DER DOMPLATZ IST MIT RUND 5.700 m² der zweitgrößte Platz in der St. Pöltner Innenstadt. Im Vorfeld seiner Neugestaltung fanden zwischen 2010 und 2019 im Denkmalschutzgesetz begründete archäologische Untersuchungen statt, ergänzt durch kleinflächige baubedingte Nachuntersuchungen in den Jahren 2020 bis 2023. Die Grabungen haben wichtige, teils sensationelle Erkenntnisse über die Epoche von der Römerzeit bis in die Frühe Neuzeit erbracht, die nicht nur für die St. Pöltner Stadtgeschichte, sondern für ganz Niederösterreich von Bedeutung sind und international Aufsehen erregen. Im Bereich der heutigen Innenstadt gründete nach derzeitigem Wissensstand Kaiser Hadrian kurz nach 120 n. Chr. eine römische Stadt, das Municipium Aelium Cetium. Charakteristisch für eine römische Stadt war ihr regelmäßiger Straßenraster, der sich in St. Pölten zum Teil noch im heutigen Stadtplan widerspiegelt. Der heutige Domplatz liegt im östlichen Teil der damaligen römischen Stadt. Bei den Grabungen kamen Reste der römischen Bebauung und zweier innerstädtischer Straßenzüge aus dem 2. und dem 3. Jahrhundert n. Chr. zu Tage. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts wurden die Bauten geschleift und durch einen mehrteiligen Gebäudekomplex ersetzt. Im Norden des Domplatzes hat man einen Rundbau mit sehr individuellem Grundriss und den Außenmaßen von ca. 16,5 x 17 m
zur Gänze freigelegt. Um einen zentralen Rundraum mit 5,6 m Durchmesser gruppieren sich im Norden drei mit Fußbodenheizung ausgestattete und mit Apsiden (halbrunden Nischen) versehene Räume; im Westen, Süden und Osten schließen unbeheizte, von einem weiteren konzentrischen Mauerring begrenzte Räume an. Das Gebäude kann aufgrund der Lage, der beheizten, zum Teil mit Apsiden versehenen Räumlichkeiten, der Reste einer Kanalisation und des Ziegelsplitts im verwendeten Mörtel als Badegebäude bestimmt werden. Römische Badehäuser wiesen stets die gleiche Raumfolge auf: einen unbeheizten Kaltbaderaum, einen Raum mit milder Temperatur, einen Heißbaderaum und schließlich (aber nicht immer) ein Schwitzbad. Die Temperatur entsprach vermutlich jener in einem türkischen Hammam, und auch die Badeprozedur kann man sich ähnlich vorstellen. Rund 9 m südöstlich des Badegebäudes stieß man bei den Grabungen auf Teile eines Rechtecksaales mit halbrundem (apsidalem) Abschluss an der Nordseite, an den im Westen weitere Räumlichkeiten angeschlossen waren. Der Saal besaß nach der ersten Bauphase eine innere Breite von 8,9 m; die Nord-Süd-Ausdehnung konnte nicht eruiert werden. In einer zweiten Bauphase wurde der Saal samt Apside massiv vergrö-
ßert und hatte nun eine lichte Weite von ca. 18 x 12 m. Solche Säle, auch aulae genannt, dienten in erster Linie der Repräsentation. In der Südhälfte des Domplatzes wurden Reste eines Gebäudes freigelegt, das sich in Bauweise, Größe und Raumausstattung deutlich von zuvor in Aelium Cetium ausgegrabenen (Wohn-)Bauten unterschied
2 und offenbar einen Trakt aus mindestens neun nebeneinanderliegenden Räumen bildete. Die waren flächendeckend mit Fußbodenheizung versehen; einer wies im Westen einen apsidialen Abschluss auf. Östlich dürfte sich eine in Leichtbauweise errichtete Halle befunden haben. Ein im Stadtmuseum verwahrtes Foto von 1914, das die Baugrube vor Errichtung der Liegenschaft Herrenplatz 14 zeigt, deutet darauf hin, dass sich im Westen ein ähnlicher Gebäudetrakt befunden haben könnte. Alle beschriebenen Gebäude gehörten zu einer mindestens 5.300 m² großen und frühestens Ende des 3. Jahrhunderts n. Chr. errichteten Anlage. Individuell gestaltete Badegebäude und Aulen waren vor allem bei Großvillen, palastähnlichen Anlagen und Kaiserresidenzen zu finden. Der Baukomplex kann als Verwaltungsanlage bezeichnet werden, genauer als Sitz des zivilen Statthalters der Provinz Noricum ripense (nicht aber der Provinz Noricum, die im Zuge der Reichsreformen Kaiser Diokletians geteilt worden war). Der große Saal diente ihm ebenso wie das Badehaus, wo auch Gäste empfangen wurden, zur Repräsentation. Aelium Cetium erlebte ab dem späten 3. Jahrhundert eine Blütezeit, wie Um- uns Neubauten im Bereich des heutigen Rathausplatzes und in anderen Stadtteilen belegen. In jener Zeit soll übrigens der heilige Florian, ein pensionierter Kanzleivorstand, von Aelium Cetium nach Lauriacum (heute Enns) aufgebrochen sein, um dort christlichen Gefährten beizustehen, die unter Diokletian verfolgt wurden.
