LIEBE NACHBARN – Frühling 2019

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LIEBENACHBARN D A S B U N T E S T E S TA D T M A G A Z I N F Ü R W Ü R Z B U R G FRÜHLING 2019  KOSTENLOS  NIMM ES MIT!

UNTERWEGS MIT DER WANDER-UNI

DIE LIEBEN NACHBARN VOM MAINVIERTEL

MENSCHLICHE GRÖSSE IN EINER KLEINEN KANTINE


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1. EDITORIAL

noel Eisenbacher bei seiner Wander-Uni getan hat. Dieses Gefühl versucht Anna-Lucia in ihrem Portrait

LIEBSTE NACHBARN

E

über Manoels Reisen für Euch einzufangen. Warum etwas anders machen? Warum nicht den bequemen Weg gehen? Die Regie-Legende Werner Herzog gab uns bei einer Diskussion im Mainfrankentheater kürzlich den Rat: „Lauft erst einmal 100 Kilometer zu Fuß exakt in eine Himmelsrichtung, egal was kommt. Das bringt Euch weiter als jede Brücke und jedes Studium. Einfach mal machen.“

in Vorwort … wovor denn? Und warum ausgerechnet davor? Alles zusammenfassen, in ei-

Die Sängerin Lina Maly meint: „Ich mag die Dinge, die

nen kurzen Text? So viele Buchstaben, Bilder und

Du tust, mehr als die Worte, die Du sagst.“ In seiner

Eindrücke? Nein: leider schwierig bis unmöglich.

Schlichtheit und Einfachheit ist dieser Satz sehr tref-

fend: Wichtiger als das, was wir erzählen, ist das, was Darum schreiben wir lieber etwas anderes: übers

wir tun, was wir erleben. Dass wir leben und unser

Erwachsenwerden und Jungbleiben? Die Neon ist

Leben nicht in der Bildschirmzeit am Handy verloren

Geschichte. Warum also immer noch Printmagazine?

geht. Wenn Euch Eure Kinder später mal fragen, was

Warum sich noch quälen mit Papier? Mit Gestal-

Ihr erlebt habt und wo Ihr schon überall wart – und

ten, Drucken und Verteilen von 5.000 Magazinen in

Ihr nur sagen könnt: auf facebook, insta, tinder &

der Stadt? Ganz einfach: Weil es etwas anderes ist.

googlemaps, dann stimmt etwas nicht. Ein Navi kennt

Genauso, wie es etwas anders ist, durch Deutschland

zwar vielleicht den kürzesten, aber nie den besten

mit dem Auto auf der Autobahn zu heizen oder ein

Weg, den man einschlagen kann.

halbes Jahr querfeldein zu Fuß zu laufen, wie es Ma-

DIE LIEBEN NACHBARN

COVERFOTO: MODELS: Rosalie & Mascha, FOTOS: Nico Manger / Studio 5d, HAIR & MAKEUP: Maria Mihm by Friseur Mihm / Mellrichstadt


2. NEU IN WÜRZBURG

Fühlt sich richtig gut an! Wie sich unsere neuen Nachbarn von HOPERY für unsere engsten Verwandten engagieren „Die Kaufentscheidung jedes einzelnen Menschen hat die Kraft, die Welt zu verändern“, davon ist Benjamin Böhme fest überzeugt. Und so entschied sich der Würzburger schließlich ganz bewusst dafür, die kleine Naturkosmetik-Manufaktur seiner Eltern in unserer lieben Nachbarschaft weiterzuführen – wohl wissend, welch harter Kampf es ist, sich gegen die Big Player der Branche zu behaupten. Zusammen mit seinem Team des 2018 gegründeten Social Startups HOPERY entwickelt Benjamin die traditionellen Rezepte seiner Mutter weiter und verarbeitet für die hochwertigen veganen Produkte ausschließlich nachhaltige Inhaltsstoffe. Tierversuche sind dabei ebenso tabu wie das (nicht nur) in vielen Kosmetika verarbeitete Palmöl; schließlich ist die Palmölindustrie einer der Hauptverursacher der Zerstörung der Regenwälder – und damit auch der Heimat von Orang Utans. Um diesen nicht nur indirekt, sondern auch ganz konkret eine Chance zu geben, gehen pro verkauftem HOPERY-Produkt 20 Cent an Orangutan Outreach, ein Hilfsprojekt zur Adoption verwaister Orang-Utan-Babys; zusätzlich spendet Hopery zehn Prozent des Gewinns an das Projekt, das bereits mehrere unserer engsten Verwandten vor dem sicheren Tod bewahren konnte. So nimmt Benjamins Vision, mit jedem HOPERYProdukt auch ein kleines Stück Hoffnung zu geben, von Tag zu Tag mehr Gestalt an. Heute bietet das Unternehmen eine hochwertige Produktpalette, die von Seifen, Handcreme und Bodylotion in den Sorten Bamboo Milk, Lavender Orange und Lime Grapefruit bis zur Badeschokolade reicht. Mehr über HOPERY erfahrt Ihr unter www.hopery.de HOPERY ist in Würzburg erhältlich bei DIE PAMPELMUSE, Augustinerstr. 8.

TRABERT 4 0 0

J A H R E

S C H U H M A C H E R T R A D I T I O N

ZWIEGENÄHTE SCHUHE AU S O S T H E I M VO R D E R R H Ö N


3. SHORT CUTS

Airbläd

Stadt geschichten

Es herrscht reger Betrieb, auch auf dem Männer-WC. Als ich

Aufgezeichnet von Christian Götz, Thomas Brandt

Neulich im BURGER-RESTAURANT

mich grade zum Händewaschen begebe, bemerke ich plötzlich direkt neben mir, wie ein Herr um die 50 seltsame Verrenkungen über dem Händetrockner (einer dieser unseligen Airblade-Bakterienschleudern) vollzieht. Beim genaueren

Guten morgen auf fränkisch

Hinsehen traue ich meinen Augen nicht: Versucht er doch

Behind blue Eyes

gerade, mit seinem bereits befreiten Dödelmann in den

Frühmorgens am Paradeplatz: Ein junges Mädchen läuft in

Trockner zu pinkeln, den er allem Anschein nach für ein Pis-

ihr Smartphone versunken mit gesenktem Kopf über den

soir hält. Ich sehe bereits in Gedanken seinen von dieser Teu-

Gehsteig. Dabei rempelt sie aus Versehen eine ältere, sehr

felsmaschine in die Luft gewirbelten Blaseninhalt im Gesicht,

fein gekleidete Dame an; diese lässt einen lauten Jauchzer

als ich gerade noch ausrufen kann: „Ja spinnst du, des is zum

los, das Mädchen schaut etwas irritiert, geht dann aber

Händtrocknen und ned zum Brunzen!“ Er schaut mich kurz

weiter. Die Dame ruft ihr lautstark hinterher: „Hoffentlich

entgeistert an, dann fällt der Groschen: „Oh Scheiiiiße, mei,

läufst geche a Audo und bist hie. Du blauäuchicher Ab-

danke Kumpel!!“ – und macht sich verlegen Richtung ech-

schaum!“ Die Mitglieder einer Touristengruppe aus Fern-

tem Pissoir auf. Ein Mann hinter mir sagt: „Des war jetz ned

ost blicken sich sichtlich verstört an – und dann wieder in

wahr, oder?!“ Glaubt mir, das wünsch ich mir bis heute …

ihre Smartphones.


HeutE hier, morgen fort

EINFACH MAL EIN HALBES JAHR MIT DER WANDERUNI DURCHS LAND ZIEHEN



4. DAHEIM UND ANDERSWO

I

ch muss mal raus … einfach mal an die frische Luft, dem Trott entflieh'n … 'nen klaren Kopf bekommen und

niemanden sehn’: Alles Sätze, die Manoel Eisenbacher so definitiv nie gesagt hat. Als der heute 28-Jährige 2016 das erste Mal von der Wanderuni hörte, verspürte er vielmehr latente Beklemmung als den nach Freiheit dürstenden Impuls der Stadtflucht. Im Gegenteil: Die Idee, ein knappes

Zwischen Heidelbeersträuchern und fichten im Hochschwarzwald.

halbes Jahr in deutschen Landen unterwegs zu sein, ohne einen festen Tagesablauf geschweige denn einen festen

wir sind dAnn mAl weg …

Schlafplatz, hätte dem gelernten Winzer und Fotografen

Das Konzept ist jedenfalls schnell erklärt: Herzstück der

nicht mehr Unwohlsein bereiten können, wie er uns erzählt.

Wanderuni sind die sogenannten StudienGänge, bei denen

„Tatsächlich bin ich eher ein strukturierter Typ und brauche

Gruppen von zumeist jungen Menschen im Rahmen einer

immer eine gewisse Vorhersehbarkeit, um mich safe zu

halbjährigen Wanderschaft ihren ganz eigenen Fragen

fühlen.“ Rückblickend lässt sich daher nicht mehr sagen,

folgen. Ins Leben rief die alternative Bewegung Manoels

welcher Teufel Manoel geritten haben muss, zwei Jahre

Kumpel Emil, der sich lange Zeit in der Schülerbewegung

später seine Komfortzone im beschaulichen Würzburg zu

Funkenflug für soziale Bildung einsetzte und im Zuge

verlassen … Neugierde könnte es gewesen sein, die ihn

dessen wiederholt Kundgebungen in Berlin besuchte. Eines

zum ersten Infotreffen der Wanderuni im November 2017

Tages wurde aus dem Trip in die Hauptstadt schließlich eine

trieb, oder – und das ist wahrscheinlicher – die ansteckende

Wanderschaft durch ganz Deutschland, der sich im Laufe

Begeisterung einer kleinen, aber wachsenden Bewegung,

der Jahre immer mehr Gleichgesinnte anschließen sollten

die sich seit 2015 für freiere Bildungswege abseits des

– der Rest ist Geschichte. In Anlehnung ans „normale“

Unikosmos einsetzt.

Unistudium verstehen sich die StudienGänge dabei als Einführungsfür

alle,

die

beziehungsweise ihren

Orientierungssemester

individuellen

Bildungsweg

als

kontinuierlichen, selbstbestimmten Lernprozess verstehen. Learning by walking eben – oder, wie uns Manoel erklärt: „Der Weg zum für mich Wesentlichen.“


NEUE ORTE, ANDERE PERSPEKTIVEN UND VIEL ZEIT ZUM LEBEN

Unterwegs im Harz während der Mitlaufwoche, zu der Freunde und Bekannte eingeladen waren.


Die Route verlief von Schwäbisch Gmünd Richtung Schwarzwald nach Waldkirch; dann von Freiburg ins Allgäu; von Vorpommern nach Usedom und wieder zurück nach Vorpommern; daraufhin ging es über Brandenburg nach Halle (Halbzeit), dann in den Harz, die Toskana und schließlich an die Mainschleife; im Anschluss folgten Stopps in Leipzig, Witten und dem Allgäu; von dort ging’s zurück nach Erfurt, über den Hunsrück an die Mosel bis zur letzten Etappe – zurück nach Schwäbisch Gmünd.

Mit 20 Kilogramm auf dem Rücken zu laufen war für Manoel und seine Mitstreiter am anfangs gewöhnungsbedürftig.

Plan mit Fotofinish Dass

ein

solcher

Weg

freilich

nicht

selten

mit

Herausforderungen beginnt, wurde dem Wanderer in spe spätestens dann klar, als er sich dazu entschloss, die Wanderschaft mit einem Fotoprojekt zu begleiten. Ein Tag, ein Foto – mehr Optionen wollte er sich nicht einräumen, um

die

perfekte

Momentaufnahme

des

jeweiligen

Tages einzufangen. Dabei überwand der selbsternannte Perfektionist

gleich

die

zweite

innerliche

Hürde:

„Schließlich konnte ich nie wissen, ob der nächste Moment vielleicht noch perfekter sein würde.“ Und so begab sich Manoel – jede Menge aufgeregte Vorfreude, eine Leicaflex SL2-Analogkamera und nur die nötigsten Kleidungs- und Pflegeutensilien im Gepäck – auf eine Reise ins denkbar Ungewisse. Die erste Station: das Zusammentreffen mit seinen „Mitläufern“. Schließlich standen sich im April 2018 in Schwäbisch Gmünd 15 wenig vertraute Menschen gegenüber, die fortan gemeinsam wandern, trampen und ihren jeweils gesteckten Zielen näherkommen wollten. Aber ist das nicht ein Widerspruch in sich: Selbstreflexion im Rudel? Manoel lacht: „Ich bin ehrlich: Genau das Gleiche

Unverhofft kommt oft: Die letzten Kilometer nach Piesport an der Mosel ging’s per Traktor.

VON DER SEHNSUCHT NACH EINEM LEBEN ABSEITES DER NORMALEN WEGE


4. DAHEIM UND ANDERSWO

Ein Get-together für Wildnispädagogik, Permakultur und Foodsharing: das Humus-Festival in Broock nahe der Ostsee.

habe ich auch gedacht.“ Doch entgegen aller Befürchtungen sollte nicht nur Manoel nach etwas mehr Intimsphäre sein … „Auch meine Kommilitonen wollten ursprünglich in kleineren Gruppen aufbrechen. Schließlich konnten wir uns in der Vorbereitung auf nicht mehr als acht Personen pro Team einigen – das war schon das absolute Maximum des

wurde sonst nämlich vorwiegend unter freiem Himmel:

Erträglichen“, wie er lachend hinzufügt. Tatsächlich gelang

in Wäldern, auf Feldern oder aber bei Privatleuten im

es den 15 Wander-Erstis jedoch nicht, sich entsprechend

Garten. Manoel erinnert sich: „Das war schon ein komisches

aufzuteilen, „jede Konstellation fühlte sich irgendwie

Gefühl, das Schlaf-Tarp wieder gegen ein echtes Dach über

forciert an.“ Und so legte man den ursprünglichen Plan

dem Kopf einzutauschen.“ Doch der häusliche Luxus sollte

doch ad acta und machte sich zu fünfzehnt auf den Weg

nicht lang anhalten: Schon nach zwei Wochen ging es mit

– mögliche Absplitterung oder Trennungen würden sich

Sack und Pack weiter nach Vorpommern – zum Humus-

schließlich bestimmt noch ergeben, spätestens wenn man

Festival. Bis dahin waren bereits 1.500 Kilometer zu Fuß und

sich doch mal in die Haare bekommen sollte …

per Anhalter zurückgelegt und das Foodsharing-Konzept der Veranstaltung kam den „Gefährten“, wie Manoel seine

Einmal vegan und bio to go, bitte!

Mitstreiter mittlerweile in Anlehnung an Herr der Ringe

Nach dem Startfest in Schwäbisch Gmünd ging es also endlich

nannte, gerade recht. „Als mehr oder minder konsequente

los. Die Route führte über den Schwarzwald Richtung

Selbstversorger waren wir nämlich von Anfang an darauf

Freiburg, dann am Feldberg vorbei bis nach Hinterzarten

bestrebt, möglichst von dem zu leben, was uns die Natur

und weiter ins Allgäu, wo zunächst im Rahmen eines

schenkt.“

befreundeten Projekts eine Bauwoche in einem ehemaligen

oder Zwetschgen – die inoffiziellen Küchenbeauftragten

Klinikgebäude

festen

zauberten auf dem mitgeführten Gaskocher so manches

Behausungen seit Beginn der Wanderschaft. Geschlafen

erinnerungswürdige Abendmahl. Was nicht gefunden

anstand

eine

der

wenigen

Egal,

ob

Bärlauch,

Wildsalat,

Brombeeren


werden konnte, wurde entweder containert oder aber

und der Grundstein für Interessengemeinschaften gebildet

preisgünstig gekauft: „Mehr als 2,50 bis 2,80 Euro pro Tag

werden.

und Kopf haben wir jedoch selten ausgegeben.“ Dass die Beute der Truppe zumeist vegan ausfiel, hatte dabei nicht

Von Mitläufern und Einzelkämpfern

nur finanzielle Gründe: „Auch im normalen Alltag leben die

Und so brauchte es auch keinen offiziellen Entscheider,

meisten von uns vegetarisch oder vegan.“

der den Gruppenmitgliedern ihre Rollen zuwies: "Das hat sich tatsächlich von ganz alleine ergeben", sagt Manoel.

