Die Chancen der Genommedizin nutzen, um Menschen zu helfen
Seite 04 – 05
"Die Interpretation des Genoms ist der Schlüssel"
Prof. Dr. Markus Nöthen über das Potenzial der Genommedizin
Seite 08
Digitale Medizin
Neue Wege in der Versorgung seltener Erkrankungen
Seite 10
VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT IN DIESER AUSGABE JUNI 2024
Miriam Hähnel
Die Genommedizin hat das Potenzial, das Leben von Menschen mit genetisch bedingten Erkrankungen entscheidend zu verbessern.
Sarra Gläsing Unsere Gene sind der Bauplan unseres Körpers und Schlüssel zu maßgeschneiderten Diagnosen und Therapien, für eine präzisere Behandlung.
Wie genomische Diagnostik die Gesundheitsversorgung transformiert
IN DIESER AUSGABE
Diagostik als Zentrale Schaltstelle
Dr. Martin Walger vom VDGH e. V. über gen- und zellbasierte Therapien
Director Business Development Health: Miriam Hähnel Strategic Account Manager: Sarra Gläsing Geschäftsführung: Johan Janing (CEO), Henriette Schröder (Managing Director), Philipp Colaço (Director Business Development) Lea Hartmann (Head of Design), Cover: Shubham Dhage, Unsplash Mediaplanet-Kontakt: de.redaktion@mediaplanet.com Alle Artikel, die mit “In Zusammenarbeit mit“ gekennzeichnet sind, sind keine neutrale Redaktion der Mediaplanet Verlag Deutschland GmbH. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m /w/d) verzichtet. Alle Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.
WIR DANKEN FOLGENDEN PARTNERN FÜR DIE ZUSAMMENARBEIT:
Die neue genomische Diagnostik verspricht einen bis daher ungeahnt tiefen Einblick in die Zusammensetzung unseres Genoms, dessen individuelle Unterschiede und den Einfluss genomischer Veränderungen auf Gesundheit und Krankheit. Der enorme Wissenszuwachs über die letzten Jahre zusammen mit der geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung hat zu einem Translationsschub der Genomik in die Klink geführt, dessen mittel- und langfristige Auswirkungen die moderne Medizin verändern werden. Um sich die Bedeutung und Geschwindigkeit dieser Entwicklung vor Augen zu führen, hilft ein Blick zurück.
Die Sequenzierung der Abfolge der ca. 3,2 Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms war eine Herkulesaufgabe gewesen, an der viele Länder und eine Vielzahl an Laboren beteiligt war.
Es ist schon ein paar Jahre her: Im Jahr 2000 verkündete ein stolzer US-Präsident Clinton die erste Rohfassung der Sequenz des menschlichen Genoms. Clinton sagte: „Mit diesem tiefgreifenden neuen Wissen steht die Menschheit an der Schwelle zu einer immensen, neuen Heilkraft.“ Die Sequenzierung der Abfolge der ca. 3,2 Milliarden Basenpaare des menschlichen Genoms war eine Herkulesaufgabe gewesen, an der viele Länder und eine Vielzahl an Laboren beteiligt war. Dies Bedeutung dieser Pioniertat für die Biologie und Medizin wurde deshalb auch mit der Mondlandung verglichen. Trotz aller Euphorie am Anfang, die eigentliche medizinisch verwertbare Information war gering. Man konnte die Sequenz lesen, aber die Sprache des Genoms war und ist zu großen Teilen immer noch, schwierig zu verstehen. So können wir zwar die Sequenz der ca. 20.000 Gene lesen und auch z.T. in Funktion übersetzen, wie diese Gene aber in unseren Zellen reguliert werden, ist zum großen Teil noch unbekannt. Zudem hat es weiterer Jahrzehnte
bedurft das Genom in allen Bereichen vollständig zu sequenzieren und selbst jetzt ist dieser Prozess, insbesondere was die individuellen Unterschiede betrifft, noch nicht abgeschlossen. Trotz aller offenen Fragen sind wir heute in der Lage, Genome zu interpretieren und so wichtige Beiträge zur Diagnostik und individuellen Therapie insbesondere im Bereich seltenen Erkrankungen und bei Krebs zu leisten.
Der Fortschritt in der Sequenziertechnologie und die damit verbundene Kostensenkung hat diese Entwicklung erst ermöglicht und bietet jetzt die Voraussetzung, die Analyse auch ganzer Genome in die klinische Praxis einzuführen. Während die technische Entwicklung voranschreitet werden immer mehr Daten produziert, deren Analyse und Interpretation Biologen, Bioinformatiker und Kliniker vor neue Herausforderungen stellt. Für eine vollständige Analyse müssen bioinformatische Daten mit digital auswertbaren klinischen Daten verknüpft werden und im Zusammenhang medizinisch-klinisch bewertet werden. Hierfür muss nicht nur die notwendige Infrastruktur, sondern es müssen auch die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden. Mit dem Modellvorhaben zur Genomsequenzierung bei seltenen und bei onkologischen Erkrankungen gemäß § 64e SGB V wurden hierfür die erforderlichen Grundlagen gelegt.
Trotz aller offenen Fragen sind wir heute in der Lage, Genome zu interpretieren und so wichtige Beiträge zur Diagnostik und individuellen Therapie insbesondere im Bereich seltenen Erkrankungen und bei Krebs zu leisten.
Text Prof. Dr. Stefan Mundlos
Prof. Dr. Stefan Mundlos Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Charité
Genommedizin. Chancen nutzen. Menschen helfen.
genomDE - Initiative zum Aufbau einer bundesweiten Plattform für die medizinische Genomsequenzierung.
Text Sebastian C. Semler
Die TMF Technologie - und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung e. V. koordiniert seit 2021 ein mit hochrangigen Expertinnen und Experten besetztes Konsortium zum konzeptionellen Aufbau von genomDE, das sich im ersten Schritt den Seltenen Erkrankungen (SE) sowie onkologischen Erkrankungen annimmt. Neben führenden medizinischen Netzwerken und Fachgesellschaften sind auch betroffene Patientenverbände mit ihren besonderen Anliegen in das Projekt eingebunden. Das Konzept soll als innovativer Bestandteil einer zukünftigen Regelversorgung in Deutschland umgesetzt werden.
In genomDE wurde das Konzept für eine nationale, föderierte Dateninfrastruktur zur sicheren Nutzung von genomischen und klinischen Daten für die Versorgung und die Forschung entwickelt. genomDE hat außerdem eine Governance-Struktur für den Plattformträger vorgeschlagen. Weitere wichtige Ergebnisse aus genomDE sind Empfehlungen zur Zusammenführung der verschiedenen Datensätze sowie Vorschläge zur Nutzung des bundesweit harmonisierten Broad Consent der Medizininformatik-Initiative (MII) für die Forschungsnachnutzung der Daten des Modellvorhabens.
Das genomDE-Konsortium hat damit wesentliche Grundlagen für das Modellvorhaben Genomsequenzierung nach § 64e SGB V geschaffen, das am 1. April 2024 gestartet ist.
Foto: Vol k m a r O ott
Sebastian C. Semler, Leiter der Koordinierungsstelle genomDE betont:
Wir haben in genomDE wichtige Bausteine für die Datenerhebung, -nutzung und -auswertung, erarbeitet, so dass das Modellvorhaben Genomsequenzierung starten kann. Perspektivisch kann durch genomische Medizin und die Nutzung genomischer Informationen als innovativem Bestandteil der Regelversorgung eine neue Versorgungsrealität im Gesundheitsbereich entstehen. Diagnosen und Therapien für betroffene Patientinnen und Patienten mit ihren jeweiligen spezifischen Erkrankungen können z. B. schneller und präziser erfolgen. Die medizinische Versorgung wird durch die Verfügbarkeit und Verknüpfbarkeit genomischer Daten und klinischer Versorgungsdaten neue Möglichkeiten gewinnen und der Forschungsstandort Deutschland wird gestärkt.“
Durch die Verfügbarmachung der in genomDE gewonnen Daten auf Basis entsprechender Einwilligungen trägt die Initiative außerdem zu nationalen und internationalen Forschungsanstrengungen bei (bspw. die Genomic Data Infrastructure (GDI) der EU), die ebenfalls dem Wohl künftiger Betroffener dienen werden.
