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In der Vertikale daheim

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Kirche für alle

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Alles im Griff

Liv und Zoé Egli sind an der Kletterwand zu Hause. Die Berner Schwestern trainieren bis zu 20 Stunden pro Woche und klettern in der Schweizer Nationalmannschaft. Ihr Ziel: die Olympischen Spiele 2024 in Paris.

Text: Rahel Schmucki Bilder: Daniel Winkler

Liv (17) und Zoé (19) Egli tauchen ihre Hände in den kleinen schwarzen Beutel und verteilen das weisse Pulver über ihre Handflächen. Konzentriert stellen sie sich vor die vier Meter hohe Wand, setzen den ersten Fuss auf einen farbigen Knubbel, greifen mit den Händen nach den ersten Griffen – und bewegen sich nach wenigen Sekunden wie Spinnen an der überhängenden Kletterwand. Mal ist ein Bein über den Händen, mal müssen sie zum nächsten Griff springen. Ungesichert. Auf dem Boden liegen dicke Matten, die Stürze abfedern sollen. In der Halle in Wilderswil BE dürfen sie jederzeit trainieren – und das tun sie auch. «So 18 bis 20 Stunden pro Woche», sagt Zoé. «Und zwischen Frühling und Herbst sind wir alle zwei Wochen an einem Wettkampf», ergänzt Liv.

Die Schwestern aus Hüni bach BE klettern, seit sie denken können. Ihre Eltern, selbst passionierte Kletterer, haben sie schon als kleine Kinder in die Kletterhalle mitgenommen. «Wir waren etwa vier und fünf Jahre alt, als wir den ersten Kletterkurs besuchten», sagt Liv. Seither hat sie der Sport nicht mehr losgelassen. Heute trainieren die beiden im Kader der Schweizer Nationalmannschaft und erklettern sich regelmässig gute Resultate an nationalen und internationalen Wettkämpfen. Mitte Mai erreichte Zoé an der JuniorinnenEuropameisterschaft in Russland Rang fünf, ihre Schwester Rang sieben in der Disziplin Lead (siehe Box).

Interne Rivalität spornt an Liv und Zoé trainieren jeden Tag zusammen. Als im Lockdown alle Kletterhallen schliessen mussten, haben sie sich zu Hause kurzerhand eine kleine Wand aus Holz gebaut. Meistens üben die beiden, die auch Mitglied beim Schweizer Alpenclub SAC sind, in der Halle, ab und zu auch an einem Felsen draussen.

«Streit gibt es bei uns eigentlich fast nie, wir harmonieren gut zusammen», sagt Liv. Für sie, die Jüngere, war immer klar, dass ihre grössere Schwester an der Kletterwand besser ist als sie. «Das war auch wegen des Altersunterschieds nur logisch», sagt sie. Und doch holt Liv ihre grosse Schwester langsam ein. «Für mich ist es nicht so einfach zu sehen, dass Liv mir mit ihren Leistungen näherkommt, mich vielleicht bald einholt», gibt Zoé lachend zu. Bis jetzt sei sie aber nach wie vor ein bisschen besser als ihre jüngere Schwester. Und das spornt Liv erst recht an.

Nach dem Einwärmen an der Kletterwand gehen die beiden

Wie eine Spinne: Zoé Egli hangelt sich ungesichert, aber zielsicher an der Kletterwand empor. Schon ihre Eltern waren passionierte Kletterer: Zoé (links) und Liv Egli.

Die drei Kletterdisziplinen

Im Klettern unterscheidet man zwischen drei Disziplinen: Bouldern, Lead und Speed.

Beim Bouldern sind die Kletterwände höchstens vier Meter hoch, der Boden ist mit Matten ausgelegt, und die Kletternden sind ohne Sicherung auf den überhängenden und steilen Wänden unterwegs.

Lead und Speed nennt man das Klettern am Seil, bei dem man von einer Person am Boden gesichert wird. Beim Lead ist das Ziel, eine schwierige Route möglichst gut zu klettern, beim Speed kommt es vor allem auf die Geschwindigkeit an. zum Fingertraining über. Dafür gibt es in der Halle eine überhängende Wand, an der kleine Holzlatten befestigt sind. Zoé hält sich mit den Fingerkuppen fest und hängt sich mit dem ganzen Gewicht daran. Ruckartig zieht sie sich hoch und springt mit den Händen zwei Latten höher – und wiederholt das Ganze. An ihren Armen und auf den Schulterblättern spannen sich die Muskeln. Daneben macht Liv Klimmzüge, um ihre Arme zu trainieren.

Liv und Zoé sind gleich gross, gleich schwer und tragen das gleiche Trikot. Und doch gibt es Unterschiede. «Liv schafft mehr Klimmzüge als ich und ist an der Wand ein bisschen mutiger», sagt Zoé. Das liege wahrscheinlich auch daran, dass sie selbst schon öfter verletzt war und deshalb mehr Respekt vor schwierigen Sprüngen habe. Liv hingegen blieb bis jetzt glücklicherweise unfallfrei.

Beide wollen Mathe studieren Damit die Sportkletterinnen genug Zeit fürs Training finden, besuchen sie das Sportgymnasium in Bern. Sie machen ihre Matura in fünf statt in vier Jahren und können so mehr Zeit in der Kletterhalle und an Wettkämpfen verbringen. «Wir haben nicht so viele Präsenzstunden, aber immer viele Hausaufgaben», sagt Liv. So sind sie zeitlich viel flexibler und können sich die Arbeit selbst einteilen. Zoé macht bereits diesen Sommer ihre Matura und will dann Geografie und Mathematik studieren. Liv schliesst in zwei Jahren ab – und will ebenfalls Mathematik studieren.

Ein klares Ziel haben sie auch im Sport ins Auge gefasst: Die Weltmeisterschaft im Klettern 2023 in Bern. Dort können sich die beiden für die Olympischen Spiele in Paris 2024 qualifizieren. «Das ist eher unwahrscheinlich, aber wir werden es sicher versuchen», sagt Zoé und nimmt Anlauf, um einen Griff am oberen Ende der Wand zu erreichen. Das Training geht für die beiden jetzt erst so richtig los. MM

SAC und die Migros

Die Migros engagiert sich für den Schweizer Bergsport und pflegt eine neue Partnerschaft mit dem Schweizer Alpen-Club SAC. Teil der vierjährigen Partnerschaft ist auch das Sportklettern, das dieses Jahr erstmals eine olympische Disziplin ist.

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