Reise zum Mittelpunkt der Herde

Während sich einer gut aufs Kartenlesen verstand,

Wer jetzt denkt „Alle öko oder was?“, dem sei gesagt: Ja.

übernahmen andere nur allzu gerne das Kochen oder den

Alle öko. Oder zumindest extrem nachhaltig unterwegs –

Aufbau des jeweiligen Nachtlagers. Manoels Aufgaben

und das im Wortsinne, wie uns Manoel weiter erklärt: „Man

bestanden wiederum vor allem in der Routenplanung

kann schon sagen, dass dieses nachhaltige Handeln unser

und

gemeinsamer Nenner war. In vollem Bewusstsein für unsere

interessierten Wanderkollegen: „Wobei wir immer Wert

Verantwortung als Einzelne haben wir immer versucht, im

darauf legten, dass jeder mal zu Wort kam.“ Wie gut

bestmöglichen Interesse aller zu handeln.“ Keine leichte

das auch ohne gesprochene Worte geht, sollte Manoel

Aufgabe, wenn man bedenkt, dass hier 15 Persönlichkeiten

schließlich auf Usedom erfahren: „Klar, dass ausgerechnet

aufeinandertreffen, die noch dazu allesamt ihren ganz

an

eigenen Launen und alltäglichen Stimmungsschwankungen

unserer Einkaufsgewohnheiten aufkommen musste …

unterliegen. Manoel muss lachen, als er sich an die ersten

Aber auch das war kein Problem: Ich habe mich selbst

Wochen der gemeinsamen Wanderschaft erinnert: „Jetzt

mit Händen und Füßen perfekt einbringen können.“

stell dir mal vor, du stehst zu fünfzehnt auf, machst

Kommunikationsschwierigkeiten

dich bereit für den Tag, einigst dich auf eine Route und

keine, als Manoel und die Gruppe nach einem weiteren

läufst zusammen im Tempo des Langsamsten los – da ist

Zwischenstopp in der Lebensgemeinschaft Klein Jasedow

es Abend, bevor du mehr als 3 Kilometer zurückgelegt

in

hast.“

Startschwierigkeiten

Würzburger kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen:

sollten schnell überwunden sein: Mithilfe kleiner Rituale

„Auch wenn wir uns eigentlich viel früher aufteilen wollten,

wie gemeinsamen Morgen- und Abendrunden – und

haben wir es hier endlich geschafft, mehrere Gruppen zu

unter Einsatz eines Redestabs – konnte das emotionale

bilden.“ Während die „Harz 5“ nach der Mitlaufwoche

Gleichgewicht der Gruppe immer wieder neu ausbalanciert

mit Freunden, Partnern und Co. – nomen est omen – im

Doch

die

anfänglichen

der

Koordination

meinem

Halle

zwischen

Schweigetag

zum

eine

Halbzeittreffen

Veranstaltern

Diskussion

gab

es

und

bezüglich

daher

zusammenkamen.

auch

Der


4. DAHEIM UND ANDERSWO

An einem heißen Julitag am See in Könnern bei Halle an der Saale.

Harz verblieben, verschlug es die restlichen Wanderer

Kopf: Auf der einen Seite bestand die Option, Internationale

gen Süden. Gemeinsam mit Kommilitonin Alia verbrachte

Beziehungen in Dresden zu studieren. Zugleich kam in mir

Manoel so eine Woche bei einem Gestalttherapeuten in der

jedoch die Frage auf, ob das wirklich die eine Tätigkeit ist,

Toskana. Doch was sich nach jeder Menge Seelenstriptease

der ich mein Leben widmen möchte. Und dann war da auch

anhört, sollte tatsächlich eher körperlich ertüchtigend

noch mein geheimer Herzenswunsch: die Fotografie. Aber

sein – Voraussetzung für Kost, Logis und Gestaltarbeit

irgendwie fühlte sich nichts davon rund an … Es war, als

war nämlich das Bestellen des mehrere Hektar großen

hinge ich in der Luft, als hätte ich gar kein Glücksgefühl

Olivenhains. Da bekommt ora et labora eine völlig neue

mehr in mir …“

Bedeutung, oder? Manoel gibt sich diplomatisch: „Das war schon herausfordernd, ja. Wobei ich gestehen muss: Meine schwierigste Prüfung hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon hinter mir.“

DIE LANGE REISE ZU SICH SELBST

Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen …

Und so machte sich Manoel an diesem sonnigen Sommertag

Da ist sie wieder, diese tiefgründige Ernsthaftigkeit, die

dazu auf, eben jenes Glück zu finden – ganz getreu dem

sich schon zu Beginn des Gesprächs mit Manoel bemerkbar

vielzitierten Motto „der Weg ist das Ziel“: „Ich habe die ganze

machte. Fast hat man das Gefühl, als säße man einem Pilger

Truppe einfach hinter mir gelassen und bin losgelaufen. Zwei

gegenüber – vielleicht sind da Ähnlichkeiten mit Hape

Stunden am Stück – und das ohne zu wissen, wohin mich

Kerkelings legendärer Begehung des Jakobswegs doch

der Weg trägt.“ Der erste Stopp: Ein kleiner Dorfladen, in

gar nicht so weit hergeholt? Manoel nimmt einen Schluck

dem sich Manoel sage und schreibe 400 Gramm Schokolade

Wein: „Oh Mann, das ist jetzt schon persönlich … Aber wir

kaufte. „Das war das Einzige, worauf ich Lust hatte.“ Mitsamt

sind ja nicht nur zum Spaß hier, oder?“ Eine Fangfrage,

der Beute ging es schließlich weiter in einen benachbarten

schließlich betreiben wir bei aller Rücksichtnahme extrem

Park auf die erstbeste Bank – und dort brach schließlich

investigativen Journalismus. Und so teilt Manoel – unserer

alles aus Manoel raus: „Ich saß da wie Forrest Gump, die

Hartnäckigkeit und dem zungenlockernden sei Dank – doch

Schokolade in einer Hand, meinen Wanderstock in der

noch seinen intimsten Reisemoment mit uns: die eigentliche

anderen und konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen.“

Reise zu sich selbst. „Da gab es einen Tag im Harz, der war

Als hätte alles in ihm nur darauf gewartet, sich endlich zu

wirklich ganz düster. Mir ging so wahnsinnig viel durch den

entladen, sollte dieser Nachmittag zum großen Wendepunkt


4. DAHEIM UND ANDERSWO

seiner Wanderung werden – auf einmal war nämlich alles

des beschaulichen Städtchens Schiltach die alles andere als

glasklar: „All die Verwirrung und all die Optionen, für die

beschauliche Touristenattraktion empfohlen bekam: Auf rund

ich nicht wirklich brannte, lösten sich vor meinem inneren

100 Quadratmetern können Besucher in der Showerworld

Auge auf. Ich wusste, was ich schon die ganze Zeit wollte –

nämlich eine Stunde lang die Produkte der Firma testen,

nämlich den Spirit der Wanderuni weiterleben.“

probeduschen – oder eben Wäsche waschen. Manoel lacht: „Wir wollten die knappe Zeit eben perfekt nutzen; und so

Aufbrechen, ankommen – repeat

wurden die Regenduschen kurzerhand zur Waschmaschine

Und wie es manchmal der Zufall und das Leben so wollen,

umfunktioniert.“ Doch obgleich hier der Grundsatz „Not

sollte sich die perfekte Gelegenheit dazu schon bald bieten:

macht erfinderisch“ gegolten haben dürfte, möchte Manoel

Nur einen Monat später ging es nämlich nochmal zurück ins

klarstellen, dass es ihm zu keinem Zeitpunkt an etwas fehlte

Allgäu, wo die Gruppe wenige Monate zuvor erstmals das

– im Gegenteil: „Festzustellen, mit wie wenig ich klarkomme

Projekt „Hausausbau“ anstieß. „Plötzlich stand sich der

und dass ich den ganzen Luxus für ein glückliches Leben nicht

harte Kern gegenüber und stellte die Frage in den Raum:

brauche, war unglaublich befreiend. Ein großartiges Gefühl,

Warum nicht einfach hierher ziehen und weiterbauen?“

das ich jedem wirklich nur wünschen kann.“ Auch wenn er

Die Chance schlechthin für Manoel, endlich als Fotograf

die Wanderuni selbst als einmalige Erfahrung verbucht,

in die Selbstständigkeit zu starten und sich in einem Pool

sieht er seinen weiteren Lebensweg deshalb vielmehr als

aus Gleichgesinnten kreativ auszutoben – „ihr könnt euch

ein Weiterlaufen – mögliche Umwege überaus willkommen:

vorstellen, dass die Entscheidung entsprechend schnell

„Der perfekte Moment besteht schließlich aus dem, was man

gefallen war“. Unnötig zu sagen, dass die letzten Wochen des

daraus macht.“

StudienGangs unter einem sehr glücklichen Stern standen,

Text: Anna-Lucia Mensing,

schließlich hatte Manoel seinen inneren „Mount Everest“

Fotos: Manoel Eisenbacher / www.manofaktur.com

bereits erklommen. Und so teilt er am Ende noch eine weniger

Verweile doch, du bist so schön: Mit seinen analogen Fotos ist es Manoel gelungen, die Vergänglichkeit des Moments einzufangen.

erhellende aber vielmehr erheiternde Erinnerung mit uns: der Waschtag im Badeland von Hansgrohe. Wer jetzt denkt „nur ein Waschtag?“, dem sei vorab versichert, dass die Mädels und Jungs sich trotz zumeist fehlender Duschmöglichkeit stets einer gebührenden Körperhygiene widmeten, „wobei manchmal nicht mehr als eine Katzenwäsche im Fluß drin war“, wie Manoel zugibt. Umso größer die Freude, als er nach Wochen des Wanderns in der Tourist Information


Der Inbegriff von Freiheit: Einschlafen unter dem Sternenhimmel. Hier am Mathisleweiher unterhalb des Feldbergs im SĂźdschwarzwald.


5. WOHNEN

muss nur noch KurZ Die WeLt neu gestaLten

daS bauHauS WirD 100

MANCHMAL KOMMEN DIE gRÖSSTEN DINgE AUS DER PROVINz: IM SACHSEN-ANHALTINISCHEN DESSAU ENTSTANDEN zAHLREICHE DESIgNKLASSIKER, DIE AUCH HEUTE NOCH DIE MENSCHEN RUND UM DEN gLObUS bEgEISTERN. DIE VISIONäRE KUNSTSCHULE HAT IN VIELERLEI HINSICHT NEULAND bETRETEN: VOM MÖbELDESIgN übER DIE ARCHITEKTUR bIS zUR ART DER WISSENSVERMITTLUNg. ObWOHL DAS bAUHAUS NUR 14 JAHRE LANg EXISTIERTE, HATTE DIE SCHULE MASSgEbLICHEN EINFLUSS DARAUF, WIE WIR gUTES DESIgN SEHEN. UND 2019 SIND WIR SO RICHTIg IN FEIERLAUNE: DAS bAUHAUS FEIERT SEIN 100-JäHRIgES JUbILäUM. HAPPY bIRTHDAY!


5. WOHNEN volles rohr design: wAssily chAir und B9-sAtztische Nein, der ikonische Wassily Chair wurde nicht von Wassily Kandinsky entworfen, sondern von Marcel Breuer (1902–1981), der als Erfinder der Stahlrohrmöbel gilt. Breuer fuhr gerne Rad – und irgendwann kam ihm die Idee, das für den Lenker gebräuchliche Material – Stahlrohr – an anderer Stelle zu nutzen: dem Möbelbau. Der Wassily Chair war geboren, die luftig-leichte Variante eines klassischen Clubsessels. Und was hat Wassily Kandinsky damit zu tun? Der Maler war vom Sessel dermaßen begeistert, dass dieser fortan „Wassily Chair“ genannt wurde. Ebenfalls aus der Designfeder von Marcel Breuer stammen die B9-Satztische, die mittlerweile in zahlreichen Ausführungen erhältlich sind, einige Modelle dürfen sogar ins Freie. giBt gerne nAch: s 32 / s 64 Freischwinger Laut Bauhausdirektor Mies van der Rohe sei es schwerer, einen guten Stuhl zu bauen als einen Wolkenkratzer. Marcel Breuer hat diese Aufgabe mit Bravour gemeistert und einen Freischwin-

1919 wollte der Architekt Walter Gropius die Kunst- und Pädagogikwelt mit seiner neuartigen Gestaltungsschule aus den Angeln heben. Kunst und Handwerk waren nicht wie bisher strikt getrennt, sondern bildeten eine Einheit. Jeder Studierende musste zu Beginn seiner Ausbildung einen Vorkurs belegen, welcher aus verschiedenen Disziplinen bestand. So gab es zum Beispiel eine Werkstatt für Keramik, Metall und Glas. In diesem höchst kreativen Klima entstanden Möbel, Leuchten und Accessoires, die so wunderbar zeitlos sind, dass sie nie aus der Mode kommen. Aufgrund von politischen Repressalien musste die Kunstschule mehrmals umzuziehen: von Weimar nach Dessau und von Dessau nach Berlin, wo sie 1933 endgültig geschlossen wurde. lichtgestAlt: wAgenFeld-leuchte Mit gerade einmal 24 Jahren hat ein gewisser Wilhelm Wagenfeld (1899–1989), Geselle an der Bauhausschule, einen wahren Coup gelandet. Der Entwurf seiner schnörkellosen, aufs Wesentliche reduzierten WA24-Tischleuchte hat nicht weniger als Designgeschichte geschrieben und findet sich bis heute in zahlreichen Wohnzimmern, Arbeitszimmern und Büros. Am Anfang verfügte sie über einen schlichten Metallsockel, später gab es auch eine Ausführung mit Glas. 1982 wurde die Bauhaus-Leuchte mit dem „Bundespreis Gute Form“ ausgezeichnet. Zum Bauhausjubiläum gibt es eine auf 999 Stück limitierte Silberedition.

ger geschaffen, welcher gekonnt Altbekanntes (Rohrgeflecht) mit Neuem (Stahlrohr) verbindet. Der S 32 / S 64 ist einer der erfolgreichsten Freischwinger überhaupt und der in Frankenberg ansässige Möbelhersteller Thonet bringt den Stuhl heraus. Wie früher ist dabei auch heute noch jede Menge Handarbeit im Spiel. Thonet feiert in diesem Jahr übrigens ebenfalls ein großes Jubiläum: sein 200-jähriges Bestehen! BewegungsFreudig: BAuhAus-wiege So eine Wiege hatte die Welt im Jahre 1922 noch nicht gesehen. Farben, Formen – die von Peter Keler entworfene Wiege stellte alle bisherigen Wiegen in den Schatten. Diese enthält die typischen Bauhaus-Zutaten: Dreiecke, Rechtecke, Kreise sowie die Primärfarben Gelb, Rot und Blau. Letztgenannte basieren auf der Farbenlehre des Malers – und Bauhauslehrers – Wassily Kandinsky. Lust, Bauhausmöbel mal aus nächster Nähe zu betrachten? Viele Möbel und Leuchten sind im Showroom von einrichten design in der Edith-Stein-Straße 3 in Würzburg zu bewundern. Der Designmöbel-Onlineshop einrichten-design.de hat 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche geöffnet. Text: Tanja Schmitt