Weitere Informationen: www.genom.de
Neue Wege in der Genommedizin: Hoffnung auf Diagnose und Therapie
In der genomischen Medizin sind in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht worden. Davon können ab sofort insbesondere Menschen mit Seltenen Erkrankungen profitieren. Ermöglicht wird dies durch ein neues Gesetz, das im Bedarfsfall die Anwendung von umfänglichen gendiagnostischen Untersuchungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversorgung ermöglicht. Das ist ein Novum, auf das Ärztinnen und Ärzte auf Kinderstationen ebenso warten wie die vielen Menschen, die verzweifelt auf der Suche nach einer richtigen Diagnose sind, für die aber bisher keine Klärung ihrer Beschwerden erfolgt ist und bei denen eine Seltene Erkrankung vermutet wird.
Der Großteil der über 8.000 verschiedenen Seltenen Erkrankungen hat genetische Ursachen. Die neuen gendiagnostischen Verfahren können dazu beitragen, dass in diesem Bereich richtige Diagnosen häufiger und schneller gestellt und so endlose Odysseen für Patientinnen und Patienten beendet werden. Und auch wenn, wie in den meisten Fällen, noch keine Therapie oder gar Heilung in Aussicht steht, ist es für die Erkrankten und ihre Angehörigen besonders wertvoll, die Ursache für die Leiden zu kennen. Zum einen können sie sich bei krankheitsspezifischen Selbsthilfeorganisationen Rat und Unterstützung zum Umgang mit der Erkrankung im Alltag einholen. Sollte es eine gezielte Therapie geben, können sie davon profitieren oder zumindest vorsorgend in den Krankheitsverlauf eingreifen. Zum anderen kann, wenn es sich um einen Gendefekt handelt, die Familienplanung zielgerichtet unterstützt werden.
„Eine frühe Diagnose des Alagille-Syndroms
Richtige Diagnosen verhindern Fehltherapien. Frühe Diagnosen ermöglichen die Chance auf eine Behandlung der Symptome. Dies kommt auch Neugeborenen zugute, wenn Anzeichen noch im Krankenhaus auf einen Gendefekt verweisen, der genauen Ursache nun schnell auf den Grund gegangen wird und mögliche schwerwiegende Entwicklungen in Folge abgemildert oder gar verhindert werden können.
Richtige Diagnosen verhindern Fehltherapien. Frühe Diagnosen ermöglichen die Chance auf eine Behandlung der Symptome.
Dr. med. Christine Mundlos ACHSE Lotsin, stellvertretende Geschäftsführerin, Leiterin ACHSE Beratung und Wissensnetzwerk
Dass diese Versorgung ab diesem Sommer im Rahmen der Regelversorgung Hilfesuchenden zur Verfügung stehen wird, ist ein Schritt, der mit vielen Hoffnungen und Chancen für die betroffenen Menschen verbunden ist.
Weitere Informationen unter: www.achse-online.de
ist entscheidend“
Das Alagille-Syndrom ist eine seltene angeborene System-Erkrankung, die hauptsächlich die Leber und oft das Herz betrifft. Wir sprachen mit PD Dr. Eberhard Lurz, Facharzt Kinder- und Jugendmedizin, Zusatz-Weiterbildung Kinder-Gastroenterologie, am LMU Zentrum für Entwicklung und komplex chronisch kranke Kinder im Dr. von Haunerschen Kinderspital, 2. Vorsitzender der GPGE e. V., über die Symptome und die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten.
Text Katharina Lassmann
Herr Dr. Lurz, was passiert beim Alagille-Syndrom im Körper Betroffener und wie äußert sich die Erkrankung?
Das Alagille-Syndrom manifestiert sich meist unmittelbar nach der Geburt oder in der Säuglingsphase und ist durch eine deutliche Lebererkrankung mit Gelbsucht und Juckreiz gekennzeichnet, oft betrifft sie aber auch Herz oder Nieren. Verantwortlich hierfür ist ein Defekt in einem der beiden Strukturgene JAG1 bzw. NOTCH2, der zu einer fehlerhaften Entwicklung spezifischer Zellen führt.
Dadurch kommt es zu einer unzureichenden Entwicklung der Gallengänge in der Leber und Symptome wie Gelbsucht, Juckreiz und Leberprobleme können entstehen. Die Galle kann nicht regelrecht aus der Leber ausgeschieden werden, sodass es langsam zu einer Vernarbung der Leber kommt. Gemäß einer aktuellen internationalen (GALA) Registerstudie überleben weniger als 50% der Kinder mit ihrer eigenen Leber und eine Lebertransplantation wird im Verlauf notwendig. Manche Patienten haben einen sehr milden Krankheitsverlauf ohne relevante Symptome und die Diagnose wird erst zu einem späteren Zeitpunkt gestellt, z. B. wegen auffälligen Gesichtsmerkmalen wie einem spitzen Kinn mit breiter
Stirn, kleinen Fettknötchen (Xanthomen) an den Augen oder der Haut, oder eigenem Nachwuchs mit AlagilleSyndrom. Eine endgültige Diagnose erfolgt in der Regel mittels genetischer Tests.
Was sind die größten Herausforderungen für Patienten und ihre Angehörigen?
Neugeborene zeigen oft in den ersten beiden Wochen eine gelbliche Verfärbung der Haut oder Skleren, welche man gut beobachten und spätestens nach dem 14. Lebenstag mit einer Blutuntersuchung und BilirubinBestimmung abklären lassen sollte. Manche Neugeborenen haben auch sehr hellen, kalkfarbenen oder entfärbten Stuhlgang, bei dem man die Blutuntersuchung sofort durchführen sollte. Durch diese konsequente Untersuchung kann die Diagnose eines Alagille-Syndroms oder anderer Gelbsuchterkrankungen der Leber möglichst früh gestellt werden. Eine späte Diagnose birgt größere Belastungen für das Kind und die Familie, wie starken Juckreiz und Schlafprobleme. Hemmung des Wachstums und eine Entwicklungsstagnation können auftreten. Durch einen möglichen Mangel der fettlöslichen Vitamine besteht auch das Risiko für z. B. eine Vitamin K Mangel-bedingte Hirnblutung.
Welche Behandlungsoptionen gibt es derzeit?
Die Therapie beginnt mit der Verabreichung von fettlöslichen Vitaminen, um einen Mangel an den Vitaminen A, D, E und K zu verhindern. Zusätzlich versucht man durch die Gabe einer künstlich hergestellten Gallensäure, die Löslichkeit der Gallenflüssigkeit und damit Abfluss dieser aus der Leber zu optimieren. Die körperliche Entwicklung des Kindes wird engmaschig kontrolliert und die Ernährung ggf. angepasst und auf eine ausreichende Kalorienzufuhr geachtet. Teilweise kratzen sich Kinder mit Alagille-Syndrom täglich blutig und können nachts nicht schlafen. Ein neues Medikament ist seit letztem Jahr verfügbar und für die Behandlung dieses Juckreizes zugelassen. Dieses Medikament blockiert die Aufnahme der Gallensäuren im Dünndarm, sodass diese im Blut gesenkt werden und sich der Juckreiz mindert. Eventuell wird sogar die Leber entlastet und das Überleben mit der eigenen Leber verbessert. Eine frühe Diagnose und damit früher Beginn aller verfügbaren Therapieoptionen ist somit sehr wichtig für betroffene Kinder, um schwere Komplikationen zu vermeiden und ihnen eine altersentsprechende Entwicklung mit maximaler Lebensqualität zu ermöglichen.
