Magazin #28 der Kulturstiftung des Bundes

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EVO LUT IO

LU TIO N

Nº 28 Frühling / Sommer 2017

RE R VON I L T ION LU UT O I V O E R RE V


»Die Rosse / Um derent­willen brennt das ­Welten­feuer / Die Rosse nennt der Philosoph ­Ideen« (Nikolaus Lenau)

Ein Bildessay von Alexander Kluge


Das Wort „Revolution“ liegt sperrig im Mund. Wenn sich das Datum der zwei russischen Revolutionen von 1917 – die vom ­Februar (wenig beschrieben) und die im Oktober (wie von Lava mit Propagandamaterial zugedeckt) – in unserem laufenden Jahr zum hundertsten Mal jährt, werden wir Grund haben, die „Grammatik der Revolution“ und deren ­Vokabular neu zu buchsta­bieren. Nachdem Friederike Tappe-Hornbostel uns nach einem Beitrag zum Stichwort Re­volution angefragt hatte, haben sich Christoph Menke und ich spontan zu einem Gespräch im Kulturmagazin 10vor11 bei RTL verabredet. Titel des Gespräches: Der lange Atem. Untertitel: Gute Revolutionen sind nicht unter 800 Jahren zu haben. Aus diesem Zusammenhang stammen die Bilder dieser Fotostrecke.


Zeitbedarf von revolutionären Bildungsprozessen Aus den Ardennen wanderte im Sommer 1790 der Hauslehrer Etienne Dreux, nachdem seine Herrschaft Schloss und Land verlassen hatte, nach Paris. Bald gründete er mit Geld, das er von einer Bank im Palais Royal geliehen hatte, ein Unterrichts­ unternehmen. Hier sollten Revolutionäre die Anfangs­gründe des Republikanismus lernen können. Mehrere Schulen dieser Art entstanden. Die Unterrichtenden wussten vom Gegenstand des Unterrichts nicht mehr als die Schüler. Es waren Attraktionsstätten des Wissens. Als die Revolution blutig wurde, gelang es Dreux, seine Unternehmen zu tarnen. Nach dem Thermidor sagte er sich: „Endlich kann ich mit voller Kraft und öffentlich meine Arbeit fortsetzen.“ Bildung wirkt langfristig. Die erste Generation von Junglehrern, die Dreux bei seiner Arbeit unterstützen konnten, war bis 1802 ausgebildet. Zu diesem Zeitpunkt gehörte die Schule schon wieder zum Untergrund, weil die Polizeiverwaltung des Ministers Fouché dem Lernen in Form unabhängiger Assoziation misstraute. So sind die Produkte freier, republikanischer Schulen erst fertig, wenn die Zeitgeschichte sie nicht mehr will oder braucht. Erst 1832 war wieder Verwendung für Republikaner. Da war Dreux ein alter Mann. Bisher hat keine Revolution auf unserem Planeten ihre Versprechen gehalten. Erinnern wir uns aber an die politische Erregung im November 1989 an den runden Tischen („so viel Anfang war nie“) oder an den Ausbruch des Protests in Berlin, Frankfurt, Paris und in Berkeley, der im Sommer 1967 begann. Oder denken wir an den „Arabischen Frühling“. Wolf Lepenies hat in einem eindrucksstarken Buch die lange Vorgeschichte und Beinahe-Chance der „Mittelmeer-Union“ beschrieben, der mög­lichen Schwester der EU. Hätte es eine solche stabile und von Frankreich geführte Struktur im Mittelmeerraum gegeben – was hätte dann aus dem „Arabischen Frühling“ werden können? Hätten wir auch dann den Flüchtlingsstrom aus dem 4 000 Jahre alten Land Syrien und das Elend von Aleppo vor Augen? „Die politische Kunst des Neuanfangs.“ Wir Menschen beherrschen diese Kunst ganz wenig. Wir stümpern. Dabei kommen wir aus einer Menschheitsgeschichte (das Humboldt Forum wird sie hoffentlich näher beschreiben) und aus einer Evolution, die an ungeplanten Projekten des Fortschritts, der Überraschung und der Anpassung unglaublich erfindungsreich und veränderungsstark ist.

Industrielle Revolution. Wir erleben zurzeit die vierte Stufe dieser Revolution, die digitale. Sie wälzt nicht nur die äußeren Verhältnisse von Wirtschaft und Gesellschaft um. Auch die Möbel in unserem Seelenleben, die Subjektivität, verändert sich in ­diesem Prozess.


Marsch Israels durch die Wüste. Das ist eine der frühen GESCHICHTEN VOM NEUANFANG. Israel verlässt Ägypten, wandert aus der Knechtschaft aus. Ein solcher EXODUS ist eine klassische Form des Neuanfangs, der Revolutionierung. Das Volk ­marschiert durch die Wüste 40 Jahre biblischer Zeit. Der Zeitraum bezieht sich auf 6 000 Jahre Geschichts- und Gotteszeit der alten Überlieferung, ist also, wenn wir die tatsächliche Evolutionszeit rechnen, deutlich länger. Diejenigen, die aufbrechen, werden das Gelobte Land nicht mehr erleben. Christoph Menke stellt diesen Exodus und den BUND, den die Menschen schließen, damit sie während der gemeinsamen Strapaze solidarisch bleiben, in den Zusammenhang des Revolutionsbegriffs.

Lenin und seine Frau Krupskaja. Kurze Sendepause nach revolutionärem Tagwerk. Auf der Gartenbank. Lenin in Revolutions­ jacke, nicht mit Weste und Krawatte wie noch in Zürich im Oktober 1917. Den Jackentyp hat Mao später übernommen. Man beachte das weiße, frischgestärkte, lockersitzende Kleid seiner Frau, die eine enge Freundin Clara Zetkins ist.


Verlässlich wird berichtet, dass Lenin in einer Straßenbahn am Vorabend der Oktoberrevolution zum Hauptquartier der Bolschewiki fuhr. Das schrottige Verkehrsmittel blieb zwei Stationen vor diesem Ziel stehen. Lenin auf seinem Sitzplatz hatte sein Gesicht mit einem Schal verdeckt, imitierte Zahnschmerz. Jetzt musste er laufen. Die erfolgreiche Machtübernahme, die während der Nacht stattfand, ereignete sich unspektakulär. Die alte Regierung im Winterpalast war schon nicht mehr tätig. Das Bild mit der Bezeichnung 1917 (oben) stammt aus weit späterer Zeit. Mit Kanone, übermannsgroßem, gepanzertem Fahrzeug, Massensturm und Untergang der Klassengegner. Ein Archäologe, der in den 100 Jahren der Russischen Revolution gräbt, muss die geologisch-politischen Schichten der Bilderwelt gut auseinanderhalten.

„Summer of Love“ nennt man den Sommer 1967. Auch in Kontrast zu dem Schuss, der den Studenten Benno Ohnesorg tötete. Die studentische Protestbewegung ist umrauscht von den Songs der Beatles.


„Bilder aus der Großen Französischen Revolution“. Zinnfiguren stürmen die Bastille.

Condorcet stürzt sich in die Wogen der Revolution Condorcet, den Jules Michelet den „letzten großen Philosophen des 18. Jahrhunderts“ nennt, Nachfolger von d’Alembert als Sekretär der Akademie der Wissenschaften, Briefpartner von Voltaire, dieser ernste Mann warf sich in die „Wogen der Revolution“. Zwei Jahre zuvor hatte er seine junge Frau Sophie geheiratet. Sie, eine geborene Grouchy, war 22 Jahre alt, 21 Jahre jünger als dieser Mann. Sie war bekannt geworden durch ihren Aufsatz Lettres sur la sympathie. Sie hatte Condorcet erklärt, als er um ihre Hand bat, „ihr Herz sei nicht mehr frei“. Sie sei unglücklich verliebt in einen Mann, der sie nicht wiederliebe. So lebten die zwei Condorcets zwei Jahre keusch, jeder in großer Achtung vor den Gefühlen des anderen. Dann aber, an jenem Julitage, an dem die Bastille fiel, in der gewaltigen emotionalen Aufregung des Moments, empfing Frau Condorcet ihr einziges Kind. Es wurde neun Monate später, im April 1790, geboren. Condorcet begann in dieser Zeit eine Art drittes Leben. Zunächst hatte er als Mathematiker gelebt (mit d’Alembert), dann als öffentlicher Kritiker (mit Voltaire), und nun „schiffte er sich ein auf den Ozean des politischen Lebens“. Dieser ernste Mann war voller Elan. Von ihm stammt der scharfsinnige Brief eines jungen Mechanikers. In der brisanten Frage, ob es eine Republik, eine ­konstitutionelle Monarchie (wenn ja, wie eingerichtet?) oder nur eine Modifikation der königlichen Ministerien geben solle, mischte er sich ein. Der junge Mechaniker verpflichtet sich in jenem Brief Condorcets, für ein geringes Entgelt einen ­KONSTITUTIONELLEN KÖNIG herzustellen, der bei gelegentlicher und sorgfältiger Reparatur sogar „unsterblich“ sein werde. Mit dieser Ausschmückung machte Condorcet sich bei den Jakobinern verdächtig, bei den Royalisten unbeliebt. Er machte sich kein falsches Bild von der Gefährlichkeit seiner Lage. Es war nicht abzusehen, welche der Kräfte in einem im Moment noch verharrenden Bürgerkrieg die Oberhand gewinnen würden. Später fürchtete er Folgen für seine Frau und das junge Kind, das Geschöpf der „heiligen Julitage des Jahres 1“. Er suchte heimlich nach einem Hafenort, von wo aus seine Familie f­ liehen konnte, und entschied sich für Saint-Valéry.


Die gesellschaftliche Veränderung erfasst die subjektive Seite. Genossen versuchen ihr Glück in Wohngemeinschaften. In Kalifornien brachte die Phase von 1968 die Blumenkinder hervor. Es sind die Urenkel dieser Blumenkinder, die heute im Silicon Valley an der digitalen Welt basteln.

„Le Parole in Libertà.” Das ist der Leitsatz der Futuristen. Von Dada später übernommen. Als Filmemacher fordere ich außerdem „Freiheit für die Bilder“. Bilder sind nicht Lastenträger für Medien, Werbung, Bedeutung und sogenannte „Handlung“. Sie sind autonome Lebewesen. Wie unsere Augen. Das digitale Zeitalter bringt eine Sintflut von Bildern mit sich. Ähnlich wie Gutenberg eine Sintflut von Pamphleten und Gedrucktem, die zu Hass und Religionskriegen aufriefen, mit sich brachte. Wo viel Wüste (viel Silikon in Chips) ist, braucht es Oasen.



Odysseus in den grünen Fluten des Mittelmeers. Am Ende seiner Odyssee findet der Held aber nach Ithaka an den Strand seiner Heimat zurück. Um diesen Odysseus geht es in Adornos und Horkheimers Standardwerk der Moderne Die Dialektik der ­Aufklärung.


11 Editorial Gedächtnis und Erinnerung auf der einen Seite, Vergegenwärtigung und Aktualisierung auf der anderen sind Schwung­ räder unserer Kultur. Das spiegelt sich auch in unseren Förderanträgen wider. In diesem Jahr häufen sich die Projekte und Veranstaltungen, die sich mit Aspekten der Russischen Revolution vor 100 Jahren beschäftigen. Was verbinden Kulturschaffende und insbesondere Künstler/innen mit dem Begriff der Revolution heute? Alexander Kluge, einer der kulturellen Protagonisten der revolutionären 68erGeneration in Deutschland, deutet ihn in seinem Bildessay auf charakteristisch eigensinnige Weise. Wir dürfen umso mehr gespannt sein auf die erste umfassende Ausstellung seines Werks im Museum Folkwang in Essen (S. 30). Mit dem nachgeborenen Philosophen Christoph Menke (S. 14) verbindet den Künstler, Filmemacher und Universalgelehrten Kluge die Auffassung, dass Revolutionen sich nicht durch eine ergebnisorientierte Überwindung auszeichnen, sondern durch langen Atem, Enthusiasmus und Idealismus, die sie brauchen, um ihr Potenzial zu entfalten. Wir freuen uns, dass die beiden Denker sich wechselseitig inspiriert haben, als sie erfuhren, dass sie beide zu unserem Magazin beitragen würden. Aus ihrer Zusammenarbeit ist ein Film entstanden, aus dem die hier gezeigten stills stammen. Beide nähern sich aus unterschiedlichen Perspektiven derselben Erkenntnis: ­Menke befindet, Revolutionen, die nur als v­ ergangene Ereignisse wahrgenommen werden, seien keine gewesen, und Kluge kommt zu dem Schluss, Revolutionen dauerten mindestens 800 Jahre. Auch die Reinszenierung des „Sturms auf das Winterpalais“, ein Bild, das im Nachhinein zur Ikone der Russischen Revolution wurde, lässt sich als ein Symptom der Vergewisserung über die Unabschließbarkeit von Revolutionen deuten. Der Sturm auf das Winterpalais wirkt nicht als historisches Ereignis fort, sondern als „idea­ lisches“ Bild, das den Enthusiasmus der Veränderung für einen Moment einfängt. Sylvia Sasse legt dar, wie eine theatrale Inszenierung das Erlebnis zu einem Ereignis schuf, das so nie stattgefunden, aber sich umso tiefer ins kollektive Gedächtnis gegraben hat (S. 16). Dass aus einem Re­enactment eine Ikone des Dokumentarischen vor der Erfindung der sozialen Medien, von Photoshop und Fakes werden konnte, erscheint von heute aus gesehen fast wie ein Wunder. Florian Ebner und Christin Müller geben einen Ausblick auf die Zukunft des Fotografischen in Zeiten von Viralität und digitaler Überbelichtung (S. 18). Warum sie von Revolutionen sprechen und sie gar erwarten, welche Rolle der Revolutionsbegriff in ihren Projekten spielt, haben wir den Künstler Milo Rau und die Kuratorin Claudia Banz (S. 20) gefragt. Dieselben

Fragen, sehr unterschiedliche Antworten, aber keine Angst davor, dass Revolutionen (ihre) Kinder fressen könnten. Eher scheint es so, als bräuchte, wünschte man Revolutionen herbei, um (ökologischen) Katastrophen begegnen zu können. Schließlich stehen uns drei avancierte Regisseur/innen des internationalen zeitgenössischen Autorentheaters Rede und Antwort auf Fragen nach dem Zusammenhang von Demokratie und Tragödie. Brauchen wir mehr oder weniger Emo­ tionen im Theater, der Kunst, in einer Zeit, in der demokratische Politik und Gesellschaft aus den Gefühlsbädern gar nicht mehr herauskommen? Die Spanierin Angélica Liddell, der Italiener R ­ omeo Castellucci und die Belgierin Anne-­Cécile Vandalem (S. 26) untersuchen in ihren beim FIND-­Festival der Berliner Schaubühne (S. 39) uraufgeführten Stücken die Krise der ­(europäischen) Demokratien im Medium tragischer Konstellationen und Formate. Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass auch die politische Lyrik wieder Aufwind bekommt. „Revolutionslyrik“ gibt es allerdings seit ihrem Abgesang (Heiner Müller, S. 23) im deutschsprachigen Raum nicht mehr und so etwas wie „Demokratie“ scheint sich hierzulande als poetischer Gegenstand (noch) nicht profiliert zu haben. Wir haben im fremdsprachigen Raum gesucht und sind auf dem afrikanischen Kontinent bei Philippa Yaa de Villiers („Demokratie“) und Iain EWOK Robinson („Revolution“) fündig geworden. Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz Vorstand Kulturstiftung des Bundes


12 Inhalt

AUS

WEITER

FERNE

Gegenüber Revolutionen müssen wir uns bekennen, sie verlangen von uns ein Ja oder Nein. Auch der Konterrevolutionär erkennt schließlich die Revolution an, indem er sie bekämpft. Wer den zwei Seiten einer Revolution gerecht werden will, wird ihr dadurch nicht gerecht. Das gilt auch noch heute, findet ­ Christoph Menke.

S. 14

Nach der Oktoberrevolution spielt das Theater eine wichtige politische Rolle. Keiner ist darin so erfolgreich wie Nikolaj Evreinov, Theatertheoretiker, Dramatiker und Regisseur, dem es mit seinem Sturm a­ uf das ­Winterpalais sogar gelingt, die Geschichte neu zu schreiben. Ein Essay von Sylvia Sasse.

S. 16

RETUSCHE = ATTACKE

DER

UNSTILL BARE

BILDER

HUNGER

Wenn viral gewordene Bilder unser Leben nicht mehr verlassen, wenn social bots Wahlen entscheiden, wenn das Löschen von Bildern heute wichtiger ist als das Hochladen, wenn die Apparate wissen, welche Bilder wir bevor­ zugen, dann erleben wir die Umwälzung aller Lebensverhältnisse, meinen die Kuratoren ­Florian Ebner und Christin Müller.

S. 18


13 Neue Projekte

ALLE

Angesichts von Klimawandel, Ressourcenverknappung und globalem Wett­bewerb ist die ­ Frage nach einer gerechten Verteilung der Güter und der Verhinderung des „Ökozids“ aktueller denn je. Der Theater­ regisseur Milo Rau und die Kuratorin Claudia Banz über die Möglichkeit einer „Revo­lution“ in einer Zeit, in der die Konturen der traditionellen revolutionären Figuren – Sklaven, Bauern, Proletarier – v­ erblasst sind.

S. 20

REDEN

WETTER

DEMO KRATIE UND

TRAGODIE GEDICHTE Heiner Müller: MÜLLER IM HESSISCHEN HOF Iain EWOK Robinson: Die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet Phillippa Yaa de Villiers: Regenkinder

S. 23, 24, 29 Gremien & Impressum

S. 42–43

VOM

Welche Krisen bedrohen unsere Gesellschaften und welche Möglichkeiten bleiben dem Einzelnen, sich in ihnen zu behaupten? Und welche Rolle spielen Emotionen bei der ­Bewältigung von Konflikten? Die Regisseurinnen Angélica Liddell (Spanien) und Anne-­Cécile Vandalem (Belgien) sowie ­Regisseur Romeo Castellucci (Italien) über krisenhafte Phänomene demokratischer Gesell­ schaften in ihren Inszenierungen.