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Ende des 5. Jahrhunderts scheint Aelium Cetium jedoch verlassen worden zu sein. Erst mit der Gründung eines Klosters nach 800 – der Legende nach durch die Brüder Adalbert und Ottokar – beginnt die Wiederbesiedlung der ehemaligen, nun in Ruinen stehenden Römerstadt. Die Grabungen
haben nicht nur Reste des mittelalterlichen Klosters zum Vorschein gebracht, sondern auch eine im 9. Jahrhundert unter Verwendung der Mauern des Badehauses errichtete Rundkirche – sie ist eine der ältesten in Niederösterreich. Im selben Jahrhundert wurde hier ein Friedhof angelegt. Somit ist am Domplatz der Nachweis des Beginns der mittelalterlichen Stadtwerdung gelungen. Um 1100 wurde die Klosterkirche – die heutige Domkirche – durch einen Neubau ersetzt und für die Bevölkerung geöffnet. Im südlichen Bereich entstand eine zweigeschossige Kapelle, deren Untergeschoss als Beinhaus diente, das Obergeschoß indes als Taufkapelle. Beide Sakralbauten wurden im Laufe des Mittelalters ausgebaut. Rund um die Gotteshäuser befand sich der im 9. Jahrhundert angelegte Stadtfriedhof, der ursprünglich das gesamte heutige Platzareal umfasste und teilweise noch unter die jetzige Bebauung reichte. Hier hat man die Gebeine von 22.380 Individuen ergraben, dokumentiert und anthropologisch untersucht. Damit besitzt St. Pölten ein Alleinstellungsmerkmal in Europa, wenn nicht sogar weltweit, und ein für die Forschung vieler Disziplinen unschätzbares Bioarchiv. Zwischen 1690 und 1692 wurde die Pfarrkirche abgerissen, 1779 der Friedhof und 1784 die zweigeschossige Kapelle aufgelassen. So entstand aus dem ursprünglichen Kirchenzentrum ein Platz, der im Laufe des 19. Jahrhunderts eingeebnet wurde. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Markt vom Rathausplatz hierher verlegt. Dr. Ronald Risy
FOTOLEGENDEN 1 - Porträt der legendären Stifter Adalbert und Otakar, um 1700, Diözesanmuseum St. Pölten 2 - Ausgrabungen Domplatz, Taschensonnenuhr, Bein, hergestellt 1598, Grabbeigabe, Stadtmuseum St. Pölten 3 - Ausgrabungen Domplatz, Würfel, Bein, 15. Jh. n. Chr., Stadtmuseum St. Pölten 4 - Ausgrabungen Domplatz, mehrflammige römische Lampe, Keramik, 2./3. Jh. n. Chr., Stadtmuseum St. Pölten 5 - Hl. Florian, Fresko von 1954 in der Fuhrmanngasse, Innenstadt von St. Pölten
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“Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!”
hammam, and the bathing ritual was also similar. Some 9 metres south-east of the bath house, excavations revealed parts of a rectangular hall with a semicircular (apsidal) termination on the north side. Further chambers were connected to the west. In its first phase of construction, the hall had an internal width of 8.9 metres, although the north-south dimensions remain unknown. The hall and apse were considerably enlarged during a later phase of construction, resulting in a spacious area measuring approximately 18 by 12 metres. This type of hall, known as an aula, was mainly used for purposes of representation. Excavations in the southern part of Domplatz revealed the remains of a building that differed significantly in construction, dimensions, and interior layout from the (residential) buildings previously excavated in Aelium Cetium. Apparently, this building comprised a section with no less than nine contiguous chambers. These rooms were extensively equipped with underfloor heating, one of which terminated in an apse at the western end. It is likely that a lightweight-design hall was constructed on the east side. A 1914 photograph in the Stadtmuseum showing the excavation pit prior to the construction of the building at Herrenplatz 14 suggests that a similar structural tract may have existed to the west.