Text Dr. med. Christine Mundlos
„GenomDE schafft die Voraussetzungen für die Einbettung der Genommedizin in die Onkologie“
Stefan Fröhling ist Professor für Präzisionsonkologie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. Er ist Geschäftsführender Direktor am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg und leitet die Abteilung für Translationale Medizinische Onkologie am DKFZ. Er beschäftigt sich intensiv mit den molekularen Eigenschaften von Krebserkrankungen mit dem Ziel, neuartige individualisierte Therapieansätze zu entwickeln und diese in klinischen Studien zu testen. Er beantwortet uns drei Fragen zu den Möglichkeiten der Genommedizin in der Onkologie.
Welche Rolle spielt die genetische Diagnostik bei erworbenen Krebserkrankungen?
Molekulargenetische Untersuchungen verbessern die Diagnostik und personalisierte Therapie von Krebs und können Aufschluss über die Prognose einer individuellen Erkrankung geben. Zudem decken sie bei einem Teil der Patienten mit vermeintlich erworbenen Krebserkrankungen eine erbliche Veranlagung auf. Aufgrund der rasch steigenden Zahl molekularer Biomarker, die für die Steuerung der Versorgung von Krebspatienten verwendet werden, nimmt die Bandbreite der diagnostischen Methoden stetig zu. Die Sequenzierung ganzer Tumorgenome erfasst alle aktuell und zukünftig relevanten DNA-basierten Biomarker einschließlich komplexer Profile, die teilweise nur mit diesem Verfahren detektierbar sind, und verbreitert so die Informationsbasis, auf der klinische Entscheidungen getroffen werden können.
Die Initiative genomDE bündelt alle Kompetenzen der Genommedizin in Deutschland.
Wie sieht der Zusammenhang zwischen der molekulargenetischen Sequenzierung eines Tumors und der individuellen Therapie aus? Die Bedeutung molekularer Informationen für die Behandlung von Krebserkrankungen lässt sich daran ablesen, dass es mehr als 70 Zulassungen von mehr als 50 Medikamenten gibt, die auf bestimmte genetische Veränderungen abzielen. Zudem gibt es immer mehr Entitäten-übergreifende Zulassungen von Wirkstoffen, deren Einsatz ausschließlich auf genetischen Tumormerkmalen beruht. Derzeit besteht bei mindestens 30% der Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen eine Indikation zu einer molekular informierten Therapie. Die-
Welchen Nutzen hat die Genomsequenzierung bei erblichem Brustund Eierstockkrebs?
Rund 30% der Brustkrebspatientinnen erfüllen die Kriterien für eine genetische Untersuchung in der Keimbahn, da bei ihnen eine familiäre Belastung für Brustkrebs vorliegt. Damit ist der erbliche Brustkrebs mit jährlich etwa 20.000 neu erkrankten Frauen in Deutschland eine relevante Herausforderung.
Score“) sowie nicht-genetischen Risikofaktoren als Grundlage für eine risikoadaptierte Prävention. Hierzu zählt die intensivierte Nachsorge von bereits erkrankten Frauen. Ihre gesunden Angehörigen können je nach individueller Erkrankungswahrscheinlichkeit intensivierte Früherkennungsuntersuchungen bis hin zu vorsorglichen Operationen in Anspruch nehmen.
se Zahlen sind nur eine Momentaufnahme; der rasche Wissenszuwachs auf dem Gebiet der molekular informierten Präzisionsonkologie bedeutet, dass dieser Anteil weiter steigen wird.
Warum ist ein Projekt wie genomDE so wichtig, wenn es um die Verbesserung der Versorgung von Menschen mit erworbenen Krebserkrankungen geht?
Molekular informierte Therapien können die Prognose von Krebspatienten verbessern. Hieraus resultieren Bestrebungen, möglichst breite Methoden der molekularen Diagnostik einzusetzen, bis hin zur Genomsequenzierung, deren klinischer Wert sich zunehmend abzeichnet. Die flächendeckende Verankerung dieser Methode, z.B. im Rahmen des Modellvorhabens zur umfassenden Diagnostik und Therapiefindung mittels Genomsequenzierung bei seltenen und onkologischen Erkrankungen (§ 64e Sozialgesetzbuch V), ist mit neuen Anforderungen verbunden. Diese betreffen die Infastruktur, spezielles Fachwissen und die Zusammenarbeit von Experten über Disziplinen und Standorte hinweg. Die Initiative genomDE bündelt alle Kompetenzen der Genommedizin in Deutschland. Sie bietet einen Rahmen für die Entwicklung von Standards für klinische Genomanalysen und die Auswertung der Ergebnisse sowie einer bundesweiten Plattform für genetische Daten, die Gesundheitsversorgung und Forschung miteinander verbindet. So werden die Voraussetzungen für die Einbettung der Genommedizin in die Onkologie geschaffen.
www.dkfz.de www.nct-heidelberg.de
Mitte der 1990er Jahre wurden die ersten Risikogene für erblichen Brustund Eierstockkrebs entdeckt und das Deutsche Konsortium Familiärer Brust- und Eierstockkrebs (DK) zur Versorgung der Patientinnen und ihrer Familien mit Unterstützung der Deutschen Krebshilfe gegründet. Mittlerweile hat sich dieses zu einem Wissen generierenden Netzwerk aus 23 universitären Zentren und über 200 kooperierenden zertifizierten Krebszentren entwickelt. Seit 2021 unterzieht sich dieses Netzwerk spezialisierter Zentren im Rahmen der Zertifizierung durch die Deutsche Krebsgesellschaft einer strengen Qualitätskontrolle der einzelnen Versorgungsschritte von der Beratung über die genetische Untersuchung bis zum Angebot risikoadaptierter präventiver Maßnahmen. Zur steten Weiterentwicklung der Versorgung dokumentieren die Zentren die generierten Daten in ein Spezialregister (HerediCaRe), welches mittlerweile über 140.000 Risikopersonen umfasst und somit regelmäßige Auswertungen und Verbesserungen des Versorgungskonzeptes ermöglicht.
Kernelement des Versorgungskonzepts des DK ist das Angebot einer individualisierten Risikokalkulation unter Einbezug der bekannten Risikogene und weiterer genetischer („Polygener Risiko
Mit der bisherigen Methode der Genpanelanalyse kann aber nur bei etwa 25% der familiär belasteten Patientinnen die genetische Ursache für ihre Brust- bzw. Eierstockkrebserkrankung diagnostiziert werden. Für die negativ getesteten Personen stellt die Ganzgenomsequenzierung nun eine große Chance dar, die noch unentdeckten erblichen Faktoren zu identifizieren. Hierbei handelt es sich vermutlich um bislang nicht entdeckte Mutationen in den intronischen oder Promotor-Bereichen der bekannten Risikogene, neue Risikogene sowie die Interaktion von sogenannten Niedrigrisikovarianten. Die Erkenntnisse aus der Ganzgenomsequenzierung können weitreichende Bedeutung für die Betroffenen haben. Neu entdeckte Signalwege können zudem als Basis für die Entwicklung zielgerichteter Präventions- und Therapiekonzepte dienen. Des Weiteren können Niedrigrisikogenvarianten auch von Bedeutung für die Allgemeinbevölkerung sein und zukünftig zielgerichtete Präventionsangebote ermöglichen. Daher ist die Ganzgenomsequenzierung ein wichtiger Schritt in eine individualisierte und damit deutlich effektivere Krebsprävention der Zukunft.