S. 26

Jana Sterbak Life Size. Lebensgröße Duett mit Künstler_in Partizipation als künstlerisches Prinzip Alexander Kluge Pluriversum Karel Martens Einzelausstellung Desintegration. Radikale Jüdische Kulturtage Ein Berliner Herbstsalon Anne-Mie Van Kerckhoven What Would I Do in Orbit? FMP: The Living Music Ausstellung, Konzerte, Gespräche Große Erzählungen: 100 Jahre Kommunismus Kunstfest Weimar 2017 Zwischen Zonen Künstlerinnen aus dem arabisch-persischen Raum Megalopolis # 1 – Stimmen aus Kinshasa Deutsch-kongolesische Ausstellung The Long Now MaerzMusik – Festival für Zeitfragen Von da an Temporäre Wiedereröffnung des Städtischen Museums in Mönchengladbach Hello, Robot Design zwischen Mensch und Maschine Babelsprech. International Europäische deutschsprachige Dichtung Reading the Baltic Die Ostsee lesen ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln: Ton. Satz. Laut. Porträt der Komponistin Unsuk Chin Give Us Back Our Voice! Updating Asian Democracies Kult! Legenden, Stars und Bildikonen Herkunftssache Literarisch-künstlerische Zusammenkünfte Tucholskys Spiegel Uraufführung Liz Magor Ausstellung Shirin Neshat Frauen in Gesellschaft Oratorium Kollektive Andacht zu einem wohlgehüteten Geheimnis Stargaze presents: spitting chamber music Spoken Words Cohn Bucky Levy – Der Verlust Eine deutsche Familiengeschichte CLIFFDANCERS Oder was der zeitgenössische Tanz für ein junges Publikum von TV-Serien lernen kann Demokratie und Tragödie Festival Internationale Neue Dramatik 2017 Collective Ma'louba Interdisziplinäres Kollektiv für arabischsprachige Künstler von beiden Ufern des Mittelmeers Spurensuche: 100 Jahre Russische Revolution Russische Kulturtage in Freiburg 2017 Targeted Interventions Humanoide Wesen und Raketenobjekte Wunder der Prärie: Response Ability / Artfremde Einrichtung Ein Experiment für die Kultureinrichtung der Zukunft Open Border Ensemble Erweiterung des Schauspiel-Ensembles Verschwindende Vermächtnisse Die Welt als Wald

S. 30–41


14

AUS

WEITER

FERNE DIE GEGENWART DER REVOLUTION Christoph Menke


15 1. Gegenüber der Revolution gibt es schichtlichen Einstellung löst die Revo- in ihr etwas verwirklicht, das über ihn hiKants grundlegende Einsicht besagt, nur eine Haltung, die ihr gerecht wird. Das lution sich auf. Denn sie existiert nur in nausgeht. Der in die Revolution verwickel- dass die Revolution nicht aus den Taten ist die Haltung, die Kant (in Der Streit der der Gegenwart. te Teilnehmer dagegen steht in Gefahr, der Revolutionäre besteht. Die Revolution Fakultäten), am Beispiel der Französiseine Begeisterung zu verlieren. Er muss liegt vielmehr zwischen den Handelnden schen Revolution, die „Parteilichkeit“ gekämpfen: Er muss kalkulieren, verborgene und den Zuschauern; sie ist kein datiernannt hat. Gegenüber der Revolution gibt 2. Die Gegenwart der Revolution ist Absichten erspähen, Gefahren antizipie- bares und lokalisierbares Ereignis, sones keine Neutralität. Wie weit auch immer aber keine einfache, unmittelbare Anwe- ren, Strategien entwickeln, Taktiken er- dern ein Zwischenraum, ein Verhältnis. man von ihr entfernt sei – ob so weit ent- senheit. Es gibt sie nur für Zuschauer, sinnen und ausführen. Und er muss auf- Nur so, als dieses Verhältnis, gibt es die fernt, wie Kants Königsberg vom revolu- „die nicht selbst in diesem Spiele mit ver- bauen: Er muss Ordnungen erschaffen, Revolution. In diesem Verhältnis ist der tionären Paris liegt oder wie 2017 von 1917 wickelt sind“. So lautet die entscheidende neue Strukturen ausprobieren, dabei die Handelnde überdies zweimal da. In dem getrennt ist –, man kann zu ihr nur Ja oder Einsicht von Kant, die Judith Mohrmann vorhandenen Fähigkeiten mobilisieren, Verhältnis zwischen dem Handelnden und Nein sagen. Man begreift Ereignisse nur (in einer Studie über Affekt und Revolution) um die dringendsten Bedürfnisse zu be- dem Zuschauer (in dem die Revolution beals revolutionäre, wenn man zu ihnen und eindrücklich entfaltet hat. Gerade für den friedigen. Der verwickelte Teilnehmer an steht) spaltet sich das Handeln in sich: Der in ihnen Partei ergreift; für die „Spielen- in die Revolution bloß „Verwickelten“ der Revolution ist als ­Soldat und Organi- Effekt des Zuschauens ist die Spaltung des gibt es sie daher nicht. Die Re- sator gefordert. Lenins Schriften unmit- Handelns. Das revolutionäre Handeln erden auf einer Seite, gegen die volution ist nur so und dann telbar nach dem erfolgreichen Okto- scheint dem Zuschauer als doppeltes: ideauf der andern“ (Kant). Auch GEGENÜBER gegenwärtig, wenn die partei- ber-Aufstand, als es um die Sicherung des alisch und pragmatisch oder strategisch, der Konterrevolutionär anerDER liche Teilnahme an ihr sich in Erfolgs geht, zeigen das. Weiß er da über- begeistert und nüchtern oder kalkuliekennt daher die Revolution; REVOLUTION das tut er, indem er sie be- GIBT ES KEINE sich entzweit: in eine in sie haupt noch, dass er ein Revolutionär ist rend. kämpft. Eine Haltung, die bei- NEU­TRALITÄT. „verwickelte“ und in eine zu- – was es heißt, ein Revolutionär zu sein? MAN KANN den Seiten in einer Revolution schauende Teilnahme. Das Gerade der Revolutionär weiß nicht, was ZU IHR NUR – denn am Ende gibt es in eiSubjekt der Revolution ist in eine Revolution ist. Das weiß der Zu- 4. Im Jahr 1930 hat Dziga Vertov JA ODER NEIN ner Revolu­tion immer nur zwei Täter und Zuschauer gespal- schauer, der von ferne her – Kant in Kö- einen Film gedreht, in dem er die IndusSAGEN. Seiten – zugleich gerecht werten, die voneinander unter- nigsberg, Benjamin in Berlin, wir heute trialisierungs- und Kollektivierungsanden will, wird ihr dadurch geschieden sind und zugleich ei- – teilnimmt und dessen revolutionärer strengungen des ersten sowjetischen rade nicht gerecht. Die Haltung der ge- nander brauchen. Denn beide verbinden Wunsch an Enthusiasmus grenzt. Fünfjahresplans darstellt. Weil die Filmrechten Abwägung zwischen den beiden eine Stärke mit einer Schwäche; beide musik zum Großteil aus den Tönen und Seiten löst die Revolution auf: Gegenüber haben eine Stärke, die eine Schwäche, Geräuschen des industriellen Lebens im der Revolution ist die gerechte Haltung eine Schwäche, die eine Stärke ist. 3. Der in die Revolution verwickelte ostukrainischen Kohlerevier montiert ist, ungerecht. Die Schwäche – die zugleich ihre Teilnehmer braucht den Zuschauer, weil trägt der Film den Unter- oder Zweittitel So wie es in der Revolution nur zwei Stärke ist – der Zuschauer der Revolution dessen Enthusiasmus etwas erfährt und „Symphonie des Donbass“. Sein HauptParteien gibt, so kann es auch zur Revo- liegt darin, dass, so Kant, ihre „Teilneh- bestärkt, was dem Handelnden zu ent- titel aber ist Enthusiasmus. Dabei soll der lution nur zwei Haltungen geben. Die mung [eine] dem Wunsche nach“ ist. Wer gleiten droht. Kant nennt es das „Ideali- Film Enthusiasmus nicht nur wecken, eine Haltung ist die von Zhou Enlai, dem lesend, redend und debattierend in Kö- sche“ und bestimmt es als die Idee einer sondern zeigen (oder Enthusiasmus wePremierminister der Volksrepublik Chi- nigsberg an der Revolution in Frankreich Rechtsordnung, die die Revolutionäre cken, indem und weil er ihn zeigt): Der na, der auf Richard Nixons Frage, was er teilnimmt, tut dies nicht durch eigene Ta- deshalb etablieren wollen, weil Film zeigt die Begeisterung von der Französischen Revolution halte, ten, die in dem „Spiele großer Umwand- sie ihnen „selbst gut zu sein der revolutionären VerändeIN SEINER geantwortet haben soll: It is too early to tell lungen“ vor Ort wirksam wären. Er tut dünkt“. Die Begeisterung der WÜNSCHENDEN rung. Er zeigt die Begeiste– es ist zu früh, um das zu sagen. Für dies nur dem Wunsche nach; der Wunsch Zuschauer der Revolution ist TEILNAHME IST rung, die in der Veränderung Zhou Enlai ist die Revolution der Kampf nach Teilnahme ist eine Teilnahme im ihre „Teilnehmung am Guten DER ZUSCHAUER selbst wirksam und anwesend BEGEISTERT ist. Die revolutionäre Veränder Parteien, den es immer nur jetzt, in Wunsch. Und das gilt ebenso für diejeni- mit Affekt“; sie bekundet das ÜBER DIE derung ist begeisternd, weil sie der Gegenwart, gibt: Dieser Kampf hält gen, die in Frankfurt und Berlin 1967 Gute der Revolution. Braucht REVOLUTION, begeistert ist. noch an, wir kämpfen ihn noch. Das ist ­lesend, redend und debattierend an die Revolution also deshalb WEIL SICH Dabei versteht Vertov die die politische Haltung; sie bezeugt die den Revolutionen in Sankt Petersburg enthusiastische Zuschauer, um IN IHR ETWAS revolutionäre Veränderung Revolution, indem sie in ihr Partei er- 1917/18, in Kuba 1958, in China 1949 und an das Gute zu erinnern, für VERWIRKLICHT, greift. Sie steht immer in der Revolution. 1966 teilnehmen. Sie wünschen sich nicht dessen Verwirklichung sie anso, wie Lenin sie, vor allem DAS Die andere Haltung zur Revolution nur teilzunehmen; sie nehmen teil, indem getreten ist und das die Revonach dem Oktober 1917, imÜBER IHN lutionäre, die in die Kämpfe des mer wieder beschrieben und hat exemplarisch Alexis de Tocqueville sie wünschen. HINAUSGEHT. Aber diese Schwäche der zuschauen- Tages, die Mühen der Ebene, gefordert hat: nicht als den formuliert. Er sah sich fünfzig Jahre danach der Revolution „fern genug“, um im den Teilnahme ist zugleich ihre Stärke. verwickelt sind, vergessen zu haben spektakulären Coup der Erstürmung des distanzierten Rückblick „erkennen“ zu Denn es gibt keine wahre Teilnahme an scheinen? Sind die Zuschauer die Idea- Winterpalais’, den Eisenstein zum zehnkönnen, was sie in Wahrheit gewesen ist: der Revolution, die nicht eine Teilnahme listen, die die Revolutionäre nicht blei- jährigen Jubiläum reinszeniert hat, son„die Vollendung der langwierigsten dem Wunsche nach ist. Die Revolution ben konnten? Ist es das Privileg der Zu- dern als die langandauernde, mühselige ­Arbeit, der plötzliche und gewaltsame zu wünschen, ist keine defizitäre Einstel- schauer, sich die idealische Haltung Arbeit der Umgestaltung der VerhältnisAbschluss eines Werkes, an dem zehn lung, die durch den Übergang zu wahrer bewahren zu können, die im Handeln se (am wichtigsten der Arbeit selbst). Die ­Menschenalter gearbeitet hatten“ – die Praxis, tatkräftigem Eingreifen, aktivem nicht realisierbar ist? Wäre es so, dann Revolution, so wissen Lenin und Vertov, Stifterin der Ordnung, die unsere gewor- Engagement zu überwinden wäre. Es gäbe es keine Revolution. Denn die Re- findet nicht als einmaliger Akt statt. Die den ist. Während der chinesische Kom- kann gar keine Verwirklichung der Revo- volution ist die idealische Tat: Sie tut das Revolution ist ein langdauernder Prozess (ob sie deshalb auch ein permanenter Promunist in der Gegenwart der Revolution lution geben, die nicht der Wunsch nach Gute (oder sie ist gar keine Revolution). Dazu muss das revolutionäre Han- zess ist, ist der Streit mit Trotzki). Um lebt, ist sie für den bürgerlichen Libera- der Revolution, die Revolution im Wünlen immer schon vergangen. Die liberale schen, ja der Wünsche ist. Die Revolution deln beides sein: idealisch wie die zu- „die Wirtschaft des Landes möglichst Haltung ist: Die Revolution gab es ein- zu machen heißt nicht, den Wunsch zu schauende Teilnahme, realistisch wie die rasch zu heben“, schreibt ­Lenin im April mal. Der Liberale schaut auf die Revolu- erfüllen und in die Tat aufzulösen, vom tätige, verwickelte. Die Begeisterung der 1918 über Die nächsten Auf­gaben der Sowjettion zurück als ein vergangenes Ereignis. Wunsch zur Tat überzugehen. Zuschauer über die Revolu­ macht, ist es nötig, nach der „Verrohung“, Damit sagt er aber nichts anderes, als Das ist ein Fetischismus der ES GIBT KEINE tion ist keine Projektion, kei- „Ver­ wilderung“, „Verzweiflung“ und ne Begeisterung nur über sich „gegenstandslosen Erbitterung“ durch dass es die Revolution nicht gibt. Praxis. Die parteiliche TeilWAHRE Während der chinesische Kommunist nahme an der Revolution aber selbst, Begeisterung über die den Krieg und den ­folgenden Umsturz TEILNAHME die Revolution vergegenwärtigt (und sich muss Teilnahme in der Form eigene Begeisterung. Sondern „einen vollständigen Umschwung in den AN DER REVOLUTION, darin politisch verhält), besteht die des Wünschens sein. sie entdeckt etwas im Handeln Stimmungen der Masse und ihren ÜberDIE NICHT EINE ­Haltung des bürgerlichen Liberalen da­ der Revolutionäre, das ihnen gang zu einer richtigen, ausdauernden Kant sagt auch, weshalb TEILNAHME rin, sie zu historisieren. Die Revolution das so ist: weil die „Teilnehselbst zumeist verdeckt und disziplinierten Arbeit herbeizufühgilt ihm als Vorgeschichte. Das heißt, er mung dem Wunsche nach“ DEM WUNSCHE bleibt: dass das revolutionäre ren.“ Die erste Aufgabe der revolutionäNACH IST. macht aus dem revolutionären Wandel eine ist, „die nahe an EnthusiHandeln selbst ein „Handeln ren Macht ist die „Disziplin“: die Disziein evolutionäres Geschehen, das sich asm“ grenzt. Die wünschende aus Enthusiasmus“ (Mohr- plinierung des Arbeitens und der Arbeiter. seit langem („zehn Menschenalter“!) und Teilnahme des nicht direkt in das revolu- mann) ist. Die Begeisterung der ZuschauVertovs Film zeigt, wie das geschieht. wie von selbst vollzogen hat; niemand hat tionäre Spiel verwickelten Zuschauers er über die Re­volution erschließt die Das heißt, er zeigt, wie sich die Disziplies getan. Selbst (und gerade) die Revolu- grenzt an Enthusiasmus. Enthusiasmus ist ­Begeisterung der Handelnden in der Re- nierung der Arbeit als revolutionärer tion, die ihn hervorgebracht hat, erklärt Begeisterung durch etwas Großes, Über- volution: die Be­geisterung, ohne die ihr ­Prozess vollzieht. Was bei Lenin nur eine der Liberalismus zu einem Ding der Ver- schreitendes – durch eine Idee. In seiner Handeln kein r­ evolutionäres wäre und die Behauptung bleibt – dass die Diszipliniegangenheit; zu etwas, das im Augenblick wünschenden Teilnahme ist der Zuschau- sie zugleich, notwendigerweise, verges- rung der Arbeit durch die Sowjetmacht zugleich den befreienden „Bruch mit der seines Vollzugs schon verging. In der ge- er begeistert über die Revolution, weil sich sen, ja unterdrücken.


16 verfluchten Vergangenheit“ bedeutet –, wird bei Vertov gezeigt und damit wirklich. Das Versprechen der Revolution lautet, dass es zwischen der alten, kapitalistischen und der neuen, revolutionären Disziplinierung der Arbeit tatsächlich einen Unterschied gibt. Lenin kann nicht erklären, worin der besteht. Vertov zeigt es an der Form des Trainings, des Lernens und Übens, durch das sich die Disziplinierung vollzieht. In einer entscheidenden Szene des Films werden Komsomolzen, ungelernte Freiwillige, für die harte Arbeit des Kohleabbaus untertage trainiert. Vertov zeigt die Übungen, in denen sie die dafür nötigen Fähigkeiten erwerben, als ein Ballett der Bewegungswiederholungen, die in ihrer Endlosigkeit auch ihr Ziel zu vergessen scheinen. Das rein ­Mechanische der Einübung von sinnloser Disziplin kippt in die Zweckfreiheit des Spiels. In einem Moment werden Disziplin und Slapstick ununterscheidbar (vielleicht mochte Chaplin auch deshalb diesen Film so sehr). Vertov zeigt, was Kleist beschrieben hat: dass die Mechanisierung befreien kann. Die Revolution besteht nicht in dem umwälzenden Akt, dem Moment der Anarchie, in dem die alte Ordnung ihren Kopf verliert. Sie besteht aber auch nicht in der effektiven Gründung einer neuen Ordnung, über deren Sta- REVOLUTIONEN, bilität und Geltung wir ver­DIE VER­ gessen können, durch welGANGEN, DIE NUR EIN che Schrecken sie etabliert wurde. Die Revolution be- ERGEBNIS DER steht in der Veränderung VERGANGEN­ HEIT SIND, des Lebens in dem, worin SIND KEINE. es am unfreiesten ist: im Leben als diszipliniertem Tun, als ­Arbeit. Die Revolution verändert es nicht, ­indem sie es abschafft; ohne Disziplinierung – Abrichtung, Übung, Prüfung – gibt es gar keine Fähigkeiten und daher auch kein Handeln. Die Revolution verändert das Üben selbst: Sie macht es zu einem Vollzug, der begeistert, weil er spielerisch ist. Oder lebendig (denn Begeisterung, Enthusiasmus, heißt Belebung, animation). Die Existenz selbst vergangener Revolutionen hängt also von uns ab, die – und wie – wir sie erinnern. Denn Revolutionen, die vergangen, die nur ein Ereignis in der Vergangenheit sind, sind keine. Um Revolutionen gewesen zu sein, brauchen sie Zuschauer in der Gegenwart, deren Teilnehmung dem Wunsche nach an Enthusiasmus grenzt. Dieser Enthusiasmus ist kein blinder, dummer Überschwang der Gefühle. Er ist oder bestimmt eine „Denkungsart“ (Kant). Dem Wunsche nach an der Revolution teilzunehmen heißt ein anderes Denken zu praktizieren. Es ist die Veränderung des Lebens im Denken: im Denken, immerhin im Denken, in der Haltung. Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Kap. II.6 ­Judith Mohrmann, Affekt und Revolution. Politisches Handeln nach Arendt und Kant, Frankfurt am Main/New York 2015

Der Philosoph und Germanist Christoph Menke (*1958) hat seit 2009 den Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main inne und leitet dort das Forschungsprojekt „Normativität und Subjektivität“. Menke veröffentlichte u. a. zu Recht und Gewalt (Berlin 2011) und zur Kraft der Kunst (Berlin 2013). Zuletzt erschien von ihm im Suhrkamp Verlag Kritik der Rechte (2015). Im Heft 794 (2015) der Zeitschrift Merkur veröffentlichte Menke einen Artikel über „Die Möglichkeit der Revolution“.

RETUSCHE = ATTACKE ODER: WIE GESCHICHTE DURCH THEATER REPARIERT WURDE Sylvia Sylvia Sasse Sasse Das Theater spielt in den Jahren nach der Oktoberrevolution in den Künsten die wohl wichtigste politische Rolle. Als Massentheater hat es die Aufgabe, Geschichte neu zu schreiben. Das ist ­Nikolaj Evreinov, Theatertheoretiker, Dramatiker und Regisseur, mit dem S ­ turm a ­ uf das ­Winterpalais auf einmalige Weise ­ge­lungen.

Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Revolution und niemand macht ein Foto. So ungefähr könnte man das Dilemma der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution von 1917 umreißen. Wie wichtig Fotografien, die den Beginn einer neuen politischen Ära festhalten, für die Gründungserzählung eines Staates oder einer Präsidentschaft sind, zeigte zu Beginn dieses Jahres die absurde Debatte um die Fotos von Donald Trumps Inauguration in Washington. Trump wäre vermutlich froh gewesen,

hätte man – wie bei der Oktoberrevolution – keine Fotos gemacht. Denn diese zeigten bloß, dass im Unterschied zu früheren Amtseinführungen nur wenige Zuschauer gekommen waren. Trump erklärte die Fotos im Nachhinein zu Fake-Fotos, weil sie dokumentierten, was er nicht sehen wollte. Vom Beginn der Oktoberrevolution, dem Sturm auf den Winterpalast, existiert bis heute tatsächlich nur ein Fake-Foto, das erstaunlich lange dokumentarische Glaubwürdigkeit für sich beanspruchte. Es ist seit­ ca. 1922 tausende Male vervielfältigt worden, taucht in ­sowjetischen Geschichts­büchern, in vietnamesischen, tschechischen und jugoslawischen Schul­büchern auf, ist zum Motiv auf Briefmarken und Buchcovern geworden und verziert seit 1947 sogar einen Teller aus Meissner Porzellan.


