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wenn sie sich dem Blick offen darbietet, dann ist das wie ein stilles Einverständnis, gepflückt zu werden. Denn Pflanzen können sich auch verbergen, hat sie erfahren. Sie sind da, und doch gleitet der Blick über sie hinweg, ohne sie zu erfassen. Und entdeckt man sie doch, ist es, als wäre ein bisschen etwas Unrechtes dabei. Es ist eine Art Kommunikation zwischen zwei Naturwesen, doch diese Sprache braucht offene Sinne, um gehört zu werden. Und verlangt von der Sammlerin Respekt und die Bescheidenheit, auch einmal etwas stehen zu lassen. Und nur so viel zu nehmen, dass noch genug übrig bleibt – fürs Weiterwachsen, für die Tiere, für andere.

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GUGGERSUUR! Der Streifzug ist Arbeit und Vergnügen zugleich. Die Vögel pfeifen, Frühlingsdüfte liegen in der Luft, die Naturlandschaft tut der Seele gut. Auf einer sparsam genutzten Wiese etwas oberhalb des Hauses erntet Gina Chiara die prallen, saftigen Blätter des Leimkrauts und die rauhen haarigen der Wiesensalbei, köstlich würzig im Geschmack. Überraschend sauer dagegen, obwohl der Name es erahnen lässt, die spinatähnlichen Blätter des Sauerampfers. «Wenn er aufstängelt, trägt er eine rispenartige, rötliche Blüte. Als Kinder haben wir diese Stängel gegessen und darauf herumgekaut, wie auf Kaugummi. Wir nannten das ‹guggersuur›. Vielleicht, weil im Frühling der Gugger ruft … Die Blätter eignen sich sehr gut als Gemüse. Leider verfärben sie sich beim Kochen. Aber es gibt feine Rahmsaucen daraus, und man kann sie auch in den Salat schnetzeln.» Die beste Zeit fürs Ernten ist der Vormittag. «Dann sind die Pflanzen noch frisch, so quasi frisch aus dem Bett, frisch erwacht, und noch nicht schon wieder müde. Nach dem Mittag, wenn die Sonne schon so stark geschienen hat, sind sie bereits wieder ein bisschen schlaff.» Und die besten Tage sind jene, an denen es nicht kurz zuvor geregnet oder Tau gegeben hat. Denn wenn die Pflanzen nass sind, verkleben sie im Sammelbeutel, und wenn sie beispielsweise zu einem Pesto verarbeitet werden, besteht die Gefahr, dass sie anfangen zu gären oder zu schimmeln. Angst vor giftigen Pflanzen hat Gina Chiara kaum. Wohl gibt es Kräutlein, von denen man besser die Finger lässt. Die Herbstzeitlose zum Beispiel, deren Blätter wie Tulpenblätter aus dem Boden stechen. «Aber wir haben nicht so viele sehr giftige Pflanzen in der Schweiz. Und wenn man nicht einfach alles in sich hineinstopft und verschluckt, passiert nicht so viel. Man kann das ja auch mit Verstand machen: Wenn man vielleicht das Gefühl hat, das sei jetzt Wiesensalbei, dann kaut man ein wenig an dem Blatt und merkt: Aha, das hat wirklich ein bisschen Salbeigeschmack, das muss sie sein. Oder man merkt: Oh, das hat aber einen ganz anderen Geschmack! Und dann muss man es ja nicht unbedingt hinunterschlucken und noch mehr davon nehmen, dann speit man es eben aus und hört auf.»

ENDSPURT IN DER KÜCHE Zurück in der Küche muss nun konzentriert gearbeitet werden; bald kommen die Gäste. Katze Biala ver-

langt lautstark ihr Futter. Gina Chiara bereitet den Quarkblätterteig für den Hopfensprossenkuchen vor, die Sprossen hat sie im dichten Gestrüpp bei einem ausgetrockneten Bachbett geerntet – Hopfensprossenernte gibt zerkratzte Arme; dazu kommen Speckwürfelchen und Ziegenmilch-Feta aus dem Hinterrheintal. Die Brötchen hat sie bereits am Vormittag gebacken. Auch die walnussgrossen Kugeln für die Strangolapreti, die Pfaffenwürger, sind fertig – ein Gericht aus Norditalien mit Altbrot und Wildspinat. Wenn die Gäste da sind, werden die Kugeln im siedenden Wasser gegart und anschliessend in warmer Bärlauchbutter gedreht. Der Abend steht unter dem Motto «Arme LeuteKüche». Deshalb das Altbrot, deshalb die Linsen als gut nährende, billige Hülsenfrucht, deshalb auch die Marroni, früher im Tessin das Brot der Armen. Und passend zum Motto auch die Steinsuppe, eine Grünkern-Gemüsesuppe mit Brennesseln und eben – mit ein paar mitgekochten Kieseln. Der Tisch ist nicht mit weissem Stoff gedeckt, sondern mit einem Tischtuch aus Zeitungspapier, dazu gibts Ärmelschoner gegen die Druckerschwärze. In einer Ecke hat Gina Chiara die Geschichte der Steinsuppe aufs Papier geschrieben. Die Teller haben keinen Goldrand, es ist Bauerngeschirr, Einzelstücke. Und es gibt auch keine Gänge, es kommt einfach alles auf den Tisch. Empfangen werden die Gäste im Keller, wo Gina Chiara auch ihre Vorräte lagert. In der Ecke türmen

sich leere Gläser, in den Regalen hats Eingemachtes in vielen Farben: Grün, Orange, Rot, Gelblich. SüssSaures mit Essig und Zucker, heiss Eingefülltes, mit Salz und Öl Konserviertes. Gina Chiara mag den Anblick. «Es gefällt mir, mit den Farben zu spielen. Und die gefüllten Regale geben einem auch so etwas wie ein Gefühl von Sicherheit. Man weiss: Für die nächsten paar Tage hat man sicher noch etwas zu essen», schmunzelt sie. «Auch wenn man nicht am Hungertuch nagt und das überhaupt kein Thema ist! Aber irgendwo, weit drinnen, ist es wie eine Sicherheit.»

SCHMAUSEN UND SCHWELGEN Nach dem Apéro im Keller nehmen die Gäste am langen Tisch in der Stube Platz. Gina Chiara stellt das Menü vor und trägt auf. Und dann darf gegessen werden. Mit Genuss. Mit Appetit. Mit Neugier. Und am Schluss des Essens hat jeder und jede ihren persönlichen Favoriten.


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