Weitere Informationen unter: www.konsortium-familiaerer-brustkrebs.de | www.brca-netzwerk.de
Text Prof. Dr. Kerstin Rhiem & Prof. Dr. Rita Schmutzler, Zentrum Familiärer Brust- und Eierstockkrebs am Universitätsklinikum Köln
Text Miriam Hähnel
DIAGNOSTIK ALS ZENTRALE
SCHALTSTELLE – DER SCHLÜSSEL
Die Diagnostik liefert die Basis für medizinische Entscheidungen. Insbesondere in der personalisierten Medizin dient die Diagnostik als Fundament für maßgeschneiderte Behandlungen. Dazu gehören die Gen- und Zelltherapien (GCT), bei der sie eine unverzichtbare Grundlage für den Therapieansatz darstellt. Präzise Diagnostik ermöglicht es, Krankheiten nicht nur frühzeitig zu erkennen, sondern auch ihre genetischen Ursachen zu entschlüsseln. Dafür sind In-vitro-Diagnostika (IVD), die zunehmend auch molekulargenetische Tests umfassen, unverzichtbar. Personalisierte Medizin ist patientenzentriert, da sie speziell auf die genetische Ausstattung eines Individuums zugeschnitten ist, und ermöglicht so eine gezielte und effektive Therapie.
Während der GCT ist es notwendig, kontinuierlich Daten über den Zustand des Patienten zu erfassen.
Die Entwicklung von GCT hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Forscher und Ärzte können nun bestimmte Zellen oder Gene direkt verändern, um Krankheiten an ihrer Wurzel zu behandeln. Besonders vielversprechend sind diese Therapien in der Onkologie und bei genetischen Erkrankungen, wo herkömmliche Behandlungen oft an ihre Grenzen stoßen. Diagnostika spielen im gesamten Behandlungsprozess der GCT eine zentrale Rolle. Sie sind entscheidend für die Auswahl geeigneter Patienten, die Überwachung des Therapieverlaufs und die Bewertung des Therapieerfolgs. So ist die genaue Diagnose einer Erkrankung –zum Beispiel auf molekulargenetischer Ebene, also der Nachweis einer Mutation in der DNA – der erste Schritt jeder zielgerichteten Therapie. Diese Präzision ist besonders in der Anwendung von GCT entscheidend, da sie die Auswahl und Anpassung der Therapie leitet. Während der GCT ist es notwendig, kontinuierlich Daten über den Zustand des Patienten zu erfassen. Regelmäßige Tests liefern wichtige Informationen über den Fortschritt der Behandlung und helfen, potenzielle Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen. So muss zum Beispiel das Immunsystem kontinuierlich überwacht werden.
Diese Synergien sind entscheidend, um innovative Therapien zu entwickeln und erfolgreich umzusetzen.
Dr. Martin Walger, Geschäftsführer VDGH – Verband der Diagnostica-Industrie e.V.
Bei Anzeichen einer überschießenden Immunreaktion, kann schnell eingegriffen werden. Diese kontinuierliche Überwachung und Anpassung der Therapie auf Basis diagnostischer Bewertungen ist entscheidend für den Therapieerfolg und gewährleistet ein Höchstmaß an Wirksamkeit und Sicherheit. Die Fortschritte in der GCT sind das Ergebnis enger Kooperationen zwischen der Life-Science-Research-Industrie und der IVD-Branche auf der einen Seite und der medi-zinischen Wissenschaft, der Biotech- und Pharmaindustrie auf der anderen Seite. Diese Syn-ergien sind entscheidend, um innovative Therapien zu entwickeln und erfolgreich umzusetzen. Die LSR-Industrie spielt eine zentrale Rolle in der Entwicklung und Produktion von GCT-Therapeutika. Die jüngst veröffentlichte nationale Strategie zu GCT zeigt, dass es eine gemeinsame Aufgabe von Wissenschaft und Industrie ist, die Weichen für eine neue Ära der Medizin zu stellen. Die Herausforderungen liegen in der Entwicklung von Technologien, die eine schnelle, präzise und kosteneffektive Diagnostik ermöglichen, sowie in der ethischen und gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Methoden.
Kurzum: Die Diagnostik ist ein zentrales Element bei der Anwendung von Gen- und Zelltherapien. Sie erhöht nicht nur die Sicherheit und Wirksamkeit der Behandlungen, sondern ebnet auch den Weg für innovative Ansätze zur Behandlung von Krankheiten, die bisher als unheilbar galten. Das Ziel einer vollständig personalisierten Medizin rückt mit der modernen Diagnostik näher.
Weitere Informationen unter: www.vdgh.de
Text Dr. Martin Walger
Hyaluronsäuretherapie bei Arthrose
Prof. Dr. med. Christoph Becher ist auf die Behandlung von Gelenkerkrankungen spezialisiert, einschließlich Arthrose, bei deren Entstehung auch genetische Faktoren eine Rolle spielen können. Im Interview berichtet er von den Möglichkeiten einer Hyaluronsäuretherapie.
Text Miriam Rauh
Herr Prof. Dr. Becher, wann spricht man von Arthrose? Was sind typische Symptome und wie wird die Diagnose gestellt? Arthrose ist eine degenerative Gelenkerkrankung. Der Verschleiß der Knorpelstruktur führt zu Symptomen wie Entzündungen, Schwellungen, Bewegungseinschränkungen und Schmerzen. Die Diagnosestellung erfolgt in einer Kombination aus dem, was der Patient berichtet, und bildgebenden Untersuchungen, wie z. B. MRT und Röntgen.
Welche Altersgruppen sind typischerweise von Arthrose betroffen? Ab welchem Alter sollte man besonders aufmerksam sein? Prinzipiell nimmt die Häufigkeit von Arthrose mit dem Alter zu. Aber es gibt durchaus jüngere Patienten, die von Arthrose betroffen sind, z. B. aufgrund eines Unfalls. Auch durch angeborene Fehlstellungen kann ein Knorpelverschleiß mit Entwicklung einer Arthrose früh auftreten; teilweise bereits mit 20 Jahren. Die Kniescheibe beispielsweise ist immer wieder auch in früheren Jahren von Verschleiß betroffen. Ab etwa 45 oder 50 Jahren treten die Beschwerden häufiger auf; die größte Gruppe der Betroffenen, die zum ersten Mal zu uns kommen, ist 50 bis 70 Jahre alt.
Welche Therapiemöglichkeiten gibt es bei Arthrose und welchen Nutzen hat eine Hyaluronsäuretherapie?
Grundsätzlich hängt die Therapie auch vom Stadium ab. Da zeigen Leitlinien die Vorgehensweise auf. Konservative Maßnahmen –z. B. Medikamente, Physiotherapie und Injektionen – stehen zunächst im Vordergrund und diese helfen auch in der Regel gut. Im Rahmen der Therapie mit Injektionen spielt die Hyaluronsäure eine wichtige Rolle, die natürlicher Teil der Gelenkflüssigkeit ist. Sie hat viskoelastische, das heißt gleitende und stoßabsorbierende Eigenschaften und kann auch Entzündungen hemmen. Die Spritze wird ambulant in der Sprechstunde verabreicht, die Behandlung dauert nur etwa fünf bis zehn Minuten.
Was gibt es bei der Qualität der Hyaluronsäure zu beachten?
Im Hinblick auf die wissenschaftlich nachgewiesene
Arthrose ist eine degenerative Gelenkerkrankung.
Prof. Dr. med. Christoph Becher
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, spezielle Orthopädische Chirurgie und Sportmedizin an der ATOS Klinik Heidelberg
therapeutische Wirksamkeit, die durch die Injektion verursachten potenziellen Schmerzen und das Infektionsrisiko bietet die einmalige Applikation hochmolekularer und quervernetzter Hyaluronsäure mit hohem Wirkstoffgehalt Vorteile.