17 Das Foto zeigt jedoch nicht die historische Erstürmung des Winterpalastes in Petersburg, sondern dessen theatrale Wiederholung – 1920, zum dreijährigen Jubiläum der Oktoberrevolution in Petrograd am Origi­ nalschauplatz. Leiter des Regiekollektivs war Nikolaj ­Evreinov, ein Theatertheoretiker, Dramatiker und Regisseur, der vor der Revolution Bücher geschrieben hatte wie Theater für sich (1915) oder Theater als solches (1912) und mit der Revolution eigentlich nichts am Hut hatte. Evreinov hatte gemeinsam mit seinen Koregisseuren innerhalb von drei Monaten eine Inszenierung mit 10.000 Akteuren und 100.000 Zuschauern auf die Beine gestellt, die auf zwei von Jurij Annenkov konstruierten Bühnen, einer roten und einer weißen, gespielt wurde. Gezeigt wurde der Weg zur siegreichen Revolution, die Formung eines revolutionären Kollektives aus der ungeordneten Masse der Arbeiter und die Auflösung des Zusammenhalts der zunächst geordneten Provisorischen Regierung unter Kerenskij. Es war ein Kostümfest, fern von revolutionärer Ästhetik. Revolutionär war lediglich, dass Evreinov die Verwandlung der Zuschauer in Akteure als theatral-politische Botschaft begriff. In einer Rede bei der Probe richtete er sich in diesem Sinne an die Masse und rief: „Die Zeit der Statisten ist vorbei“.1 Während die Zeit vor der Revolution zwischen Februar und Oktober auf der Bühne theatral dargestellt wird, wird die entscheidende Revolutionsszene, der Sturm auf den Winterpalast, als realistisches Reenactment konzipiert. Allerdings als ein falsches Reenactment, als eines ohne Original. Denn es war Evreinovs Masseninszenierung, die den Mythos vom Sturm auf das Winterpalais als riesiges Spektakel erst schuf und dafür auch die Bilder lieferte. Den realen Sturm hatte niemand aufgenommen und er war auch nicht besonders spektakulär. Heute weiß man, dass der Winterpalast kaum verteidigt wurde: Nur ein Dutzend Offiziersschüler, einige Kosaken sowie ein Trupp bewaffneter Frauen, das sogenannte Todesbataillon, standen am Abend des 7. November dort bereit. Die Provisorische Regierung im Winterpalais war nur noch durch wenige Minister vertreten und hatte bereits kapituliert. Als in der Nacht zum 8. November ein paar Rotgardisten und Matrosen durch das Hauptportal marschierten, fielen nur wenige Schüsse, die Minister warteten in einem Kabinett der 2. Etage auf ihre Verhaftung. Für die künftige sowjetische Geschichtsschreibung dienten die Aufnahmen des Spektakels ab 1922 als Dokument des historischen Ereignisses. Das Sturmfoto erscheint 1922 erstmals in dem Band 5 Jahre Sowjetmacht mit dem Untertitel: Attacke auf den Winterpalast. Auch eine erste Retusche ist schon gemacht: Die Zuschauer, die auf der rechten Seite standen, sind wegretuschiert. Wenig später wird auch in der Mitte des Fotos etwas wegretuschiert und unsorgfältig übermalt. Aus Evreinovs Aufzeichnungen wissen wir, das dort die Kommandobrücke der Regisseure stand: „eine aufragende Bude (so hoch wie ein einstöckiges Haus), ausgerüstet mit einer ganzen Reihe von Telefonen und Signal­ hupen“.2 In den russischen Archiven ist das Foto mal unter dem Stichwort Revolution, mal unter dem Stichwort Evreinov abgelegt. Es ist immer das gleiche retuschierte Foto, abgelegt als Original, während das Original selbst in den Archiven von Petersburg, Moskau bis nach Minsk nicht aufzutreiben war. Das nicht retuschierte Foto mit Zuschauern und der Kommandobrücke d ­ er Regisseure erscheint nur 1926 in einem Buch des a­ merikanischen Soziologen René Fülöp-­Miller, der 1920 in Petrograd die Geschehnisse beobachtet hatte. Besonders ausgeklügelt ist die Inanspruchnahme des Bildes als historisches Dokument in einem 1971 erschienenen Fotoband mit dem selbstentlarvenden Titel Geschichte wird mit dem Objektiv geschrieben (Istorija pišetsja ob''ektivom), der vom bekannten sowjetischen Journalisten Leonid Volkov-Lannit herausgegeben wurde. In diesem Band wird sogar ein angeblicher Fotograf mit Namen Ivan Kobozev präsentiert, der erzählt, wie er dieses Foto in den Morgenstunden des 8. November geschossen habe.

Ob Evreinov bewusst war, dass er mit dem Massen-­ spektakel die Geschichtsschreibung aufpolierte, lässt sich nicht rekonstruieren. Es ist aber nicht anzunehmen. In seinen Erinnerungen an das Massenspektakel macht er immer wieder darauf aufmerksam, dass es sich um eine historische Rekonstruktion des Sturms handle. Evreinov schreibt, dass unter denjenigen, die in der Nachstellung auf das Palais stürmten, solche waren, die 1917 am Sturm auf den Winterpalast bereits teilgenommen hatten oder die damals als Personal der Kerenskij-Regierung im Winterpalast arbeiteten. Diese wenigen Zeugen der Revolution hatten eine wichtige Funktion: Sie sollten das theatrale Ereignis beglaubigen, so dass die Zeugen der theatralen Veranstaltung auch zu Zeugen am historischen Ereignis werden konnten. So konnte das theatrale Ereignis das historische ­Ereignis substituieren. Folgt man Evreinovs Theater­ theorie, so könnte ein solcher Schluss der Substitution ­tatsächlich auch konzeptuell naheliegen. 1920 verfasst Evreinov eine Art Manifest im Journal Žizn’ iskusstva (Das Leben der Kunst), das den programmatischen ­Titel „Theatertherapie“ („Teatroterapija“) trägt. Theatertherapie meint bei Evreinov, dass der Mensch durch das Theaterspielen im Alltag aus seinem gewohnten Leben herausgerissen wird und dadurch eine Verwandlung erleben kann, die eine therapeutische Wirkung hat. Das Theater könne so jene Situationen, die der Mensch im realen Leben nicht erleben konnte, ersetzen. Damit entwickelt Evreinov eine Therapie, die nicht wie bei Freud auf Wiederholung, sondern auf ­Ersatz basiert. Während Freud dem Patienten in der ­talking cure erlauben wollte, „einen der heißesten Wünsche der Menschheit“ zu erfüllen, nämlich „etwas zweimal tun zu dürfen“,3 also im Grunde ein therapeutisches imaginäres Reenactment zu vollziehen, wird Evreinovs Therapiekonzept allein durch die Möglichkeit zur Verwandlung durch den ausgelebten Instinkt zum Theater-Spielen erreicht. Die Evreinov’sche Theatertherapie richtet sich deshalb nicht wie bei Freud auf das Begehren, etwas zweimal tun zu dürfen, sondern auf das vielleicht noch „heißere“ Begehren, etwas überhaupt er­ leben zu dürfen, auch wenn dieses Tun nur im Spiel erfolgt. Das heißt auch, dass Evreinov gar kein Ereignis benötigte, auf das sich die „Rekonstruktion“ bezieht, das Theater war aus seiner Perspektive in der Lage, die mit einem solchen Ereignis verbundenen Erlebnisse zu schaffen. Evreinovs Sturm auf den Winterpalast hatte damit eine sowohl kollektiv wie auch individuell substituierende Funktion. Es sollte für die Akteure das historische Ereignis für die künftige kollektive Erinnerung, die die individuelle korrigiert, herstellen. Ganz in diesem Sinne schreibt Evreinov in seinen Erinnerungen, dass es darum gehe, den „erhabenen Moment“ der Geschichte in eine „authentische und erhabene Aufführung“ zu „übertragen“, die, im Unterschied zum wiederholten Ereignis, selbst unwiederholbar sein soll.4 Evreinov will also das historische Ereignis mit dem Theater noch überbieten. So können die Zeitzeugen das Ereignis künftig so erinnern, wie es die Geschichtsschreibung von ihnen verlangen wird. Und die Theaterzeugen werden in Zeitzeugen verwandelt. Das historische Nichtereignis wurde quasi durch das Theater für die, die es nur aus der Überlieferung kannten, in eigenes Erleben verwandelt und für die anderen, die es bereits erlebt hatten, repariert. 1 Nikolaj Evreinov, „Vzjatie Zimnego Dvorca“, o.D., 11. 2 Ebd., 11. 3 Sigmund Freud, „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“, in: ders., Gesammelte Werke in achtzehn Bänden mit einem Nachtragsband. Nachtragsband, Frankfurt a.M. 1987, 81–95, hier 93. 4 Evreinov, „Vzjatie“, 1.

Sylvia Sasse studierte Slawistik und Germanistik in Konstanz und St. Petersburg. Nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten an verschiedenen I­nstituten wurde sie 2009 als Professorin für Slawistische Literaturwissenschaft an die Universität Zürich berufen. ­Aktuell forscht sie zur Interferenz von Literatur und Recht, Konzepten des Auswegs und Performance Art in Osteuropa.

Sturm ­auf das ­Winterpalais Forensik eines Bildes

2017 jährt sich die Oktoberrevolu­ tion zum 100. Mal. Die Ausstellung im Hartware MedienKunstVerein widmet sich aus diesem Anlass jener Fotografie, die wie keine andere zum Symbolbild der Revolution geworden ist: dem „Sturm auf das Winterpalais“. Das Foto ist allerdings nicht etwa 1917 entstanden, sondern erst drei Jahre später – und dokumentiert damit nicht das historische Ereignis selbst, sondern ist Teil eines theatralischen Reenactments, mit dem 1920 der Theaterregisseur ­Nikolaj Evreinov beauftragt wurde. Zum dritten Jahrestag der Revolution sollte die Einnahme des Winterpalais, die real nie so stattgefunden hat und damit auch nicht fotografiert werden konnte, publikumswirksam nachgestellt werden. Das Projekt des HMKV unternimmt eine „Forensik des Bildes“: Es präsentiert mit ca. hundert Fotos und zwei Filmen alle erhalten gebliebenen Aufnahmen des Reenactments von 1920 und zeigt, wie das inszenierte Foto von der sowjetischen Geschichtsschreibung in Bildbänden, Zeitungsreportagen und Schulbüchern zum historischen Dokument gemacht wurde. Gleichzeitig rekonstruiert das P ­ rojekt die Aufnahmesituation der ­Bilder in einem bewegten 3-D-­Modell, das deren Künstlichkeit aufzeigt. Mittels Oculus-Rift-Brille wird das Reenactment in einer Virtual Reality zugänglich und lässt erahnen, wo Kameras platziert waren oder Regieanweisungen gegeben wurden. Der Regisseur und Reenactment-Spezialist Milo Rau, die russische Künstlergruppe Chto Delat und der amerikanische Appropriationskünstler „Walter Benjamin“ sind eingeladen, neue Arbeiten zu den Themen ­Geschichte, Erinnerung, Reenactment und Wiederholung zu produzieren. Die Inszenierung der Oktoberrevolution durch die ­ polnische Künstlergruppe Orange Alternative von 1988 und Werke der Künstlerin Christina Lucas sowie des Filmregisseurs Peter Watkins ergänzen die Ausstellung. Kuratorinnen: Inke Arns, Sylvia Sasse (CH) Künstler/innen: Walter Benjamin (US), Chto Delat (RU), Nikolaj Evreinov (RU), Waldemar Fydrych (PL), Cristina Lucas (ES), Milo Rau (CH), Peter Watkins (UK) Gessnerallee, Zürich: 1.9.–31.10.2017; ­Dortmunder U, Ebene 6, Dortmund: 25.11.2017–8.4.2018; Muzeum Sztuki, Lodz: 30.11.2017–28.1.2018 www.hmkv.de


18 Wenn die viral gewordenen Bilder unser Leben nicht mehr verlassen, wenn die social bots Wahlen entscheiden, wenn das Löschen von Bildern heute wichtiger ist als das Hochladen, wenn wir die Ver­ werfungen unserer Zeit nur noch als meme ertragen können und wenn die Apparate wissen, welche Bil­ der wir bevorzugen, dann erleben wir die Umwäl­ zung aller Lebensverhältnisse.

Teilen, Liken, Filtern und Samplen sind inzwischen alltägliche Handgriffe, die mit dem Fotografieren automatisch verknüpft sind. Wir zeichnen nicht mehr nur Ferienerlebnisse und Familienfeste auf. Wir fotografieren alles, immer und überall, suchen mit Bildern Partner, Häuser, Kleidungsstücke aus und bewerten mit einem Fingertippen Nachrichtenbilder und politische Inszenierungen. Mit dem nächsten Klick schicken wir diese einmal um die Welt und erhalten als Antwort ein Bild, das manchmal einfacher aufgenommen oder ausgesucht ist, als ein Satz formuliert, und in seiner Wirkung eine andere Wucht entfalten kann. Während sich im Privaten ein fast hemmungsloser Bilderrausch etabliert hat, wird die Kontrolle politischer Bilder und öffentlicher Datenströme immer ausgefeilter. Es sind Fragmente einer neuen Sprache, deren Umgangsformen sich gerade erst entwickeln und ausgehandelt werden. Mit Revolutionen gingen stets neue Bilder und Codes einher. Die Ikonen der alten Ordnung wurden vom Sockel ge­stoßen und die Bildnisse der zukünftigen Machthaber durch die Straßen und neuerdings durch digitale Kanäle getragen. Nicht selten gehen von ihnen auch Revolutionen aus. „The Revolution will be Flickr­ ized“ , schreibt der ägyptische Aktivist Hossam el-Hamalawy im Mai 2008 auf seinem Blog arabawy und ruft dazu auf, Bilder von Demonstrationen und sozialen Unruhen auf digitalen Plattformen und sozialen Netzwerken zu verbreiten – dies anlässlich des im Westen kaum wahr­genommenen Aufstandes in Mahalla al-­Kubra im vorrevolutionären Ägypten, drei Jahre vor Ausbruch des „Arabischen Frühlings“. Heute ist die Euphorie über diese im Zeichen der Freiheit genutzten Kanäle dahin. Die dunkle Seite des Internets und der Bilder, ihre Gewalt­ ausbrüche und propagandistischen Instrumentalisierungen, die unendliche Kommerzialisierung und die exzessive Speicherung von Nutzerdaten geraten mehr und mehr in den Fokus. Wir leben in einer täg­lichen, fließenden Dialektik zwischen d ­ emokratischer Artikulation und Überwachung, Mitbestimmung und Exhibitionismus. Was ist innerhalb dieser schleichenden Digitalisierung eigentlich mit den Bildern passiert? Bereits in den 1990er Jahren wurde angesichts der Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung, dem direkten Eingriff in die DNA der Bilder, vom „Tod der Fotografie“ gesprochen. Heute wird mehr fotografiert als je zuvor, der fotografische Prozess innerhalb der Kamera hat sich jedoch grundlegend gewandelt. Software-Entwickler erhöhen etwa die Bildqualität von Smartphone-­Kameras nicht nur über eine Weiterentwicklung der Linse. Die Berührung des Auslösers, die klassische Aufnahme, ist nur noch Ausgangsmoment für die weiteren algorithmischen Prozesse, welche das Bild erst zu Ende rechnen. Die Aufnahme wird mit den Bilddaten abgeglichen, die sich in unserem Smartphone, in unserer Cloud oder den sozialen Netzwerken befinden und mit uns in Verbindung stehen. Über diesen Abgleich der Bilddaten generiert der Algorithmus das neue Bild. Die Kamera einer ­numerischen, auf Algorithmen basierenden Bildverarbeitung – die „computational photography“ – ist kein Aufzeichnungsgerät mehr, Hito Steyerl bezeichnet so generierte Fotografie als „social projector“, als ein Projektionsapparat der Gesellschaft, über den das visuelle Begehren und die kommerziellen Interessen unserer Gegenwart sichtbar werden. Vielleicht führt die „computational photography“ technologisch auf radikale Weise etwas zu Ende, was beim Entstehen einer Fotografie und unserem Gebrauch der Bilder bereits an­ gelegt war. Hier sei Alfredo Jaars Postulat von 2013 ­erwähnt, der ein altes Sprachspiel zur Diagnose des

Mediums erhob: „You do not take a photograph, you make it“ – auf einem Poster verwies er darauf, wie viel die Fotografie als vermeintlicher Wirklichkeitsverweis mit ­Konstruktion zu tun hat. Wenn technische Aufnahmeprozesse, öffentliche Bilderströme und unser eigener Umgang mit fotografischen Medien in so hohem Maße konstruiert sind, ist dann auch die Fotografie postfaktisch ­geworden? Oder war sie es nicht schon längst, war ihr „Gemachtsein“ schon immer abhängig von dem Gebrauch und den Kontexten, in denen sie zu sehen war? Gerade jetzt ist ein guter Zeitpunkt, das Feld der Fotografie neu abzustecken, so dass die Brüche und Kontinuitäten sichtbar werden. Farewell Photography ­lautet der Titel der ersten Biennale für ­aktuelle ­Fotografie, die in der Nachfolge des ­Fotofestivals MannheimLudwigshafen-­Heidelberg steht. Doch wie kann man sich einen „Abschied von der Fotografie“ als „aktuelle Fotografie“ vorstellen? Der Widerspruch wird produktiv, wenn wir verstehen, von welchen Formen und ­Vorstellungen des Fotografischen wir ­Abschied nehmen und Vorläufer und zu­künftige Entwicklungen der aktuellen Bildpraktiken betrachten. Allein der Begriff des Fotografischen kennt viele Definitionen und Ausdeutungen. So ließen sich zum Beispiel darunter jene spezifischen Qualitäten und Sichtweisen verstehen, die über das Medium selbst hinausweisen und die unsere Wahrnehmung, unsere Berichterstattung, aber auch die Künste der Moderne revolutioniert haben. Da ist die Bedeutung der Spur, etwa einer Geste auf der Leinwand oder Licht auf Papier, oder auch die Zeugenschaft eines Geschehens, die visuelle Archivierbarkeit von Welt, nicht zuletzt die Art und Weise, wie sich individuelle und kollektive Erinnerung über Bilder konstituiert. Was bleibt von all dem, was folgt dem Fotografischen in Zeiten der totalen digitalen Überbelichtung? Farewell Photography – den Titel der Biennale haben wir Daido Moriamays inzwischen legendärem Buch entliehen. Mit den dort 1972 versammelten Fotografien brach er mit Bildkonventionen und Erzählstrategien von Fotobüchern, seine Fotos schienen auf nichts zu verweisen als auf sich selbst, ein Art Degré zéro, eine Endstufe der Fotografie … und doch ging es weiter. Dieser Rückverweis beschreibt unsere methodische Herangehensweise: Mit zeitgenössischen Arbeiten und ­punktuell platzierten historischen Bildern wird der gegenwärtige Diskurs um das Medium aufgefächert und nach den Bildern gefragt, die uns aktuell beschäftigen. Es ist diese dialektische Figur von Analyse und Empathie, die sich durch die unterschiedlichen Kapitel ziehen wird. In diesem Sinne versteht sich die Biennale als eine Bestandsaufnahme der aktuellen Bilder, fern jeglicher Nostalgie, aber getragen von einer gewissen Zuneigung zur Fotografie. Dieser Umbruch ist als eine Chance zu begreifen, die Fotografie einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen. Wenn wir es versäumen, frisst die Revolution ihre Kinder. Florian Ebner leitet seit 2012 die F ­ otografische Sammlung des Museum Folkwang in Essen. Christin Müller arbeitet als freie K ­ uratorin und Autorin für ­Fotografie in ­Leipzig. Gemeinsam haben sie die künstlerische ­Leitung der ersten Biennale für ­aktuelle Fotografie 2017 inne und ­kuratieren seit 2015 die Ausstellungs- und ­ Publikationsreihe with/against the flow. Zeitgenössische Fotografische Interventionen.

