenzzentrum HörTech. Beiden Einrichtungen gelang die weltweite Anerkennung in der Hörtechnik und -forschung. In der zweiten Legislatur beendete Albani die Geschäftsführung beider Unternehmen und legte sie in die Hände eines Nachfolgers. In der CDU seit 2009 aktiv, erfolgte im Jahr 2013 der Einzug in den Deutschen Bundestag. Hier vertritt er seitdem den Wahlkreis Oldenburg-Ammerland für die CDU und ist Obmann seiner Fraktion im Bildungs- und Forschungsausschuss.

Fotos: Alexander Spiering / Jens Jeske

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