In welcher Häufigkeit erfolgen die Injektionen bei einer Hyaluronsäuretherapie? Gibt es eine Möglichkeit, die Injektionen auf ein Minimum zu reduzieren?
In der Regel hält die Wirkung der Hyaluronsäure etwa ein halbes Jahr an, manchmal aber auch ein ganzes Jahr oder sogar länger. Man kann die Behandlung problemlos wiederholen, sodass man eine Auffrischung injizieren kann, wenn die Wirkung nachlässt. Ich habe Patienten, die schon seit vielen Jahren zur Auffrischung kommen.
Kann man direkt mit einer Hyaluronsäuretherapie beginnen, wenn man erste Beschwerden hat?
Das kann sinnvoll sein. Wir sollten uns aber an die Leitlinien halten und zunächst auch eine gute Diagnostik mit Gespräch, Untersuchung und Bildgebung vorgenommen haben.
Was kann man tun, um den Fortschritt der Arthrose möglichst lang hinauszuzögern? Bewegung ist sehr wichtig. Auch Gewichtsreduktion bringt bei Übergewicht einen sehr positiven Effekt sowie Veränderung des Lebensstils. Eine Kombination aller drei Maßnahmen ist oft ideal.
Welche Bewegungsarten sind besonders gut geeignet?
Jede Bewegungsart bzw. jeder Sport, der möglichst wenig Stoßbelastungen hat. Kontaktsport wie Fußball oder Handball ist weniger gut geeignet als z. B. Schwimmen oder Fahrradfahren. Auch Übungen zur Muskelkräftigung sind empfehlenswert.
Was würden Sie Arthrosepatienten gerne noch mit auf den Weg geben? Es ist sinnvoll, mit Beschwerden zum Arzt zu gehen. Dieser wird dann ein Behandlungskonzept erstellen. Ob die Therapie konservativ ist oder ob eine Operation empfohlen wird, ist individuell zu entscheiden. Da nicht jeder Arzt alle Möglichkeiten anbieten kann, ist ein Zentrum bzw. eine Praxis, die sich auf Arthrose spezialisiert hat und alle Therapiemöglichkeiten anbieten kann, eine gute Wahl.
SP R ITZEN LEISTUNG bei Arthrose
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DIE INTERPRETATION DES GENOMS IST DER SCHLÜSSEL
Als Anfang der 2000er Jahre die erstmalige Sequenzierung des menschlichen Genoms berichtet wurde, war es eine ferne Vision, bei Patienten zur diagnostischen Abklärung vollständige Genome zu sequenzieren. Das 1990 mit dem Ziel der vollständigen Sequenzierung des menschlichen Genoms gestartete internationale Humangenomprojekt hatte weltweit tausende Wissenschaftler beschäftigt und Kosten in Milliardenhöhe verursacht. Seitdem hat die Einführung neuer Sequenziertechnologien die Kosten der Sequenzierung stetig fallen lassen.
Neue diagnostische Verfahren – Wie genomische Daten interpretiert werden Mit den stark gesunkenen Kosten ist eine wichtige Voraussetzung für die Einführung der Sequenzierung vollständiger Genome als neues diagnostisches Verfahren gegeben, dennoch ist eine sog. Genomdiagnostik alles andere als einfach. Woran liegt das? Bei der Sequenzierung eines individuellen Genoms (beim Menschen sind das zwei Kopien, einer mütterlichen und einer väterlichen Kopie) weicht die Sequenz an tausenden Stellen vom Referenzgenom ab. Unter diesen Varianten die eine oder zwei (bei rezessiv vererbten Krankheiten) ursächliche/n Variante/n sicher zu identifizieren, d.h. eine korrekte Interpretation der umfangreichen Sequenzdaten vorzunehmen, ist vom Aufwand mittlerweile höher als der Aufwand der Sequenzierung.
Entscheidend für die Diagnose ist die Interpretation des Genoms vor dem Hintergrund der individuellen Krankheitssymptome.
Für die Interpretation der großen Zahl von genetischen Varianten wird auf ganz unterschiedliche, von nationalen und internationalen Experten kuratierte Datenbanken zurückgegriffen. Diese enthalten u.a. Daten zur
Häufigkeit von Varianten bezogen auf die Herkunftspopulation des Patienten, biologische Daten zur Einschätzung der Funktionseinschränkung des betroffenen Gens sowie klinische Daten von Patienten, die die gleichen oder ähnliche genetische Varianten tragen. Ist die Krankheitsrelevanz (sog. Pathogenität) der gefundenen Variante nach den Datenbankabgleichen und bioinformatischen Analysen weiterhin unklar, können in manchen Fällen zusätzliche experimentelle Untersuchungen weiterhelfen, z.B. Untersuchungen auf Ebene der Genprodukte (Transkript- oder Proteinuntersuchungen).
Im letzten und wichtigsten Schritt müssen für den diagnostischen Befund die in Frage kommenden genetischen Varianten vor dem Hintergrund der spezifischen Symptome des Patienten individuell interpretiert werden, eine Aufgabe, die mit der Humangenetik im Zentrum fachübergreifende ärztliche Kompetenz erfordert. Im Modellvorhaben wird dies an den beteiligten Universitätskliniken durch interdisziplinäre Fallkonferenzen garantiert.
Die Bedeutung der Genomdiagnostik für Betroffene und ihre Angehörigen Für die Patienten und ihre Familien bedeutet die Feststellung einer genetischen Ursache häufig das Ende einer mehrjährigen diagnostischen Odyssee, in jedem Fall bedeutet sie eine Zuordnung zu einem spezifischen Krankheitsbild, mit den dazugehörigen Informationen über den Verlauf der Erkrankung sowie über die im weiteren Krankheitsverlauf empfohlenen Untersuchungen und mögliche Optionen der Behandlung. Bei familiären Tumorerkrankungen bedeutet es ganz konkret, dass Angehörige sich auf eine Anlageträgerschaft testen lassen können, so dass sich durch regelmäßige Früherkennungsuntersuchungen ein ggf. entstandener Tumor im Frühstadium erkennen und behandeln lässt. Alle diese für Patienten und Angehörige wichtigen, aber häufig auch komplexen Informationen müssen im persönlichen Gespräch erläutert werden.
Die Zukunft der Genomdiagnostik – „Lernende Versorgung“, von der auch die Forschung profitiert Wo geht die Genomdiagnostik über bestehende diagnostische Verfahren hinaus? Bei der Sequenzierung des ge-samten Genoms werden alle Bereiche des Genoms in den Blick genommen, unabhängig von der Kenntnis über die spezifische Funktion des sequenzierten Bereichs. Hier gibt es einen ständigen Wissenszuwachs in Form von wachsenden Datenbanken, aber auch in der Weiterentwicklung von bioinformatischen Analysemethoden, so dass die Genomdaten ungeklärter Fälle auch in Zukunft nochmals angeschaut werden sollen.
Die Zukunft der Medizin wird genomisch geprägt sein.
Prof. Dr. Markus Nöthen, Facharzt für Humangenetik, Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Bonn, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH)
In dieser Hinsicht aber auch in der Gestaltung der standortübergreifenden Zusammenarbeit folgt das Modellvorhaben dem Prinzip der „lernenden Versorgung“. Die gesammelten Erfahrungen der Genomdiagnostik, die sich im Modellvorhaben zunächst auf die beiden Krankheitsgebiete der seltenen Erkrankungen und der Tumorerkrankungen beschränkt, wird Grundlage für die zukünftige Ausweitung auf andere Krankheitsgebiete sein. Die Medizin der Zukunft wird stark genomisch geprägt sein, weswegen auch zunehmend von der Genomischen Medizin gesprochen wird.