Bild: Tadashi Okochi © Pen Magazine, 2010, Stiftung Bauhaus Dessau


6. BITTE EINEN ...

1 2

3

4

6 5

Bitte einen

kraPfen

WIR HAbEN FüR EUCH WüRzbURgS LECKERSTE KRAPFEN bESORgT


6. KRAPFEN

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7

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1. Müllerbäck – „Ja gerne, mit Kristall- oder Puderzucker?“ / „Puderzucker bitte.“ / „Das macht dann 1,15 Euro.“ 2. Kiliansbäck – „So, bitteschön, was darf's sein? Mit Zucker oder Puderzucker?“/ „Puderzucker bitte.“ / „1,15 Euro.“ 3. Rösner – „Einen Krapfen?“ / „Ja.“ / „Krapfen?“ / „JA!!!“ / „Das macht dann bitte 1,15 Euro.“ 4. Schiffer – Nickt (kurzes Schweigen) „Puder oder Kristall?“ / „Puder bitte.“ / „Das macht dann 1,15 Euro.“ 5. Denn's Biomarkt – „Dinkel oder einen Normalen?“ / „Normal bitte.“ / „Okay, 1,40 Euro.“ 6. Juliusspital Bäckerei – „Was darf's sein?“ / „Bitte einen Krapfen.“ / „Gerne, das war's?“ / „Ja.“ / „1,20 Euro bitte.“ 7. café Michel – „Zum Mitnehmen oder Hieressen?“ / „Zum Mitnehmen.“ / „Ich habe Schoko, Vanille und einen Normalen.“ / „Normal bitte.“ / „Das macht dann 1 Euro.“ 8. Brandstetter – „Puder oder Kristall?“ / „Puder bitte.“ / „Gerne, das macht dann 1,30 Euro.“ 9. Webers – „Gerade habe ich nur den Klassischen. Morgen hab ich Apfel, Vanille und Quarkbällchen.“ / „Danke, sehr nett. Ich nehme den Klassischen.“ / „0,95 Cent bitte.“ 10. hanselmann – „Sehr gerne, das macht dann 1,20 bitte.“ / „Danke und noch einen schönen Tag!“

Aufgezeichnet von: Sarah theisen; fotos: StUDIO 5d


7. IN DER NACHBARSCHAFT

Liebe Main viertel Nachbarn „Bring Kaffeedurst mit!“, sagt Julie vom Co-Op, als wir den Termin für unser Interview VEREINBAREN. Krieg ich hin, denke ich. Und freue mich auf meinen kleinen Erkundungstrip durchs historische Würzburger Mainviertel, wo ich auch Eva HergenrÖther in ihrer Goldschmiedewerkstatt „IM SCHMELZTIEGEL“ treffe … „Die Würzburger nannten ihr Meeviertel ja immer gern ihr Fischerviertel – der Überlieferung nach soll es jetzt schon über tausend Jahre her sein, dass hier im Mainviertel die Fischerzunft gegründet wurde.“ „Ach echt?“, staune ich – und bekomme wieder einmal ein schlechtes Gewissen angesichts der Wissenslücken über meine eigene Heimatstadt. Genauer gesagt über meine eigene Nachbarschaft. Ich sollte mir echt mal ein Buch darüber besorgen, überlege ich – meine spontane Lösungsstrategie für so ziemlich alles. Gleich heute im nächsten Buchladen sollte ich das machen; werde es aber vermutlich nicht tun, um ganz ehrlich zu sein. Jedenfalls nicht heute. Heute steht erst einmal Interviewen auf dem Plan – und zwar mit Eva Hergenröther und Julie Barthel, die beide 2018 ihren eigenen Laden im schönen Mainviertel eröffnet haben. „Die Fischerei hat das Mainviertel geprägt; viele Bewohner gehörten dieser Zunft an“, erzählt Eva weiter. „Daher gab es in diesem Stadtteil auch viele Fischerhäuser, von denen heute nur noch die Schiffbäuerin existiert.“ Die kenn ich immerhin, denke ich. Auch wenn ich zugegebenermaßen noch nie dort essen war, was ich aber definitiv bald tun werde. Alle schwärmen immer von den Fischgerichten dort – und angeblich soll das Lokal zu den besten Fischrestaurants Deutschlands zählen. Außerdem ist es quasi bei mir um die Ecke. Also auch ein Nachbar. Apropos um die Ecke: Als das Gespräch zufällig auf unseren Wohnort kommt, stellen Eva und ich fest, dass wir fast Haus an Haus wohnen – und das schon seit Jahren. Gesehen haben wir uns

noch nie, was wir kaum glauben können. Von wegen die Welt ist ein Dorf. Eva Hergenröther ist Goldschmiedemeisterin und Schmuckgestalterin; im Juni 2018 hat sie ihre Werkstatt Im Schmelztiegel in der Burkarderstraße eröffnet. Wunderhübsch bunte Origami-Vögel zieren das Schaufenster, sodass der Laden beim Vorbeigehen gleich auffällt. „Echt schön, die Vögelchen“, sage ich, und Eva lächelt. „Vielen Dank. Ja, die sind anscheinend ein kleiner Eyecatcher. Manchmal erzählen mir Kunden, dass sie vom Auto aus auf den Laden aufmerksam geworden sind – beim Vorbeifahren oben am Main entlang.“ Kann ich verstehen, dass man da neugierig wird. Sechs Jahre lang hat Eva Hergenröther ihre eigene Werkstatt in Margetshöchheim gehabt, seit 2013 ist sie nun schon selbstständig und in der VKU (Vereinigung Kunstschaffender Unterfrankens). Sie genießt es, ihre eigene Chefin zu sein. „Das ist immer schon ein großer Wunsch von mir gewesen – und letztlich auch meistens das Ziel, wenn man seinen Meister macht.“ Mit ihrer kleinen Familie wohnt Eva ein paar Straßen von ihrer Werkstatt entfernt und mag die Nähe zu ihrem Arbeitsplatz. „Ich finde es schön, dass meine vierjährige Tochter sozusagen in der Werkstatt mitaufwächst.“ Der alte charmante Laden in der Burkarderstraße mit seinen hohen Decken und dem Stuck an der Wand habe es ihr sofort angetan, erinnert sich die Goldschmiedin. „Was ist das Besondere an Deinem Laden?“, stelle ich die Klischeefrage aller Klischeefragen, interessiere mich aber wirklich für die Antwort. Schließlich ist eine Goldschmiedewerkstatt nicht


unbedingt das, was der Ottonormalwürzburger in diesem

Hergenröther parat, verarbeitet aber selbstverständlich vor

Viertel auf Anhieb vermutet. „Das Besondere an meiner

allem hochwertige Materialien (auch mal in Kombination zu Weggeworfenem) zu Unikatschmuck, der nicht einfach

Goldschmiedewerkstatt ist, dass es hier auch Apfelsaft zu kaufen gibt“, lacht Eva, und tatsächlich fällt mein Blick auf eine Kiste Apfelsaft im Schaufenster. „Ok …?“ frage ich, nicht ganz sicher, ob sie einen Scherz macht. Meine Verwirrung bringt Eva zum Schmunzeln und sie erklärt, dass es sich dabei um eine Kooperation mit MainSchmecker handelt. Sie sei großer Fan der sogenannten regionalen und fairen Streuobst-Produkte der Main-Streuobst-Bienen eG – vor allem des naturtrüben Apfelsafts –, weshalb sie kurzerhand beschlossen habe, den Saft in ihrem Laden anzubieten. Ich muss zugeben, dass ich plötzlich auch Lust auf ein Glas davon verspüre; Sehr zu empfehlen by the way [Werbung wegen Markennennung, schreit das Instagram-Opfer in mir]. Doch zurück zu meiner Frage: Das Besondere an Im Schmelztiegel ist, dass der Besitzerin vor allem der persönliche Kundenkontakt am Herzen liegt. Einen Internetshop möchte sie nicht betreiben: „Eines der

nur schön, sondern unverwechselbar ist. Besonders eben. „Übrigens gibt es hier auch Kinderschmuckstücke“, fällt Eva ein, als gerade ein ganzer Haufen dick eingepackter Kindergartenkinder – brav Hand in Hand vorbeistapfend – fasziniert die Vögel im Schaufenster anstarrt. „Die Straße ist nicht zuletzt durch den Kindergarten, die Grund- sowie die Musikschule viel belebter als ich dachte“, stellt sie bei der Gelegenheit fest. Am Ende unseres Gesprächs bitte ich Eva, einen typischen Arbeitstag von sich zu beschreiben: „Morgens wird der Schmuck in die Vitrinen eingeräumt, abends in den Tresor gepackt – und dazwischen entwerfe und baue ich neben Kundenanfertigungen neue Stücke, gehe auf Messen, arbeite mit Händlern zusammen – oder gebe Interviews“, grinst Eva. „Es bleibt also immer spannend“, lobe ich mich selbst und grinse zurück. „Auf jeden Fall!“

schönsten Dinge an meinem Beruf ist für mich, dass man gemeinsam mit dem Kunden etwas erarbeiten kann, was am

Ganz beschwingt von dem netten Gespräch mache ich

Ende auch wirklich dem Individuum entspricht.“ Auch kleine

dem wunderbaren Co-Op mit dem meiner Ansicht nach besten Kaffee der Stadt. Weil ich für mein Interview mit Julie zu früh dran bin, beschließe ich, nur kurz (!) bei Next

Kurse werden angeboten, in denen man – für sich allein oder als Paar – seine eigenen Ringe schmieden kann. Gern arbeitet Eva Hergenröther auch mit Fundstücken, von denen – nebenbei erwähnt – auch schon welche ausgestellt wurden: ein paar Häuser weiter im Spitäle. Natürlich schlägt das Herz der Goldschmiedemeisterin außerdem für die Anfertigung von ausdrucksstarkem Schmuck – gern mit Geschichte, aber nicht zwingend. Sogar Recycling-Schmuck aus PVC hat Eva

mich schließlich auf den Weg zu meiner nächsten Station:

Friday in der Zeller Straße vorbeizuschlendern. Seit seiner Eröffnung vor ungefähr drei Jahren zieht es mich anstatt direkt nach Hause auf wundersame Weise immer wieder mal in den schönen Concept Store. So kaufe ich mir heute meine Eva Hergenröther in ihrer neuen Goldschmiede „im schmelztiegel“


nach Deutschland gekommen. Seit 1996 lebt sie mit ihrem Mann und ihren Kindern in Würzburg: „Mir hat die Größe gefallen. Und es ist eine so wunderschöne Stadt.“ Seit Julie in Deutschland ist, wollte sie immer schon „etwas mit Essen aufmachen“. Sie habe auch mal beim Catering gearbeitet und während ihres Studiums eine Zeit lang im Wohnheim für die 20-köpfige Wohngemeinschaft gekocht, erinnert sie sich lächelnd zurück. Studiert hat sie in Austin (Texas), wo sie auch ihren Mann – damals ein Austauschstudent im selben Uni-Kurs – kennengelernt und sich verliebt hat. Womit wir wieder beim Thema Film wären, denke ich entzückt, und finde mich selber kitschig. Vor ein paar Jahren sind Julie und ihr Mann für zwölf Monate um die Welt gereist. „Aus diesem Reisejahr wurde eine richtige Kaffeereise – wir sind in vielen Kaffeeländern gewesen“, erzählt Julie begeistert – und die Freude an ihre Erinnerungen steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Die Leute waren so offen und hilfsbereit; viele haben ihr Wissen rund ums Thema Kaffee mit mir geteilt. So kam zu meinem Traum, etwas mit Essen aufzumachen, der Wunsch hinzu, etwas mit Kaffee aufzumachen“, erklärt die fröhliche Amerikanerin. Ihr sei vor allem wichtig, dass die Leute einen Zugang zu Kaffee gewinnen. Dabei wolle sie niemandem etwas aufdrängen, sondern unaufdringlich informieren – ein Bewusstsein dafür schaffen, welche vielfältigen Möglichkeiten Kaffee in Sachen Genuss und Geschmack bietet. Trotz ihrer Liebe zu Spezialitätenkaffees, die im Co-Op wöchentlich wechseln und unterschiedlich aufgebrüht werden, entschied sich Julie gegen Specialty Coffee im Logo. „Man ist ja hier nicht gezwungen, außergewöhnlichen Kaffee zu trinken – natürlich gibt es auch den guten alten Filterkaffee, zehntausendste Postkarte und einen Schlüsselanhänger vom kleinen Maulwurf, dem eindeutig nicht zu widerstehen war. CO-OP: MEIN LIEBLINGSPLATZ Jetzt aber auf zum Co-Op. Kaum öffne ich die Tür, schallt mir schon das unverwechselbare Lachen von Besitzerin Julie entgegen. Mein Lieblingsplatz an der Wand an dem kleinen Tischchen mit dem gemütlichen Sessel ist frei und ich stürze mich auf ihn. Julie, die gerade hinter ihrer Kaffeetheke steht, winkt mir freudig zu und signalisiert mir gleichzeitig mit entschuldigender Gestik und Mimik, dass sie noch beschäftigt ist. „Keine Eile“, rufe ich ihr zu und mache es mir in meinem Sessel gemütlich. Auch auf die Gefahr hin, wie einem wahnsinnig rührseligen Rosamunde-PilcherRoman entsprungen zu klingen: Kaum bin ich hier, vergeht die Zeit irgendwie langsamer. Das Wetter draußen ist Grau in Grau, aber das Licht hier drin ist warm. Die Bastlampe über dem Tisch vor dem großen Fenster mit dem open/ close-Schild in der Ecke wirft ihren langen Schatten durch den halben Raum. Es läuft Norah Jones und die Gäste sind entweder in Gespräche oder Bücher vertieft. Wie im Film, denke ich. Obwohl mir so auf Anhieb eigentlich gar kein konkreter Film einfällt, der mich an diese Szene erinnert ... Julie kommt etwas atemlos an meinen Tisch und weckt mich aus meinen Tagträumereien. Sie hat einen Latte Macchiato für mich dabei, den ich noch nicht bestellt hatte, auf den ich mich aber seit zwei Stunden freue, denn Julie weiß, was ihre Stammgäste mögen. Und Stammgäste hat sie einige gewonnen, seit sie letztes Jahr das Co-Op eröffnet hat. Vor über 20 Jahren ist sie der Liebe wegen von den USA

Cappuccino, Tee, Limonaden, Kleinigkeiten zu snacken und unterschiedliche Kuchen.“ Auf der Karte darf man sich unter anderem über „Frühstück mit allem, was der Kühlschrank hergibt“ freuen oder Peanut Butter Jelly Toast genießen. Letzterer ist übrigens Julies persönlicher Favorit auf der Karte. Völlig zu Recht, wie ich finde. DER NAME IST PROGRAMM Zum Namen Co-Op kam es schließlich deshalb, weil sich Cooperations durch Julies ganzes Leben ziehen. Angefangen beim Kochen in ihrem Studentenwohnheim namens German House Co-Op über die Zusammenarbeit mit verschiedenen Kleinröstereien ihres Vertrauens oder Falko aus Randersacker, dessen Espressobohnen Julie bezieht, bis hin zu der Kooperation mit ihrem Vermieter. „Die Zusammenarbeit mit meinem Vermieter vor der Eröffnung des Co-Op war eine echte Bereicherung“, berichtet Julie. „Ich bin im Vorbeigehen zufällig auf den Raum aufmerksam geworden und habe gleich die Nummer angerufen, die auf dem Schild im Fenster stand.“ Als Julie dann das erste Mal in den vier Wänden des jetzigen Co-Op stand, war die Entscheidung fast schon gefällt. „Ich hab mich in dem Raum gleich wohlgefühlt – und das war wichtig für mich. Nur so konnten wir aus ihm etwas entstehen lassen, was sich richtig anfühlt.“ Mein Blick fällt auf die Gäste am Tisch neben mir, die ihren Carot Cake runterschlingen, als gäb’s kein Morgen. „Backst du die Kuchen eigentlich immer selbst?“ frage ich. „Klar, ich will sie ja auch selbst essen“, lacht Julie. Klingt einleuchtend. Beim Mittagsmenü legt sie Wert darauf, die Kosten immer unter sechs Euro zu halten, damit es sich so viele Leute wie möglich leisten können.