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NGER Ebner und Christin Müller

Farewell ­ hotography P Biennale für aktuelle Fotografie

Im Zentrum dieser kommenden Biennale steht die Frage nach den großen ­Umbrüchen und Veränderungen in der ­zeit­genössischen Bildkultur. An sieben Ausstellungsorten in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg und im öffentlichen Raum thematisieren Kuratoren und Künstler Fragen nach Materialität und Verfasstheit, nach Nutzungs- und Erscheinungsformen und nicht zuletzt nach dem aktuellen gesellschaftlichen Potenzial der Fotografie. Der Titel Farewell ­Photography markiert dabei den Abschied vom Analogen, denn längst leben wir schon im Zeitalter der „networked images“ oder der „algorithmic images“, in dem Algorithmen und Programme die Erscheinungsformen, Orte und Verbreitung von Fotografie organisieren und beeinflussen. In den Präsentationen der sieben beteiligten ­Institutionen werden junge zeitgenössische, oft digitale Bildproduktionen und historische Positionen gegenübergestellt. Mehr als sechzig interna­ tionale Künstler/innen zeigen zum Teil eigens für die Biennale entwickelte Arbeiten. Der Stadtraum wird mit künstlerischen Interventionen und performativen Formaten bespielt. Eine umfangreiche Website soll die Debatten und Ergebnisse öffentlich zugänglich machen. Künstlerische Leitung: Florian Ebner, Christin Müller Kurator/innen: Fabian Knierim, Boaz Levin (IL), Kerstin Meincke, Kathrin Schönegg Künstler/ innen: Rosa Barba (IT), Natalie Bookchin (US), Kilian Breier, Harun Farocki (CZ), Arno Gisinger (AT), Simon Gush (ZA), Alfredo Jaar (CL), Sven Johne, Katia Kameli (FR), Eva und Franco Mattes (US/IT), Arwed Messmer, Peter Miller (US), Naeem Mohaiemen (BD/ US), Pétrel I Roumagnac (duo) (FR), Willem de Rooij (NL), Belit Sağ (NL/ TR), Andrzej Steinbach (DE/PL), Wolfgang Tillmans u. a. Beteiligte Institutionen: Kunsthalle ­Mannheim, Zephyr – Raum für Foto­ grafie, Port 25 Mannheim, Wilhelm-­ Hack-Museum, Kunstverein Ludwigshafen, Sammlung Prinzhorn, Kunstverein Heidelberg: 9.9.–5.11.2017 ↗ www.biennalefotografie.de


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ALLE

REDEN VOM

WETTER Fragen an Milo Rau und Claudia Banz

„Alle reden vom Wetter. Wir nicht“ war ein von der Deutschen Bahn gekaperter Slogan der 68er-Bewegung – wer vom Wetter redet, rede unmöglich von Politik, so die Annahme damals. Die revolutionär gestimmten Studierenden wollten statt vom banalen Wetter von Marx, Engels, Lenin reden. Heute muss man sich nicht mehr entschei-

den. Wetter und Klima sind politisch geworden, fordern radikales Umdenken heraus. Angesichts von Klimawandel, Ressourcenverknappung und globalisiertem Wettbewerb ist die Frage nach einer gerechten Verteilung der Güter und der Verhinderung des „Ökozids“ aktueller denn je. Wir haben den Theaterregisseur Milo Rau und die Ku-

ratorin Claudia Banz im Zusammenhang ihrer von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekte gefragt, wie sie sich heute eine „Revolution“ vorstellen, in einer Zeit, in der die Konturen der traditionellen revolutionären Figuren – Sklaven, Bauern, Proletarier – verblasst sind. Wer also sind die neuen Revolutionäre?


21 BRAUCHT ES EINE AVANTGARDE DER KÜNSTLER UND WISSENSCHAFTLER, DIE DIE REVOLUTION ANSTOSSEN, BEVOR SIE VON DER MASSE GETRAGEN WIRD? ­ Milo Rau: Das ist ein altes Problem. Und ich fürchte, es ist kaum zu umgehen. Denn die Vorbedingung jeder Revolution in einer Gesellschaft ist die Entwicklung eines neuen Bewusstseins ihrer selbst. Revolutionäre sind die Imaginatoren dieser anderen Wirklichkeit, sie wecken die Vorstellungskraft dessen, was fehlt. Das können sie nur tun, indem sie austreten aus dem Innenraum der Gesellschaft. Inwiefern dieser Austritt gelingt oder scheitert, ob man also zu Recht oder Unrecht von Avantgarde sprechen kann, zeigt sich erst von ihrer Wirkung her. In einer Gesellschaft, die die jetzige Wirklichkeit als Realität im vollen Sinn anerkennt, finden solche Imaginationen kaum Anhänger. Wird die bestehende Wirklichkeit aber als mangelhafte oder leere Realität erfahren, ist ihre Wirkung stark; vorausgesetzt, dass sie sich einigermaßen auf der Höhe der wichtigsten politischen, ökonomischen und sozialen Probleme bewegen. Oder anders gesagt: Es ist entscheidend, welche Gedanken, Symbole, Bilder, Organisationsformen usw. im Moment eines in Massenprotesten sich entladenden Unmuts zur Verfügung stehen und von einer Bewegung als die ihren erkannt werden.

Claudia Banz: An die Stelle der Avantgarde ist heute die Generation der Maker getreten, die sich selbst als Pioniere und Protagonisten revolutionärer Entwicklungen verstehen. Die Masse ist zur sogenannten Crowd mutiert. Die Crowd ­ wiederum formiert sich über die Kommunikationskanäle der neuen Medien, adressiert bestimmte Anliegen, engagiert sich oder protestiert, löst sich wieder auf, um sich aus neuem Anlass wieder neu zu formieren. Die Maker sind Bestandteil der Crowd, in der die Grenzen gesellschaft­ licher Schichten oder Klassen ebenso ­ aufgehoben sind wie unterschiedliche ­Bildungsgrade. Das Konzept der Wissenselite als primärer Motor revolutionärer Bewegungen hat dadurch an Bedeutung verloren.

WER IST DAS REVOLUTIONÄRE SUBJEKT UND WIE MUSS MAN SICH EINEN ­ GLOBALEN KLASSENFEIND VORSTELLEN? Milo Rau: Das revolutionäre Subjekt ist immer der Dritte Stand. Es sind jene Menschen, die nicht repräsentiert sind, die nicht mitbestimmen können, die in der herrschenden Ordnung untervertreten oder überzählig sind. Aber um eine größere Anzahl von ihnen als revolutionäres Subjekt bezeichnen zu können, müssen sie sich von einer fremdbestimmten, meist seinsbezogenen, zu einer selbstbestimmten, interessenbezogenen Einheit wandeln. Nur ein solches Bündnis macht die Überzähligen zu einer Überzahl, die ins Zentrum der Macht drängen kann. Die Ausrichtung auf ein solches Zentrum ist ein zweites konstitutives Element des revolutionären Subjekts. Daher steht es heute immer vor dem Paradox, dass es das politische System, das es ablehnt, zugleich verteidigen muss. Denn dieses wird vom ­„globalen Klassenfeind“ zunehmend unterhöhlt und entmachtet – von jenen einflussreichen Unternehmern, Managern, Politikern, Reichen und Kriminellen, deren Ziele und Interessen in so vielem konträr zu jenen des Dritten Standes stehen. Wo dieser Sichtbarkeit, Einbindung und Verantwortlichkeit anstrebt, tun jene alles dafür, unsichtbar, losgelöst und unbelangbar zu sein. Drittens kann es ein revolutionäres Subjekt nur als ästhetisches Subjekt geben, weil es ein besseres Bild von sich und der Welt haben muss, als es die bestehende Wirklichkeit hergibt. Und nur dieses Bild des Besseren bewahrt das revolutionäre Subjekt davor, aus Neid und Vorurteil zu handeln.

Claudia Banz: Das revolutionäre Subjekt versteht die Welt als formbares Projekt und sucht nach konstruktiven Strategien der Verbesserung oder Reparatur. Zu den aktuellen Praktiken, die Eigenlogik und Dynamik der neoliberalistischen Ökonomie und deren Macht- und Wertesystem zu unterlaufen, zählen Do it Yourself, Do It With Others, Commoning oder Open S ­ ource. Entscheidend ist, dass das revolu­ tionäre Subjekt von heute nicht für eine utopische Zukunft agiert, ­sondern konkrete Lösungen für das Hier und Jetzt entwickelt. Aus den leitenden Prinzipien der Selbstorganisa­ tion, Selbstermächtigung und Eigeninitiative werden neue Formen politischen Handelns abgeleitet. Der Ausweg aus der vorherrschenden Krise wird nicht länger im Individuum, sondern eher im Sozialen gesucht. Die Kritik der Klassengesellschaft und damit verbunden die Definition eines globalen Klassenfeinds stehen nicht auf der Agenda.

General Assembly Generalversammlung / Assemblée Générale

Hundert Jahre nach der Oktoberrevolution fragt das Projekt General Assembly, wer heute, im Zeitalter der Globalisierung, die „Bürger und Bauern“ der F ­ ranzösischen, die „Proletarier“ der ­Russischen Revolution sind. Die General Assembly versammelt Abgeordnete aus der ganzen Welt, die all jene repräsentieren sollen, die von der deutschen Politik betroffen sind, jedoch kein politisches Mitspracherecht besitzen. In der Tradition der „Assemblée Générale“ der Französischen Revolution gibt die General Assembly dem globalen Dritten Stand eine Stimme. Das Projekt von Milo Rau und dem International Institute of Political Murder entwirft ein Weltparlament für eine universell gedachte demokratische Bewegung, die der Macht von Großinvestoren, Konzernen und supranationalen Organisationen entgegenwirken kann. In drei Plenarsitzungen fragen 120 Abgeordnete, wo wir als Weltgemeinschaft stehen und was zu tun ist – sozial, ökologisch, technologisch, politisch. Was bedeutet politische Souveränität im Zeitalter der Globalisierung? Wie verhalten sich die I­nteressen der Weltbevölkerung zu den ­demokratischen Prinzipien der Nationalstaaten? Wessen Forderungen nach Unabhängigkeit, Würde und Glück können zu den Forderungen der ganzen Menschheit werden? Die General Assembly will den ­An­liegen von Geflüchteten, Arbeitsmi­g­ranten, Textil- und Minenarbeitern, ­Kleinbauern, Kindern, aber auch nichtmenschlichen Akteuren wie Tieren, Pflanzen und Dingen Gehör verschaffen. Die Tagung des Weltparlaments mündet in der Verabschiedung einer „Charta für das 21. Jahrhundert“. Im Vorfeld erscheint ein Essayband zum Projekt. Eine Website begleitet die sechstägige Veranstaltung mit einem Live-Stream, Analysen sowie Statements der Abgeordneten in Deutsch und Englisch und dient als künftiges ­Archiv. Sämtliche State­ ments werden am Wochenende der General Assembly in verschiedenen Theatern, Universitäten und politischen Einrichtungen in Deutschland und weltweit als Video-­ Installation zu sehen sein. Konzept und Regie: Milo Rau (CH) Recherche und Dramaturgie: Eva-Maria Bertschy (CH), Stefan Bläske, Mirjam Knapp, Rolf Bossart (CH) Bühne und Ausstattung: Anton Lukas Produktionsleitung: Mascha Euchner-­Martinez, Eva-Karen Tittmann ­Mitwirkende: Armen Avanessian (AT), John Holloway (IE), Wolfgang Kaleck, Robert Misik (AT), Chantal Mouffe (BE), Harald Welzer, Jean Ziegler (CH) Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin: 2.–5.11.2017 www.international-institute.de


22 Food Revolution 5.0 Gestaltung für die Gesellschaft von morgen

Essen ist ein soziales Totalphänomen: Es bedeutet Leben, stiftet Identität, prägt soziale Codes und Werte. Kochen war eine der ersten kulturellen Handlungen des Menschen. Lebensmittel und ihre Zubereitung dienen längst nicht nur der Ernährung, sondern immer mehr auch dem Lifestyle. Gleichzeitig gehören Agrarwirtschaft und gegenwärtige Nahrungsproduktion zu den Hauptverursachern des Klimawandels. Wie sieht die Zukunft unserer Ernährung aus angesichts schwindender Ressourcen und globalisierter Nahrungsproduktion? Wie kann eine rasant wachsende Weltbevölkerung im Einklang mit dem Ökosystem Erde ernährt werden? Was bedeutet ethischer Konsum? Diesen Fragen widmet sich die Ausstellung „Food Revolution 5.0“ im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg und stellt Visionen von internationalen Gestaltern, Wissenschaftlern und Architekten zum Thema vor. In Zusammenarbeit mit dem niederländischen Designstudio Makkink & Bey entsteht die Schau als multidisziplinäres Laboratorium zur Zukunft des Essens aus globaler Perspektive. Eine Ausstellungsdramaturgie mit den vier Stationen Farm – Supermarkt – Küche – Tisch visualisiert den Nahrungskreislauf von der Ressource bis zu ihrem Verbrauch. Fotografen beleuchten die Praktiken der industriellen Landwirtschaft, Designer entwickeln neue Varianten des Urban und Indoor Farming oder verzehrbare Verpackungen. Martí Guixé inszeniert Nahrung als einzig reales Ding in einer digitalisierten Welt, Itamar Gilboa bildet seinen Essensverbrauch eines Jahres in Porzellan ab. Werner Aisslinger entwirft eine Küche als Biotop, in der nicht nur gekocht, sondern auch angebaut wird. Chloé Rutzerveld produziert „gesunde Häppchen“ mit dem 3-D-Drucker und Martin Parr zeigt Großaufnahmen ordinärer Speisen aus industrieller Produktion, wie sie seit zwanzig Jahren rund um die Welt auf den Teller kommen. Ein fünfter Raum bündelt die Rechercheergebnisse und dient als partizipativer Ort für Workshops, Lectures, Performances und Filmvorführungen. Künstlerische Leitung: Claudia Banz Ausstellungsgestaltung: Studio Makkink & Bey (NL) Künstler/innen: Werner Aisslinger, Arabeschi di Latte (IT), Dunne & Raby (GB), Faltazi (FR), Martí Guixé (ES), Paul Gong (US), Honey & Bunny (AU), Martin Parr (GB), Chloé Rutzerveld (NL), Andrea Staudacher (CH), Marjie ­Vogelzang (NL) Museum für Kunst und Gewerbe, ­Hamburg: 19.5.–8.10.2017 www.mkg-hamburg.de

KANN SICH DIE REVOLUTION DES 21. JAHRHUNDERTS NOCH AUF EIN (IDEAL-)BILD VOM NEUEN MENSCHEN BERUFEN, WIE DAS DIE RUSSISCHE REVOLUTION GETAN HAT? Milo Rau: Das Wort Revolution bezieht sich emphatisch auf die Menschen als bedürftige, nach Anerkennung und Freiheit strebende Wesen. Ohne diesen alten Begriff vom Menschen macht es keinen Sinn, von Revolutionen zu sprechen. Daher können Revolutionen, die diesem Menschen aufhelfen wollen, die ihm die Würde, ein Subjekt zu sein, wiedergeben wollen, eigentlich nur soziale Revolutionen sein. Prophezeiungen von sozialrevolutionären Effekten technischer Innovationen lösen sich regelmäßig in Luft auf. Denn obwohl sie heute immer mehr unser gesellschaftliches Dasein bestimmt, kann die Technik nur wenig zu sozialen Fortschritten beitragen, da diese nach wie vor über die gerechte Verteilung der Güter, die Fähigkeit zur Liebe und das Ausbalancieren von Kräfteverhältnissen zustande kommen. Um hier Verbesserungen zu erzielen, reichten schon in der Sowjetunion die Fünfjahrespläne nicht aus und heute weder Datenmengen noch Logistik. Vielmehr braucht es soziale Fantasie, gesellschaftliche Wunschbilder und kollektive Vorstellungskraft, um sozialen Fortschritt im Hinblick auf einen „neuen Menschen“ in Gang zu bringen. Revolutionen starten daher immer mit symbolischen Neugründungsakten des Zusammenlebens.

Claudia Banz: Es gibt weder die eine große Revolution, noch gibt es das Idealbild des Menschen. Angesichts des Klimawandels, schwindender Ressourcen und der negativen Folgen der Agrarindustrie sowie der Konsumgesellschaft sollten künftige Revolutionen vielmehr von einem holistischen Weltbild ausgehen, dass nicht nur den Menschen, sondern auch Natur und Tiere fokussiert sowie den von Menschenhand geschaffenen Dingen eine neue Wertigkeit beimisst.

WIE MUSS MAN SICH EINE REVOLUTION VORSTELLEN, DIE DIE ÖKOLOGISCHE ­KATASTROPHE VERHINDERN WILL? Milo Rau: Das ungehemmte kapitalistische Gewinnstreben und die globalisierte Wettbewerbsgesellschaft bedeuten zusammen das baldige Ende der Erde, wie wir sie ­kennen. Die Erde zu retten und gleichzeitig daran zu verdienen funktioniert ebenso wenig wie die sogenannten Energie­ wenden, die vor allem auf technische I ­nnovationen setzen und nicht auf die Revolutionierung der menschlichen Lebens- und Wirtschaftsweise. Selbst­verständlich ist es sinnvoll, Elektroautos, Meerwasser-­ entsalzungsanlagen und Solarzellen zu bauen, aber das alles stößt an Grenzen und wo man etwas gewinnt, verliert man andernorts wieder etwas. Ohne dass die reichere Hälfte der Menschheit ökonomische Strukturen schafft, die die Macht der Konzerne radikal einschränken und die Ohnmacht der armen Menschen bricht, gibt’s daher keinen Ausweg aus dem Ökozid. Die Ökologie ist daher – nicht anders als das Problem der sozialen Gerechtigkeit – aufzufassen als eine simple Frage der Macht beziehungsweise von Gewalt und Verschonung. Schon immer war die Macht, die tat, was sie konnte, eine vernichtende Macht. Nur die Macht, die sich beschränkt und nicht alles tut, erhält das Leben. Erst die Mutter, die nicht alles fordert, erst das Geld, das nicht alles kauft, erst die Technik, die nicht alles anwendet, erst die Regierung, die nicht alles ausbeutet, ist gut. Wir brauchen keine Reservate für die Natur oder für die Menschen, wir brauchen Reservate für den Kapitalismus.

Claudia Banz: Solch eine Revolution besteht aus vielen verschiedenen Teilrevolutionen: Sie umfasst den Ausstieg aus der ­ stetigen Wachstumsspirale und Produktivitätssteigerung, sie befördert die Erforschung und nachhaltige Nutzung alternativer Ressourcen, sie zielt auf eine neue ­Werteordnung und ein neues Konsumver­ halten ab, sie bewirkt eine neue Wertschätzung der Dinge, sie lässt die Vision der Postwachstumsgesellschaft, die Ideale einer Welt der Commons Wirklichkeit werden. Vor allem führte diese Revolution zu einer radikalen Transformation der aktuellen Lebensmittelproduktion (die die industrielle Landwirtschaft mit einschließt) sowie unserer Ernährungsgewohnheiten. Die Fragen stellten Friederike Tappe-­ Hornbostel und Therese Teutsch

Der Regisseur und Autor Milo Rau leitet die Theaterund Filmproduktionsgesellschaft IIPM – International ­Institute of Political Murder, die er 2007 gründete. Claudia Banz ist Leiterin der Sammlung Kunst & ­Design am Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.