Die im Modellvorhaben erhobenen umfangreichen Daten sind auch für die Forschung interessant. So können ursächliche Mutationen zwar das Auftreten von Krankheiten erklären, die individuelle Ausprägung des Krankheitsbildes wird aber in der Regel durch viele zusätzliche Faktoren, darunter auch weitere genetische Faktoren, bestimmt. Auf dem Weg zu einem umfassenden Verständnis von Krankheit ist die Genomsequenzierung ein enorm wichtiger Schritt, die Interpretation bleibt dabei aber eine Herausforderung der kommenden Jahre.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.gfhev.de
Text Prof. Dr. Markus Nöthen
Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH entstanden.
„DIE MÖGLICHKEITEN ZUR FRÜHERKENNUNG VON
TYP-1-DIABETES SIND EIN GROSSER GEWINN“
Typ-1-Diabetes (T1D) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse zerstört. Das führt zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels, was verheerende Folgen haben kann, wenn die Erkrankung unentdeckt bleibt. Warum eine möglichst frühe Diagnose entscheidend ist und welche Möglichkeiten der Früherkennung es heute gibt, erklärt uns die Expertin Frau Prof. Olga Kordonouri im Interview.
Text Hanna Sinnecker
Frau Prof. Kordonouri, wie viele Menschen sind in Deutschland von einem Typ-1-Diabetes betroffen und gibt es ein typisches Alter, in dem die Erkrankung sich entwickelt?
Laut aktuellen Schätzungen leben in Deutschland fast eine halbe Million Menschen, die Typ-1-Diabetes haben. Davon sind ca. 32.000 Kinder und Jugendliche betroffen. Jedes Jahr kommen etwa 3.200 Kinder und Jugendliche hinzu, die neu diagnostiziert werden. Wir stellen in den letzten Jahren eine stetige Zunahme der Typ-1-Diabetes-Manifestationen im Kindes- und Jugendalter fest. Innerhalb von ca. 30 Jahren haben wir eine Verdopplung beobachten können. Man muss aber deutlich sagen: Typ-1-Diabetes kann jeden treffen, es sind nicht nur Kinder und Jugendliche betroffen. Etwa die Hälfte der Betroffenen ist erwachsen.
Wir wissen mittlerweile vieles, aber noch lange nicht alles, wenn es um die Entstehung eines T1D geht. Fakt ist: Es gibt ein genetisches Risiko, aber die meisten Patienten haben keine Angehörigen mit T1D.
Was weiß man heute zu den Ursachen der Entstehung eines T1D?
Wir wissen mittlerweile vieles, aber noch lange nicht alles, wenn es um die Entstehung eines T1D geht. Es gibt zum einen eine genetische Prädisposition für T1D. Es gibt also Gene, die beim Vorhandensein das Risiko erhöhen, später im Leben einen T1D zu entwickeln. Das bedeutet aber nicht, dass jeder, der diese Gene hat, auch wirklich einen T1D entwickelt. Nur etwa zehn Prozent der Menschen mit T1D haben eine Person im Familienumfeld, die ebenfalls einen T1D hat. Auf der anderen Seite wissen wir, dass es bestimmte Umweltfaktoren gibt, die die Entstehung eines T1D begünstigen können. Dazu gehören vermehrte Infekte in den ersten Lebensjahren. Auch eine schnelle Gewichtszunahme oder schnelles Wachstum können eine Rolle spielen. Das Tückische dabei ist, dass viele von der Diagnose geradezu überrannt werden, da eben der Großteil der Menschen mit T1D keine weiteren erkrankten Familienangehörigen hat und sie erst auffallen, wenn bereits klinische Symptome auftreten, die lebensgefährlich werden können.
Wie verläuft die Erkrankung typischerweise und wie früh ist es möglich, sie zu erkennen?
Man teilt die Erkrankung in drei Stadien ein. Im ersten Stadium sind mehrere Antikörper im Blut vorhanden, die Regulation des Blutzuckers ist aber noch im
Normbereich. Im zweiten Stadium ist der Körper zudem schon nicht mehr in der Lage, ausreichend Insulin zu produzieren, sodass auch die Blutzuckerwerte beginnen zu schwanken. Eine Früherkennung durch Analyse der vorhandenen Inselzellautoantikörper ist bereits in den ersten beiden Stadien möglich. Im dritten Stadium manifestiert sich die Erkrankung dann klinisch, d. h. es treten die typischen T1D-Symptome auf: Betroffene haben einen verstärkten Harndrang, der Urin ist süßlich aufgrund der hohen Blutzuckerkonzentration, sie klagen über starken Durst, verlieren ungewollt an Gewicht und haben manchmal auch einen Leistungsknick. Schlimmstenfalls kann es zu einer diabetischen Ketoazidose kommen: Der Körper ist dann nicht mehr in der Lage, den durch die Nahrung aufgenommenen Zucker zu verarbeiten, den die Zellen zum Funktionieren benötigen. Es kommt zu einem stark erhöhten Blutzuckerspiegel. Die fehlende Energie holt sich der Körper aus Fett, und bei diesem Fettabbau entstehen Fettsäuren, die wiederum zu einer Übersäuerung des Blutes führen. Der Körper versucht, das durch tiefes Einund Ausatmen zu kompensieren. Zudem treten Bauchschmerzen, Übelkeit und Konzentrationsprobleme auf, es kann zur Bewusstlosigkeit kommen und akute neurologische Probleme können auftreten. Eine solche diabetische Ketoazidose ist der häufigste Grund, aus dem Kinder und Jugendliche mit T1D versterben.
Je früher wir einen Typ-1-Diabetes erkennen, umso früher können wir in den Erkrankungsverlauf eingreifen und ihn bestenfalls verzögern.
Prof. Dr. Olga Kordonouri Chefärztin Diabetologie, Endokrinologie und Allgemeine Pädiatrie, Chefärztin Tagesklinik / Aufnahme- und Ambulanzzentrum, Stellv. Ärztliche Direktorin Kinderund Jugendkrankenhaus AUF DER BULT
In anderen Ländern wie z. B. Italien gibt es mittlerweile flächendeckende Screenings auf Typ-1-Diabetes für Kinder und Jugendliche. Warum ist eine möglichst frühe Diagnose so wichtig für Betroffene und ihre Angehörigen? Allein der deutliche Anstieg der T1D-Neuerkrankungen ist für uns als Kliniker Grund genug, solche Screenings zu befürworten. Denn je früher wir die Erkrankung erkennen, umso früher können wir in den Erkrankungsverlauf eingreifen und ihn bestenfalls verzögern, indem z. B. früher mit einer Insulingabe begonnen wird, solange der Körper noch in der Lage ist, selbst Insulin zu produzieren. Dadurch erreichen wir geringere Blutzuckerschwankungen und riskieren weniger Komplikationen. Zudem wissen wir, dass Kinder, die vor dem 10. Lebensjahr erkranken, besonders anfällig dafür sind, Folgeerkrankungen zu entwickeln. Wird die Erkrankung früh erkannt, kann man auch das therapeutisch berücksichtigen und monitoren.
Zudem ist natürlich ein ganz ausschlaggebender Grund, krankheitsbedingte Komplikationen und schwere Stoffwechselentgleisungen wie diabetische Ketoazidosen zu verhindern. Denn ist erst eine solche Ketoazidose aufgetreten, hat auch das Folgen: Es können neurologische Beeinträchtigungen auftreten und der Glukosestoffwechsel kann dauerhaft gestört werden. Betroffene Familien, in denen die Diagnose früh gestellt werden konnte, haben es uns bestätigt: Der Umgang mit der Erkrankung wird ihnen erleichtert, sie fühlen sich aufgefangen und können sich schrittweise auf die kommenden Jahre mit T1D vorbereiten. Die psychische Belastung empfinden sie als wesentlich geringer als Familien, welche die Diagnose ausheiterem Himmel erhalten.