7. IN DER NACHBARSCHAFT

Legendär: Julies Peanut Butter Jelly Toast! Schon schnell angebissen, bis das Foto geschossen werden konnte ;) „Fühlst du dich wohl hier im Mainviertel?“, möchte ich am Ende unseres Gesprächs wissen. „Sehr! Es ist einfach eine tolle Nachbarschaft hier. Wenn ich Blumen kaufen möchte, gehe ich in den Blumenladen zwei Häuser weiter, Patricia vom Friseurladen links nebenan schaut auch gern mal rein, die Leute vom Döner rechts nebenan sind auch sehr nett, Eva von der Goldschmiedewerkstatt ein Stück hinter der Pizzeria und dem Sushi-Restaurant kommt auch ab und

Das Gericht ist vegetarisch oder vegan und es gibt immer einen Salat dazu. Auf Geschmacksverstärker verzichtet Julie bei der Zubereitung ihrer Gerichte völlig – und bei der Wahl

zu vorbei – hier halten alle zusammen und ich fühle mich wirklich wohl zwischen all den lieben Leuten.“ Na wenn das mal nicht wie Faust aufs Auge zum Titel des Magazins passt, dann weiß ich auch nicht. Julie, es war mir wie immer eine Freude – wir sehen uns die Tage! Als ich eine Weile später die Tür vom Co-Op aufmache,

der Gewürze beschränkt sie sich meist auf die Klassiker Curry, Chili, Salz & Pfeffer – et voilà … den Leuten schmeckt’s. Einmal meinte ein Stammgast kurz und bündig: Mach mir was zu essen und bring mir was zu trinken. „Von meinen Gästen so ein Vertrauen entgegengebracht zu bekommen, macht mich

kommt’s mir draußen gar nicht mehr so grau vor. Überlegend, ob ich noch schnell einen Friseurtermin bei Patricia ausmachen soll, stehe ich an der Ampel. Herr Toksoy von

ehrlich glücklich“, sagt Julie und muss plötzlich lachen: Von zwei anderen Gästen kam sogar mal die Bestellung: Zwei Mittagessen bitte – was gibt’s eigentlich?“ Ich kann sie gut verstehen, diese Gäste.

– schön, dass es Euch gibt.

der Änderungsschneiderei gegenüber winkt mir aus seinem Laden fröhlich zu. Ich winke erfreut zurück. Liebe Nachbarn

Text: Lisa Dillhoff; Fotos: Nico Manger

14.3.2019

THEMA: „FAHRSTUHL“, PROJEKT EINER MITFAHRBANK AB 19H IM STUDIO5D

WIR VERNETZEN MENSCHEN AUS DER KULTUR- UND (KREATIV-) WIRTSCHAFT

9.5.2019

initiative für urbane projekte würzburg e. v. In einer Stadt zu leben heißt für uns, sich aktiv mit ihr auseinanderzusetzen. Dafür bringen wir als lebendiges Netzwerk kreative Menschen aus verschiedensten Bereichen zusammen. Gemeinsam entwickeln wir Ideen und bieten die Möglichkeit, konkrete Projekte im urbanen Raum umzusetzen. Mehr Infos und aktuelle Termine unter: www.5dwue.de

MATTHIAS PIEPER STELLT DAS „ZUKUNFTSHAUS WÜRZBURG“ LEIHEN-TAUSCHENKAUFEN VOR AB 19H IM STUDIO5D


27. Juni - 13. JuLi 2019 unter uns Die staDt, üBer uns Die sterne. JetZt ScHon GutScHeine erHÄltlicH! www.festungsflimmern.de


Steinmetz


8. ZU GAST BEI NACHBARN

54 Gläser auf einem Tisch – und neun Flaschen davor (Sven natürlich ausgeschlossen). Das kann ja was werden ...

VierunDFünFZig maL nuLLKommaeinS „THOMAS HAT DICH zUR gRUPPE ‚LASS MAL WIEDER WAS MACHEN‘ HINzUgEFügT“. OH, WIE SCHÖN. ALSO NUR NOCH SIEbENEINHALb MONATE UND 25³ NACHRICHTEN, bIS THOMAS, LISA 1, LISA 2, CHRISTIAN, VERENA, CLAUS-STEPHAN, NICO, YEN UND DANIEL AUF EINEN gEMEINSAMEN NENNER KOMMEN, WAS EINE FüR ALLE ERTRägLICHE AbENDUNTERHALTUNg SEIN KÖNNTE.

V

erena möchte uns endlich den wahnsinnig fesselnden Film dieses finnischen Skandalregisseurs zeigen … bei dem wir uns dann aber nicht unterhalten dürfen, weil wir sonst die implizite Botschaft verpassen (schreibt Lisa1). Film ist also raus. Dann vielleicht doch Brettspiele, schlagen Nico und Lisa2 vor … sie könnten uns das 75-seitige Regelwerk des preisgekrönten Strategiespiels auch gleich per WhatsApp durchschicken. In solchen Momenten merkt man wieder, was wir an der Demokratie doch haben. 2:7! „Dann lasst uns doch was kochen.“ Gute Idee. Nicht. Schließlich ist das lakto- und fructosefreie, nachhaltig-saisonale, veganbiofl eischhaltige (außer Schwein), paläo-glutenreduzierte Gericht immer noch nicht erfunden. Claus-Stephan, der sich bis hierhin rausgehalten hat, kommentiert lakonisch,

er halte das nicht mehr aus und werde sich nun betrinken. Gute Idee, Claus-Stephan – dann aber bitte mit uns … und mit Stil. Wie gut, dass es gleich in unserer lieben Nachbarschaft, genauer gesagt in Höchberg, einen ziemlich coolen Laden mit einem ziemlich coolen Inhaber gibt, der ein ziemlich cooles Konzept entwickelt hat. Das Ganze nennt sich Blindverkostung – kurz BLNDVK – und besteht im Prinzip daraus, dass Weine nur anhand von Geschmack und beigefügten Beschreibungen erschmeckt werden sollen. Das geht entweder zu Hause mittels Online-Bestellung oder gleich in Svens Laden WEINKOST HÖCHBERG. Wir von LIEBE NACHBARN hatten uns für letztere Variante entschieden. Was für ein glücklicher Zufall, dass Nico seine Kamera eingepackt hatte …


8. ZU GAST BEI NACHBARN

Von links nach rechts: „Chateau Lafi te – unverkennbar!“ … „Ich glaub', das ist'n Roter!“ … „Können wir jetzt endlich trinken?“ … „13,5 Gramm Restzucker mal 12,5 Volumenprozent geteilt durch Wurzel aus 5 ...“


8.Zu ZuGast Gastbei beiNachbarn Nachbarn

Abgezapft und originalverkorkt von ... wenn wir das nur wüssten! Beim ersten waren sich alle noch so sicher ...

Hier steht eine anstößige Bildunterschrift ...


8.Zu ZuGast Gastbei beiNachbarn Nachbarn

Der Moment der Wahrheit: Wer hat von den sechs Rotweinen am meisten richtig erschmeckt? „Aaaaahs“, „Oooohs“ und natürlich „Das kann ÜBERHAUPT NICHT SEINs“ am laufenden Band! Ganz großes Gaumenkino!

Zu später Stunde wird so manch gute Sitte gern mal über Bord (oder ins Glas) gekippt.

Claus-Stephan hat die Erleuchtung ...

... aber Lisa2 hat das Messer ...

Wer selbst mal eine OriginalBlindverkostung erleben (oder verschenken!) möchte, kann unter www.blndvk.de aus vielen verschiedenen Weinpaketen wählen. Der Master of Blindverkostung Sven veranstaltet auch in seinem Höchberger Laden regelmäßig spannende Verkostungs- und WeinEvents. Alle Infos und Termine findet ihr auf facebook.com/ weinkosthoechberg

... und Thomas hat sich aufgegeben.

... Lisa1 und Nico haben sich nochmal nachgeschenkt ...


9. IN DER NACHBARSCHAFT

Ich packe meinen Rucksack für 25 Jahre Über das Gespräch mit einem obdachlosen Menschen – und unsereN Zeitgeist

I

n der Hektik der heutigen Zeit zieht vieles an uns vorbei. Wir haben verlernt, Werte zu schätzen. Wir werden oberflächlicher, sehen vieles als selbstverständlich. Wir wollen immer mehr. Erfolgreich sein. Das Bestmögliche erreichen. Denn das, was wir besitzen, und das, was wir sind, reicht noch nicht aus. Wir machen uns Sorgen, das Beste nie erreichen zu können. Etwas zu verpassen. Dem Standard der Masse nicht standhalten zu können. Für jeden von uns ist es selbstverständlich, nach der Schule oder der Arbeit nach Hause zu fahren, sich auf zu Hause zu freuen. Es ist selbstverständlich, noch einen kurzen Abstecher in den Supermarkt zu machen, wenn der Kühlschrank leer ist. Es ist selbstverständlich, sich nach einer warmen Dusche in sein eigenes Bett legen zu können. Manchen Menschen sind jedoch all diese Selbstverständlichkeiten abhanden- gekommen. Menschen, die von uns oft ignoriert und herabgestuft werden, weil sie nicht mehr mit den gleichen Standards leben können, wie wir. Ich selbst bin an diesen obdachlosen Menschen mit schnellen Schritten vorbei-gelaufen, habe sie

ignoriert. Damit ich nichts mit ihrem Leid zu tun haben muss. Eines Tages entschloss ich mich dann aber im Rahmen eines Projekts, nach draußen zu gehen und mich auf die Suche zu machen. Auf die Suche nach einem obdachlosen Menschen – und ein kleines bisschen mutig zu sein. So lief ich an einem regnerischen Tag im November durch die Innenstadt, um Ausschau zu halten. Ich sprach eine Person an, die mit viel Gepäck und Plastiktüten unter einem Vordach saß, um sich vor dem Wetter zu schützen. Es war mir unangenehm, einen am Boden sitzenden Menschen darum zu bitten, mir seine offensichtlich kritische Lage genauer zu erklären. Ich gab ihm die Hand, stellte mich vor und erzählte ihm von meinem Projekt. Er wirkte überraschend aufgeschlossen und begann, meine Fragen zu beantworten. Die Anspannung war anfangs beiderseits zu spüren, doch im Laufe des Gesprächs lockerte sich die Situation immer weiter auf. Auch er versuchte, nicht nur auf meine Fragen zu antworten, sondern ein Gespräch aufzubauen.


9. IN DER NACHBARSCHAFT

Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob wirklich alles wahr ist, was er mir erzählt hat. Worüber ich mir jedoch sicher bin, ist, dass er jeden Tag aufs Neue auf eine ignorante, unfreundliche Masse von Menschen trifft. Eine Masse, die verlernt hat, etwas wertzuschätzen; die zu viele Dinge als selbstverständlich entgegennimmt. Für die sich die Welt immer schneller drehen soll. Wir selbst sind Teil dieser Masse. Doch was passiert, wenn wir anfangen, unseren gesamten Besitz, unser Leben wieder mehr zu schätzen? Wenn wir versuchen, langsamer zu leben, mehr zu respektieren und So teilte er mir viele zusammenhanglose Bruchstücke aus seinem Leben mit. Details von Erlebnissen, Details die mich schockierten. Er ist ungefähr 50 Jahre alt. Lebt seit 25 Jahren auf der Straße. Muss jeden Tag um Hilfe betteln. „Es ist bald Weihnachten. Die Leute wollen ihr Gewissen reinigen.“ Er erklärte mir, dass er deswegen im Winter immer ein paar mehr Münzen bekommt als im Sommer. Jeden Tag muss er sich um einen neuen Schlafplatz kümmern. „In den kalten Nächten ist es gefährlich.“ Wenn er seinen Schlafsack nicht komplett verschließt, läuft er Gefahr, im Schlaf zu erfrieren, den Reißverschluss am nächsten Morgen nicht mehr aufmachen zu können. Seit 25 Jahren kann er sich nicht mehr nach einer warmen Dusche in sein eigenes Bett legen. Höchstens nach einem kalten Regen in seinen klammen Schlafsack. Seit 25 Jahren kann er keinen Kühlschrank mehr füllen. Seinen Magen wahrscheinlich auch nur selten. Ab und an geht er in die Wärmestube, dort kann er sich und seine Klamotten waschen und bekommt eine kleine Mahlzeit. Wenn er großen Hunger hat, geht er zum McDonald's, das McMenü dort sei sehr gut. Er erklärte mir sogar gleich, wie ich dort hinkäme. Je länger das Gespräch dauerte, desto offener erzählte er mir über das Leben auf der Straße, über seine Ängste, seinen Tagesablauf und viele seiner Schicksalsschläge. Erst nach dem Gespräch konnte ich die Details und Satzfetzen zusammenfügen und verstand, was er mir sagen wollte. Er erzählte mir Dinge über sich, die er nicht einmal anderen obdachlosen Menschen preisgibt. „Wir reden normalerweise nicht über solche Sachen.“ Nach dem Gespräch war ich geschockt, traurig, überrascht – und hatte einige neue Erkenntnisse gewonnen.  

dankbar zu sein? Achtsamer und mit offenen Augen durch unser Leben zu gehen? Wir alle gehören auf eine bestimmte Art und Weise zusammen. Auch wenn wir uns fremd erscheinen, auch wenn wir uns nicht mit allen Menschen identifizieren können. Scheinbar unantastbare Welten sind oft nur durch ein paar Worte getrennt. Jeder von uns ist für sein eigenes Leben verantwortlich. Doch können wir uns gegenseitig helfen und den Menschen die Hand reichen, die durch einen Schicksalsschlag am Boden liegen. Manchmal genügen dafür auch einfach ein paar Worte ... Text & Fotos: Hannah Küspert


10. NACHDENKLICH

VON KatZeN & mauern

oDer Warum ich maL eine VerrücKte aLte KatZenLaDY WerDe ES WAR DEzEMbER 1987. DAS IST 31 JAHRE HER. ICH WAR VIER. WIR WOHNTEN IM DACHbODEN EINER KIRCHE IN NüRNbERg. ICH bEgRIFF NICHT VIEL, AUSSER DER TATSACHE, DASS ICH MEINE OMA ERSTMAL FüR EINE LANgE zEIT NICHT SEHEN KÖNNEN WüRDE. UND DASS ES EINE MAUER gAb, DIE NICHT gUT WAR.

I

ch wurde politisch erzogen, die Nachrichten gehörten bei uns zu Hause zum täglichen Welt-Unterhaltungsprogramm. Mein Bruder wurde 1987 in Sachsen gezeugt und 1988 in Nürnberg geboren. Seinen ersten Satz sprach er 1989: „Die DDR ist aufdelöst.“ Meine Eltern stießen zu Hause an, an dem Tag, an dem die Mauer fiel. Ich bin seit über 30 Jahren westdeutsch, fränkisch und bayerisch sozialisiert. Aber: Ich spreche weder Sächsisch noch Fränkisch, weil meine Eltern wollten, dass ich überall zu Hause sein kann. Die Idee war gut, die Realität noch nicht bereit. Ich bin in den Gedanken der meisten eine „Zugereiste“. Und ich wünschte, ich könnte das Wort richtig aussprechen, um zu beweisen, dass ich keine „Zugereiste“ bin. Manchmal denke ich: Ich bin für die Plätze zwischen den Stühlen erkoren, für die Zwischenstockwerke geboren. Ich war auf zwei Grundschulen und auf drei Gymnasien. Ich bin in meinem Leben 20 Mal umgezogen. Ich habe 20 Mal neue Straßenzüge erkundet, neue Freund_innen gefunden, neue Welten kennengelernt. Ich beneide Menschen, die noch ihre

Grundschulfreund_innen kennen. Die Menschen haben, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben ziehen. Vor ein paar Jahren rettete ich eine Katze vorm Tierheim. Die Katze entschied sich, mit mir umziehen zu wollen. Woher ich das weiß? Ich dachte, Katzen wollen ein Revier. Und der Bauernhof, auf dem ich während des Studiums wohnte, schien perfekt geeignet dafür, die Katze in ihrem Revier zu lassen – auch, als es mich aus beruflichen Gründen nach Hannover zog. Aber meine ehemaligen Mitbewohner, bei denen ich die Katze gelassen hatte, riefen mich an und sagten: Die Katze vermisst dich. Du musst sie holen. Sie wartet vor deinem alten Zimmer und bewegt sich nicht vom Fleck, seit du weggezogen bist. Also fuhr ich nach Bayern und holte die Katze. Ich hatte gelesen, ich müsse sie im neuen Ort einen Monat drinnen behalten, damit sie lernt, dass das ihr neues Zuhause ist. Nach zwei Tagen ließ ich sie raus, weil sie randalierte, Topfpflanzen aufbuddelte und mit einer solchen Kraft immer wieder auf die Türklinke sprang, dass ich vollkommen naiv die dazugehörige Tür öffnete.