23 Heiner Müller MÜLLER IM HESSISCHEN HOF Im Hotelrestaurant die Unschuld der Reichen Der gelassene Blick auf den Hunger der Welt Mein Platz ist zwischen den Stühlen Mein Traum Die faltige Kehle der Witwe vom Nebentisch Aufzuschneiden mit dem Messer des Kellners Der ihr den Lammrücken vorschneidet Ich Werde auch diese Kehle nicht aufschneiden Mein Leben lang werd ich nichts dergleichen tun Ich bin nicht Jesus Der das Schwert bringt Ich Träume von Schwertern Wissend länger als ich Wird die Ausbeutung dauern an der ich teilhabe Länger als ich der Hunger der mich ernährt Der Schrecken der Gewalt ist ihre Blindheit Und die Dichter ich weiß es lügen zu viel Villon konnte das Maul noch aufreißen Gegen Adel und Klerus er hatte kein Bett keinen Stuhl Und kannte die Gefängnisse von innen Brecht schickte Ruth Berlau nach Spanien und schrieb In Dänemark DIE GEWEHRE DER FRAU CARRAR Gorki während er zweispännig durch Moskau fuhr Haßte die Armut WEIL SIE ERNIEDRIGT Warum Nur die Armen Majakowski hatte sich schon Mit dem Revolver zum Schweigen gebracht Die Lügen der Dichter sind aufgebraucht Vom Grauen des Jahrhunderts An den Schaltern der Weltbank Riecht das getrocknete Blut wie kalte Schminke Der schlafende Penner vor ESSO SNACK&SHOP Widerlegt die Lyrik der Revolution Ich fahre im Taxi vorbei Ich kann es mir Leisten Benn hatte gut reden Er hat Mit seinen Gedichten kein Geld verdient und wäre Krepiert ohne Haut- und Geschlechtskrankheiten In der Nacht im Hotel ist meine Bühne Nicht mehr aufgeschlagen Ungereimt Kommen die Texte die Sprache verweigert den Blankvers Vor dem Spiegel zerbrechen die Masken Kein Schauspieler nimmt mir den Text ab Ich bin das Drama MÜLLER SIE SIND KEIN POETISCHER GEGENSTAND SCHREIBEN SIE PROSA Meine Scham braucht mein Gedicht Frankfurt, 3.10.1992

Heiner Müller (*1929 in Eppendorf, Sachsen) war einer der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem war er Lyriker, Prosa-Autor und Essayist. Müller äußerte sich in zahlreichen Interviews zum Zeitgeschehen, mit ­Alexander Kluge führte er seit 1989 regelmäßig Gespräche, die im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Heiner Müller starb am 30. Dezember 1995 in Berlin. Das hier abgedruckte Gedicht stammt aus: Heiner Müller, Werke. Herausgegeben von Frank Hörnigk, Band 1, Die Gedichte © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1998


24 Iain EWOK Robinson DIE REVOLUTION WIRD NICHT IM FERNSEHN GESENDET die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet, sie kommt gleich auf DVD die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet DOCH schnurlos via Bluetooth hast du Zugriff auf was Wahres oder lädst dir ein Soundbyte von der Website die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet DOCH auf Myspace kannst Du dich deinen Feinden stellen nachdem der Plan auf Facebook ausgeheckt und hochgekocht ist DENN das Problem ist offenbar und wir ham das Werkzeug da yeah die Macht ist zu haben für mich und dich ich kann sie dir runterbrechen per mxit Nein, die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet DOCH hier gibts ne Eintrittskarte zur Vorschau auf die Streikrechtvergabe Es wird nicht im Fernsehn gesendet sondern kommt sofort ins Kino scharf und laut in Surround Sound die Revolution ist so zentral, die braucht Dolby Digital, und ihre Fakten füllen das Imax Nein, die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet sondern gleich auf der großen Leinwand dir stehts frei abzuhaun, wenn der Surrounding Sound zu sehr reinhaut und du dem Einwand deiner Eingeweide kleinlaut beigibst die Revolution wird nicht im Fernsehen ausgestrahlt es sei denn, dass du pro Einschalten zahlst sonst kriegst du nichts als eine kleine Auswahl als Köder eine Revolution im Miniformat ein schneller Blick, falls es nichts ist, kriegst du nur eine Ersatzversion der Subversion Revolutionäres Fernsehn wirst du niemals sehn aber den Krieg kannste gewinnen auf Playstation 10 mit der verbesserten Option für den Profiplayer: abgekämpft zwischenspeichern, später weiterkämpfen werden die Revolution nicht im Fernsehn senden aber du kannst dir die Miniserie in der 36er Box holn jede Episode ein Zehntel der vollen 360 wähle dein persönliches Revolutionssegment überspringe Szenen, die dich ärgern, verstimmen oder befremden du kannst direkt die Resolution der Revolution anwählen und auf der Suche nach einem, der schuld ist, dass dus nicht mitkriegst schau dir das Ende nochmal an und überprüfe die Credits


25 die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet nur exklusiv als Online-Publikation zum Download kommender Episoden bei gleichzeitiger Realtime-Version werden die Revolution nicht im Fernsehn senden aber als Performance auf spezielle Parties oder dem Pflaster vor dem Markt der Nische programmieren doch leine sie besser wieder an bevor sie sprechen lernen kann die Revolution wird nicht im Fernsehn gesendet ohne zuvor eine Serie Werbeartikel zu bewerben als Preis für die Wahl von Riesenburger und Fries das hübsche Bild, das deine Augen betändelt wird nicht als Revolution gesendet es wird eine Version der Revolution angemessen plagiiert fürderhin subventioniert und unmittelbar publiziert kann nicht gesendet werden wird nicht gesendet bevor man sie nicht korrekt durchkommerzialisiert oder auf Kundenprofile hin optimiert die Revolution wird im Fernsehn nicht live gesendet stattdessen wird die Revolution im Fernsehn gesendet nachdem sie verendet

Aus dem Englischen von Monika Rinck Iain EWOK Robinson (*1981 in Durban, Südafrika) ist Spoken-Word-Dichter, Graffitikünstler, Musiker und Aktivist. In ­seinen Bühnenshows kombiniert er Hip-Hop, Dichtung und Elemente des klassischen Theaters. Er hat mehrere Musikalben ­koproduziert und zwei Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt Pimp My Poetry (Echoing Green Press, 2010). Das hier abgedruckte G ­ edicht erschien in ­seiner ­englischen Originalfassung zuerst in Word: Customized Hype (Echoing Green Press, 2007).


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DEMO KRATIE UND

TRAGODIE Angélica Liddell, Romeo Castellucci Angélica Liddell, Romeo Castellucci und Anne-Cécile Vandalem und Anne-Cécile Vandalem


27 Das Festival für Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Berliner Schau­ bühne am Lehniner Platz widmete sich in seiner diesjährigen Ausgabe (30.3.–9.4.2017) dem Thema „Demo­ kratie und Tragödie“(S. 39). Die Tra­ gödie, eigentlich eine antike Form, überlieferte die Auffassung, dass der Mensch in konfliktive Situationen ge­ raten könne, die ihn zum Handeln zwingen, und er sich gerade dadurch schuldig mache. Durch Mitleid, Furcht und Schrecken über die auf der Bühne dargestellten Handlungen sollten sich die Bürger bzw. Zuschauer von ihren eigenen, verdrängten Affekten befrei­ en. Wie sieht das heute aus? Welche Konflikte ergeben sich in demokrati­ schen Gesellschaften und welche Möglichkeiten bleiben dem Einzelnen, sich in i­hnen zu behaupten? Welche Rolle spielen Emotionen bei der Bewäl­ tigung ­von Konflikten, mit welchen ar­ beiten Künstler und zu welchem Zweck? Formal und ästhetisch stehen die zum Festival eingeladenen Regis­ seurinnen und Regisseure mit ihren unterschiedlichen Regiehandschrif­ ten exemplarisch für die Vielfältigkeit des inter­nationalen Gegenwartsthea­ ters. Wir haben drei von ihnen – Angélica Liddell (Spanien), Romeo Castellucci (Italien) und Anne-­Cécile Vandalem (Belgien) – befragt, wie sie im Medium ihrer Stücke und Inszenierungen kri­ senhafte Phänomene demokratischer Gesellschaften bearbeiten.

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ANGÉ­LICA LIDDELL Die Demokratie ist im klassischen Sinne ein Glücksversprechen für eine größtmögliche Zahl von Individuen. Der „Gesellschaftsvertrag“ von Rousseau, den Sie in Ihrem Werk „Toter Hund in der chemischen Reinigung: Die Starken“ ausführlich zitieren, versteht sich als Ausdruck des „Gemeinwillens“ eines Volkes. Dieser zielt auf den „öffentlichen Nutzen“ und das „Gemeinwohl“ ab. Er muss von allen Bürgern ausgehen und auch für alle gelten. Gleichzeitig produziert die Demokratie systematisch Ausgeschlossene. Ist die aktuelle Krise der Demokratie Konsequenz einer „Rebellion der Ausgeschlossenen“? Liddell: Die Krise der Demokratie ist keine direkte Folge von rebellierenden Ausgeschlossenen, sie ist eine Konse-

quenz der Unempfänglichkeit von ­Mehrheiten für die Rebellion der Ausgeschlossenen. Denn das Problem der Demokratien sind genau die Mehrheiten, die nicht „das Wohl aller“ berücksichtigen, und das ist der kritische Punkt: Was ist heute das „Gemeinwohl“? Die Demokratie verrät sozusagen das Gemeinwohl zugunsten einer zahlenmäßigen Mehrheit ohne jegliche ethische Qualität. Die Gefahr kann von den Mehrheiten ausgehen, das steht in direktem Widerspruch zu den demokratischen Idealen, aber es ist ein Widerspruch, der ebenfalls seinen Ursprung in einem freien Akt hat. Das heißt, damit die Mehrheiten sich nicht in eine Gefahr, in eine Bedrohung verwandeln, müssen die Demokratien in eine solide Bildung investieren. Die Bildung sollte die Grundlage einer gesunden Demokratie sein. Ihr Stück weist historische Bezugspunkte auf, so zum Beispiel die Philosophie Diderots und, wie schon erwähnt, Rousseaus. Zugleich sind das Stück und seine Figuren in einer dystopischen Welt angesiedelt, die uns vielleicht noch bevorsteht, in einer Art Science-Fiction. Wieso haben Sie sich für ein Szenario der Vergangenheit sowie der Zukunft entschieden und vermeiden somit die konkrete Gegenwart oder eine realistische, zeitgenössische Welt? Liddell: Diese „Polit-Fiction“ („política ficción“) rührt von einem „prophetischen“ Willen her. Wir brauchen Prophezeiungen, und das Zukunftsgenre eignet sich perfekt dafür, die Katastrophen der Menschheit vorauszusagen. Die in der Zukunft angelegte Polit-Fiction erlaubt es einem, gegebene Situationen auf die Spitze zu treiben, bzw. die extremen Konsequenzen der Gegenwart vorauszusagen. Die Werke, die Sie zitieren, stammen von den Protagonisten der Aufklärung – eine Epoche, in der die Suche nach der Wahrheit im Zentrum des Denkens stand. Was geschieht mit den politischen Ideen und Visionen dieser Autoren in unserer Zeit, die oft als „postfaktische“ Ära bezeichnet wird? Liddell: Die Wahrheit darf nicht dem Diktat der Aufklärung unterworfen werden. Die Aufklärung unterwarf den Geist einem System von Schemata, die das transzendente Leben komplett ausrotteten – bis zu dem Punkt, dass wir uns einer politischen Definition des Menschen in allen seinen Facetten unterworfen fanden: seiner spirituellen Erfahrung fremd, fremd der irrationalen Seite, die zu ihm gehört, abgeschnitten von seinen Leidenschaften. Die Aufklärung hat letztlich die Herrschaft der Korrektheit errichtet, gegen die sich selbst Foucault und andere zeitgenössische Denker zur Wehr ­setzen mussten. Letztlich hat die Aufklärung Korrektheit mit Ausdruck verwechselt. Welche Bedeutung kommt den Emotionen im Theater heute in diesen „postfaktischen“ Zeiten zu? Sollen wie in der griechischen Tragödie die Gefühle von „Mitleid und Furcht“ geweckt werden? Oder sollen wir uns von diesen Gefühlen befreien (beides sind Optionen, je nach

Übersetzung der berühmten Passage von Aristoteles Poetik)? Braucht es we­ niger oder mehr Emotionen? Liddell: Ich denke, wir müssen sogar noch über die Gefühle hinausgehen. Wir müssen in Berührung mit unserer wahren Natur kommen, mit dem „Nicht-Wissen“, das unsere innere Erfahrung definiert, unser tragisches Sein, unser mythisches, prärationales Sein. Das Einzige, was im Reich der Erklärungen noch interessant bleibt, sind die Dinge, die wir nicht verstehen können: Gott, die Liebe, der Tod – und nur das verbindet uns mit dem Kern unseres Wesens. Angesichts des Unbegreiflichen können wir gar nicht anders als in eine Krise geraten: in einen Moment von Beklemmung, von individueller Offenbarung, des Eingeständnisses und der Anerkenntnis der Gewalt in uns. Für uns gesittete, zivile Wesen ist der Widerstand gegen die Barbarei so groß, dass es uns als natürlichste Konsequenz erscheint, unser mythisches „Sein“, unser gewalttätiges „Sein“ zu unterdrücken. Ohne unser mythisches Sein hören wir auf, Mensch zu sein. Deswegen brauchen die Figuren in „Toter Hund“ die Gewalttätigkeit in einer in meinem Stück bereits komplett ausgerotteten Welt. Sie brauchen die Gewalt, um sich als Menschen erkennen zu können. Und wir brauchen die Poesie, um uns in dieser Gewalt wiederzuerkennen, in einer Welt, in der keine poetischen Menschen, sondern politische und ökonomische Menschen erwünscht sind. Das ist eine Katastrophe. Michel Foucault, dessen Denken in Ihrem Werk ebenfalls sehr präsent ist, hat einmal in seiner Vorlesung „In Verteidigung der Gesellschaft“ gesagt: Die Souveränität entsteht immer von unten, kraft des Willens derjenigen, die Angst haben. Die Angst ist allgegenwärtig unter den Figuren Ihres Stückes, dessen erster Teil sogar „Die Angst“ heißt. Was ist die politische Dimension dieser Angst? Und: Haben wir ihr nicht genügend Beachtung geschenkt in unseren sogenannten westlichen Demokratien? Liddell: Foucaults Spur ist im Stück offenkundig. Allein durch den Umstand, verdächtig zu sein, verdient man schon ein wenig die Strafe, sagt Foucault. Das führt dann bis zu dem Punkt, an dem ein anstößiges Verhalten zur Straftat wird. Die Angst gibt vor, wer der Feind ist. Der Gesellschaftsvertrag verbindet die Idee des Feindes mit der Idee der Vertei­ digung. Die extreme Konsequenz in „Toter Hund“ besteht politisch in der AUS­ROTTUNG des Feindes. Die spirituelle ­Konsequenz ist die AUSROTTUNG der Emotionen zugunsten einer scheinbaren Freiheit, in der aber die Repression Politik und private Welt ununterbrochen bestimmt.

ROMEO CASTEL­ LUCCI Wir sind es gewöhnt, Demokratie als etwas Positives darzustellen. Seit e­ iniger Zeit jedoch werden Konzept und Inhalt der Demokratie mit einer nie zuvor ­dagewesenen Polemik diskutiert. Man könnte sagen, dass die D ­ emokratie beginnt, Schatten zu werfen. Um welche Schatten handelt es sich? Castellucci: Die erste Form der Demokratie bildete sich in einem Land heraus, in dem Sklaverei herrschte. Dennoch ist Athen zweifellos als erste Form einer rechtsbasierten Zivilisation zu betrachten. Daraus lässt sich ableiten, dass das Modell der Demokratie keineswegs so klar und hell ist wie ein wolkenloser Himmel. In seiner prophetischen Analyse des jungen Amerikas zeigte de Tocqueville wider Erwarten die dunkle Seite der Demokratie auf und bezeichnete sie als „Tyrannei der Mehrheit“. „Wenn mein Kopf nicht nur von einem Stiefel, sondern von tausend Stiefeln zerquetscht wird, so wird meine Unterdrückung dadurch nicht erträglicher.“ Solche Sätze nehmen in der heutigen Zeit einen düsteren Ton an. In Ihrem Werk finden sich zwei historische Bezugspunkte: die attische Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr. und die amerikanische Demokratie im Jahr 1835 aus Sicht des Europäers Alexis de ­Tocqueville. Warum gerade diese historischen Modelle – und keine zeitgenössischen Betrachtungen und Schauplätze? Was offenbaren sie über die Welt von heute? Castellucci: Eigentlich entstand das Projekt „Democracy in America“ schon vor einigen Jahren, lange vor den jüngsten Wahlen in den USA. Ich bin mir bewusst, dass dieses Ereignis die Lesart des Stückes beeinflussen wird. Das könnte irreführend sein. Vor diesem Hintergrund: Die Idee der Demokratie in diesem Stück bezieht sich zunächst auf Griechenland und später auf die Demokratie, die „In der nordamerikanischen Wildnis“ entstand, wie von de Tocqueville in seinem gleichnamigen Werk beschrieben. Vor der Geburt der griechischen Demokratie und Politik gab es ein Fest, zu dem die Götter zusammenkamen. Vor Ankunft der puritanischen Pilger mit ihren Siedlungen gab es in Amerika ein Fest, zu dem die Götter zusammenkamen.


28 Was mich dabei interessiert, ist der Bereich dazwischen: das Ende des Fests und der Beginn der Politik, also die Zeitspanne zwischen dem Ende des Fests und dem Beginn der Politik. Man könnte sagen, dass dieses Werk das Ende des Fests und das „Desaster“ der Politik beleuchtet. Man könnte sagen, dass es ein Stück über die Sehnsucht nach diesem Fest ist, die Sehnsucht nach Folklore. In unseren westlichen Demokratien ­haben wir zudem die Gewohnheit (oder nutzen den Gemeinplatz), uns auf die Tradition der attischen Demokratie zu berufen: ein politisches Modell, das auch eng mit der attischen Tragödie in Verbindung steht. Die Versammlung der Bürger auf der Agora und das Zusammenkommen im Amphitheater als zwei sich ergänzende Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. In Ihrem Werk über die „Demokratie in Amerika“ legen Sie jedoch nahe, dass die Erfahrung der Tragödie „as a political awareness and an understanding of being, has been expunged from modern democracy“. Wieso – und mit welchen Konsequenzen? Castellucci: Nehmen wir als Ausgangspunkt dieses allgemeine Verständnis: Die attische Tragödie inszeniert die Dysfunktion des Daseins. Die Macht der Stadt, die hier dargestellt wird, ist ein kranker Körper. Für die Griechen existiert ein negatives Fundament der Politik, ein Labor, in dem die mimetische Gewalt und die Dysfunktion „in vitro“ untersucht werden. Es wird gewissermaßen ein homöopathisches Heilmittel hergestellt. Man könnte sagen, dass die Wurzel der westlichen Demokratie – die attische Tragödie – ein politisches Antidot der Stadt ist. Die amerikanische Demokratie dagegen wächst empor wie eine Blume in der Wüste. Sie wird von Grund auf neu erfunden. Im Vergleich zum griechischen Modell fehlt hier das Verhältnis zur Ästhetik, zum spirituellen Aspekt der Dysfunktion der Tragödie. Die Anfänge der amerikanischen ­Demokratie basieren auf alttestamentarischen Prinzipien, auf dem, was de ­Tocqueville als „puritan foundation“ bezeichnet. Ein entscheidendes Element der griechischen Tragödie ist die Wahrheit: ihr zivilisatorischer Aspekt (Was enthält mehr Wahrheit: das geschriebene oder das ungeschriebene Gesetz?), aber auch der zerstörerische, wie im Fall von Ö ­ dipus. Was passiert mit der Tragödie in Zeiten der „Post-Wahrheit“? Castellucci: Die Tragödie stellte ein mächtiges „antiphrasisches“ Instrument dar, das dazu diente, das politische Bewusstsein der Bürger zu wecken. Dies geschah durch die Freude am Zuhören, am Zuschauen, an der bewussten Täuschung. Die im Entstehen begriffene Politik wurde von ihrer eigenen negativen Grundlage, ihrer „Ungerechtigkeit“, in die Krise gesteuert. Das Theater duplizierte das individuelle und das kollektive Leben. Der Fehler war fühlbar, man konnte ihn quasi mit der Hand berühren. Das Erstaunliche an all dem war, dass der Fehler mit der Schönheit übermittelt wurde, der Fehler war die

Schönheit. Im Bereich der Tragödie war die bewusste Täuschung eine Form höchster Erkenntnis (Gorgias). Diese Täuschung hat nichts mit den Täuschungen und Lügen der Gegenwart zu tun. Die Post-Wahrheit ist lediglich eine Form der Lüge zu gewinnbringenden Zwecken. Welche Rolle spielen die Emotionen in diesen Zeiten der „Post-Wahrheit“? Auch und vor allem im Theater? Muss – und kann – es noch Emotionen, Angst, Mitleid wecken? Oder (in einer anderen möglichen Übersetzung des berühmten Satzes der aristotelischen Poetik) muss es sich von diesen Emotionen befreien? Braucht es mehr oder weniger Emotionen? Castellucci: Gehen wir davon aus, dass sich das Theater außerhalb des Bereichs der Kommunikation befindet. Die Sentimentalität, die durch die Darbietung des „Schmerzes der anderen“ hervor­ gerufen wird, ist die andere Seite der ­Medaille des Zynismus. Das Theater zeigt immer und ausschließlich meinen Schmerz. Ich, der Zuschauer, reflektiere mich im dunklen Spiegel der Bühne. ­Paradoxerweise kann ich sagen, dass der Schmerz auf der Bühne niemals ein Schauspiel ist, sondern eine Sache, die voll und ganz in der Betrachtung des Zuschauers liegt.

