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Bildung im digitalen Wandel

Wer mit jungen Menschen arbeitet, muss offen sein für das Neue, denn die Herausforderungen sind gross. Sich allein auf Bekanntes zu berufen, ist nicht mehr zeitgemäss. Digitale Transformation, Klimawandel, Migration – die aktuellen «Mega-Trends» tragen nicht nur den «Wandel» im Wort, sondern bezeichnen auch eine Zunahme der Geschwindigkeit. Mit dem «Digitalen Lernlabor», in Forschungsprojekten mit Hochschulen, mit «Bring Your Own Device» und «Lyceum Online» wurden in den letzten Jahren am Lyceum Alpinum erste Schritte hin zu einer neuen Lernkultur unternommen, welche auf diesen Wandel antworten kann.

Working with young people means being open to the significant challenges of the new age. It is no longer possible to rely solely on the familiar. Digital transformation, climate change, migration - the current ‘mega trends’ reflect not only change, but also denote an increase in speed. The Digital Learning Lab, research projects with universities, Bring Your Own Device and Lyceum Online, represent the first steps the Lyceum Alpinum has taken in recent years towards a new learning culture as a response to this change.

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Wenn die Jugend in Zukunft «trittfest» sein soll, darf man die Bildung nicht auf den herkömmlichen Modus der «Wissenskultur» beschränken, sondern muss Handlungsoptionen eröffnen, in denen «Future Skills» erworben werden können. Denn obgleich in den neuen Technologien grosse Chancen für die Bewältigung der zentralen Aufgaben der Zukunft liegen, drohen sie gleichzeitig zum Geist zu werden, den der Zauberlehrling nicht mehr kontrollieren kann. Wenn die Schülerinnen und Schüler nicht verstehen und lernen, was in einer «digitalisierten Welt» passiert, wie Information vernetzt, Algorithmen gespeist, künstliFor young people to feel sure-footed in the future, education must not limit itself to imparting conventional knowledge, but must provide opportunities to act and acquire future skills. For although new technologies offer great opportunities for mastering the key tasks of the future, they also threaten to become a genie that the sorcerer's apprentice can no longer control. If students do not understand and learn what is happening in a ‘digitalized world’, how information is networked, algorithms fed, and artificial intelligence and power generated, then they will remain mere pawns in the transformation.

che Intelligenz und Macht generiert werden, dann bleiben sie bloss Spielbälle der Transformation.

DIE DISRUPTION GESTALTEN

Die Covid-Krise hat das System Schule erschüttert und als «Nebeneffekt» der Digitalisierung viel Schub gegeben. In dieser «ersten digitalen Revolution der Bildung» ging es vor allem darum, den herkömmlichen Unterricht digital abzubilden. Nun stehen wir an einem Wendepunkt, denn die Schulen beschäftigen sich bei aller «Sehnsucht nach Präsenzunterricht» mit den neuen Möglichkeiten von Lehren und Lernen so offen und gleichzeitig differenziert wie nie zuvor. In einer Zeit, in der sich die Arbeitswelt immer schneller verändert, darf die Bildung auch nicht stillstehen. Ebenso fatal wäre es, wenn sie nur hinterherhinken und die Diskussion nicht selber gestalten würde. Deshalb muss sich die Schule den zentralen Fragen stellen: Wie verändert die Digitalisierung die «Wissensgesellschaft» und den Menschen? Welche Bildung brauchen Maturandinnen und Maturanden in Zukunft, damit sie in der «neuen Welt» bestehen und sie mitgestalten können? Die Herausforderung wird unterschätzt, weil sie in ihrer exponentiellen Entwicklung kaum erfasst werden kann und weil an den Überzeugungen, die sich in der langen Bildungstradition bewährt haben, festgehalten werden will. Aber gerade, wenn es darum gehen soll, dasjenige zu bewahren, was wichtig ist – zum Beispiel die Ausbildung einer «mündigen Persönlichkeit» –, sind die Schulen aufgefordert, sich mit Mut und Offenheit des Themas anzunehmen und enger mit den Hochschulen zusammenzuarbeiten, die den Wandel stark mitprägen.

