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Das Ur-Rind kehrt zurück
gewöhnen. Und diese sich an die Wisente, die bis zu zwei Meter hoch, drei Meter lang und fast eine Tonne schwer werden können. Sie wirken jedoch ausgesprochen friedlich, wie sie da so grasen und liegen.
«Sie sind sogar eher friedlicher als meine Rinder», sagt Brunner. Dies gelte selbst für den Stier. Einmal allerdings habe der sich provoziert gefühlt. Da graste auf der anderen Seite Brunners reguläre Kuhherde, inklusive Stier. «Die beiden standen sich dann einige Zeit gegenüber, getrennt von zwei Zäunen und einem Fussweg, haben geröhrt und klargemacht, wer hier der Chef ist.»
Wisente waren einst in ganz Europa weitverbreitet, wurden aber im Mittelalter fast völlig ausgerottet – wie später auch der Bison in Nordamerika, ein naher Verwandter, der noch etwas breiter gebaut ist.
Links: Die Wisente bei ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Grasen. Unten: Projektleiter Otto Holzgang, Wisent-Ranger Benjamin Brunner und Vereinspräsident Stefan Müller-Altermatt (von links)
Eine Chance für die Region Seit einigen Jahren gibt es nun Bemühungen, Wisente als Wildtier wieder heimisch zu machen; in Ostereuropa und Deutschland gibt es schon wieder ein paar Herden. Dies will der Verein Wisent im Thal nun auch in der Schweiz versuchen.
Der Vereinspräsident Stefan MüllerAltermatt (46), Biologe und MitteNationalrat, engagiert sich schon seit 2013 für das Projekt. «Einerseits weil ich finde, dass das grösste Wildtier Europas auch bei uns wieder einen Platz haben sollte, andererseits weil es eine Chance für die Region ist.» Bereits in den ersten Wochen haben die Wisente Hunderte Neugierige angelockt. «Wenn es gelingt, diese Leute in die Restaurants, Hotels und Läden der Gegend zu bringen, kann der ganze Naturpark Thal von den Tieren profitieren.» 2016 kam Benjamin Brunner ins Spiel. Der Verein hatte sei


nen hoch über Welschenrohr gelegenen Hof als ideale Umgebung für die Wisente iden tifiziert: schön abgelegen, viel Wald, viel Platz. «Und ich wusste damals nicht mal, was Wisente sind», schmunzelt der 64jährige Landwirt, «aber nach 30 Minuten war ich mit an Bord.» Zur Vorbereitung für seine Aufgabe als WisentRanger hat er nicht nur eine Ausbildung gemacht, sondern war in Osteuropa unterwegs, um sich mit den Tieren vertraut zu machen.
Vier Kilometer Zaun Bis Anfang November befanden sich die Wisente in einem Eingewöhnungsgehege, inzwischen jedoch wurde dieser Elektrozaun demontiert – den Tieren steht nun ein Gelände von 50 Hektaren zur Verfügung, mit sehr viel bergigem Wald und ein paar Wiesen. Auch dieses Gebiet ist jedoch von rund vier Kilometern Zaun umgeben. Ein Teil davon besteht aus massiven Stahlmasten und seilen. «Das ermöglicht Wildtieren bis und mit Rehgrösse, auf die andere Seite zu kommen», erklärt Wildtierbiologe Otto Holzgang (56), Leiter des Auswilderungsprojekts.
Der Rest besteht aus einem weniger hohen und robust wirkenden Elektrozaun. «Sieht zwar nach nicht viel aus, ist aber sehr stabil und effektiv», versichert Holzgang. Wenn alles wie geplant läuft, wird das Gebiet der Wisente in zwei Jahren auf 100 eingezäunte Hektaren erweitert.
Es gibt allerdings auch erheblichen Widerstand gegen das Projekt, besonders aus der Land und Forstwirtschaft. «Ich verstehe das auch», so Stefan MüllerAltermatt. «Schon jetzt braucht es einen enormen Aufwand, Bäume und Weiden vor Wildtieren zu schützen – und nun auch noch Wisente?» Die Opposition aus der Region zog das Projekt schliesslich bis vors Bundesgericht, das jedoch grünes Licht für den Versuch gab. Dieser soll nun vor allem zeigen, wie gross der Schaden ist, den die Wisente an der Natur und in Kulturen anrichten.

