12 | 21.3.2022 | FILIALEINSATZ
Wolkenbruch erlebt sein oranges Wunder Thomas Meyer kauft seit Jahr und Tag im Wiedikon M-Märt ein. Nun hat der Schriftsteller für einmal die Seiten gewechselt und frühmorgens die Regale aufgefüllt. Am Abend ist er um viele Erfahrungen, Begegnungen und Erkenntnisse reicher. Text: Thomas Meyer
Thomas Meyer 2012 erschien der Debütroman des Schweizer Schriftstellers (Jahrgang 1974): «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» und stand 70 Wochen lang auf der offiziellen Schweizer Bestsellerliste. Thomas Meyer lebt in Zürich-Albisrieden und ist Vater eines Kindes. Seine Einkäufe tätigt er in der Migros-Filiale Wiedikon M-Märt.
Heute morgen um halb sechs habe ich etwas geradezu Rührendes angetroffen: einen schlafenden Supermarkt. Die Deckenbeleuchtung ist ausgeschaltet, zu hören ist nur das Summen der Kühlregale, vor denen graue Isolierrollos hängen. In der Bäckereiabteilung liegt noch kein einziges Brot, die Fisch- und Fleischtheke ist ganz und gar ohne Tier. Das wird sich aber nun alles zügig ändern, und dazu werde auch ich einen kleinen Beitrag leisten dürfen. Ich bin heute hier, um Ihnen einen Einblick
Bilder: Daniel Winkler
hinter die Kulissen der Migros zu gewähren. Herr Haji, der im Gegensatz zu mir völlig ausgeschlafene Fachleiter der Filiale Wiedikon M-Märt in Zürich, teilt mir als Erstes eine Aufgabe zu, die mir die Müdigkeit im Nu aus den Knochen treibt: Ich darf mit dem Palettenrolli gigantische Obst-und Gemüseberge aus dem an der Rampe parkierten Sattelauflieger zerren und eine Etage tiefer zur Feinverteilung bereitstellen. In der naiven Unwissenheit des Konsumenten bin ich überzeugt, Material für den Rest
der Woche herbeigeschafft zu haben. Herr Haji ist amüsiert: Drei solche Ladungen kommen hier jeden Tag an. Mich beschleicht eine ungefähre Ahnung davon, was es heisst, einen Supermarkt zu betreiben. Und erst recht eine Supermarktkette. Ananas hübsch drapieren
Im weiteren Verlauf des frühen Morgens – die Filiale öffnet erst um acht Uhr – mache ich nähere Bekanntschaft mit acht Kartons Ananas, deren Inhalt ich, wie ich finde, ausgesprochen hübsch in Körben drapiere (später kor-