10.NACHDENKLICH

Es war kein Problem. Die Katze kam ein paar Stunden

Eine klassische Win-win-Situation! In diesem Sinne: Denkt an

später wieder. Nach einer Woche hatte sie allen Nachbar_ innen beigebracht, für sie – die Katze – zu klingeln, wenn

die Katze. Ihr sind Mauern egal. Sie springt einfach drüber. Was ich Euch eigentlich sagen will: Reißt Mauern ein oder

sie wieder in meine, in ihre Wohnung wollte. Ich habe danach noch drei weitere Umzüge mit der Katze gemacht.

rettet zumindest eine Katze aus dem Tierheim.

Inzwischen ist sie 10 Jahre alt. Nach jedem Umzug ließ ich sie nach kurzer Zeit raus, wartete bange für ein paar Stunden. Dann kam sie wieder. Die Katze hat mehr gleiche Dinge in meinem Leben zusammen mit mir gesehen als die meisten Menschen. Und ich bin mir sicher, das ist die beste Voraussetzung dafür, dass ich eine verrückte alte Katzenlady werde. Das ist okay für mich. Für die Katze auch, schätze ich.

Pauline Füg wurde in Leipzig geboren und wuchs in und um Nürnberg auf. Mittlerweile pendelt sie über Umwege nach Eichstätt, Berlin und Hannover kulturell zwischen Würzburg und Fürth. Seit über 15 Jahren gehört sie zu den renommiertesten deutschsprachigen Spoken-Word-Poetinnen. Sie arbeitet als Autorin, Dozentin für Kreatives Schreiben und als Creative Empowerment Coach. Ihr Lyrikband „die abschaffung des ponys“ erschien im Würzbürger stellwerck Verlag. 2015 gewann sie den Kulturförderpreis der Stadt Würzburg. Weitere Infos: www.paulinefueg.de

Es war Dezember 1987. Das ist 31 Jahre her. Ich war vier. Wir wohnten im Dachboden einer Kirche in Nürnberg. Ich begriff nicht viel, außer der Tatsache, dass ich meine Oma erstmal für eine lange Zeit nicht sehen können würde. Meine Oma lebte weiter auf der anderen Seite der Mauer. Sie durfte nicht zu uns, weil die DDR-Regierung Angst hatte, sie würde im Westen bei ihrer Tochter und ihren Enkeln bleiben. Wir durften nicht zu ihr, weil, meine Eltern hatten sich ja freiwillig entschieden das Land, dieses Land, die DDR zu verlassen. Es gab ein einziges Schlupfloch: mit Bekannten, die ein Visum für einen DDR-Besuch hatten, durfte ich als Fünfjährige für ein paar Wochen zu meiner geliebten Oma. Woran ich mich erinnern kann? Meine Eltern versuchten Jahre um Jahre via Ausreiseantrag die DDR zu verlassen. Stasi-Verhöre folgten. Akten wurden angelegt. Eines Tages kam der Anruf: Verlasst bis Mitternacht das Land. Meine Mutter war im neunten Monat mit meinem Bruder schwanger, jederzeit konnten die Wehen losgehen. Es war Dezember und es erinnerte seltsam abstrakt an eine moderne Weihnachtsgeschichte. Über meinen Großvater, der Pfarrer war, kamen wir nach Nürnberg zu einem befreundeten Pastor, der uns für den Anfang im Dachboden seiner Kirche wohnen ließ. Es war ein schöner Dachboden. Wir blieben ein paar Wochen, bis mein Vater Arbeit und meine Eltern eine Wohnung im Nürnberger Umland fanden. Da wuchs ich auf. Von Zeit zu Zeit zogen wir in eine andere Stadt, immer im Radius von Nürnberg. Was ich mit Nürnberg verbinde: den alten Bahnhof, der nach Westdeutschland roch, Schokoweihnachtsmänner, die man uns an jeder Ecke entgegenstreckte, als wir ankamen, die unverbrauchte Sehnsucht nach Neuem und die melancholische Sehnsucht nach Altem. Was ich nie verstand: Warum es nicht nur eine Mauer zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland gab, sondern auch eine unsichtbare in den Köpfen der Menschen zwischen Nürnberg und Fürth. [Exkurs: Fürther_innen und Nürnberger_innen sind auf eine sehr seltsame Art verfeindet. Es gibt z. B. geflügelte Worte wie „Lieber Fünfter als Fürther“...] Dabei verbindet doch Nürnberg und Fürth die erste Zugstrecke der Welt. Und vielleicht war die Angst berechtigt, damals 1835, dass die Menschen verrückt werden könnten, wenn sie so schnell mit dem Zug fuhren. Vielleicht ist es verrückt, Grenzen zu setzen und nach ihnen zu leben. Vielleicht sollten wir uns mehr darauf konzentrieren, was wir tun anstatt wo wir es tun. Ich hab übrigens noch ne Fußball-Sportwette für Greuther Fürth laufen und aufn „Nürnberger Glubb“ hab ich auch gesetzt.

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11. SPIEL & SPASS

olYMPiScH sPieLen 2019 DIE zEITMASCHINE VON KULTURATEUR FELIX RÖHR HEbT WIEDER Ab IN UNSERER NACHbARSCHAFT: SEIT JANUAR 2019 REISEN KINDER UND FAMILIEN NUN AUCH IN DER NEU ERÖFFNETEN gEMäLDEgALERIE DES MARTIN-VON-WAgNER-MUSEUMS IN DIE VERgANgENHEIT.

U

nter dem Titel „Kinder-Olymp“ bietet Felix schon im

Kulturwissenschaftler dabei von ihren Reisen in alle Herren

fünften Jahr seine erfolgreichen Kinder-ErlebnisNachmittage in der Antikensammlung des Museums an.

Länder. Neben den archäologischen Highlights warten auch kuriose Begebenheiten, kulinarische Empfehlungen,

Nun können neuerdings auch Familien an den Vormittagen die faszinierende Welt der Gemäldegalerie entdecken, die erst im Herbst 2018 wiedereröffnet wurde. Immer an einem Samstag des Monats erleben Kinder und Familien beim „Familien-Olymp“ tolle Abenteuer, entdecken ferne

Ortstypisches und spezielle Tipps auf die Gäste! So nimmt Prof. Dr. Jochen Griesbach die Zuhörer etwa am 6. April mit auf eine Reise nach Albanien, das in früheren Zeiten als wichtige Schnittstelle zwischen Italien und Griechenland fungierte. Nach der Sommerpause präsentiert unter

Länder und lernen Wissenswertes zu Kultur, Kunst und Wissenschaft. Damit es von Anfang bis Ende spannend bleibt, packt Felix seinen Kulturkoffer voller Spiele, Rätsel und Dinge zum Gestalten für die ganze Familie.

anderem Dr. Marcel Danner die antiken Schätze Jordaniens, das es mit seinen Wüstenschlössern und Felsgräbern zu Weltruhm gebracht hat. Alle Informationen und termine zu den Veranstaltungen von kulturateur felix findet Ihr unter www.kulturateur.de. text & fotos: felix Röhr

Inhaltlich dreht sich in diesem Jahr beim „Familien-Olymp“ in der Gemäldegalerie alles um das Thema „Kindheit damals und heute“: Die Reisen führen von der faszinierenden Welt des Mittelalters bis in die Neuzeit, also zum Beispiel in die Epoche der prächtigen Schlösser und Entdecker oder die Zeit der Avantgarde. Neben dem neuen FamilienOlymp wird 2019 natürlich auch der beliebte Kinder-Olymp fortgesetzt. Hier lautet das Motto 2019 „PS: Kindheit ...“. Gemeinsam entdecken die Kleinen dabei die große Welt antiker Kulturen und erfahren, was Kinder zum Beispiel im alten Griechenland oder dem alten Rom erlebt und gespielt haben. Bei jedem Olymp begleiten wir die Kinder der antiken Welt als Händler, Krieger, Philosophen, Rhetoriker oder Künstler und gestalten jedes Mal kreativ etwas zum Mitnachhausenehmen. Erwachsenen, die vom Reisen dann noch nicht genug bekommen haben, legen wir hier noch etwas ganz Besonderes ans Herz: Die Vortragsreihe „ERLESENES – Archäologische ReiseReihe“ feiert inzwischen ebenfalls ihren fünften Geburtstag! Auch 2019 berichten Archäologen und

FAmilien-olymP in der Gemäldegalerie (10:00 – 11:30 Uhr) KINDHEIT DAMALS UND HEUTE � 16. März: Kindheit zur Zeit der Schlösser und Entdecker 6. April: Kindheit zur Zeit der großen Revolutionen 12. Oktober: Kindheit der Dichter und Denker 29. Oktober – 1. November: Herbst-Ferien-Programm: HeldInnen – großartige Frauen & Männer � 9. November: Kindheit in modernen Zeiten 7. Dezember: Kindheit der Avantgarde kinder-olymP in der Antikensammlung (13:00 – 14:30 Uhr) PS: KINDHEIT � 16. März: Kindheit in Mykene 6. April: Kindheit in Sparta 03. – 06. September: Sommer-Ferien-Spaß: Auf den Spuren von Indiana Jones und berühmten Archäologen � 12. Oktober: Kindheit in Athen 9. November: Kindheit in Rom 7. Dezember: Kindheit bei den Kelten


12. NACHDENKLICH

M ü D I g K E I T. E R S C H Ö P F U N g . D E P R E S S I O N .

W

illkommen im neuen Jahr. Was sich zwischen den Jahren andeutete, wird jetzt Wirklichkeit. Das neue Jahr startet nicht nur verkatert und grau, sondern auch ohne Gnade. Perspektivlos, trotz all der Vorsätze – und hoffnungslos, trotz all des Neubeginns. Von Sydney bis New York, von Plauen bis Aachen. Gewollt oder nicht, jeder fängt neu an und man selbst steckt mittendrin. Dem Jahresbeginn entzieht sich niemand, und so beginnt das neue Jahr, wie das alte aufgehört hat, es stirbt. Im Gegensatz zum Menschenleben ist das Jahresleben klar strukturiert, designierter Start und designiertes Ende. Das Jahr hat keine falsche Hoffnung, aber auch keine falsche Angst. Es liegt 365 Tage im Sterben und selten spürt man das so intensiv wie am Jahresbeginn. Die Festtage sind abgehandelt, die alten Freunde wurden gesehen und der alten Feinde wurde gedacht. Dopamine sind verbraucht, Adrenaline nicht wieder aufgefüllt. Man nüchtert aus. Der Blick wird endlich scharf und die Welt wird grau. Ohne Luftschlangen und Glühweinnasen verliert das Leben seine Weichzeichner. Wenn die bunten Lichterketten erloschen sind, die bunteren Feuerwerke abgebrannt und der Rauch sich verzogen hat, beginnt das neue Jahr so, wie der Mensch es am wenigsten erträgt: ehrlich. Kalt, dreckig, nüchtern. Kein Grund, sich auf etwas zu freuen, außer, dass es voran geht – das Jahr. Es ist die Zeit, in der der direkteste Umgang mit sich und der Welt möglich ist, denn alle sind jetzt ungeschminkt. Mensch. Leben. Welt. Doch der Mensch verkennt die Gelegenheit und flüchtet lieber von einer Wochenendfeierei zum nächsten schweren Kopf und hofft so, die Zeit zu überbrücken, bis die Realität nicht mehr ganz so grell leuchtet. Der Alltag assistiert. Die Mo- bis Fr-Aufreger im Boulevard lenken ab und die Bundesligarückrunde naht. Sanfte Schmerzmittel für das gequälte Gemüt. Der Konsummuskelkater vom Jahresende vergeht und Linderung stellt sich ein. Die Zeit, stets unbestechlich, schleppt den Menschen zu den ersten Verpflichtungen des noch jungen Jahres. Vom Neujahrsschwimmen zu den heiligen Königen und vom Après-Ski zur ersten Prunk-

sitzung wandelt er mehr, als dass er geht. Die fünfte Jahreszeit ist ohnehin Selbstläufer, auch ohne ihn. Im Anschluss wird gefastet. Für den Geist und für die Knochen, nur kurz unterbrochen vom Maßkruggrinsen der Frühjahrsfeier. Tradition schlägt Glauben. Alles ist erlaubt, damit er wieder in die Spur findet, der Mensch. Und wenn die ersten Krokusse blühen, und die letzten Vorsätze verblassen, dann hat er es bald wieder geschafft. Auf Fasten folgt Fastenbrechen und fast … wie von selbst kommt Schwung in des Menschen Neujahrslethargie. Schwung für die ersten seelischen Gehversuche. Hinaus in die Natur. Ins Grüne. Weg von der Stadt und ab in die Weinberge. Mal mit, mal ohne Bollerwagen – aber ab jetzt mit frischer Zuversicht, die ihn von einem Weinfest zum nächsten trägt. Mit den Temperaturen steigen die Hormonspiegel und steigt die Laune, bis im Sommer ihr Zenit erreicht ist. Der Zenit als Plateau, als Komfortzone, die er nicht kampflos wieder aufgeben wird. Der Mensch ist jetzt wieder auf Augenhöhe mit dem Leben und nichts weniger steht ihm zu. Nichts weniger als das hat er sich verdient – und nur er bestimmt wie lange das andauert. Er bestimmt wie lange ihm das gefällt und wie lange dieser Sommer anhält. Meteorologie ist eine Frage der Überzeugung, und wenn es nach ihm geht, kann das Leben mit seinem jämmerlichen Jahr noch lange warten, bis der Herbst beginnt. Und wenn schon, dann wird der Herbst golden und warm und wunderwunderschön. Und wenn nicht, dann ist´s doch immerhin zünftig, im letzten Bierzelt des Jahres. Zünftig und die Menschen sind froh, haben rote Gesichter und rote Nasen, genauso wie am Weihnachtsmarkt. Da steht er jetzt nämlich, in der Menge und im dicken Mantel – und wie von selbst bestellt er noch zwei Glühwein. Er spürt die warmen Becher an den Handschuhen, schmunzelt und glaubt noch immer, er hätte alles im Griff. Das Leben im Griff. Der Mensch ist sich zwar Antworten schuldig, dem Jahr Vorsätze und dem Leben Veränderungen … aber er hat überlebt.

bIS zUM NäCHSTEN TOD. text: Michel Mayr; schnurrzpiep.de


13. BERUFUNG

Wenig Schein, viel Sein über menschliche GröSSe in einer kleinen Kantine


13. BERUFUNG

Reue für so manchen Zwanziger, den ich in irgendwelchen hochgehypten Hipsterklitschen für das Gleiche in wesentlich schlechterer Qualität gelassen hatte, drückte schon kurz aufs Gemüt; nichtsdestotrotz obsiegte die Freude über diese Entdeckung letztlich haushoch – und riss mich zu einem spontanen Kompliment ans gesamte Küchenteam hin. Seitdem heißen die beiden Damen Jutta und Hilde, der Küchengehilfe Sebastian und der Koch