ANNE-­ CÉCILE VANDALEM Ihr Stück spielt auf einer dänischen ­Insel mit dem Namen „Traurigkeiten“ und handelt von Rechtspopulismus und ­einer hysterisierten Medienlandschaft. Warum haben Sie diesen Namen und diesen fiktiven Ort gewählt, um ein ­aktuelles Thema anzusprechen, um von der Gegenwart zu erzählen? Anne-Cécile Vandalem: Weil ich die Distanz brauche. Ich brauche die Metapher, um von der Realität zu erzählen. Als ich damit begann, „Tristesses“ zu schreiben, war ich überwältigt von der Angst davor, was aus Europa werden wird mit all den fremdenfeindlichen und antieuropä­ ischen Diskursen von Persönlichkeiten wie Nigel Farage, Geert Wilders oder ­Marine Le Pen. Und an einem gewissen Punkt fühlte ich mich dermaßen machtlos, unfähig, zu handeln, sie zu stoppen, dass ich mir die ganz naive und brutale Möglichkeit zumindest vorstellen musste, dass sie verschwinden, indem jemand sie umbringt. Eine Freundin gab mir einen Text von Gilles Deleuze über die

Traurigkeit zu lesen. Dort steht: „Die Traurigkeit ist eine Verminderung unserer Handlungsfähigkeit, ausgeübt durch den Druck eines fremden Körpers auf den unseren. Der Hass ist alles, was man aufwendet, um das Objekt dieser Traurigkeit zum Verschwinden zu bringen.“ Von diesem Schema ausgehend wollte ich eine Geschichte erfinden, in der eine Gemeinschaft buchstäblich von ihrer Unfähigkeit zu handeln überwältigt wird, eine Gemeinschaft, die in ihrer Traurigkeit förmlich ertrinkt. Eine traurige Gemeinschaft, welche eine Insel inmitten des Ozeans bewohnt, die „Traurigkeiten“ heißt. Wie schon der Name dieser Insel ­andeu­tet, spielen Emotionen eine z­entrale Rolle in Ihrem Stück, wie auch im aktuellen politischen Diskurs. Wir sprechen sogar vom „postfaktischen Zeitalter“, in dem Gefühle regieren und das Risiko besteht, dass diese von Politikern in­ strumentalisiert werden. Welche Rolle spielen Emotionen im Theater und ­besonders in „Tristesses“? Sollte das ­Theater Mitleid und Schrecken bei den ­Zuschauern hervorrufen oder, im Gegenteil, die Zuschauer von diesen Emotionen reinigen? Vandalem: Das ist eine schwierige Frage … Ich habe große Zweifel an der Wirksamkeit des heutigen Theaters. Manchmal denke ich, es sollte uns fähig machen, gemeinsam Emotionen zu empfinden, damit, wie Georges Didi-Hubermann sagen würde, diese Emotionen dann vielleicht eine Wirkungskraft entfalten, vielleicht sogar eine politische. Aber auf der anderen Seite misstraue ich sehr den Emotionen, die in den Medien verwendet werden, in den aktuellen politischen Kommunikationsstrategien, eben genau weil sie die Macht haben, viele Menschen hinter einem Anliegen zu versammeln. Emotionen sind ebenso nötig wie gefährlich. Aber es ist wichtig, sie verwenden zu können, mit Fingerspitzengefühl, und erst recht ist es wichtig, den populistischen Stimmen nicht das Monopol für Emotionen zu überlassen. Wir müssen wieder lernen, unsere Emotionen zu gebrauchen, aber zum Zwecke des Widerstands, des Protests. Im Moment erleben wir, wie populistische Bewegungen systematisch unsere Werte verdrehen und die Grenze zwischen Opfern und Tätern zu verwischen versuchen. Rechtspopulisten inszenieren sich und ihre Anhänger als „Opfer einer Diktatur des politisch Korrekten“, als „von korrupten Politikern und der Lügenpresse verratenes Volk“, das „überfremdet“ und von „Minderheiten terrorisiert“ wird. Wie das Schicksal in der Tragödie scheint diese Umwertung eine unausweichliche Dynamik zu schaffen. Gibt es eine Verbindung zwischen demokratischer Freiheit und tragischem Schicksal? Und dennoch haben Sie sich entschieden, eine Komödie zu schreiben. Warum? Vandalem: Zunächst einmal, weil ich wirklich Angst davor habe, was gerade mit uns passiert. Ich habe Angst vor dem, was ich sich ausbreiten sehe, und ich habe ganz ohne Zweifel Angst vor unse-

rem Schicksal. Und das Lachen ist die Distanz, die es mir erlaubt, dieses Thema anzusprechen. Wenn ich hinfalle, wenn ich scheitere oder etwas verliere, muss ich darüber lachen können. Ich bin eine Frau, auch das haben wir lernen müssen, als (falsche) Minderheit: den Spott. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt. „Tris­ tesses“ ist zugleich eine Komödie, eine Tragödie und ein Drama. Ich denke, die populistischen Bewegungen treiben die Spaltung unserer Gesellschaften in gegensätzliche Pole mehr und mehr voran. Und ihre Macht rührt daher, dass sie diese Spaltung aufrechterhalten und ihre Konturen weiter schärfen. Wenn man das sieht und versteht, dann fällt es leider nicht schwer, sich vorzustellen, wohin uns das führen wird … und in diesem Sinne handelt es sich vielleicht um ein tragisches Schicksal, das wir voranschreiten sehen, ohne wirklich etwas tun zu können, um uns dem entgegenzustellen. Demokratie war lange ein Versprechen von Glück, Freiheit, Gleichheit und auch Solidarität für eine größtmögliche Gruppe von Menschen. Allerdings beobachten wir heute, wie unsere westlichen Demokratien systematisch Ausgeschlossene produzieren. Sind diese Ausgeschlossenen der Grund für die Krise der heutigen Demokratien? Wie kann man sie im Theater repräsentieren? Vandalem: Diese Ausgeschlossenen sind wahrscheinlich die ersten Opfer der gesellschaftlichen Spaltung. Sie sind ­Opfer und Zeugen zugleich. Ich wüsste nicht, wie man sie repräsentieren kann, außer dass man versucht, die Mechanismen zu verstehen, welche Ausgeschlossene produzieren. In „Tristesses“ gibt es die Figur des Pastors, der ein Außenseiter ist, ein Sündenbock. Schon als er klein war, erniedrigten ihn die Kinder auf dem Pausenhof, weil er anders war. Er ist in dieser Dynamik der Ausgrenzung aufgewachsen. Und zwangsläufig wird er sich rächen an der Gemeinschaft, die ihn unablässig ausgeschlossen hat. Er ist es, der sie letztendlich verraten wird. Unsere Gesellschaft produziert überall Sündenböcke, die sich zwangsläufig gegen sie wenden werden, wenn der Moment gekommen ist. Das ist es wahrscheinlich, was wir gerade erleben. Die Fragen stellten Florian B ­ orchmeyer, Nils Haarmann und Friederike Tappe-­Hornbostel. Aus dem Spanischen ü­ bersetzt von Sima Djabar Zadegan. Aus dem Italienischen und Franzö­ sischen übersetzt von Florian Borchmeyer und Nils Haarmann.


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Phillippa Yaa de Villiers REGENKINDER Breitet sich aus, die Armut, Augen, Knie wie Regenfäden dünn, die Kinder starren still, und in den Straßen marschiert – Demokratie. Klebstoff gibt’s, statt Decken, Milch, Mutter Straße, grauer Kittel aus Asphalt, sorgt nicht für sie: breitet sich aus, die Armut, Augen, Knie und Hände klagen an, fordern, fordern heraus, flehn: doch mein Gewissen steckt im Portemonnaie, gibt lieber nie, und in den Straßen marschiert – Demokratie. Der Regen dringt in meinen wohlgenährten Magen. Wie weggewischt ist meine Größe, wenn ich nur hinseh: breitet sich aus, die Armut, Augen, Knie sind kalt wie Elend. Gesetze auf Papier weichen im Regen auf, es gab sie nie und in den Straßen marschiert – Demokratie. Treibende Tropfen, Nieselregen, kühlt Haut aus, durchweicht, nutzt ab: Breitet sich aus, die Armut, Augen, Knie und in den Straßen marschiert – Demokratie. Aus dem Englischen von Odile Kennel Phillippa Yaa de Villiers (*1966 Halfway House, nahe Johannesburg, Südafrika) ist Dichterin und Per­ formance-Künstlerin. De Villiers arbeitet für das ­Theater, sie unterrichtet und schreibt für Film und ­Fernsehen. Mit ihrer autobiografischen One-Woman-­ Show Original Skin tourte sie durch Süd­afrika. Zuletzt erschien von ihr The Everyday Wife (Modjaji Books, 2010).


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Neue Projekte Jana Sterbak Life Size. Lebensgröße

Der menschliche Körper ist eine wichtige Bezugsgröße im künstlerischen Werk der tschechisch-kanadischen Künstlerin Jana Sterbak. Die Ausstellung „Life Size. Lebensgröße“ stellt dementsprechend den Körper in den Mittelpunkt. In Sterbaks viel diskutierter Arbeit „Vanitas. Fleischkleid für einen magersüchtigen Albino“ von 1987, die im Zentrum der Schau steht, vernähte die Künstlerin rohes Fleisch zu einem Kleid und ließ sich da­rin fotografieren. Sie knüpft so ästhetisch an kunsthistorische Traditionen von Vanitas-­ ­Stillleben an und verbindet diese durch den Untertitel kritisch mit Problematiken von psychosomatischen Störungen und Sehnsüchten nach einem anderen Körper. Auch in der Installation „Brot Bett“ von 1996, die ebenfalls extra für die Ausstellung rekonstruiert wird, arbeitet die Künstlerin mit vergänglichen Lebensmitteln. Sie verbindet das Grundnahrungsmittel Brot mit dem Bett als Ort des Schlafes, der Liebe und von Geburt und Tod. Das Objekt mit dem Titel „Mask“ aus dem Jahr 2015 ist gleichzeitig schmü-

Künstlerische Leitung: Michael Krajewski Künstlerin: Jana Sterbak (CA) Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg: 11.3.–11.6.2017 www.lehmbruckmuseum.de

Duett mit Künstler_in Partizipation als künstlerisches Prinzip

Wie lassen sich gemeinschaftliches Handeln und soziale Teilhabe gestalten? Welche Formen des Miteinanders gibt es, die nicht ökonomischen Kriterien folgen? Diese und ähnliche Fragen nach Teilhabe bilden den Ausgangspunkt der Ausstellung zu partizipativer Kunst im Museum Morsbroich in Leverkusen. Die Schau zeigt künstlerische Positionen, die von den Besuchern Interaktion, Kooperation und bisweilen auch Kollaboration einfordern: von choreografischen Handlungsanweisungen bis hin zum Zusammenspiel mit anderen Besuchern. In der Arbeit „The title is your name“ von Christian Falsnaes kreiert der Rezipient das Werk beispielsweise selbst, indem er den Anweisungen des Künstlers folgt oder auch nicht. Die Werke der koreanischen Künstlerin Haegue Yang erzeugen Klänge, indem der Besucher sie bewegt. Bei Jürgen Staack hingegen wird der Betrachter in der Beobachtung an­ derer selbst zum Kunstwerk. Und die Künstlergruppe Opavivarà kreiert durch ihre Objekte Räume und Momente des gemeinschaftlichen Miteinanders. Die Ausstellung setzt auf eine intensive Zusammenarbeit mit Vereinen und Institutionen vor Ort (Filmklub, Musikschule, Junges Theater), um vor allem auch ein junges Publikum anzusprechen. Das Museum soll so als ein zentraler Ort der Partizipation für die Stadtgesellschaft etabliert werden. Künstlerische Leitung: Stefanie Kreuzer Künstler/innen: Davide Balula (FR), Pierre Huyghe (FR), Yoko Ono (JP), Opavivarà (BR), Haegue Yang (KR), Jeppe Hein (DK), Roman Ondak (SK), Erwin Wurm (AT), Gabriel Sierra (CO), Christian Falsnaes (DK), Christian Jankowski, Mischa Kuball u. a. Museum Morsbroich, Leverkusen: 21.5.–3.9.2017 www.museum-morsbroich.de

Alexander Kluge – ­Pluriversum

Jana Sterbak – Jana Sterbak: Vanitas. Fleischkleid für einen magersüchtigen Albino, 1987

Alexander Kluge ist Filmemacher, Literat, Philosoph und Künstler. In seinen Texten, Kino- und Fernsehfilmen, Interviews, Videocollagen und zahl­reichen hy­ briden Formaten beschäftigt er sich mit den großen Themen der Moderne und schafft dabei immer wieder überraschende assoziative und poetische ­Verbindungen zwischen verschiedenen Themen und Zeiten.

MNAM – Centre Pompidou, Paris

Die interdisziplinäre Jury der All­ gemeinen Projektförderung hat auf ihrer letzten Sitzung im Herbst 2016 37 neue Förder­projekte ausgewählt. Die Förder­ summe beträgt insgesamt 5,7 Mio. Euro. Ausführlichere Informationen zu den einzelnen ­Projekten finden Sie auf unserer Webseite ­www.kulturstiftung-­bund.de oder auf den Webseiten der geförderten Projekte. Nächster Antragsschluss für die Allgemeine Projektförderung ist der 31.7.2017. Die Mitglieder der Jury ­(30. Jury­ sitzung) sind: ­Joachim Gerstmeier, Leiter des Bereichs Darstellende Kunst bei der Siemens Stiftung / Dr. Angelika Nollert, Direktorin Die Neue Sammlung – The ­International Design ­Museum Munich, Pina­kothek der Moderne / ­Dr. Andreas Rötzer, Verleger und Geschäftsführer des Verlags Matthes & Seitz Berlin / Dr. Eva Schmidt, Direktorin des Museums für ­Gegenwartskunst ­Siegen / Albert Schmitt, Managing Director der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen / Gisela ­Staupe, Stellvertretende Direktorin des Deutschen Hygiene-Museums Dresden / K ­ arsten Wiegand, Intendant des Staats­­theaters Darmstadt

ckende Körperhülle und – höchst aktuell – tschadorartige Uniform. Die Schau bietet einen Überblick über das skulpturale, performative, fotografische und filmische Werk der Künstlerin. Ihre Arbeiten loten die zunehmend fließenden Grenzen von Intimität und Öffentlichkeit in unserer Gesellschaft aus. Sie sollen hier im Kontext einer feministischen Avantgarde diskutiert werden, die neue Wege fand, weibliche Stereotypen und Projektionen zu thematisieren. Gemeinsam mit der Künstlerin wird in Duis­ burg ein Parcours mit rund 40 Exponaten entwickelt. Mit den Ausstellungen im Lehmbruck Museum Duisburg und im Taxispalais Innsbruck wird erstmals seit 2002 im deutschsprachigen Raum ein retro­ spektiver Überblick über das vielgestaltige Werk der Künstlerin ermöglicht. Ein umfangreicher zweisprachiger Katalog dokumentiert die Ausstellung.


31 dabei auf seinen jüngsten Werken, um die hohe Aktualität zu veranschaulichen, die Martens’ Œuvre auch heute noch besitzt. Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit Studierenden der Akademie der Bildenden Künste in München. Sie wird flankiert von einer diskursiven Veranstaltungsreihe in München, Paris, Amsterdam, Vilnius und New York. Begleitend bringt der Kunstverein München gemeinsam mit dem Künstler eine Publikation über Karel Martens heraus. Künstlerische Leitung: Christopher Fitzpatrick Kurator: Matthew Post Künstler: Karel Martens (NL) Ausstellung Kunstverein München: 4.2.–2.4.2017 Courtesy the artist and P!

www.kunstverein-muenchen.de

Courtesy the artist and P!

Karel Martens — Untitled, 2016, Letterpress monoprint on found card

Desintegration. Radikale Jüdische Kulturtage Ein Berliner Herbstsalon

Integration gilt als das Zauberwort in Zeiten von Flucht und Migration. Im Zuge erstarkender nationalistischer Tendenzen wächst aber auch das Unbehagen daran, wenn sich dahinter der Wunsch der Mehrheitsgesellschaft nach kultureller Assimilation verbirgt. Demgegenüber steht die Vorstellung, dass ein Zusammenleben in Vielfalt die zentrale Herausforderung der Gegenwart sei. Die „Radikalen Jüdischen Kulturtage“ im Rahmen des alle zwei Jahre stattfindenden Herbstsalons des Maxim Gorki Theaters Berlin, der 2017 unter dem Motto „Desintegration“ steht, geben ein Beispiel von Desintegration, das aufgrund der spezifischen historischen Folie europäischen Judentums zwar nicht für alle Minderheiten eins zu eins adaptiert, wohl aber einen Anstoß zur Kritik am Integrationskonzept geben kann. In diesem Sinn wird im Herbstsalon der Gedanke der Desintegration als gesamtgesellschaftliches Konzept mit europäischen Künstler/ innen und Multiplikator/innen weiterentwickelt. Es geht darum, den Erwartungen und Anforderungen der jeweiligen Dominanzgesellschaft etwas entgegenzusetzen, sich Geschichte neu anzueignen und neue Netzwerke zu knüpfen. Am Gorki Theater geschieht Karel Martens — Untitled, 2016, Letterpress mono print on catalogue card from the Moravian Museum, Brno, Czech dies bei den Radikalen Jüdischen Kulturta­Republic gen zwei Wochen lang mit Theater, Lesungen und Lecture Performances, Konzerten, Anlässlich seines 85. Geburtstages Schlingensief. Die thematischen SchwerKarel Martens Filmen und Kunstaktionen. Der „Junge richtet das Museum Folkwang eine umfas- punkte der Werkschau reichen von GeRat“, ein von Esra Küçük gegründeter Think sende Werkschau aus, deren Schwerpunkt schichte und Philosophie über Liebe und Einzelausstellung Tank von 24 jungen Erwachsenen aus Berlin, auf seinen virtuosen filmischen Bild­ Krieg bis zu Universum und Evolution. wird zum Abschluss des Herbstsalons ein Der Kunstverein München plant mit Manifest der postmigrantischen Berliner Incollagen liegt. Sie führt in die zentralen Neben kleineren Arbeiten entwickelt ­Methoden, Themen und Denkweisen des ­Alexander Kluge für die Ausstellung eine seiner Werkschau zu Karel Martens die ternationale erarbeiten. Autors ein und präsentiert sein künstleri- monumentale 5-Kanal-Projektion, die an bisher umfangreichste Retrospektive über die Tradition des Expanded Cinema an- den niederländischen Künstler, Grafikde- Künstlerische Leitung: Shermin Langhoff sches „Pluriversum“. Die Ausstellung folgt Kluges Bezügen schließt. Sowohl die Ausstellung als auch signer und Professor. Martens, der sich als Kuratoren: Max Czollek, Sasha Marianna zu Filmemachern und Philosophen wie das begleitende Veranstaltungsprogramm Pionier in der Technik des Überdruckens Salzmann, Aljoscha Begrich, Cağla Ilk Sergej Eisenstein, Fritz Lang oder Walter entstehen in enger Zusammenarbeit mit einen Namen machte, wurde für seine sys- (TR), Erden Kosova (TR) Künstler/innen: tematische Methode im Umgang mit Far- Banu Cennetoğlu (TR), Sapir Heller (IL), Benjamin, denen sein Schaffen wichtige dem Künstler und seinem Team. be, Format und Typografie bekannt. 1998 Tobias Herzberg, Sven Johne, Daniel Einflüsse verdankt. Anhand zahlreicher Beispiele stellt sie das für seine Arbeit zen- Künstler: Alexander Kluge gründete er zusammen mit Wigger Bierma Kahn (US), Adi Keissar (IL), Grada trale Prinzip der Kollaboration, das „Zuim niederländischen Arnheim eine inter- Kilomba (PT), Delaine & Damian Le Bas national beachtete Hochschule für Grafik, (GB), Johannes Paul Raether, Wermke/ sammen denken“ mit Wissenschaftlern Museum Folkwang, Essen: Design und Typografie, für die er eine ein- Leinkauf, Sivan Ben Yishai (IL) und Künstlern und seine elaborierte In- 15.9.2017–7.1.2018; 21er Haus, zigartige interdisziplinäre Unterrichtsmeterviewtechnik vor: Die Zusammenarbeit Wien: Februar–April 2018 thode entwickelte. mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt www.museum-folkwang.de Maxim Gorki Theater, Berlin: Die Schau zeigt eine Auswahl reprä- 11.–27.11.2017 beispielsweise oder das Zusammenspiel mit bildenden Künstlern wie Thomas Desentativer Arbeiten aus Martens’ umfang- www.gorki.de mand, Gerhard Richter oder Christoph reichem Schaffen. Ein Schwerpunkt liegt