EINE NEUE SPRACHE

Falsch ist die vorherrschende Sichtweise einer «Zweiteilung der Welt» in «analoge» und «digitale» Bereiche. Beides fügt sich längst in einer Wahrnehmungswelt zusammen, für die wir eine neue Sprache entwickeln müssen. Die Schule muss dabei vom Modus der Antwort auf denjenigen der Frage wechseln. «Spracherwerb» funktioniert über Nachahmung und Grammatik. Beides ist kaum vorhanden: es fehlt an Menschen, die in der Digitalisierung «sprachliches Vorbild» sein können, und es fehlt ein «grammatikalisches Verständnis», das über die Kenntnis der Mechanismen des digitalen Konsums hinausgeht. «Digital Literacy» meint demgegenüber nicht nur «Verstehen der Digitalisierung», sondern die Fähigkeit, neue Wirklichkeiten zu schaffen und dadurch die Zusammenhänge erst zu erkennen. Die Darstellung und «sprachliche Übersetzung» der digitalen Welt darf nicht den «technischen Nerds», den Algorithmen und Zahlen überlassen werden, sondern muss von Beginn an mit einem kulturellen Verständnis und mit kulturellen Begriffen verbunden werden. Denn es handelt sich um neue Kulturtechniken.

ZEIT

Schulen müssen sich auf den raschen Wandel einstellen. Aber Bildung braucht auch viel Zeit, denn die Reglemente der Mittelschulen formulieren als Ziel jene «persönliche Reife», die den Menschen für ein Hochschulstudium und für «anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft» befähigt. «Reife» kann nicht erzwungen werden,

SHAPING DISRUPTION

The COVID crisis shook the school system and, as a side-effect, drove digitalization forward significantly. This ‘first digital revolution in education’ has primarily been about mapping traditional teaching onto digital platforms. Now we are at a turning point because schools, much as they may long for a return to face-to-face instruction, are dealing with new opportunities for teaching and learning to be both open and differentiated as never before. At a time when the world of work is changing ever-faster, education must not stand still. It would be no less fatal to merely lag behind and fail to shape the discussion. That is why schools must ask themselves the key questions: How is digitalization changing people and our ‘knowledge society’? What kind of education will high school graduates need in the future so that they can survive in and help shape the new world? Many underestimate this challenge, because it is barely possible to grasp its exponential development and because people want to hold on to the convictions that have proven themselves in the long tradition of education. But it is precisely because there is a need to preserve what is important - for example, the formation of the ‘whole person’ – that schools are called upon to tackle the issue with courage and openness and to work more closely with universities, which are strong shapers of change.

A NEW LANGUAGE

The prevailing view that the world is an analogue and digital ‘dichotomy’ is false. The two domains long ago merged into a single perceived world, for which we must develop a new language. In doing so, the school must switch from answer to question mode. Language acquisition works through imitation and grammar. Both are in short supply: there is a lack of people to serve as ‘linguistic role models’ in digitalization, and there is a lack of ‘grammatical understanding’, knowledge that goes beyond the mechanisms of digital consumption. ‘Digital literacy,’ on the other hand, means not only understanding digitalization, but also having the ability to create new realities and thereby recognize connections. The representation and ‘translation’ of the digital world must not be left to the ‘techno-nerds’, to algorithms and numbers, but must connect from the outset with cultural understanding and with cultural concepts. For these are new cultural technologies.

TIME

Schools must adapt to rapid change. But education also requires time, because one goal of secondary schools is to develop in people the personal maturity which enables them to study at

aber Langsamkeit ist nicht mehr zeitgemäss: Das Immer-Mehr und Immer-Schneller hat längst die Schule erfasst. Beklagt wird die späte Einschulung in der Schweiz, man spricht von «verlorenen Jahren» im Kindergarten, will die Studiendauer limitieren und hat die Schuldauer am Gymnasium gekürzt: frühere Abschlüsse für einen raschen Eintritt in den Arbeitsmarkt. Wir erwarten mehr Leistung von jungen Menschen und geben ihnen weniger Zeit.

«Wer geht, der sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt», sagte der Gelehrte Johann Gottfried Seume im 19. Jahrhundert, als er langsames Reisen propagierte und sich von der Geschwindigkeit von Pferd und Wagen distanzierte: «Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.» Dasselbe gilt für das Lernen. Wir brauchen Zeit für die Entwicklung der eigenen Art der Anschauung und der Bereitschaft, den Moment des Erkennens zu packen – wie einen Moment des Glücks. Der Philosoph Paul Virilio behauptet, dass das Endstadium in der Geschichte der permanenten Beschleunigung ein Zustand des «rasenden Stillstands» sein werde. Die Menschheit habe mit der zunehmenden Geschwindigkeit auch fortwährend an Macht gewonnen – mit der Zähmung der Pferde, der Eisenbahn, dem Auto und dem Flugzeug. Das «Erreichen von Echtzeit» mit den neuen Übertragungstechnologien habe nun aber eine «neue Ohnmacht» zur Folge: «Nach jahrtausendelangem Beschleunigungsfortschritt droht eine totale Regression: Reglos dasitzend und lichtsensibel auf das Geflimmer auf dem Bildschirm reagierend, wird der künftige Mensch als Hybride von Pflanzen vegetieren.»