Art. 147 GG hält unmissverständlich fest: „Der deutsche Morgen ist von jeglicher Fröhlichkeit freizuhalten.“ Oh würde nur jeder Artikel des Grundgesetzes so eisern befolgt!

nicht mehr Koch, sondern Jochen. Meine Mittagskumpels und ich freuen sich seitdem so gut wie jeden Vormittag aufs nächste Mittagessen (auch wenn’s natürlich nicht immer der Lieblingsbraten ist), plaudern, scherzen – und beschlossen spontan, dem Jochen und seinem Team einen Artikel zu widmen. Schließlich geht es hier um nichts weniger als eine (viel zu seltene) Form der „guten Nachbar-

Sogar jene wenigen verirrten Subjekte, die ab und an ver-

schaft“, die uns die vier tagein tagaus vorleben.

sehentlich mit dem rechten Fuß aufstehen, können auf die Hilfe ihrer regeltreuen Mitbürger zählen; schließlich

… tun es aber

gewährleisten diese mit deutscher Zuverlässigkeit, dass

Umso bewundernswerter erscheint das, wenn man sich

sich auf dem Arbeitsweg selbst der kleinste Anflug guter

allein Jochens Geschichte anhört, die man wahrlich als be-

Laune schleunigst wieder in Luft auflöst. Die Bandbreite

wegt bezeichnen kann. Nach der Lehre 1969 führten ihn

reicht dabei von der Strategie „Weihwasserkessel 4.0“ (in

seine Stationen von Nürnberg über Stuttgart und Frank-

Bus oder Bahn mit vorgeschobenem Unterkiefer möglichst

furt wieder nach Würzburg; da fallen Namen wie Fernseh-

dämlich auf ein Smartphone glotzen) bis hin zum ho(h)lis-

turm, Zeil, Rebstock, Ratskeller, Feste Marienburg – aber

tischen Ansatz (freundliche Blicke mit dermaßen hohlen

da ist auch von Arbeitszeiten die Rede, die ein geregeltes

Gesichtsausdrücken quittieren, dass selbst ein scheinbar

Familienleben mit Ehefrau und zwei Kindern unmöglich

hübsches Antlitz binnen Sekunden die Faszination eines

mach(t)en. Es folgt die Scheidung – und es wird weiter

silbernen Golf VI Trendline ausstrahlt. Auf Stahlfelgen!).

malocht, bis Jochen schließlich Christine kennenlernt. Mit ihr zusammen betreibt er zunächst die Burg (heute

Sie müssten es nicht …

Maiz), bevor sie in Zell das Schnatterloch übernehmen,

So weit, so schlecht. Jedenfalls lag ein ebensolcher Mor-

das sich schon nach kurzer Zeit vor Gästen kaum noch ret-

gen gerade wieder hinter mir, als ich mittags erstmalig die

ten kann. Doch dann folgt der nächste Schicksalsschlag:

Kantine des Finanzamts Würzburg in der Ludwigstraße be-

Christine stirbt an Krebs, von dem Jochen erst erfährt, als

trat. Übellaunig bzw. überdrüssig des ewig gleichen Pizza-

er nach einem plötzlichen Zusammenbruch den Notarzt

lasagneveggiehummusstampfdönerasianudelreiseinerleis

rufen muss – so lange hatte sie eisern an seiner Seite ge-

und frei nach dem Motto: ‚Jetz is‘ a scho wurscht‘ betrat

schuftet, als sei alles in bester Ordnung. Als er von dem

ich den Raum, der es in Sachen Ästhetik durchaus mit oben

kleinen Schutzengel erzählt, den sie ihm bevor sie ging

genannten Buspassagieren aufnimmt. Und doch war ich

noch heimlich unters Kopfkissen gelegt hatte, wird es

kurz darauf regelrecht baff: Da ging es doch glatt freund-

kurz still im Raum – bis das Lächeln auf Jochens Gesicht

lich zu. Das begann schon beim Koch, der mich mit einem

zurückkehrt; immerhin hat der Schutzengel ganze Arbeit

Lächeln begrüßte, und setzte sich nahtlos bei den beiden unglaublich sympathischen Damen an Essensausgabe und Kasse sowie beim ebenfalls höchst freundlichen jungen Küchengehilfen bei der Tablettrückgabe fort. Spontan hob sich der Launepegel von -10 auf 40 – und das mit Unterzucker! Respekt. Und als ob dem noch nicht genug gewesen wäre, setzte sich der Launen-Höhenflug beim Genuss des Krustenbratens nahtlos fort. Das Fleisch auf den Punkt, die Soße ein Traum und frei von jedem Päckleverdacht, die Klöße von optimaler Konsistenz … mein lieber Herr Gesangsverein! Zugegeben, die spontan einsetzende


13. BERUFUNG

geleistet und verhindert, dass der Schmerz über diesen

biet oder dem smartesten Baugruppenprojekt allzu oft

schlimmen Verlust und das damit verbundene abrupte

nicht auf die Kette bringt (von internationaler Politik ganz

Ende der Schnatterloch-Zeit ein allzu tiefes Loch in sein

zu schweigen): Nachbarschaft ist, wenn man trotzdem lä-

Leben reißen konnten: Dank der Empfehlung eines Freun-

chelt. Alles andere ergibt sich von selbst – in unserer Kan-

des bot sich ihm die Chance, sein Talent in der Kantine des

tin‘ hoffentlich noch möglichst lange (Art. 148 GG)!

Finanzamts unter etwas menschlicheren Bedingungen als bei den vorherigen Stationen walten zu lassen. Und obwohl er es mit seinen 65 Jahren (ich dachte, ich höre nicht recht!) eigentlich gar nicht (mehr) müsste – er tut es: mit jedem sorgsam eingelegten Braten, jeder Soße, jedem Abschmecken, jedem selbstgemachten Kartoffelsalat – frei nach der Devise: „Wenn ma scho sei Bäggle mit sich rumschleppt, sollt’s Essen ned a no ausm Bäggle sei.“ Dass er mit Jutta, Hilde und Sebastian noch drei Menschen um sich hat, die auch den grantigsten Gast mit ihrer unverstellten Herzlichkeit zum Lächeln bringen, geht wohl ebenfalls ein bisschen aufs Konto des kleinen Schutzengels. Schließlich müssten sie das auch nicht – aber sie tun es einfach. Und das ist gut so. Denn was sie damit bei ihren Mitmenschen „anrichten“, zeigt sich neben den vielen zufriedenen Mienen nicht zuletzt an der ständig steigenden Gästezahl – die ja an sich schon Beleg genug ist, dass hier irgendwas ganz arg richtig läuft. Und so offenbart sich, abgesehen vom herrlichen Essen, ausgerechnet im kleinen Kosmos einer Kantine, was die Menschheit selbst im familienfreundlichsten Neubauge-

Unser Meister in seinem Element

Text: Christian Götz; Fotos: Nico Manger


13. BERUFUNG

KOCHen Mit JOCHen SO MANCHES gERICHT AUS JOCHENS KüCHE SCHMECKT WIE bEI MUTTERN – UND bISWEILEN SOgAR bESSER. SORRY, MAMA ;). DESHALb gIbT’S Ab SOFORT IN LOSER REIHENFOLgE JEWEILS EIN LIEbLINgSREzEPT UNSERES LIEbLINgSKOCHS. ALSO WEg MIT’M bäggLE – UND RAN AN DEN HERD!

FOLGE 1: krustenBrAten mit semmelknÖdel und BAyrisch krAut BrAten FÜR 4 PERSONEN

FÜR 80 PERSONEN (MAN WEISS JA NIE!)

1 kg Krustenbraten

10 kg Krustenbraten

1 Liter Brühe

15 Liter Brühe

3 Zwiebeln

4 kg Zwiebeln

1 Karotte

3 kg Karotten

150 g Sellerie

2,5 kg Sellerie

1 TL Puderzucker

250 g Puderzucker

1 EL Tomatenmark

1 Dose Tomatenmark

Majoran, Kümmel, Lorbeerblatt, Salz, Pfeffer

Mehr Majoran, Kümmel, Lorbeerblätter, Salz, Pfeffer :)

Zubereitung (Zeiten gelten für 4 Personen): 1. Backofen auf 130° C bis 150° C vorheizen und Brühe in einen Bräter gießen; den Braten auf der Schwartenseite hineinsetzen und 1 Stunde im Ofen garen. 2. Braten aus dem Bräter nehmen und Ofenhitze auf 180° C erhöhen; die Schwarte mit einem scharfen Messer im Abstand von etwa 1 cm mehrmals parallel und quer einschneiden, damit man den Braten am Ende schön portionieren kann. Braten in den Ofen geben, bis sich eine schön-krosse Kruste bildet. 3. Zwiebeln, Karotten und Sellerie putzen, in Würfel schneiden und bei mittlerer Temperatur erhitzen. Den Puderzucker in separatem Topf hell karamellisieren – dann Gemüse und Tomatenmark hinzugeben und das Ganze andünsten. 4. Mit Majoran, Kümmel, Lorbeerblatt, Salz und Pfeffer abschmecken und dann mit Brühe aus dem Bräter zusammengeben. Die Soße nach Belieben etwas einkochen lassen.

semmelknÖdel FÜR 4 PERSONEN

FÜR 80 PERSONEN

8 altbackene Brötchen

6 kg altbackene Brötchen

¼ Liter Milch

Ca. 8 Liter Milch

Salz, Pfeffer, Muskatnuss

Mehr Salz, Pfeffer, Muskatnuss :)

1. Brötchen in dünne Scheiben schneiden. 2. Milch aufkochen, Eier verquirlen und unterrühren und mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss würzen. 3. Die Eiermilch über die Brötchenscheiben gießen, Petersilie hinzufügen und alles mit den Händen zu einer kompakten Masse verkneten; diese dann zugedeckt etwa 20 Minuten ziehen lassen. 4. Knödel formen und 15 - 20 Minuten gar ziehen lassen (Wasser darf nicht sieden!).

BAyrisch krAut FÜR 4 PERSONEN

FÜR 80 PERSONEN

Ca. 600 g Weißkohl

10 – 12 kg Weißkohl

¼ Liter Fleischbrühe

3 Liter Fleischbrühe

Salz, Kümmel

Mehr Salz und Kümmel :)

1. Weißkohl zunächst in Viertel und diese dann wiederum in circa 0,5 cm große Würfel schneiden. Mit Salz und Kümmel würzen. 2. Einen großen Topf mit Fleischbrühe ansetzen, Weißkohl hineingeben und 40-50 Minuten dampfen.


14. SCHWARZ

Ausgeschlachtet Warum wir keine Krimis im Fernsehen brauchen; ein polemisch-philosophischer Debattenbeitrag.

E

in alter Kommissar blickt auf das Meer. Alles ist

grau. Das Meer. Der Himmel. Der alte Kommissar. Ich schalte um. Ein etwas jüngerer Kommissar untersucht eine Leiche. Oder das, was davon übrig ist. Der Mörder hat sein Opfer mit Trüffelöl eingerieben und es von Wildschweinen zerfressen lassen. Ich breche kurz in meinen bereitgestellten Eimer – und schalte wieder um. Ein glatzköpfiger Kommissar mit gezwirbeltem Schnauzbart fragt einen Verdächtigen, wo dieser zur fraglichen Taaatzzzz ... ich bin eingeschlafen, habe es aber währenddessen noch geschafft, umzuschalten. Ein depressiver Kommissar fährt auf einem Kahn durch den Spreewald. „Ah, das ist der tolle Spreewaldkrimi, von dem mein Bekannter mir ständig erzählt, der muss ziemlich spannend sein.“ Ich schlafe wieder ein und träume von Gurken. Als sich meine müden Augen wieder öffnen, ermittelt eine weibliche Kommissarin in einer Sache, in der es um VergewaltigungswirtschaftserbfolgeeifersuchtterrorismuswerhatmeinSchokopuddinggegessen geht. Ich hole mir einen Schokopudding aus dem Kühlschrank, rühre ein paar Spreewaldgurken unter, breche noch einmal beherzt in den Eimer – und gehe zu Bett. Als ich am nächsten Morgen erwache und den Fernseher einschalte, ermittelt irgendjemand irgendwas und irgendjemand ist der Mörder. Oder vielleicht auch nicht. Oder vielleicht der Gärtner. Krise in der Ukraine, globale Erderwärmung, Terrorismus, Kursstürze an der Börse, veränderte Nutella-Rezeptur – angesichts solcher und anderer globaler Schieflagen frage ich mich, was zum Geier so viele Menschen an Krimis finden. Gefühlt besteht die Fernsehlandschaft heutzutage (an die Leser der Generation Z: Fernsehen, das ist wie YouTube, nur dass da wirklich jeder Depp reinkommt) ausschließlich aus Bares für Rares, Polit-Talks und eben Krimis. Die beiden ersteren Formate sind natürlich über alle Zweifel erhaben („Schgebdirachzischeurorettungsschirm“). Aber Krimis? Amerikanische Wissenschaftler haben jüngst herausgefunden: Wenn man die Hirnkapazität aller Krimi-Autoren der Welt in einem 100-Liter-Behälter sammeln würde, hätte man darin noch Platz für 100.000 Milliliter. Wenn Sie jetzt nachgerechnet haben, sind Sie eine schlimme Person und sehen sicher auch gern Krimis – vermutlich, weil Sie an das Schlechte im Menschen glauben. Oder, weil Sie den blutrünstigen Voyeurismus als eine Art Katharsis – also eine Reinigung – von heftigen Gefühlsregungen betrachten. Mord anschauen, damit man selbst nicht zum Mörder wird. Klingt im ersten Moment eigentlich logisch; doch demnach müssten Liebesfilm-Fans grundsätzlich verbitterte Singles sein – und Shades-of-Grey-Gucker überhaupt keinen Sex haben …

Okay, der Punkt geht an Euch, Sherlocks! Aber auch, wenn die gerade ausgeführte Argumentation so wasserdicht ist wie das Alibi eines von oben bis unten blutverschmierten Verdächtigen, der mit dem Fleischermesser in der Hand beim Verhör auf der Polizeiwache zur Protokoll gibt, er sei lediglich ein zutiefst missverstandener Aktionskünstler, mag ich einfach nicht verstehen, wieso scheinbar die ganze Welt Krimis liebt. Wenn ein norwegischer Psychopath Jungfrauen ermordet, sie in Engelskostüme steckt und auf weiten Feldern in konzentrisch angeordneten Steinkreisen drapiert, von welchen sich zur Sommersonnenwende das Mondlicht in Form eines Pentagramms spiegelt, dabei der ermittelnde, alternde und von Selbstzweifeln zerfressene Inspektor 80 Minuten lang mit seiner eigenen Fehlbarkeit konfrontiert wird (Alkoholsucht Schrägstrich Spielsucht Schrägstrich Drogensucht Schrägstrich Sucht nach alten blassblauen Schwimmbadfliesen), nebenbei noch ein Verhältnis mit der deutlich jüngeren Pathologin beginnt, der Verdacht dann auf den Dorf-Autisten aus Smölebröd fällt, bevor sich innerhalb der letzten fünf Minuten herausstellt, dass alles eigentlich Selbstmord war … – dann, ja dann schlafe ich lieber wieder ein und träume von einer Welt ohne Krimis. (Nebenbei bemerkt: Wenn Sie wissen möchten, ob es im konkreten Fall doch kein Selbstmord war, dann schalten Sie einfach übermorgen um 22:30 Uhr den Fernseher ein; egal welcher Sender, egal welcher Krimi; irgendwo wird gerade immer eine Jungfrau in einem Engelskostüm in einem Steinkreis drapiert). Zurück zu meinem Traum – dem Traum einer krimifreien Fernsehwelt. Einer Welt mit Serien wie SCHOKO Leipzig (die besten Kreationen sächsischer Schokoladenmanufakturen), Der Kommissionierer und das azurblaue Meer (Logistikreportagen aus der Karibik), Die Rosenheim Klopse (Bulettenrezepte aus Bayern), Sportkommission Istanbul (Porträt eines türkischen Fußalltrainers), Bootruf Hafenkante (Wir schauen einem Wassertaxi-Besitzer über die Schulter), Die Spreewald-Lilly (Heimatfilm) und natürlich: Die Brücke – Transit ins Li-La-Launeland … Ich öffne die Augen. Der Fernseher ist eingeschaltet. Nelson Müller testet im Auftrag des ZDF, ob Türscharniere von IKEA genauso gut sind wie eingelegte Knoblauchzehen von Rewe. Wie bei einem schlimmen Unfall muss ich kurz zusehen, dann wünsche ich mir einen griesgrämigen alten Kommissar, einen schalldichten Raum im Keller einer Polizeistation – und einen bestimmten TV-Koch auf dem Verhörstuhl. Text: Thomas Brandt