Wisente sind mit den Bisons in Nordamerika verwandt, jedoch etwas weniger breit gebaut.
«Der Genpool ist sehr klein. Alle Wisente in Europa stammen von lediglich zwölf Tieren ab.»
Otto Holzgang Projektleiter
Sorge um Felder und Wälder Die Tiere fressen je rund 40 Kilogramm Blätter, Triebe und Rinden pro Tag. «Im Sommer kein Problem», meint Benjamin Brunner, «im Winter müssen wir vielleicht Heu dazufüttern, mal sehen.» Einige Landwirte fürchten jedoch, die gefrässigen Rinder könnten sich über ihre Felder hermachen, wenn sie dann einmal frei wären. «Auch das testen wir hier», erklärt Brunner.
Es gibt jedoch noch weitere Ängste: dass die Tiere angreifen könnten, wenn man ihnen zu nahe kommt – oder dass es Unfälle mit Autos geben könnte. Eine Informationstafel am Eingangstor rät den Besuchenden unter anderem, auf den Wegen zu bleiben und mindestens 50 Meter Abstand zu halten.
Allerdings habe es seit der Wiederansiedlung in Europa nur einen halbwegs ernsthaften Zwischenfall gegeben, erzählt MüllerAltermatt, einen Angriff durch eine Mutterkuh auf eine Frau mit Hund. Diese sei umgestossen und leicht verletzt worden. «Und in Polen mit sehr viel mehr Wisenten gab es in vielen Jahrzehnten gerade mal 30 Autokollisionen», ergänzt Brunner. «Die Tiere haben das nicht überlebt, die Autos waren schrottreif, aber Menschen wurden dabei nie ernsthaft verletzt.»
Dass nur so wenig passiere, liege auch daran, dass die Tiere den Menschen normalerweise aus dem Weg gingen, wie alle Wildtiere. «Deshalb versuchen wir, unsere Wisente hier gar nicht erst an Menschen zu gewöhnen», sagt Brunner. Doch inzwischen kämen sie auch mit Hunden und Pferden ganz gut klar – «als sie das erste Mal Reiter gesehen haben, sind sie sofort in den Wald galoppiert».
Die Erfahrung aus anderen Ländern zeige: «Erst die dritte Generation ist richtig scheu.» Ist es dann aber so weit, sind die Tiere im riesigen Gelände wohl nur noch mithilfe eines kundigen Führers zu finden.
Hoffen auf baldigen Nachwuchs Die drei hoffen nun, dass es im Sommer ersten Nachwuchs gibt. «Ein bis zwei Jungtiere wären schön, im Schnitt überlebt pro Kuh alle zwei Jahre ein Kalb», erklärt Otto Holzgang. «Aber wir müssen zusätzlich aufpassen wegen Inzucht, der Genpool ist sehr klein, weil alle heutigen Wisente in Europa von lediglich zwölf Tieren abstammen – die letzten Exemplare, die es in ein paar Zoos noch gab.»
Ob irgendwann nach 2032 tatsächlich wilde Wisente durch die Wälder in Thal streifen, ist noch völlig offen. Erweisen sich die Daten aus dem Versuch als vielversprechend, müsste der Kanton Solothurn beim Bund eine Bewilligung für die Auswilderung beantragen. «Und natürlich hätten wir bis dahin gern auch die Gegner mit an Bord», sagt Stefan MüllerAltermatt. Es gibt aber auch einen Plan B: einen Teil des Geländes zu einem neuen Wildtierpark zu machen – wofür es allerdings auch eine Bewilligung bräuchte.
Benjamin Brunner ist jedoch optimistisch. «Ich erlebe ja nicht nur die Tiere, sondern auch die vielen Menschen, die hier wegen ihnen vorbeikommen. Und bei denen, die ohne Zaun Angst haben, gehe ich einfach mit.» MM