3
Lignatec 15/2003
1 Ein flaches Dach 1.1
Geschichtlicher Hintergrund
Das Dach als schützendes Element und Abschluss über einem Gebäude hat den Ursprung nicht in der gestalterischen, architektonischen Baukunst, sondern bei den verfügbaren Materialien. Bei allen erhaltenen archetypischen Haus- und Siedlungsformen, wo auch immer in der Welt, begegnen wir den gleichen Formen. Diese sind in den Lebensgewohnheiten der Bewohner begründet und stehen in Zusammenhang mit den regionalen klimatischen Bedingungen, den örtlichen Baustoffen und den aktuellen Formen der Häuser und ihrer Dächer. Der Wille des Menschen, sich unter Einsatz technisch vernünftiger und sparsamer Konstruktionen entsprechend den klimatischen Verhältnissen gegen die Naturgewalten zu schützen, hat die Gestaltung des Daches geprägt. Eine Geschichte des flachen Daches im Sinne einer kultur- und baugeschichtlichen Entwicklung gibt es deshalb nicht. Während das flache Dach im Mittelmeerraum, in Asien und Amerika seit Menschengedenken verbreitet ist, war es in Mittel- und Nordeuropa jahrtausendelang ohne Bedeutung. Erst mit dem Beginn der Renaissance, als klare, geometrisch einfache Baukörper und Fassaden die gotische Architektur ablösten, begann sich der Wunsch nach einem horizontalen Gebäudeabschluss abzuzeichnen.
1.2
Was bis ins 18. Jahrhundert bei imposanten Bauten als Terrassen und Gärten geplant und auch vereinzelt realisiert wurde, fand mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert vermehrt Anwendung. Neben den ökonomischen Gesichtspunkten wie geringerer Holzbedarf, kleinere Brandgefahr, Möglichkeiten einer späteren Aufstockung wurden auch Argumente wie die der Musse auf Dachgärten, das Wäschetrocknen bis hin zum Divertissement, mit guten Freunden und Gelehrten etwas näher dem Himmel zu sein, als Vorteile des flachen Daches angeführt.1) Die Eindeckung bestand anfänglich aus einer schwach geneigten Schalung auf einer Balkenlage, darauf mehrere Papierlagen, die mit Schichten aus Sand, Kies und Lehm abgedeckt wurden. Den Wünschen der Architekten zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen die begrenzten technischen Möglichkeiten der Umsetzung gegenüber. Dies förderte die Entwicklung von Abdichtungen wie Dachpappen, Gussasphalt und letztlich Kunststofffolien.
Das Davoserdach
Neben städtischen Wohnsiedlungen und Industriebauten fand das flache Dach auch beim Bau von Heilstätten u.a. in Davos eine grosse Verd1 'ohnhaus mit Arztpraxis med. Burckhardt Davos Platz: baut 1926-27 n Rudolf Gaberel, )gebrochen 1978
Hinter den über das Dachniveau ragenden Fassaden versteckten sich anfänglich noch geneigte Ziegeldächer, die jedoch mit dem Aufkommen der Eisenbetonkonstruktionen durch flache Decken abgelöst wurden.
breitung. Die Argumente für das flache Dach wurden von den Architekten Pfleghard und Haefeli mit der Funktion der Bauten begründet: Die den Zimmern vorgelagerten Liegeplätze (Balkons) sowie zusätzliche Liegeplätze auf dem flachen Dach ermöglichten allen Patienten, die Sonneneinstrahlung zur Behandlung der Tuberkulose zu nutzen. Zudem wurden für die Bauten mit über 100 Zimmern neue Formen gesucht, die den Baukörper möglichst leicht in der Gebirgslandschaft erscheinen liessen. Dabei entstand ein flaches Dach, gegen die Gebäudemitte leicht geneigt und mit einer Entwässerung inmitten des Gebäudes. Somit konnte verhindert werden, dass der Schnee vom Dach rutscht und sich um die Abläufe Eis bildet. Damit der Schnee bei der geringen Wärme1) So etwa bei Paul Jakob Marsperger, Bau- und Commercienrat in Dresden; Traktat für die universelle Einführung des flachen Daches (Altanen) 1725.