Wann ist ein Früherkennungstest anzuraten? Familien, in denen es bereits T1D-Fälle gibt, können jederzeit z. B. über den Kinderarzt eine solche Untersuchung durchführen lassen. Diese Familien sind aber natürlich bereits sensibilisiert.
Es gibt generell zwei Screeningstrategien: Die erste sieht eine einmalige Testung im Alter von 4 Jahren vor, über die wir 40% der T1D-Fälle bis zum Alter von 15 Jahren erkennen können. Die zweite Strategie sieht zwei Screenings vor, einmal im Alter von zwei Jahren und einmal im Alter von sechs Jahren. So erkennen wir mittlerweile sogar 82% der T1D-Fälle. Für diese Möglichkeiten der T1D-Früherkennung müssen aber die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. Derzeit gibt es diese flächendeckende ScreeningMöglichkeit für Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren nur im Rahmen der Fr1da-Studie in Bayern, Sachsen, Hamburg und Niedersachsen.
Wo können sich Eltern hinwenden, die ihr Kind gern testen lassen möchten? Interessierte Eltern können sich an die entsprechenden Studienzentren in den genannten Bundesländern wenden. Aber auch die niedergelassenen Kinderärzte in diesen Bundesländern sind entsprechend involviert, sodass in der Kinderarztpraxis eine Blutprobe entnommen werden kann, die dann an die Studienzentren verschickt wird. Dabei werden dann insgesamt vier der erwähnten Inselzellautoantikörper untersucht, die bereits in den ersten beiden Stadien der Erkrankung nachgewiesen werden können. Wenn zwei oder mehr davon erhöht sind, liegt ein T1D im Frühstadium vor und man kann sofort tätig werden.
Die Symptome der diabetischen Ketoazidose
• Starkes Durstgefühl
• Starker Harndrang mit häufigem Wasserlassen Gewichtsverlust
• Müdigkeit bis hin zur Bewusstlosigkeit
• Bauchschmerzen mit Übelkeit/Erbrechen
• Ungewöhnlich tiefe Atmung
Bei diesen Symptomen sollte sofort ärztliche Hilfe gesucht werden, da ein diabetisches Koma entstehen kann und akute Lebensgefahr besteht!
Weitere Informationen: www.gemeinsam-typ1.de
DIGITALE MEDIZIN
NEUE WEGE IN DER VERSORGUNG SELTENER ERKRANKUNGEN
Die Digitalisierung ist ein fester Bestandteil unseres Alltags geworden. Sogar in Bereichen der Medizin, die traditionell auf Papierakten setzen, werden zunehmend digitale Technologien genutzt, um medizinische Versorgung flexibler, sowie orts-, und zeitunabhängiger zu gestalten. Unter Digitaler Medizin versteht man dabei den Einsatz evidenzbasierter digitaler Technologien in Kernbereichen wie Diagnostik, Monitoring und Therapie, ergänzt durch digitale Unterstützung weiterer medizinischer Prozesse.
Text Dr. med. Konstanze Betz, Dr. med. Lars Masanneck
Digitale Medizin als Hilfsmittel, seltene Erkrankungen zu diagnostizieren Seltene Erkrankungen sind definiert als Zustände, von denen weniger als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Die erste Hürde im oft langjährigen Krankheitsprozess ist für Betroffene häufig die fehlende initiale Diagnose. Eine verzögerte Diagnose führt nicht nur zu einer verspäteten Therapie der Grunderkrankung, sondern kann auch das Risiko für psychische/psychosomatische Begleiterkrankungen erhöhen (Sellin et al, 2024; Stieber et al 2017). Die oftmals langjährige Odyssee von Patient:innen mit zahlreichen Arztbesuchen und (häufig unnötigen) diagnostischen Maßnahmen bis hin zur korrekten Diagnose belastet zudem das bereits angespannte Gesundheitssystem (Sellin et al, 2024). Digitale Medizin – und insbesondere diagnostische Entscheidungshilfesysteme („diagnostik decision support systems“ siehe: Sellin et al. 2024) - die oft auf künstlicher Intelligenz oder maschinellem Lernen basieren – kann die Diagnosefindung erleichtern. Einige dieser Systeme sind oftmals einfach anzuwenden und nutzen bereits vorhandene Ressourcen z.B. aus Fragebögen oder Basismonitoring. Beispiele hierfür sind Anwendungen für eine Diagnoseermittlung durch Symptomerfassung (z.B. FindZebra) sowie Anwendungen zur phänotypischen Erkennung seltener genetischer Erkankungen (z.B. DeepGestalt, GestaltMatcher). Weiterhin werden Methoden des maschinellen Lernens auch zunehmend eingesetzt, um die genetischen Ursachen solcher seltenen Erkrankungen zu identifizieren (Bsp. STIGMA, Balachandran et al.).
F o to: Privat
Durch regelmäßige Überprüfung der Daten und kontinuierlichen Austausch werden Patient:innen engmaschig überwacht, ohne den Weg in das Zentrum häufiger auf sich zu nehmen.
Dr. med. Lars Masanneck, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Digitale Medizin e.V.
Digitalmedizinische Ansätze für eine bessere Patientenversorgung
Nach der Diagnosefindung besteht die nächste Herausforderung darin, die Betroffenen an ein spezialisiertes Zentrum anzubinden, wobei dies für Patient:innen bedeuten kann, erhebliche Entfernungen in Kauf zu
nehmen. In Deutschland besteht ein Netzwerk aus Zentren für seltene Erkrankungen (https://www.se-atlas.de/), die eine optimale Versorgung von Patient:innen durch die dort bestehende Expertise ermöglichen. Allerdings können große Entfernungen und lange Wartezeiten für Patient:innen und Angehörige belastend sein. Um eine evidenzbasierte, hochqualitative und engmaschige Behandlung auch über die zentrumsnahen Ballungsräume hinweg zu ermöglichen, werden derzeit diverse digitalmedizinische Ansätze entwickelt:
Das wachsende Potenzial digitaler Monitoring-Systeme zeigt sich insbesondere darin, den Gesundheitszustand von Patienten mittels mobiler Applikationen, gegebenenfalls ergänzt durch Sensortechnik, Fragebögen und weiteren Messmethoden, zu überwachen. Solche Lösungen sind dabei häufig an koordinierende Zentren angebunden, die auch die Möglichkeit eines direkten und dokumentierten Nachrichtenkontaktes über die App ermöglichen. Durch regelmäßige Überprüfung der Daten und kontinuierlichen Austausch werden Patient:innen dabei engmaschig überwacht, ohne den Weg in das Zentrum häufiger auf sich zu nehmen. Auch Haus-, oder Fachärzt:innen vor Ort können in den Datenaustausch eingebunden werden, was die Behandlungsqualität verbessern kann. Aktuell sind diese Bestrebungen aufgrund bisher fehlender fester Finanzierungsstrukturen hauptsächlich im Forschungsumfeld und durch Förderanträge realisierbar. International nutzen bereits einige Patientenregister, wie in der Neurologie (Masanneck et al., 2023), digitale Gesundheitstechnologien, um aus dem Alltag der Patient:innen umfangreiche Forschungsdaten zu sammeln. Da es bei seltenen Erkrankungen oft schwierig ist, genügend Teilnehmende für klinische Studien zu gewinnen, bieten dezentralisierte klinische Studien, die vorrangig digital oder zumindest digital-unterstützt durchgeführt werden, die Möglichkeit, Teilnehmende auch außerhalb großer Ballungsräume und spezialisierter Zentren zu rekrutieren.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Digitalen Medizin sind digitale Therapeutika. Diese sollen durch digitale Interventionen oder Bildungsprogramme Krankheiten vorbeugen, lindern oder heilen. In Deutschland werden diese als digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) realisiert, die nach einem beschleunigten Zulassungsverfahren vom BfArM gelistet und anschließend allen gesetzlich Versicherten verschrieben werden können. Solche „Apps auf Rezept“ wären prinzipiell für seltene Erkrankungen aufgrund des oft schweren Zugangs zu Spezialist:innen zur Unterstützung besonders gut geeignet, sind aber im aktuellen Rahmen für seltene Erkrankungen kaum wirtschaftlich zu entwickeln.