BEGEGNUNG

Wenn man Menschen fragt, was sie geprägt habe, was die «Herzstücke» ihrer Bildung gewesen seien, warum sie später ein Studium gewählt, einen Beruf ergriffen hätten, dann ist nie die Rede vom raschen «Füllen des internen Speichers» mit Information. Sie erwähnen die Bedeutung der Begegnung mit Persönlichkeiten und die Momente des Erkennens, des sich Anstecken-Lassens und Feuerfangens. Dass Unterricht ein sozialer Prozess ist, will niemand bestreiten – weil er mehr meint als Wissensvermittlung, weil er Kulturtechniken weitergibt und Haltungen, weil er die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden ermöglicht, weil in der Dialektik die Grundlage der Entwicklung von Gedanken liegt, weil das kritische Hinterfragen nicht allein von Maschinen vorgegeben werden kann. Aber was wird man in 10 Jahren wirklich unter «Unterricht» verstehen? Immer noch eine Interaktion im Präsenzmodus von Menschen von morgens acht bis abends fünf Uhr? Wird es noch Schulen geben? Welche Interaktionen werden als sinnvoll erlebt?

Die Digitalisierung stellt zwar den herkömmlichen Unterricht und die herkömmliche Schule in Frage, gibt aber gleichzeitig den «alten Sozialformen», der Begegnung und Zeit, neuen Sinn. Beides muss nun weiterentwickelt werden: das digitale Lernen und die Gemeinschaft des Lernens – hin zu einer neuen Balance in der Schule und Gesellschaft der Zukunft. university and to take on demanding tasks in society. Maturity cannot be forced, yet slowness is no longer in keeping with the times: ‘ever-more’ and ‘ever-faster’ attitudes have held sway in schools for some time. People complain that school begins too late in Switzerland, talk about ‘lost years’ in kindergarten, want to limit the duration of studies and have shortened the duration of schooling at the Gymnasium: earlier graduations for a quick entry into the labour market. We expect more performance from young people and give them less time.

“He who walks sees more, on average, anthropologically and cosmically, than he who drives,” said the 19th-century scholar Johann Gottfried Seume, when he advocated slow travel and distanced himself from the speed of horse and carriage: “I am of the opinion that everything would be better, if one walked more.” The same is true for learning. We need time to develop our own way of looking at things and a willingness to grasp moments of understanding – as if they were a moment of happiness. Philosopher Paul Virilio claims that the final stage in the history of permanent acceleration will be a state of ‘frantic stasis’. He states that as speed has increased, so humanity has continually gained power - with the domestication of horses, the railroad, the automobile and the airplane. The “achievement of real time” with the new transmission technologies, however, may now result in a “new powerlessness”: “After thousands of years of progress in acceleration, there now threatens a total regression: sitting motionless, sensitive to the light flickering on the screen, the future human being will vegetate as a plant-hybrid”

ENCOUNTERS

When people are asked what has shaped them, what the ‘cornerstones’ of their education were, why they later chose a course of study or took up a profession, there is never any mention of rapidly ‘filling their internal memory’ with information. They mention the importance of encounters with people and moments of understanding, of being hooked and catching fire. Nobody can deny that teaching is a social process - because it means more than imparting knowledge, because it passes on cultural techniques and attitudes, because it makes it possible to engage with those who think differently, because the basis for the development of thought lies in dialectics, because critical questioning cannot be prescribed by machines alone. But what will we really understand ‘teaching’ to mean in 10 years? Will it still be an interaction in the presence of other people from eight in the morning until five in the evening? Will there still be schools? What interactions will be experienced as meaningful?

While digitalization calls conventional schools and teaching into question, it also gives new meaning to the ‘old’ social forms of encounters and time. Both must now be developed further: digital learning and the learning community - toward a new balance in the school and society of the future.

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