32 Anne-Mie Van ­Kerckhoven What Would I Do in Orbit?

Foto: Dagmar Gebers, Copyright: Dagmar Gebers/FMP-Publishing

Der Kunstverein Hannover widmet der belgischen Künstlerin Anne-Mie van Kerckhoven eine Einzelausstellung. Van Kerckhoven (*1951) studierte Grafik­ design, parallel beschäftigte sie sich mit ­diversen philosophischen und naturwissenschaftlichen Theorien. Heute lehrt die Professorin an der Antwerpener Kunst­ akademie. Ihre frühe Beschäftigung mit dem Thema künstliche Intelligenz und der stete Wechsel zwischen analogen und digitalen Medien in ihren Arbeiten machen sie auf diesem Gebiet zu einer international anerkannten Expertin. Biografisch wurzelt van Kerckhovens Werk in der Gegenkultur des Punk, im ­Feminismus und im generationstypischen Anti-Akademismus. In ihrem Werk ver­ flicht sie Motivik mit Abstraktion, Underground mit Hochkultur. Den komplexen Inhalten ihrer Arbeiten entsprechen die von ihr bevorzugten Techniken der Collage und des Samplings – mit Zeichnungen, Texten und Illustrationen bis hin zu filmischen und musikalischen Stücken. Früh hat sie den Computer als zeichnerisches Werkzeug für sich entdeckt, wodurch ihre Arbeitsweise mit Blick auf eine jüngere Künstlergeneration heute besonders bedeutsam ist. Begleitet von Gesprächen und Vorträgen, Workshops und einem Filmprogramm kombiniert die Werkschau überwiegend experimentelle Arbeiten van Kerckhovens, die die Ausstellungsräume selbst mit eigens dafür entworfenen Displays in Szene setzt. Eine internationale Publikation zu frühen raum- und medienspezifischen Projekten der Künstlerin ist geplant. Künstlerin: Anne-Mie van Kerckhoven (BE) Kunstverein Hannover: 18.3.–14.5.2017 www.kunstverein-hannover.de

FMP: The Living Music Ausstellung, Konzerte, Gespräche

Die 1969 von einer Gruppe von Musikern gegründete FMP (Free Music Production) war bis 2010 eine Berliner Plattform für die Produktion, Präsentation und Dokumentation von Freier Musik, die sich als Alternative zu den Berliner Jazz Tagen (heute Jazzfest Berlin) verstand und die Arbeitsbedingungen für junge Improvisierer verbessern wollte, die damals von internationalen Festivals weitgehend ausgeschlossen waren. Die Protagonisten des FMP, Alexander von Schlippenbach und Peter Brötzmann, ­waren von Bernd Alois Zimmermann und Nam Jun Paik, also von Neuer Musik und zeitgenössischer Bildender Kunst beeinflusst. Die FMP hat schon früh ihre Arbeit um afrikanische Musik, aber auch Kooperationen mit Tänzer/innen wie Pina Bausch, Min Tanaka, Kazuo Ohno usw. erweitert. Die Ausstellung dokumentiert mit Drucksachen, Interviews, Filmen und Videos die verschiedenen FMP-Formate

FMP: The Living Music — Sven Åke Johansson, Alexander von Schlippenbach, Berlin 1976

und stellt die gesamte Tonträgerproduktion von fast 500 Einspielungen vor. Sie wird von Vorträgen, öffentlichen Proben und mehreren Konzerten internationaler Musiker/innen mehrerer Generationen begleitet. Die Kooperationen mit dem Goethe-Institut und der Akademie der Künste Berlin, die viele Jahre Schauplatz des zum FMP gehörenden Workshop Freie Musik war, ermöglichen eine umfassende Einbeziehung aktueller internationaler Positionen und gewährleisten 2018 auch eine Tournee der Ausstellung an zahlreichen Orten außerhalb Deutschlands. Künstlerische Leitung: Ulrich Wilmes Kurator: Markus Müller Mitwirkende: Peter Brötzmann, Rüdiger Carl, Jost Gebers, Nele Hertling, Sven Åke Johansson (SE), Joëlle Léandre (FR), George E. Lewis (US), Jason Moran (US), Alexander von

Schlippenbach, Splitter Orchester u. a. Ausstellung und Konzerte, Haus der Kunst, München: 9.3.–20.8.2017; öffentliche Proben, Konzerte, Workshops und Gespräche, Haus der Kunst, München: 31.3.–2.4.2017; 5.–7.5.2017; 19.–21.5.2017; 9.–11.6.2017 www.hausderkunst.de

Große Erzählungen: ­ 100 Jahre Kommunismus Kunstfest Weimar 2017

Mit der Russischen Revolution von 1917 wurde der Kommunismus erstmals von einer politischen Theorie in die Pra-

xis überführt. Seine Ausdehnung als Gesellschaftssystem weit über die Grenzen Russlands hinaus und der damit einhergehende Wettkampf der Systeme prägten die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Welt polarisierte sich in eine kapitalistische und eine kommunistische Hälfte, wobei jede gleichermaßen für sich beanspruchte, dem Menschen die wahre Freiheit zu ermöglichen. Mit dem Untergang des Sowjetkommunismus 1990 war daher auch schnell von einem „Ende der Geschichte“ die Rede, die marktwirtschaftliche Demokratie schien als beste aller möglichen Welten bestätigt. Heute stellt sich jedoch heraus, dass auch diese Ordnung Risse bekommen hat und die Kopplung von „Freiheit“ und Marktwirtschaft selbst eine große Erzählung ist. Trotz allem hat die kommunistische Praxis – die Arbeitswelt, Kunst und Medien, das


33 Interpretationswelten. Ein umfangreiches Begleitprogramm mit mehrsprachigen Begegnungsformaten, Vorträgen und Workshops ermöglicht eine vertiefte Auseinandersetzung mit ihren Werken und künstlerischen Biografien. Künstlerische Leitung: ­­Roland Nachtigäller Künstler/innen: Arwa Abouon (LY), Mounira Al-Solh ( LB), Morehshin Allahyari (IR), Sama Alshaibi (IQ ), Moufida Fedhila (TN), Saba Innab (JO), Ala Jounis (JO), Lamia Joreige (LB), Amina Menia (DZ) Marta Herford, Herford: 24.6.–24.9.2017 www.marta-herford.de

Megalopolis # 1 – ­ timmen aus Kinshasa S

Design: Peter Brötzmann

Deutsch-kongolesische Ausstellung

FMP: The Living Music — Poster: Total Music Meeting 1972

Schulsystem – weltweit mehrere Generationen von Menschen bis in die Gegenwart nachhaltig geprägt. Neben dem 100. Jahrestag der Russischen Revolution ist somit auch die Gegenwart Anlass für das Kunstfest Weimar, mit dem Projekt „100 Jahre Kommunismus“ die Frage nach Erbe und Aktualität dieses Gesellschaftssystems zu stellen. Gemeinsam mit Weimarer Partnerinstitutionen und internationalen Gästen aus ehemals oder sich immer noch als ­kommunistisch bezeichnenden Ländern forscht es dem Alltag, dem Verschwinden und den Hinterlassenschaften des Kommunismus nach und untersucht Sinn und Notwendigkeit großer Erzählungen. Filmvorführungen, Tanz- und Theatergastspiele, eine Opernuraufführung sowie ein Diskursprogramm fragen: Was ist ­übrig geblieben von Idee und Praxis des Kommunismus? Lohnt es sich, die erledigt geglaubte Ideologie noch einmal genauer zu betrachten? Und welche Erzählungen erklären uns heute die Welt? Künstlerische Leitung: Christian Holtzhauer Komponist: WANG Lin (CN) Regie: Andrea Moses Kurator: Konstantin Bayer Dramaturgie: Anja Goette Musikalische Leitung: Kirill Karabits (UA) Künstler/innen: Dai Hua (CN), WEN Hui (CN), Sanja Mitrović (RS/NL) u. a. Deutsches Nationaltheater u. a., Weimar: 18.8.–3.9.2017 www.kunstfest-weimar.de

Zwischen Zonen Künstlerinnen aus dem arabisch-­ persischen Raum

Zeitgenössische Kunst aus dem arabisch-persischen Raum und insbesondere das Werk arabischer und iranischer Künstlerinnen ist in Deutschland bisher wenig bekannt. Die Ausstellung am Museum Marta Herford versammelt deshalb Arbeiten von neun international renommierten Künstlerinnen aus dem Mittleren Osten und Nordafrika, die Einblicke in diesen ästhetischen Kosmos, seine Formate und Erzählweisen erlauben. Die ausgewählten künstlerischen Positionen reflektieren und vermitteln die aktuellen gesellschaftlich-kulturellen Konfliktzonen zwischen arabischer und westlicher Welt und sind zugleich Zeugnisse sehr persönlicher Erfahrungen im eigenen Land oder im Exil. So erzählen Künstlerinnen wie Moufida Fedhila (Tunesien), Lamia Joreige (Libanon) und Ala Jounis (Jordanien) in Videos, Fotografien und Installationen von Heimat und ihrem Verlust, von der Erfahrung des Fremdseins und hybriden Identitäten. Ihre Arbeiten setzen sich mit der politischen Situation im Nahen und Mittleren Osten auseinander und kreisen um die Abbildbarkeit von Grenzen, Territorien und Durchgangsstationen. Sie hinterfragen Körperbilder, kulturelle Zuschreibungen und konfrontieren etablierte künstlerische Produktions- und Distributionssysteme mit neuen Bild- und

Kinshasa, die Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, ist eine Megacity mit mehr als zwölf Millionen Einwohnern. Die Metropole ist ein weltwirtschaftlicher und kultureller Knotenpunkt, über 450 verschiedene Ethnien leben hier. Die Stadt erholt sich zwar von den Folgen des Bürgerkriegs, der öffentliche Sektor liegt jedoch seit einigen Jahren brach. Angesichts dieser Situation entwickeln die Bewohner selbst kreative Lösungen für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme vor Ort. Wer in Kinshasa überleben will, muss soziale und kommunikative Codes, Botschaften und Zeichen entschlüsseln und verstehen. Das tägliche Leben basiert vor allen Dingen auf dem Prinzip „mayele“, das in der Landessprache Kinoi „lokales Wissen“ bedeutet und auf Teilen und Tausch beruht. In der Ausstellung am GRASSI Museum für Völkerkunde in Leipzig setzt sich ein kongolesisches Künstlerkollektiv mit diesen informellen, einfallsreichen Ideen und Codes auseinander. Arbeiten von bildenden Künstlern, Modedesignern, Filmemachern und anderen Akteuren aus Kinshasa spiegeln die komplexe Realität der Metropole und lassen das Publikum an ihrer Dynamik teilhaben. Die Schau nimmt außerdem die so unterschiedlichen Städte Kinshasa und Leipzig in den Blick: Was verbindet die Einwohner, was trennt sie? Wie werden Leipzig und Europa in Kinshasa wahrgenommen? Welche Vorstellungen haben die Leipziger von der kongolesischen Megastadt? Zum ersten Mal in der Geschichte ethnografischer Museen in Europa wird mit dem Projekt eine Ausstellung ohne europäischen Kurator oder Co-Kurator erarbeitet. Sie bietet den Künstler/innen aus Kinshasa eine Plattform und vermittelt außereuropäische Perspektiven und Diskurse. Eine adaptierte Fassung der Ausstellung wird im ArtLab & Musée d’Art Contemporain et Multimédia in Kinshasa gezeigt, mit dem das GRASSI Museum kooperiert. Eine Website und verschiedene Apps begleiten das Projekt. Künstlerische Leitung: Nanette Snoep Kuratoren: Freddy Tsimba (CD), Eddy Ekete (CD) Künstler/innen: Wyllis Kezy (CD), Iviart Izamba (CD), Cherry Muhima (CD), Jean Kamba (CD), Toto

Kisaku (CD), Loison Mbeya (CD), Géraldine Tobe (CD), Djo Bolankoko Belondjo (CD), Bebson de la Rue (CD), Jupiter Bokondji (CD) GRASSI Museum für Völkerkunde, ­Leipzig: 1.12.2018–28.2.2019; ArtLab & Musée d’Art Contemporain, Kinshasa: 1.6.–31.7.2019 www.mvl-grassimuseum.de

The Long Now MaerzMusik – Festival für Zeitfragen

Das Musikprojekt „The Long Now“ bildet die große Abschlussveranstaltung des internationalen Festivals für Zeitfragen „MaerzMusik“ der Berliner Festspiele – einer interdisziplinären Plattform, die unser Verhältnis zum Phänomen Zeit aus künstlerischer, wissenschaftlicher, philosophischer und politischer Perspektive untersucht. Mit einer Dauer von über 30 Stunden live gespielter Musik entfaltet „The Long Now“ einen einzigartigen entgrenzten Wahrnehmungsraum, der das Hören als introspektive, mentale und körperliche Erfahrung ebenso in den Mittelpunkt rückt wie das gemeinschaftliche Erleben von Musik und das Experimentieren mit unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen. Das Projekt sprengt bewusst den Rahmen üblicher Veranstaltungsformate. Es strebt damit die Schaffung eines Erfahrungsraums an, in dem die künstlerischen Eigenzeiten von Musik, Performance und Film mit der Eigenrhythmik jedes einzelnen Besuchers in Resonanz zueinander treten können. Bestehend aus Konzerten, Performances, elektronischen Live-Acts, Klanginstallationen und DJ-Sets, verbindet das Projekt unterschiedliche künstlerisch-musikalische Welten zu einer Komposition – mit musikalischer Avantgarde über experimentelle Klangkunst bis hin zu avancierter Clubmusik. Im Berliner Kraftwerk Mitte, das mit seiner monumentalen Dimension das räumliche Äquivalent dieser Chronosphäre bildet, trifft das künstlerische Erleben von „The Long Now“ auf Wach- und Schlafzustände; konzentriertes Hören und Kontemplation finden darin ebenso Platz wie die freie Bewegung im Raum und menschliche Begegnungen. Mit Blick auf aktuelle Problematiken wie tempo­rale Fragmentierung oder soziale Beschleunigung schafft das Projekt einen ­Zeit-Raum, der sich der getakteten Zeitmessung entzieht, um ihr eine andersartige Zeitlichkeit entgegenzustellen. Künstlerische Leitung: Berno Odo Polzer Komponist/innen: Alvin Lucier (US), Catherine Christer Hennix (SE), William Basinski (US), Morton Feldman (US) u. a. Musiker/innen: graindelovoix (BE), Alvin Lucier (US), Catherine Christer Hennix (SE), Juliet Fraser (GB), Thomas Ankersmit (NL), Kobe Van Cauwenberghe (BE) u. a. Kraftwerk Berlin: 25.–26.3.2017 www.berlinerfestspiele.de


© Philipp Schmitt, Jonas Voigt, Stephen Bogner, HfG Schwäbisch Gmünd

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Hello, Robot — Stephan Bogner, Philipp Schmitt und Jonas Voigt: Raising Robotic Natives, 2015, Installation mit Industrieroboter

Von da an Temporäre Wiedereröffnung des Städtischen Museums in Mönchengladbach

Im September 1967 eröffnete im Städtischen Museum in Mönchengladbach der neue Direktor Johannes Cladders sein richtungsweisendes Programm mit einer großen Ausstellung zu Joseph Beuys. Dessen Objekte wirkten damals auf viele Besucher unerklärlich bis ver­ störend – keinesfalls jedoch wie Kunst: ­Beliebige Dinge und Fundstücke lagen scheinbar wahllos auf dem Boden herum, waren an Wände angelehnt oder in Vitrinen gestapelt. Plötzlich herrschte in den alten Museumsräumen ein neues, völlig verändertes Kunstverständnis. Bis 1978 zeigte Cladders Ausstellungen von später namhaften Künstlern wie Carl Andre oder Hans Hollein, Blinky Palermo oder Gerhard Richter, die heute zu den wichtigsten Protagonisten der jüngeren Kunstgeschichte zählen. 1968 prägte Cladders den Begriff des „Antimuseums“, aus dem sich später dann auch ein bauliches Konzept entwickeln sollte, das 1982 im von Hans Hollein realisierten Neubau des Städtischen Museums Abteiberg seinen Ausdruck fand. Fünfzig Jahre später realisiert das Museum Abteiberg nun eine Ausstellung, die die dortige Geschichte der Jahre 1967 bis 1978 am Originalschauplatz vergegenwärtigt. An historischer Stätte – in den Räumen des alten Museums – werden Origi-

nalwerke der seinerzeit ausstellenden Künstlerinnen und Künstler, aber auch Dokumentationen und Rekonstruktionen ihrer damaligen Präsentationen zu sehen sein. Die Schau soll dem heutigen Publikum die radikal institutionskritischen Konzepte der damaligen Zeit vermitteln, die phänomenologische und strukturalistische Wende der Bildenden Kunst veranschaulichen sowie die daraus resultierende Vision einer neuen Art von Museum vor Augen führen. Inwieweit damalige Ausstellungsszenen und -atmosphären rekonstruierbar sind, hängt nicht zuletzt auch von der Verfügbarkeit seinerzeit ausgestellter Werke ab. Das Projekt besitzt erheblichen Experimentalcharakter, der auf das Interesse der internationalen Fachöffentlichkeit trifft und die breite Öffentlichkeit mit zentralen Fragen zum Selbstverständnis heutiger Kunstmuseen konfrontiert. Kurator/innen: Susanne Titz mit Susanne Rennert, Olivier Foulon (BE), Antony Hudek (CH/BE) Künstler/innen: Joseph Beuys, Carl Andre (US), Hanne Darboven, George Brecht (US), Robert Filliou (FR), Stanley Brouwn (SR/NL), Daniel Buren (F), Marcel Broodthaers (BE), Gerhard Richter, Kate Davis (NZ), Olivier Foulon (BE) u. a. Altes Museum, Mönchengladbach: 13.9.–10.12.2017 www.museum-abteiberg.de

