NOVO HORS-SÉRIE N°21 (septembre 2021)

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Welche Endzeitvision schildern Ihre Bilder in „Welten ohne uns“? Wir erleben heute das Artensterben, den Verlust der Biodiversität, die beschleunigte Digitalisierung der Welt. Mit der Entstehung der künstlichen Intelligenz könnte der menschliche Körper überflüssig, ersetzbar werden. Der Fortschrittsglaube wäre dann an einem Punkt angekommen, an dem es kein Zurück mehr gibt. Der Schlüsselbegriff des modernen Denkens seit dem Beginn der Industrierevolution und dem Kohleabbau heißt Einflussnahme. Die Suche nach fossilen Energieträgern und die Umweltverschmutzung haben unseren Lebensraum bis zur Unkenntlichkeit verändert und es scheint, dass wir uns dem Zeitpunkt nähern, an dem der Mensch selbst überflüssig wird. Ihre Sichtweise ähnelt der eines Weltallreisenden, der die verschiedenen Planeten fotografiert, die er mit unvoreingenommener Neugier entdeckt. Mich fasziniert die Tradition der Entdeckungsreisen in den Erzählungen der Romantik, dieser Blick des Fremden, der weiß, dass er etwas sieht, was er nicht zu verstehen vermag. Die Mischung aus Staunen und Unvoreingenommenheit ruft gleichzeitig Demut und Verzückung hervor. Genauso spannend finde ich das Spekulative in der Science-Fiction. Science-Fiction kann ein Weg sein, der Realität zu entfliehen, wird sie aber spekulativ, so lässt sie Möglichkeiten entstehen, die unsere aktuelle Situation in Frage stellen und Alternativen dazu bieten. Ihre Bilder verweigern sich einer unmittelbaren Wa h r n e h m u n g . M a n kö n n t e m e i n e n , m i t einem kurzen Blick wäre zu erkennen, was sie zeigen; betrachtet man sie allerdings länger, wird unser Blick von etwas festgehalten, was sich ihm verweigert, einem Riss im Ablauf der Wirklichkeit. Dieser Bruch im Fluss der Zeit und des Raums verleiht Ihren Fotografien ihre volle Wirkungsmacht, sie machen das Betrachten zu einer wahren Erfahrung. Danke für diese großzügige Lesart meiner Arbeit. Dirk Lauwaert, der zu der Zeit, als ich in Brüssel studierte, brillante Vorlesungen über die Ästhetik der Fotografie gehalten hat, sprach über das Defizit an Informationen in Fotografien: Es gibt

in einem Bild weder Vorher noch Nachher. Es gibt keine Information über das, was sich außerhalb des vom Fotografen gewählten Rahmens abspielt. Diese Leere, die entsteht, wenn der Fotoapparat den Lauf der Zeit und des Raums unterbricht, muss von der Fantasie des Betrachters gefüllt werden. Sie fotografieren die Wirklichkeit so extrem präzise und detailversessen, dass genau das Gegenteil entsteht. Sie entfernen sich vom Hyperrealismus und beschwören etwas, das nicht real ist, etwas Undurchsichtiges. Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, dass in Ihren Bildern, das Zuviel an Realem das Reale zerschlägt und eine gänzlich imaginäre Dimension eröffnet? So ist die Wirkung des Fotoapparates: Das Werkzeug, das man zum Bildermachen b e n u t z t , h i nte r l ä s st i m m e r e i n e S p u r d e s Entstehungsprozesses, ganz minimal. Das verändert unser Verständnis der Welt. Sie haben es erwähnt, die Benutzung eines hochauflösenden Apparates mit High-End-Objektiven für unverfälschte und saubere Bilder bildet paradoxerweise die Welt ganz anders ab, als der Mensch sie wahrnimmt. Diese Ästhetik verändert unsere Sehgewohnheiten und unsere Verbindung zur Welt. Obwohl der Fotoapparat dafür gedacht ist, ein objektives Bild zu erstellen, agiert er als Element der Verfremdung. Installation mit drei Fotos ANDREA, 2011 BROKEN, 2012 POLAR LINE, 2002 im öffentlichen Raum in Hombourg. Ab dem 29. Juni. CE NOIR TOUT AUTOUR QUI PARAIT NOUS CERNER im Musée des Beaux-Arts in Mulhouse. 11. September — 10. Januar 2021


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