DOMPLATZ IS THE SECOND largest square in the city centre of St. Pölten. It covers an area of approximately 5,700 square metres. Between 2010 and 2019, extensive archaeological investigations were carried out in preparation for its redevelopment, in accordance with the Austrian Monument Protection Act. These efforts were then complemented by more focused,
4 construction-related surveys between 2020 and 2023. The excavations unearthed remarkable and at times astonishing finds from the Roman to early modern periods – discoveries that hold significance not only for the historical narrative of St. Pölten, but also for the whole of Lower Austria. They have also attracted considerable international attention. Current knowledge suggests that Emperor Hadrian founded the Roman city of Municipium Aelium Cetium near the present city centre shortly after 120 AD. A hallmark of Roman town planning was the systematic street grid, a feature that has survived to some extent in the
modern layout of St Pölten. Present-day Domplatz occupies the eastern part of what was once the Roman settlement. Digs in this area have revealed remains of Roman edifices and two internal roads dating from the 2nd and 3rd centuries AD. The structures were demolished towards the end of the 3rd century to make way for a multi-component architectural complex. Significantly, archaeological excavations in the northern part of Domplatz fully exposed a distinctive circular structure measuring approximately 16.5 x 17 metres. At its core was a circular chamber with a diameter of 5.6 metres. Adjacent to this central section were three chambers in the northern quadrant – rooms with underfloor heating, decorated with semi-circular recesses or apses – as well as further unheated rooms on the west, south and east sides. The latter were enclosed by an additional concentric wall structure. Evidence that the building was a bathhouse is provided by its location, the heated rooms (some of which have apses), remains of a drainage system and the inclusion of brick chippings in the mortar mix. Roman bathhouses followed a consistent layout: an unheated, cold bathing chamber, a room at a moderate temperature, a heated bathing chamber, and finally (though not always) a steam room. The temperature was probably like that of a Turkish
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parts of the city. Interestingly, it was at this time that St. Florian, a retired officer in the Roman army, is said to have set out from Aelium Cetium to Lauriacum (now Enns) to assist Christians who were being persecuted under Diocletian.
5 All the structures mentioned were part of a complex of at least 5,300 square metres, built no earlier than the late 3rd century AD. Uniquely designed bathhouses and aulae were mainly found in large villas, palatial estates and imperial residences. This particular architectural ensemble can be classified as an administrative complex, more precisely as the residence of the civil governor of the province of Noricum ripense (as opposed to the province of Noricum, which was divided up in the course of imperial reforms led by Emperor Diocletian). The spacious hall, like the bathhouse, where guests were received, was built to impress. Aelium Cetium entered a period of prosperity from the late 3rd century, as evidenced by renovations and new buildings in the area of the present Rathausplatz and other
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Nonetheless, Aelium Cetium seems to have been abandoned by the end of the 5th century. It wasn’t until a monastery was founded after 800 – by the brothers Adalbert and Ottokar, according to legend – that the onceruined Roman city began to see a resurgence in population. Excavations have revealed not only the remains of the medieval monastery, but also a round church built in the 9th century using the walls of the bathhouse, one of the oldest in Lower Austria. That same century saw the founding of a cemetery. And so Domplatz provided the first evidence of the emerging medieval town. Around 1100, the monastery church – where the cathedral now stands – was replaced by a new building and opened to the public. The southern section saw the development of a two- storey chapel, the lower floor of which was used as an ossuary while the upper floor served as a baptistery. Both sacral structures were enlarged during the Middle Ages. Surrounding the churches was the city cemetery, which was founded in the 9th century
and initially covered the entire area of the current square, extending partially under the current buildings. The remains of 22,380 individuals buried there have been unearthed, meticulously documented and anthropologically studied. The findings place St. Pölten in a unique position in Europe, if not the world, and provide an invaluable bio-archive for research across disciplines. The parish church was razed between 1690 and 1692, the cemetery was closed in 1779, the two-storey chapel was abandoned in 1784, and so the original ecclesiastical centre was eventually transformed into a square that was levelled throughout the 19th century. It was also towards the end of the 19th century that the market was moved from Rathausplatz to this location. Dr. Ronald Risy
PHOTO CREDITS 1 - Portrait of legendary founders Adalbert and Otakar, around 1700, Diocesan Museum of St. Pölten 2 - Domplatz excavations, pocket sundial, bone, made in 1598, funerary object, Stadtmuseum St. Pölten 3 - Domplatz excavations, dice, bone, 15th c. AD, Stadtmuseum St. Pölten 4 - Domplatz excavations, multi-flame Roman lamp, ceramic, 2nd/3rd c AD, Stadtmuseum St. Pölten 5 - St. Florian, fresco from 1954 in Fuhrmanngasse in the centre of St. Pölten