Die Deutsche Gesellschaft für Digitale Medizin e.V. ist zuversichtlich, dass digitale Medizintechnologien zukünftig zunehmend zur Verbesserung der Versorgung beitragen werden.
Dr. med. Konstanze Betz, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Digitale Medizin e.V.
Wie Patientendaten die Forschung und den klinischen Alltag erleichtern können Weiterhin bleibt festzustellen, dass bei rund 74 Millionen gesetzlich Versicherten auch zu seltenen Erkrankungen durch die Solidargemeinschaft in Deutschland zum Teil große Mengen an Versorgungsund Gesundheitsdaten erzeugt werden. Während die digitale Infrastruktur in Deutschland deutlich (z.B. elektronischen Patientenakte) wächst, schaffen neue gesetzgeberische Grundlagen wie das im Dezember 2023 verabschiedete Gesundheitsdatennutzungsgesetz die Basis, um diese Daten zur Forschung und somit Verbesserung des status quo in geeigneten Fällen nutzen zu können. Dabei sind Themen wie verbesserte Interoperabilität und automatische Datenverarbeitung besonders wichtig. Diese Grundlage ermöglicht eine schnellere Integration der erhobenen Daten - nicht nur in der Forschung, sondern auch in den klinischen Alltag. Neben bestehenden übergreifenden Netzwerken der Zentren für seltene Erkrankungen ist auch die Schaffung integrierter medizinischer Behandlungspfade ein wichtiger Schritt. Notwendig sind auch weitere unabhängige Evaluationsstudien der vorhandenen Anwendungen, insbesondere bei kommerziellen Angeboten.
Die Deutsche Gesellschaft für Digitale Medizin e.V. ist zuversichtlich, dass digitale Medizintechnologien zukünftig zunehmend zur Verbesserung der Versorgung, insbesondere von Patienten mit seltenen Erkrankungen, beitragen werden.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.digitale-medizin.org
Die unerforschte Kinderdemenz NCL
Wenn Eltern ihren Kindern beim Sterben zusehen müssen
Altersdemenz ist in aller Munde. Viele Angehörige mussten bereits im Verwandten- und Bekanntenkreis miterleben, was es bedeutet, wenn die Erkrankung den Betroffenen nach und nach ihre kognitiven und motorischen Fähigkeiten raubt, sie schlichtweg all ihre Erinnerungen verlieren. Für die Forschung ist die Demenz immer noch ein großes Rätsel und wirksame Therapien Mangelware. Genau so verhält es sich mit der Kinderdemenz. Und hier kommt hinzu: Die wenigsten wissen, dass das Schicksal Demenz überhaupt auch Kinder treffen kann.
Die Kinderdemenz NCL – wenn Kinder vergessen Die Kinderdemenz NCL (Neuronale Ceroid Lipofuszinose) ist eine seltene und bisher immer tödlich verlaufende Stoffwechselkrankheit, die zur Folge hat, dass Protein- und Lipidablagerungen in den Zellen nicht mehr richtig abgebaut werden. Durch einen genetischen Defekt sterben nach und nach die Nervenzellen der betroffenen Kinder ab. Es beginnt im Grundschulalter mit Sehschwierigkeiten – innerhalb von zwei Jahren erblinden die Kinder vollständig. Im Laufe der Jahre folgen epileptische Anfälle, Demenz, der Verlust der Sprache und der motorischen Fähigkeiten, bis sie noch vor ihrem 30. Lebensjahr versterben. In Deutschland gibt es ca. 700 Betroffene, weltweit ca. 70.000. Damit zählt NCL – zum Glück – zu den seltenen Erkrankungen. Gleichzeitig bedeutet das, dass sich die Entwicklung eines Medikaments ökonomisch betrachtet, nicht lohnt und das Interesse seitens der Industrie daher recht gering ist. Der dramatische Verlauf der Kinderdemenz NCL kann bisher weder verzögert noch gestoppt werden.
Des Weiteren fehlt ein öffentliches Bewusstsein, was dazu führt, dass meist mehrere Jahre und zahlreiche Arztbesuche vergehen, bevor die Diagnose gestellt wird. Dabei ist es äußerst wichtig, die Krankheit früh festzustellen, damit die betroffenen Familien rechtzeitig alle erforderlichen Maßnahmen in die Wege leiten können. Im Schnitt dauert es nach den ersten Symptomen zwei bis vier Jahre, bis die Eltern endlich Gewissheit haben, an welcher Krankheit ihr Kind leidet. Hinter den Familien liegt meist eine kräftezehrende Ärzteodyssee. Nach einer NCL-Diagnose ist für betroffene Familien nichts mehr, wie es vorher war. Das komplette Leben muss neu geordnet und organisiert werden, um die bestmögliche Versorgung für das erkrankte Kind zu gewährleisten, das im Laufe der Erkrankung einer 24- Stunden-Pflege bedarf. Eine extrem belastende Zeit, sowohl für die betroffenen Kinder als auch deren Familien.
Für eine Zukunft ohne Kinderdemenz „Für eine Zukunft ohne Kinderdemenz“ ist die Mission der gemeinnützigen NCL-Stiftung. Sie setzt sich seit der Stiftungs-Gründung im Jahr 2002 für die nationale und internationale Forschungsförderung ein, um von NCL betroffenen Kindern eine Aussicht auf bisher fehlende Therapie- und Heilungsansätze zu geben. Aufgrund der Schnittmengen zu wesentlich häufiger vorkommenden Altersdemenzen könnten von dieser Forschung noch viel mehr Menschen profitieren.
Dabei ist es äußerst wichtig, die Krankheit früh festzustellen, damit die betroffenen Familien rechtzeitig alle erforderlichen Maßnahmen in die Wege leiten können.
Zudem leistet die Stiftung Aufklärungsarbeit bei Ärztinnen und Ärzten, bietet Projekte für Schulklassen an und sensibilisiert die Öffentlichkeit für die Erkrankung. Unterstützt wird die so wichtige Arbeit der Stiftung von Schirmherr Jan Josef Liefers, der sich bereits seit vielen Jahren für NCL und die betroffenen Familien stark macht.
Aktiv werden statt zuschauen Gegründet wurde die Stiftung, die sich ausschließlich über Spendengelder finanziert, von Dr. Frank Husemann, bei dessen Sohn Tim 2001 im Alter von 6 Jahren NCL diagnostiziert wurde. Als Vater eines an NCL erkrankten Sohnes konnte und wollte er nicht tatenlos zusehen, wie ihm durch diese Krankheit Tag für Tag ein wenig mehr von seinem Kind genommen wird. Er wollte sich engagieren – nicht nur für sein Kind, sondern auch für die anderen betroffenen Kinder mit ihren Familien. Tim verstarb im Jahr 2022 im Alter von 27 Jahren an den Folgen seiner Erkrankung. Obwohl Tim nicht mehr geholfen werden konnte, ist die Zuversicht der NCLStiftung groß, dass in naher Zukunft aufgrund vielversprechender Ergebnisse aus der Forschung zunehmend neue Therapiemöglichkeiten klinisch getestet werden können. Hiermit wäre ein nächster Schritt zu einer „Zukunft ohne Kinderdemenz“ getan.