14. UND WEISS

Krimi-mimimimimi WARUM ES LOHNENSWERT IST, DAS FERNSEHPROgRAMM zU STUDIEREN, bEVOR MAN SICH übER KRIMIS ECHAUFFIERT

E

in Mann sitzt frühabends vor dem Fernseher. Er ist müde. Die Fernbedienung liegt schwer in seiner Hand. Dennoch gelingt es ihm, den Umschaltknopf zu drücken. Er landet bei einem Krimi, er drückt den Umschaltknopf – und landet bei einem Krimi. Ganz ohne Umschweife: In diesem Punkt sei dem Krimikritiker voll und ganz Recht gegeben. Das öffentlich-rechtliche Vorabendprogramm (Privatsender seien hier mal bewusst ausgeklammert, deren Welt ist ohnehin eine andere) strotzt nur so vor Leichen und ihren Kommissaren. Auch was das inhaltliche bzw. schauspielerische Niveau der SOKOS, Notrufe, Retter und Reviere anbelangt, wäre hier zeilenlanges Lamentieren reine Rohstoffverschwendung. Natürlich sind die schlecht – schließlich handelt es sich hier um fix abgedrehte Massenware, in der zum Großteil Schauspieler herumheroisieren, für die es sonst gerade mal bis zur Whiskas-Werbung gereicht hätte. Doch was bitte erwartet man in den „Kukident-Stunden“, die der Performer im Fitnesscenter, die Familie beim Abendessen und Teens oder Twens auf irgendwelchen Streamingkanälen verbringen? Film noir? Fassbender-Dokus? Und weiter gefragt – war es vorher besser? Ich erinnere mich düster an irgendwelche Marienhöfe, in denen nach einer dreiviertel Stunde die Liebe verboten war, Landärzte mit Zeitüberschuss und andere mediokre Machwerke. Von der Abfrage unnützen Wissens in irgendwelchen Quizformaten ganz zu schweigen. Da schau ich doch noch im Fall des Falles lieber ir-

gendeinem C-Promi beim Sterben zu! Und für die kleinen netten Geschichten mit gutem Ausgang gibt es ja in der Tat Bares für Rares. Doch kommen wir zur eigentlichen Kontroverse: dem Abendprogramm. Natürlich sei hier unumwunden eingestanden, dass das Genre Krimi dort eindeutig dominiert. Doch wie wäre es, der Sache mal ganz vorurteilsfrei auf den Grund zu gehen? In diesem Zusammenhang landen wir recht rasch bei der Hauptfunktion des Fernsehens – und die lautet nun einmal Unterhaltung. Dröselt man diesen Begriff in Hinblick auf das Fernsehpublikum auf, driften die damit verbundenen Erwartungen natürlich gewaltig auseinander. Der eine will vor allem Spaß und Humor, der andere bevorzugt gesellschaftliche bzw. politische Relevanz und Lebensnähe, der dritte wünscht sich schöne Bilder und Landschaften, der vierte liebt die Liebe, der fünfte die (Zeit-)Geschichte, der sechste Kunst und Kultur und der siebte die Spannung. Die gute Nachricht für alle Krimiphobiker: Für jedes der genannten Partikularinteressen gibt es – allein im öffentlich-rechtlichen Programm – ausreichend Futter, die TVProgramm-App macht’s möglich. Der Spaß-Cowboy findet sein Fresserchen, je nach Bildungsgrad, in Formaten von Verstehen Sie Spaß? über diverse meist auch samstags ausgestrahlte Quizsendungen bis hin zu verschiedensten


14. UND WEISS

Kabarettformaten, ob heute-show, Anstalt, Nuhr oder viel-

um die jüngere Geschichte der BRD bzw. der DDR, Krimi-

fältigste Kleinkunst-Mitschnitte in den Dritten. Der zweite Kandidat hat wiederum die Qual der Wahl zwischen zig

nalfilme mehrfach ausgezeichneter Regisseure (von Dominik Graf bis Hans Steinbichler) oder Drehbuchautoren

Politik- und Fachmagazinen, Talkshows, investigativen Reportagen oder – in Filmform – den oft sehr gelungenen

wie Thomas Kirchner (aus dessen Feder unter anderem verschiedene Spreewaldkrimis stammen, die in Rückblen-

Mittwochsfilmen im Ersten, die brisante Themen der Zeit in

den bzw. verschiedenen Wahrnehmungsebenen erzählt

Gestalt eines mitreißenden Plots aufgreifen. Für die Bilderund Liebesfans unter uns kuriert der Bergdoktor vor hin-

werden): Ich denke, es ist kein Zufall, dass ich mich montagmorgens mindestens so gut mit dem Gasableser über

reißender Kulisse unterforderte Ehefrauen und Gwyneth findet im nicht minder hübschen Cornwall dank Roselmun-

den Tatort des Vorabends streiten konnte wie mit meinem Professor (sic!). Dass sich beim Konsumieren solcher

de Pichler (Gott hab sie selig!) doch noch zu ihrem Paul,

Geschichten gern mal eine gewisse kathartische Wirkung

mit dem sie das verschuldete Landgut vor dem garstigen Immobilienspekulanten Cedric rettet (der aber zum Schluss

einstellt – geschenkt. Schließlich fühlt sich Letztere auch für potenzielle Nichtmörder gut an, daran hat sich seit

auch einsieht, dass er sein Leben ändern muss). Dass die (Zeit-)Geschichtsfans unter uns sehr wohl zu ihrem Recht

Aristoteles wenig geändert; indes suchen die Liebesfilm-, Science-Fiction-, Shades-of-Grey- und sogar Helene-Fi-

kommen, zeigen unzählige Filme und Serien – von Babylon

scher-Fans in der Regel mitnichten nach Katharsismomen-

Berlin über Luther und Co. bis zur schier endlosen Palette an Nachkriegsdramen oder Biopics. Ach so, da wären noch

ten. Vielmehr flüchten sie sich – was nur allzu verständlich ist – für ein paar Stunden in Gegenwelten zu ihrem

die Kunst- und Kulturbeflissenen – na dann, nichts wie ab nach arte- oder 3sat-Hausen, hier ist vom Nirvana-Konzert

leidlich-normgerechten Arbeits- und Beziehungseinerlei bzw. der ermüdenden Blümchensexwelt im IKEA-Box-

bis zu Theater- und Opernaufführungen alles in Fülle vor-

springbett, getestet von Nelson Müller. Für die Katharsis

handen, was das Bildungsbürgerherz begehrt. Auf den Spannungsfreund brauche ich hier natürlich nicht näher einzugehen – dass es ihm an nichts mangelt, wurde bereits

sorgen dann meist zuverlässig Faschings-, Junggesellenabschieds- oder Après-Ski-Besäufnisse (vielleicht gibt es doch noch viel zu wenige Krimis?!).

hinreichend geklärt. Was jedoch noch geklärt werden sollte, ist Folgendes: Gibt es da eventuell einen gewissen Treffpunkt, an dem man alle eben Beschriebenen auf einer Couch versam-

Selbstverständlich tummeln sich im breiten Spektrum der Kriminalverfilmungen auch jede Menge Flachmänner und -damen herum, natürlich finden wir auch hier billig zusammengeschusterte Massenware, deren geografische

meln könnte? Hmm, wie könnte dieser Treffpunkt heißen? Vielleicht wie ein Filmformat, in das sich letztlich sämtliche Partikularinteressen mühelos integrieren lassen, Spannungsbogen stets inklusive? Gehen wir’s nochmal durch: sei es die Krimikomödie à la Tatort Münster

Reichweite von Istanbul über Gotland bis in Barnabys totgemordetes Oxfordshire reicht. Doch auch dafür gibt es, wie bei jedem anderen Genre auch, eine relativ simple Lösung: den kritischen Blick ins Programm bzw. diverse Bewertungsportale. Auf gut Glück zappen führte schon

oder Wilsberg mit pointierten Dialogen, seien es gesellschaftskritische Thriller, Eifersuchtsdramen, die exzellent gemachte Landkrimi-Reihe aus Österreich, Krimis rund

in krimiärmeren Zeiten ins Nirvana – es sei denn, man landete bei den Nachrichten. Aber das ist eine andere, fiktionsfreie (Kriminal-)Geschichte … text: Christian Götz

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15. DER AUFREGER

Wieso das erholsame Wochenende eine dreiste Lüge ist FreitagNachmittag – und der Zeiger der Uhr kann sich gar nicht schnell genug bewegen. Den Rechner runterfahren, die Türe zusperren, der Letzte macht das Licht aus, hoch die Hände, Wochenende! Hoch die Hände im Sinne von „Hände hoch oder ich schieSSe“.

F

reitagnachmittag heimgekommen, den Rucksack in die Ecke geknallt, einen Kaffee aus dem Kaffeevollautomaten gezogen, in den Sessel fallen lassen, durchgeatmet, Wochenende. „Du, könntest du mir mal kurz helfen, unten tropft's an der Wasserleitung“ – na also, Wochenende vorbei. Die Verschraubung nachgezogen, das Gewinde verrostet und verkalkt, alles klar, tauschen wir das aus! Das System gibt's nicht mehr? Naja, okay, „da bauen wir was“ Mist! Ist das dreiviertel Zoll? Wie, die sind jetzt aus Kunststoff? Naja, dann machen wir halt die Leitung bis hinten neu rein, hol mal Hammer und nen Meißel, da muss was von der Wand weg … Ach ja, die Teile gibt’s in Bad-

Mergentheim, wenn du dann eh schonmal dort bist, die Mieterin von deinem Onkel hat angerufen, könntest du da mal vorbei schauen, die Steckdose im Keller hat keinen Strom … fast forward, plötzlich ist es Freitagnacht - und unter Entspannung hatte ich mir irgendwie etwas anderes vorgestellt. Samstagfrüh, 6:30 Uhr, jemand stapft vor meinem Zimmer durch die Küche und macht Kaffee, dann wird der Frühstückstisch gedeckt und der Radio läuft. Ich trotte an die Tür und stecke meinen verpennten Strubbelkopf in die Küche, noch bevor ich richtig den Mund aufbekomme: „Ah


15. DER AUFREGER

gut, du bist ja auch schon wach, die Nachbarin muss heute

und Schläuche verlegt (beide in der Freiwilligen Feuerwehr)

ihre Regenrinne anschließen und hat uns gefragt, ob wir helfen. Die hat ja heut Geburtstag, das wäre echt nett!“

und ich bekomme eine kurze Lagebeschreibung: „Da hat irgendsoein Depp bei der Resi (93 Jahre jung) Grillanzünder

Wieso immer ich …

auf ihren Brennholzhaufen im Garten gelegt. Wir haben schon beide Feuerlöscher von der Werkstatt draufgejagt

Samstagfrüh, 7 Uhr, ich sitze zu zwei Dritteln verschlafen,

aber das geht net aus, die Feuerwehr haben wir auch schon

zu einem Sechstel verstimmt und immerhin dem restlichen Sechstel neugierig auf die etwas andere Geburtstagsfeier

angerufen und ihnen gesagt, dass es net schlimm is und sie einen vorbei schicken sollen, weil wir das wahrscheinlich

am Frühstückstisch und starre durch das Fenster in die Dunkelheit. Gegen Acht nimmt der Großkampftag dann

selber hinbekommen.“ In diesem Moment, etwa 2:10 Uhr am Sonntagfrüh, dröhnt die Sirene los. Gegen 2:15 Uhr haben

seinen Lauf, sieben Stunden Gebaggere, Gesäge – und für

meine beiden jüngeren Brüder dann das Feuer unter Kontrolle,

den promovierten Physiker, der weder Bagger noch Säge bedienen kann, Geschaufele von Beton und Schutt. Zum

zwei Einsatzwägen von der Feuerwehr und die Polizei sind auch noch dazugekommen. Die Stimmung ist relativ locker

Mittag gibt's es lecker Kesselfleisch … Scherzhaft wurde die Schweineschnauze als „Steckdose“ bezeichnet … Ob ich

– immerhin war ja praktisch nix passiert, abgesehen davon, dass viele Feuerwehrler, meine Brüder inklusive, erst kurz

gerne Steckdose probieren möchte? Lieber nicht, danke, der

zuvor vom Weihnachtsmarkt heimgekommen sind. Mein

Tag war schon schlimm genug. Samstagabend, 21 Uhr, ich falle halbtot ins Bett und freue mich einfach nur, dass morgen

mittlerer Bruder, der im Schlafanzug gelöscht hatte, meinte noch zur Polizei: „Ich hätte ja den Löschkarren mit dem Auto

Sonn- und kein Werktag ist. Sonntag werden bei uns keine Wasserleitungen verlegt, keine Stromleitungen repariert

runtergezogen, aber dann wär jetzt mein Lappen weg.“ Alle lachen. Dann werden noch Spuren gesichert (es waren

und keine Höfe aufgebaggert, einfach … nur … schlafen… Sonntagfrüh, 1:55 Uhr, das Telefon klingelt. Ich denke nur, oh fuck, da ist etwas passiert – und renne ins Wohnzimmer,

also die stinkenden weißen Grillanzünder) und alles abgesucht, ob der Täter noch irgendwo rumsteht und gafft. Auch wenn's glimpflich ausgegangen ist, aber Brandstiftung bei einer alten Frau – definitiv uncool! Der ganze Zirkus ging dann noch

mein jüngster Bruder ist dran: „Bei der Resi hat jemand im Garten den Holzhaufen angezündet, weck mal den Vatter und kommt's vor zum Feuerwehrgeräteschuppen, die Sirene geht eh gleich los!“ Schlafanzug raus, rein in die Klamotten, runter auf die Straße gerannt und im Hintergrund eine

bis halb vier in der Früh, ein weiteres Highlight war dann noch die betrunkene Nachbarin, die wach geworden war und uns bat, wir sollten doch aufhören, das Holz nass zu machen, weil Sie das noch zum Schüren bracht. Montagmorgen fragt mich mein Kollege, ob ich mich am Wochenende gut erholt hätte –

Rauchsäule gesehen, also ab in Richtung Feuer. Meine Brüder haben dann schon den Löschkarren hingeschleppt

ich verlasse kommentarlos das Büro. Text: Dr. rer. nat. Dipl.-Ing. Univ. Sebastian Fiedler

PETER MÖCKESCH

MARTIN REITMAIER

Reitmaier Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB

DR. ALEXANDER HESS JOHANNES NEUMANN BENJAMIN HIRSCH

KATHARINA NÜRCK

Eichhornstraße 2 // D 97070 Würzburg T +49 (0) 931 / 970964-0 F +49 (0) 931 / 970964-10 info@reitmaier-rechtsanwaelte.de www.reitmaier-rechtsanwaelte.de



