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Der Zuschauer mit dem Zeichenstift
Als Gerichtszeichner porträtiert Robert Honegger Betrüger, Schläger und Mörder. Manchmal hat er deswegen Albträume, und doch möchte er nichts anderes tun.
Ein junger Mann mit kurz geschorenen Haaren wird in den Hauptsaal des Zürcher Obergerichts geführt. Er reisst die Augen auf und sieht richtig erschreckt aus. Kein Wunder: Er ist Angeklagter in einem Mordprozess, muss Handschellen und sogar Fussfesseln tragen.
Robert Honegger hat diese Szene auf einem grossen Blatt Papier mit kräftigen, fast schon wilden Bleistiftstrichen festgehalten. Es ist sein typischer Zeichenstil – und doch ein ganz besonderes Bild. «Ich habe damit die rund 200 Prozesse zusammengefasst, die ich schon erlebt habe», sagt der 67Jährige. «Das Bild zeigt die Summe meiner Erfahrungen, die ich in 15 Jahren als Gerichtszeichner gesammelt habe. Und der Angeklagte ist sozusagen der Durchschnitt aus vielen Mördern, die ich gesehen habe.» In diesem speziellen Bild hat Honegger ausnahmsweise auch sich selbst porträtiert: Man sieht ihn als nachdenklichen Mann mit Zeichenstift am rechten Bildrand.
Wohnung voller Bilder Wir sind in der Zürcher Parterrewohnung des Künstlers, und er betrachtet gerade seine gesammelten Werke. In seinen Räumen gibt es nur wenige Möbel, dafür aber Unmengen von Skizzen, fertigen Zeichnungen und Ölbildern. Honeggers Gerichtszeichnungen erscheinen in verschiedenen Zeitungen, vor allem im «TagesAnzeiger». Danach landen sie in seiner Wohnung und beanspruchen dort immer mehr Platz.
Dass Honegger seinen seltenen Beruf überhaupt ausüben kann, verdankt er einer Regel unseres Justizsystems: In Strafprozessen darf nicht fotografiert und gefilmt werden, um die Persönlichkeitsrechte der Angeklagten, aber auch der Zeuginnen und Zeugen zu schützen. Damit sich die Öffentlichkeit dennoch ein Bild von wichtigen Prozessen machen kann, kommen Zeichnerinnen und Zeichner zum Einsatz.
Für den Beruf des Gerichtszeichners gibt es in der Schweiz keine reguläre Ausbildung. Auch Honegger kam eher zufällig zu diesem Metier: Er ist eigentlich Künstler und Zeichenlehrer. Als vor Jahren bei der «ZürichseeZeitung» ein Gerichtszeichner ausfiel, sprang er kurzfristig ein. Seine Bilder waren so überzeugend, dass er von nun an regelmässig Aufträge bekam.
Honegger blättert in seinen Werken und erinnert sich an einzelne Angeklagte. Mit Abstand am häufigsten hat er den jungen Straftäter Brian gezeichnet. Der mittlerweile 27-Jährige wurde schon mit 15 Jahren zum ersten Mal verurteilt, weil er einen anderen Teenager mit einem Messer schwer verletzt hatte. Er musste wegen Dutzender weiterer Straftaten immer wieder vor Gericht erscheinen.
Honegger hat Brian oft skizziert und damit auch verschiedene Seiten seiner Persönlichkeit festgehalten: Mal sitzt der kräftige junge Mann vorgebeugt da und blickt den Richter grimmig an. Mal dreht er sich lächelnd zu seinem Vater um, der hinter ihm im Gerichtssaal sitzt, und begrüsst ihn mit einem Fauststoss.
«In einzelnen Prozessen fiel Brian dem Richter aus Wut und Verzweiflung ins Wort», erzählt der Gerichtszeichner. «Damit hat er alles noch schlimmer gemacht.»
Höflicher Vierfachmörder
Andere Angeklagte haben dem Künstler Albträume beschert. Ganz besonders galt das für den pädophilen Mörder, der 2015 in einem Einfamilienhaus im Aargauer Dorf Rupperswil vier Men- schen umbrachte – darunter einen 13-jährigen Bub. «Besonders verstört hat mich, dass sich dieser Täter vor Gericht sehr gut im Griff hatte», erinnert sich Honegger. «Er trat ausgesprochen höflich und bescheiden auf. Vor dem Hintergrund seines grauenvollen Verbrechens war das fast unfassbar.»
Eine Zeichnung von Robert Honegger: Vorne rechts ist er selbst als nachdenklicher Beobachter am Zürcher Obergericht zu sehen.
Obwohl der Gerichtszeichner keine Familie hat, träumt er danach immer wieder, er habe Kinder in seiner Obhut, gehe mit ihnen über einen schmalen Bergpfad – und plötzlich falle eins der Kinder in einen Abgrund. Jedes Mal will er das Kind festhalten, und immer ist er zu spät.
Versteckte Abgründe
«Die vielen Stunden in Gerichtssälen haben mein Menschenbild verändert», findet Honegger. «Als junger Mann bin ich manchmal richtig vertrauensselig auf fremde Leute zugegangen. Heute bin ich viel vorsichtiger. Ich weiss, dass man sich von einem attraktiven Äusseren nicht blenden lassen sollte – auch der Mörder von Rupperswil ist ein gut aussehender Mann.» Ausserdem traut er nicht jeder gutbürgerlichen Fassade, auch wenn sie noch so makellos aussieht. Vor allem Prozesse gegen Betrüger haben ihn gelehrt, wie sehr der schöne Schein trügen kann.
Trotzdem liebt der Künstler seine Arbeit und möchte nichts anderes tun. Er findet es spannend, der Justiz bei der Arbeit zuzusehen. Und es stört ihn nicht im Geringsten, dass seine Bilder immer unter grossem Zeitdruck entstehen.
«Meist bekomme ich den Auftrag kurzfristig», erzählt er. «Ich mache dann im Gerichtssaal meine Zeichnung, die ich auch gleich vor Ort mit Aquarellfarben koloriere und möglichst schnell abliefere. Aus dem Tempo heraus habe ich meinen speziellen Zeichenstil entwickelt.»
Honegger begreift seinen Job als sportliche Herausforderung –und ist im Geist schon in den Startlöchern, um ein weiteres Gerichtsbild zu zeichnen. MM