16. LETZTE WORTE

Brief in die Zukunft Lieber Prof. Dr. B.A. M.A. LMAA. Anakin Talbott-Muriel, wenn Sie diesen Brief lesen, bin ich schon mindestens 2.000 Jahre tot. Deshalb möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um mich vorab bei Ihnen in aller gebührenden Form zu entschuldigen. Denn als Archäologie-Koryphäe im Jahr 4019 haben Sie wahrlich nichts zu lachen. Während Generationen von Altertumsforschern vor Ihnen das große Glück genossen, eindrucksvolle Bauwerke, meisterhafte Kultstätten, wunderschöne Kunstgegenstände und ab und zu wenigstens einen römischen Puff oder spätmittelalterlichen Donnerbalken ausgraben zu dürfen, hat meine Generation Ihnen und Ihren Forscher-Kollegen doch ein äußerst zweifelhaftes Erbe hinterlassen. Wie unfassbar dröge muss es für Sie sein, sich in wochen- und monatelanger Arbeit durch Erde, Staub und natürlich jede Menge Plastik zu graben, um schließlich auf die kümmerlichen Überreste eines 40.000 Quadratmeter großen real-Supermarktes in Ostwestfalen-Lippe zu stoßen! Welche wissenschaftlichen Schlüsse Sie dabei aus dem Nebeneinander von Stereoanlagen, Dosen-Streichwurst und Duft-Weichspüler ziehen mögen – ich mag gar nicht daran denken. Kaum mehr Freude werden Sie bei der archäologischen Erschließung diverser nahe Würzburg gelegener Neubaugebiete haben. Lassen Sie sich von den Dachformen vieler Privathäuser nicht in die Irre führen: Sie müssen wissen, es gab eine Zeit, in der man glaubte, durch das Aufsetzen eines sogenanntes Toskana-Daches italienisches Flair und mediterrane Unbekümmertheit ins finstre Germanien importieren zu können. Doch spätestens, wenn am Samstagnachmittag die Straße vor der gepflasterten Einfahrt nicht gekehrt war und der BMW X3 2.0 xdrive in Gletscherweiß-Metallic mit individualisiertem Sportpaket nicht blitzeblank poliert vor dem anthrazitfarbenen Sektionalgaragentor stand, konnte es spontan zu schweren Ausschreitungen und Unruhen unter der ansässigen Bevölkerung kommen. Es wird wohl einer dieser Krisenherde gewesen sein, der letztendlich den Untergang Europas heraufbeschwor. Oder es wurde den Menschen in ihren weißen, blutleeren Smart-Homes und vollautomatisierten Logistikhallen einfach so unfassbar langweilig, dass sie für immer eingeschlafen sind. Aber das werden Sie dann ja alles herausfinden. Wie gut, dass ich es nicht mehr erleben muss. Herzliche Grüße aus dem ausklingenden Ölzeitalter

Ihr längst verstorbener lieber Nachbar aus dem Jahr 2019


17. RECHTHABEN

Drohendes Dieselfahrverbot in Würzburg Widerruf von Fahrzeug-Finanzierungsverträgen als Ausweg (Widerrufsjoker) Nachdem die Deutsche Umwelthilfe nun auch Klage betreffend Würzburg eingereicht hat, droht auch in Würzburg ein Dieselfahrverbot. Sollte die Klage erfolgreich sein

der Dieselfahrer kann seinen Diesel zurückgeben. Im Gegenzug erhält er die bereits geleisteten Kreditraten (und eine etwaige Anzahlung) zurück. Nur die – meist nicht son-

und Fahrverbote umgesetzt werden, stehen Dieselfahrer vor einem großen (finanziellen) Problem. Sie sind privat und im Beruf auf ihr Fahrzeug angewiesen und müssten sich daher ein Ersatzfahrzeug anschaffen bzw. ihren Diesel loswerden. Letzteren auf dem freien Markt zu verkaufen stellt allerdings keine akzeptable Alternative dar, da dies aktuell nur noch mit einem hohen Wertverlust möglich ist.

derlich hohen – Kreditzinsen bis zum Zeitpunkt des Widerrufs darf die Bank behalten. Gegebenenfalls (zumindest bei bis 12.06.2014 abgeschlossenen Kreditverträgen) muss eine Nutzungsentschädigung für die mit dem Fahrzeug gefahrenen Kilometer gezahlt werden.

Falls der Diesel jedoch finanziert wurde, gibt es einen Ausweg. Viele Banken haben Kreditnehmer nicht korrekt über das Widerrufsrecht informiert – also entweder eine falsche Widerrufsbelehrung oder nicht alle notwenigen Pflichtangaben erteilt. In der Folge beginnt die eigentlich nur zweiwöchige Frist für den Widerruf nicht zu laufen. Kreditnehmer können auch vor Jahren abgeschlossene Verträge noch widerrufen, das finanzierte Fahrzeug zurückgeben und erhalten ihr Geld zurück. Eine Chance für Besitzer von Dieselfahrzeugen. Voraussetzung für den Widerruf ist, dass der Finanzierungsvertrag ab dem 11.06.2010 abgeschlossen wurde, der Autokäufer diesen als Verbraucher (Privatperson) abgeschlossen und der Autohändler den Vertrag zur Finanzierung des Wagens vermittelt hat. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen und einer fehlerhaften bzw. unvollständigen Widerrufsinformation ist der Widerruf möglich und

Der Widerruf muss gegenüber der finanzierenden Bank erklärt werden. Es reicht aus, wenn dies in Textform (z.B. per Mail, Fax usw.) geschieht. Die Bank wird den erklärten Widerruf mit hoher Wahrscheinlichkeit als unwirksam zurückweisen und der Widerruf muss dann mit anwaltlicher Unterstützung durchgesetzt werden. Hierbei sind wir – Reitmaier Rechtsanwälte – Ihnen gerne behilflich. Wir haben die Interessen unserer Mandanten schon in hunderten von Fällen erfolgreich durchgesetzt. Gerne überprüfen wir kostenlos Ihre Finanzierungsunterlagen hinsichtlich etwaiger Fehler in der Widerrufsinformation und teilen Ihnen mit, ob Sie den „Widerrufsjoker“ ziehen können. Die Experten von Reitmaier Rechtsanwälte beraten und vertreten auf dem Fachgebiet des Bank- und Kapitalmarktrechts, Strafrechts/Compliance, Wirtschafts- und Arbeitsrechts sowie Veranstaltungsrechts. Ein Team von sechs Anwälten berät Unternehmen sowie Privatpersonen zu rechtlichen Belangen.


18. HÖREN & TANZEN

aPPetiZer

Das grüne themenKonZert

NACHHALTIgKEIT IM ALLTAg – WAS KÖNNEN WIR AKTIV äNDERN? WELCHE MÖgLICHKEITEN gIbT ES IM RAUM WüRzbURg? MIT DIESEN FRAgEN bESCHäFTIgT SICH DIE NEU gEgRüNDETE „APPETIzER“THEMENKONzERTREIHE. HäPPCHENWEISE VERPACKT, WIDMET SICH JEDES KONzERT IN EINER SPANNENDEN KOMbINATION AUS VORTRägEN, DISKUSSIONEN UND MUSIKbEITRägEN EINEM NEUEN TEILgEbIET. „üBers FAhrr AdFAhren“ – lesung mit m usik und regionAlem. Für das erste Themenkonzert konnte Theresa Hauff gewonnen werden, die mit ihrer Lesung „(K) ein Velodram Europa“ unter anderem bereits in Hamburg, Dresden und Leipzig begeisterte. Theresa erzählt über Gedanken und Erfahrungen ihrer ersten Fahrradreise: Wie sie dazu kam, warum es sich lohnen kann, sich für einen schmerzenden Hintern und Gegenwind im Gesicht zu entscheiden – und weshalb sie es jederzeit wieder tun würde. Auf unterhaltsame Art nimmt sie uns mit auf ihrem Gepäckträger und zeigt Bilder eines Europas, das von jedem von uns mit dem Fahrrad erreicht werden kann. (Weitere Informationen unter: www.velodram.wordpress.com) Ergänzt werden ihre Gedanken durch musikalische Beiträge von

„Cellotta“.

Zufällig

aus

einer

Uni-Freundschaft

entstanden, spielt das Würzburger Trio eigene Songs in feinfühligen Arrangements für Cello, Geige, Gitarre und dreistimmigem Gesang. In ihrem ersten Jahr konnten sie bereits die Jury des Songwriter-Contests im Theater Chambinzky von sich überzeugen und den 2. Platz beim Nachwuchspreis des Stramu-Festivals 2018 belegen. Das Themenkonzert findet statt am Samstag den 13. April 2019, um 19 Uhr im Siebold-Museum Würzburg (Frankfurter Str. 87, 97082 Würzburg). Eintritt frei! kontakt: appetizer@posteo.de

ceLLotta


werdet teil unserer nAchBArschAFt Im frischen Outfit bringt LIEBE NACHBARN ebenso anspruchsvolle wie spannende und zum Schmunzeln anregende Themen. LIEBE NACHBARN … KONZENTRIERT SICH AUF DAS WESENTLICHE: die Menschen aus Würzburg und Umgebung und die dazugehörigen Geschichten. Wir berichten darüber qualitativ anspruchsvoll in Bild und Text – und bieten Ihnen damit ein attraktives Umfeld für Ihre Anzeigen, die in diesem hochwertigen Medium langfristig wirken und die Menschen der Stadt Würzburg und Umgebung erreichen. Gerne helfen wir Ihnen bei der Gestaltung Ihrer Werbung, schließlich soll Ihre Anzeige perfekt zur Geltung kommen.

Nachbarschaftsliebe – ganz ohne geht es einfach nicht. Daher bedanken wir uns bei jenen lieben Nachbarn, die ein Unternehmen führen und bei der Verwirklichung dieses Stadtmagazins mithelfen. Deshalb gibt es in diesem Heft auch Texte, die in Zusammenarbeit mit unseren Partnern entstanden und mit einem Sponsor-Herz gekennzeichnet sind.

UNSERE MEDIADATEN FINDEN SIE UNTER www.lieBe-nAchBArn.net

fotostudio // mietstudio // events www.studio5d.de

platz zum kreativ-austoben!


RÜCKBLICK

LIEBE NACHBARN ist ein Magazin von ºdie eine... agentur für gestaltung und der Schreiberei Eder IMPRESSUM / HERAUSGEBER ºdie eine... agentur für gestaltung Beethovenstraße 5d | 97080 Würzburg Vertreten durch: Nico Manger kontakt@liebe-nachbarn.net www.liebe-nachbarn.net GESTALTUNG / LAYOUT / COVERFOTO ºdie eine... agentur für gestaltung www.dieeine.de REDAKTION Thomas Brandt, Christian Götz, Nico Manger redaktion@liebe-nachbarn.net SCHLUSSREDAKTION Schreiberei Eder DRUCK: Flyeralarm / Auflage 5.000


thomAs BrAndt besitzt als selbstständiger texter natürlich einen Magister-Abschluss in Germanistik, auf den er sehr stolz ist. Dass ihm am tag vor seiner Abschlussprüfung anno 2007 sein Ersti-Germanistik-kumpel den Inhalt von Wallenstein erklären musste, tut hier überhaupt nichts zur Sache.

HINTEN DRAN = ALLES DRIN

Wer macht Was? 1. EDITORIAL – LIEBSTE NACHBARN

nico mAnger ist kommunikations-Designer und hat sich LIEBE NACHBARN ausgedacht.

2. NEU IN WÜRZBURG - HOPERY

Er gestaltet das Magazin, schreibt hier und da mal einen kleinen text und macht hier und da mal eine fotoserie.

3. SHORT CUTS – STADTGESCHICHTEN

Im Sommer veranstaltet er diverse flimmern-Openair-kinos in der Stadt.

christiAn gÖtz Der Berufsgrantler ersetzt intellektuell herausfordernde Deutschlandfunk -features mit steigendem Alter mehr und mehr durch Bares-für-Rares-folgen - nach dem Motto: Warum soll i mi schlau macha, wenn d'Leit allerweil bläder wer'n?

AnnA-luciA mensing

4. DAHEIM UND ANDERSWO – DIE WANDERUNI 5. WOHNEN – 100 JAHRE BAUHAUS 6. BITTE EINEN … KRAPFEN 7. IN DER NACHBARSCHAFT – DAS MAINVIERTEL

hat Italienisch, Spanisch und kriminologie studiert, weshalb sie in telenovelas auch locker die Ermittlerin geben könnte. Als

8. ZU GAST BEI NACHBARN – BLINDVERKOSTUNG

freie texterin geht sie aber ebenso gerne für uns den Dingen auf den Grund.

lisA dillhoFF Sich (schriftlich) kurz zu fassen ist nicht so ihr Ding. Außer es ist früh am Morgen – also vor neun. Die Würzburgerin hat ihr Hobby zum Beruf gemacht und arbeitet seit ihrem Germanistikstudium lieber als texterin statt als taxifahrerin.

9. IN DER NACHBARSCHAFT – EIN OBDACHLOSER 10. NACHDENKLICH – VON KATZEN & MAUERN 11. SPIEL & SPASS – OLYMPISCH SPIELEN 12. NACHDENKLICH – AUF AUGENHÖHE

PAuline Füg Bühnenpoetin und Autorin. Nach ihrem Studium der

13. BERUFUNG – WENIG SCHEIN, VIEL SEIN

Psychologie lebt sie jetzt in Würzburg und in den 2. klasseAbteilen der Deutschen Bahn.

hAnnAh küsPert kommt aus Augsburg und studiert in

14. SCHWARZ UND WEISS – KRIMI-MIMIMIMIMI 15. DER AUFREGER – DAS ERHOLSAME WOCHENENDE

Würzburg kommunikationsdesign. Sie fotografiert gern, träumt vom Reisen und durchsucht flohmärkte stundenlang nach

16. LETZTE WORTE – BRIEF IN DIE ZUKUNFT

alten Dingen, die dann doch zu groß sind, um sie mit nach Hause zu nehmen.

17. RECHTHABEN – DROHENDES DIESELFAHRVERBOT

dr. rer. nAt. diPl.-ing. univ. seBAstiAn Fiedler Wissenschaftler und Alltagsphilosoph in

18. HÖREN & TANZEN – APPETIZER

Personalunion. Liebt Herausforderungen und braucht Abwechslung. Sein treibstoff: Humor und kaffee. für beides gilt:

19. HINTENDRAN – SPAM

je schwärzer, desto besser.

20. HERZEN – ALLES, WAS UNS LIEB IST michel mAyr Österreichisch-wahlfränkischer Hochseekapitän. kämpft mit Glamrockdauerschleifen und grundsätzlichen Grundsatzdiskussionen gegen die allgemeine Wurschtigkeit.

WEItERE MItARBEItER / GAStAUtOREN DIESER AUSGABE: tAnJA schmitt, sArAh theisen


9.5. Zukunftshaus Vortrag bei: 5dwue.de

10.4. First Breath After Coma Cairo

Comedy Slam GTD Café Cairo 20.3

24.3. FashionFlomarkt Posthalle

Spring, we are waiting for youhuu!!

Bad-Ending-Band Vision: Stramu 2044!

Frühjahrsvolksfest 30.03.-14.04

Café Edeltraud „Edelbar“ Freitagabend

Krimidinner Festung 6.4

Beats & Lyrics Kellerperle 16.3.

Bob Dylan S.Oliver Arena 2.4.

TRASH LAB #2 Mainfranken Theater 26.4.

Skate & Break Vol. 3 Posthalle 17.3.

Thomas Ba. fährt heimlich einen SUV

Grüße an die Winkekatze Miau

Uli ist immer noch kein Arzt!

Poetry Slam Posthalle 10.3.

Zwiegenähte Trabert Schuhe

Samy Deluxe Posthalle 28.3.

Hair & Makeup Maria Mihm

PropellerSchwein

Mitfahrbank Vortrag bei 5dwue.de 14.3. NIMM MICH! Ein Herz für Deine Veranstaltung oder Deine Liebste? Schreibe uns!

Peter Licht Cairo 11.5.


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