Hello, Robot Design zwischen Mensch und Maschine

Ob Drohnen, Pflegeroboter, selbstfahrende Autos, Smart Cities oder Internet der Dinge – die heutige Verbreitung von Robotik und künstlicher Intelligenz war noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar. Die Ausstellung „Hello, Robot“ untersucht, wie Robotik in unseren Alltag einzieht und wie wir mit einer immer intelligenteren, autonomeren und selbstlernenden Objektwelt und Infrastruktur umgehen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Design und in welch entscheidender Weise es die Interaktion zwischen Mensch und Maschine prägt. Die Exponate umfassen sowohl Alltagsgegenstände als auch künstlerische Positionen sowie Filme, Web- oder Interaktionsdesign. Ausgangspunkt der Ausstellung ist die Begeisterung der Moderne für den künstlichen Menschen. Daran anschließend stellt die Ausstellung die Robotik in Industrie und Arbeitswelt vor und die Bedrohung, die damit verbunden scheint. Ein weiterer Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit den „Freunden und Helfern“ im Alltag und den Robotern, die uns sehr nahe kommen, im Haushalt, in der Pflege oder beim Cybersex. Die komplette ­Annäherung oder Verschmelzung von Mensch und Maschine ist ein weiterer Schwerpunkt, etwa wenn uns intelligente Sensoren eingepflanzt werden oder wir in einem lernen-

den Gebäude leben. Ebenso wie die ­Ausstellung thematisiert das begleitende Veranstaltungsprogramm die kulturellen, gesellschaftlichen und ethischen Fragen, die an diese Entwicklungen geknüpft sind. Die Ausstellung ist eine Koopera­ tion von drei Designmuseen und soll in Weil am Rhein, in Wien und in Gent sowie in weiteren Städten zu sehen sein. Künstlerische Leitung: Amelie Klein Kurator/innen: Thomas Geisler (AT), Marlies Wirth (AT), Fredo de Smet (BE) Mitwirkende: Gesche Joost, Paul Feigelfeld, Automato.farm, Philip Beesley (GB), Wafaa Bilal (IQ ), Sander Burger (CI), Dan Chen, Dunne & Raby, Flower Robotics, Foster+Partners / Afrotech EPFL (GB), Sabine Himmelsbach (CH), Carlo Ratti (IT), Bruce Sterling (US) u. a. Vitra Design Museum, Weil am Rhein: 11.2.–14.5.2017; MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst, Wien: 21.6.–1.10.2017; Design museum Gent: 27.10.2017–15.4.2018; Gewerbemuseum Winterthur: 12.5.–4.11.2018; MIT Museum, ­Cambridge: Januar–April 2019 www.design-museum.de


35 Babelsprech. ­I­nternational Europäische deutschsprachige Dichtung

Lyrik ist im Aufwind öffentlicher ­ ufmerksamkeit im deutschsprachigen A Raum. Daran hat das 2013 initiierte, von der Kulturstiftung des Bundes geförderte „Babelsprech. Junge deutschsprachige Dichtung“-Projekt seinen Anteil, insofern als es gezielt eine junge Lyrikszene durch Netzwerkbildung gestärkt hat. Der Erfolg in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein hat die Lyriker dazu ermuntert, ihre Netzwerke international auszuweiten. In Zeiten verstärkter Renationalisierung scheint es den jungen Lyriker/innen – selten älter als 30 Jahre – umso dringlicher, einen gemeinsamen kulturellen und künstlerischen europäischen Bezugsraum zu schaffen, in dem auch Fragen der Übersetzung von Lyrik und ihre kontextuellen Voraussetzungen einen Schwerpunkt bilden. Neben Workshops in der Ukraine und in Slowenien mit lokalen Partnerinstitutionen fi ­ nden internationale Konferenzen in ­Salzburg (2016), Berlin (2017) und Liechtenstein (2018) statt. Außerdem werden über den dreijährigen Zeitraum des Projekts zahlreiche Lesungen in den sechs beteiligten Ländern veranstaltet, bei denen Autor/innen aus den deutschsprachigen Ländern zusammen mit ­jeweils einem internationalen Gast auftreten, um so Austausch und Zusammenarbeit auch öffentlich zu manifestieren.

tic“ bringt Schriftsteller, Übersetzer, Literaturvermittler und das Publikum zusammen, um die Bedeutung der Region und ihres Zusammenhalts in einem komplexer werdenden Europa zu verhandeln: Gibt es eine gemeinsame regionale Identität über historische wie aktuelle Konflikte und nationale Grenzen hinweg? In welchem Verhältnis stehen Literatur, Identität und Nationalismus? Mit dem Tagungsband „Die Ostsee“ entsteht eine Anthologie mit repräsentativen Texten aus allen neun Staaten des Ostseeraums und aus dreizehn Sprachen, der als Versuch zur Selbstverständigung zur Diskussion gestellt wird. Darüber ­hinaus gehen die entstehenden Texte, Übersetzungen und Vorträge in die virtuelle Bibliothek „balticsealibrary“ ein, die das literarische Erbe der Ostseeregion sichert und in verschiedenen Sprachen frei zugänglich macht. Durch die gemeinsame Projektarbeit und lokale Treffen wird das Netzwerk internationaler Akteure, die zum Ostseeraum arbeiten, gestärkt und

Kopenhagen: 1.10.–25.11.2018; Estnischer Schriftstellerverband, Tallinn: 1.10.–30.11.2018 www.literaturhaus-rostock.de

ACHT BRÜCKEN | ­Musik für Köln: Ton. Satz. Laut. Porträt der Komponistin Unsuk Chin

Im Zentrum des 2011 ins Leben gerufenen Festivals Acht Brücken | Musik für Köln steht die zeitgenössische Musik. Mit jährlich wechselnden Programmschwerpunkten lädt es dazu ein, die Neue Musik und ihre Protagonisten zu entdecken. Unter dem Motto „Ton. Satz. Laut.“ widmet es sich 2017 dem Verhältnis von Musik und Sprache. Im Fokus steht die südkoreanische Künstlerin Unsuk Chin, eine der bedeutendsten Komponistinnen

© ArenaPAL/Eric Richmond

Literarisches Colloquium Berlin: Dezember 2016–Dezember 2018; Thüringen, Frankfurt, München, Berlin, Basel, Salzburg, Vaduz, ­Ljubljana, Wien u. a. www.lcb.de

Die Ostsee lesen

Zwei Weltkriege und 45 Jahre Kalter Krieg haben viele Verbindungslinien, die den Ostseeraum einst selbstverständlich vereinten, unterbrochen; in der öffentlichen Wahrnehmung ist die Region wenig präsent. Trotz oder gerade wegen der aktuellen Spannungen bleiben die Ostsee und ihre Anrainerstaaten jedoch ein kultureller Raum, der in seinen Zusammenhängen zu denken ist. Im Umfeld der 800-Jahr-Feier der Hansestadt Rostock soll er neu erfahrbar werden: In Lesungen, einer internationalen Konferenz, einer Anthologie und einer mehrsprachigen Online-Bibliothek wird ein interkultureller literarischer Ostsee-Kanon mit Texten aus 2.000 Jahren erstellt, präsentiert und diskutiert. Das Projekt „Reading the Bal-

Künstlerische Leitung: Louwrens Langevoort (NL) Musiker/innen: Ensemble intercontemporain (FR), SWR Symphonieorchester, Das Neue Ensemble, Bamberger Symphoniker – Bayerische Staatsphilharmonie Kölner Philharmonie, WDR Funkhaus Wallrafplatz u. a., Köln: 30.4.–7.5.2017 www.achtbruecken.de

Give Us Back Our Voice! Updating Asian Democracies

Projektleitung: Literarisches Colloquium Berlin e.V. Kurator/innen: Max Czollek, Michelle Steinbeck (CH), Simone Lappert (CH), Robert Prosser (AT) Autor/innen: Daniela Chana (AT), Sirka Elspaß, Moritz Gause, Raphaela Grolimund (CH), Pablo Haller (CH), Ianina Ilitcheva (UZ), Jopa Jotakin (AT), Judith Keller, Niklas Lemniskate, Enis Maci u. a.

Reading the Baltic

das Doppelkonzert für Klavier, Schlagzeug und Ensemble (2002) zur Aufführung. Die Komposition „snagS&Snarls II“, die auf Chins neue Oper vorausweist, wird in Köln uraufgeführt. Für die Realisation des Porträts konnten u. a. das Ensemble Musikfabrik, das Neue Ensemble, das SWR Experimentalstudio und das ­Ensemble intercontemporain gewonnen werden.

ACHT BRÜCKEN — Unsuk Chin

erweitert. 2018 finden öffentliche literarische Veranstaltungen in Dänemark, Schweden, Estland und Deutschland statt. Neben abendlichen Lesungen sind Auftritte und Veranstaltungen in Schulen geplant. Künstlerische Leitung: Klaus-Jürgen Liedtke Künstler/innen: Annette Lindegaard (DK), Polina Lisovskaja (RU), Hans Peter Neureuter, Michael North, Tor Eystein Øverås (NO), Jan Philipp Reemtsma, Bernd Roling, Göran Rosenberg (SE), Ingrid Velbaum Staub (EE), Clas Zilliacus (FI) Tagung Rathaus Rostock: 13.–16.9.2018; Lesefeste und lokale Treffen: Schwedischer Schriftstellerverband, Stockholm: 1.9.–30.11.2018; Literaturhaus Rostock: 13.–15.9.2018, Literaturhaus

unserer Zeit. Die vielfach preisgekrönte Schülerin von György Ligeti, die seit 1988 in Berlin lebt, hat mit Dirigenten wie Sir Simon Rattle, Gustavo Dudamel und Neeme Järvi zusammengearbeitet, ihre Musik wurde von internationalen Spitzen­ ensembles und Orchestern aufgeführt. Chins Kompositionen zeichnen sich durch Virtuosität und Experimentierfreude aus, ihre Musiksprache ist ebenso von großer Intellektualität wie auch faszinierender Farbigkeit und Sinnlichkeit geprägt. Das Festival präsentiert eine Werkschau, die Chins umfangreiches Œuvre und damit die Vielfalt ihrer kompositorischen Ansätze und Themen spiegelt. In zwei Porträtkonzerten kommen u. a. das „Allegro ma non troppo“ für Schlagzeug solo und Tonband (1994/98), das Konzert für Klavier und Orchester (1996–97) und

Das Programm „Give Us Back Our Voice!“ im Rahmen des SPIELART Festivals München lädt künstlerische Arbeiten aus ostasiatischen Ländern ein, die sich in unterschiedlicher Weise mit den politischen Realitäten und historischen Narrativen aus ihren jeweiligen Gesellschaften auseinandersetzen. Dabei rücken thematisch in den Fokus: die koloniale Vergangenheit, die offizielle Erinnerung an den Koreakrieg, aktuelle Zukunftsentwürfe und politische Fragen wie z. B. das Erstarken rechter Bewegungen, der Umgang mit Zensur und Selbstzensur, aber auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition. „Give Us Back Our Voice!“ will den Blick für die kulturelle Bedingtheit von Geschichts- und Politikverständnis schärfen und den westlichen mit dem innerasiatischen Diskurs über Demokratie-Konzepte und Alternativen in einen Dialog bringen. In Bühnenprojekten, Lecture Performances, Installationen, Filmen und einem Diskursprogramm stellen ostasiatische Künstler/innen ihre Perspektiven auf die politische Verfasstheit ihrer Länder vor. So werden sie u. a. der Frage nachgehen, ob die Demokratie-Defizite in Asien einem besonderen historischen Erbe geschuldet sind, oder ob aktuelle politische Probleme eher eine Parallele in weltweiten Entwicklungen haben. Der Idee des transkulturellen Dialogs entsprechend, wird das Programm von einem Kuratoren-Team gestaltet, das sich aus dem asiatischen Netzwerk „Scene/Asia“ und der künstlerischen Leitung des SPIELART Festivals zusammensetzt. Künstlerische Leitung: Tilmann Broszat Mitwirkende: Chiaki Soma (JP), Kyoko Iwaki (JP), You Mi (JP), Mark Teh (MY), Aichatpong „Jo“ Weeresethakul (TH), Tsuyoshi Ozawa (JP), Hansol Yoon (KR), Ho Rui An (SG), Akira Takayama (JP), Minouk Lim (KR) u. a. Gasteig, Muffathalle, Einstein, ­München: 27.10.–11.11.2017 www.spielart.org


36 Kult! Legenden, Stars und Bildikonen

litische Führer, Subkulturen und Stars, der Inszenierung kultischer Orte, mit Ritualen und Fetischgegenständen auseinander. Darüber hinaus beschäftigt sich die Ausstellung mit dem Mythos „Zeppelin“, und der eigens eingerichtete Blog #zeppcontent hinterfragt und diskutiert den Netzkult. Die Fachtagung „Kultobjekte und Mythen im Museum“, ein Filmprogramm, Vorträge und Kooperationsprojekte begleiten die Schau.

Künstler/innen: Halil Altındere (TR), Kenneth Anger (UM), Julius von ­Bismarck, Candice Breitz (ZA), ­Aleksandra Domanovic (CS), Josh Kline (UM), Aby Warburg Zeppelin Museum, Friedrichshafen: 2.6.–15.10.2017 www.zeppelin-museum.de

Kurator/innen: Jürgen Bleibler, Claudia Emmert, Friederica Ihling, Sabine Mücke, Ina Neddermeyer

© Candice Breitz

Kulte sind Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Zugehörigkeit, über Rituale der Verehrung stiften sie Gemeinschaft und Identität. Der Kult um Personen, Objekte oder Orte ist allgegenwärtig – gerade in Krisenzeiten erleben Kulte einen Aufschwung. Dabei sind sie nur bedingt rational erklärbar. Als komplexes Gefüge aus Emotio und Ratio wohnt ihnen immer auch ein Moment des Rätselhaften inne.

Die interdisziplinäre Ausstellung im Zeppelin Museum analysiert die verschiedenen Formen und Strategien von Verkultungen. Internationale Künstler/innen wie Halil Altındere, Julius von Bismarck und Josh Kline reflektieren die Rolle des Kults in der zeitgenössischen Kunst. Sie gehen den Mechanismen von Kulten in Gesellschaft, Politik und Popkultur nach und untersuchen deren gesellschaftliche Relevanz: Wie entstehen, wie wirken sie? Welche Kontinuitäten und Brüche weisen sie auf? Welche subversiven Kräfte können sie entfalten? Die künstlerischen Arbeiten setzen sich mit dem Kult um po-

© Kenneth Anger / Courtesy of the artist and Sprüth Magers

Kult! — Candice Breitz: Stills from King (A Portrait of Michael Jackson), 2005, Shot at UFO Sound Studios, Berlin, Germany, July 2005, 16-Channel ­Installation

Kult! — Kenneth Anger: Airship 1, 2, 3, 2010–2012, Video-Still


37 Herkunftssache

Courtesy of Catriona Jeffries, Vancouver. Foto: SITE Photography

Literarisch-künstlerische ­Zusammenkünfte

Das Literaturhaus Stuttgart widmet seinen internationalen literarischen Kongress dem Themenkomplex Herkunft. Mit künstlerischen und wissenschaftlichen Mitteln sollen interdisziplinär und ­multiperspektivisch „Herkunftsfragen“ ­behandelt werden, in denen sich soziale Schichtungen, kulturelle und ethnische Markierungen, aber auch Geschlechterordnungen und Altersstrukturen verschränken: Wie lassen sich eingeübte, zumeist stereotype Zuschreibungssysteme durchlässiger gestalten? Wie kann man die Vielfalt unterschiedlichster Herkünfte in eine positiv besetzte Heterogenität überführen? Wie stellen wir trotz Distink­ tionen Gemeinschaften her? In diskursiven und performativen Formaten soll ausgelotet werden, welche Funktionen Kunst und Kultur übernehmen können und über welche Instrumente sie verfügen, um populistischen Zuschreibungen und Vereinfachungen mit inkludierenden Zukunftsvisionen zu begegnen. In der Überzeugung, der Sprache von Hass und Gewalt erfolgreich eine andere – eine Sprache der Kunst – entgegensetzen zu können, die hinreichend Potenzial für Neugestaltung in sich birgt, soll ein unvoreingenommener Blick auf „Herkunftssachen“ geworfen werden. Künstlerische Leitung: Stefanie S ­ tegmann, Kateryna Stetsevych (UA), Katarina Berg (CS) Mitwirkende: Mutherem Aras (TR), Björn Bicker, Sighard Neckel, Ulrich Peltzer, Philipp Schönthaler Literaturhaus und öffentlicher Raum, Stuttgart: 1.2.–31.12.2017 www.literaturhaus-stuttgart.de

Tucholskys Spiegel

Courtesy of Catriona Jeffries, Vancouver. Foto: SITE Photography

Uraufführung

Die Kammeroper Schloss Rheinsberg nimmt die Persönlichkeit und das Werk Kurt Tucholskys zum Ausgangspunkt für eine Oper über den prophetischen Schriftsteller und gnadenlosen Kritiker, den Lyriker und Lebemann, der 1912 ein Liebeswochenende in Rheinsberg verbrachte, das er in seinem „Bilderbuch für Verliebte“ literarisch verewigte. Kurt ­Tucholsky schrieb als Herausgeber der „Weltbühne“ unter verschiedensten Pseudo­nymen von Benno Büffel bis Ignaz ­Wrobel, und genauso vielschichtig und verschiedenartig waren seine Texte. Tucholskys Werk wechselt zwischen Emo­ tionalität und scharfem Intellekt, zwischen Humor und Verzweiflung über die politischen Entwicklungen in der Weimarer ­Republik. Schon 1929 übersiedelte er ­dauerhaft nach Schweden. Die Nationalsozialisten verboten 1933 die „Welt­ bühne“ und entzogen dem jüdischen Emigranten Tucholsky die Staatsbürgerschaft. Der Autor Christoph Klimke und der Komponist James Reynolds spüren in ihrer zeitgenössischen Oper Kurt Tuchols-

ky und vieren seiner Alter Egos nach: ­Peter Panter, Theobald Tiger, Kaspar Hauser und Ignaz Wrobel. Wie auch der Autor Tucholsky, der mit seinen Texten durchaus amüsieren wollte, wird die T ­ ucholsky-Oper auf die herkömmliche Trennung zwischen „Unterhaltung“ und „ernster Musik“ verzichten und die Facetten von Tucholskys Persönlichkeit in einer Vielfalt musikalischer Stile spiegeln. Dementsprechend vielseitig ist das Orchester b­ esetzt mit Streicherensemble, ­Jazz-­Kombo, Holzbläsern, Brass und Perkussion. Die zwölf Singstimmen werden in einem internationalen Gesangswettbewerb ermittelt. Die Oper kommt in der Festivalsaison 2017 im Schlosstheater Rheinsberg zur Uraufführung. Zudem sind Aufführungen in den USA in Zusammenarbeit mit der University of California geplant. Künstlerische Leitung: Frank Matthus Komponist: James Reynolds (US) Librettist: Christoph Klimke Regisseur: Robert Nemack Wissenschaftliche Fachberatung: Peter Böthig Leitung Symposium: Clarence Barlow Orchester: Kammerakademie Potsdam Schlosstheater Rheinsberg: 21.–29.7.2017 www.musikakademie-rheinsberg.de

Liz Magor Ausstellung

Gemeinsam mit dem Züricher Migros Museum für Gegenwartskunst richtet der Kunstverein in Hamburg 2017 die erste deutsche Einzelausstellung der kanadischen Bildhauerin Liz Magor (*1949) aus. Magor, deren Werk eine wichtige Position in der zeitgenössischen Materialismusdebatte einnimmt, zählt zu den einflussreichsten Künstlerinnen Kanadas. In ihren Readymades und Nachbildungen verleiht sie gewöhnlichen Dingen und vertrauten Lebensbereichen eine Aura. Der Betrachter begegnet den Beiprodukten und Überresten unserer Gesellschaft: von Motten zerfressene Stoffe und Zigarettenstummel, Bierdosen und alltägliche Haushaltsgegenstände. Die Skulpturen und Plastiken thematisieren die sozialen Nebenschauplätze unserer Leistungsgesellschaft und verweisen auf die Zerbrechlichkeit unserer auf Erfolg und Wohlstand, Fitness und Produktivität gerichteten Lebensentwürfe. Die Werkschau macht das umfangreiche Schaffen Liz Magors erstmals dem europäischen Publikum zugänglich. Sie konzentriert sich auf Magors skulpturales und installatives Werk und ist in Zürich und Hamburg zu sehen. Flankiert von ­einem breiten Vermittlungsprogramm betont sie die Relevanz von Magors Schaffen insbesondere für eine jüngere Künstlergeneration.

Liz Magor — Formal I, 2012, platinum-cure silicone rubber, chair

Künstlerische Leitung: Bettina Steinbrügge Künstlerin: Liz Magor (CA) Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich: 18.2.–7.5.2017; Kunstverein Hamburg: 1.7.–3.9.2017 www.kunstverein.de

Liz Magor — Formal II, 2012, platinum-cure silicone rubber, chair


38 Shirin Neshat Frauen in Gesellschaft

www.kunsthalle-tuebingen.de

Oratorium Kollektive Andacht zu einem ­wohlgehüteten Geheimnis

Kaum etwas ist so konstituierend für die kapitalistische Gesellschaft, nichts wirkt so trennend wie die ungleiche Verteilung von Eigentum. Eigentum verleiht Macht, es schließt aus und reduziert Teilhabe. Über Eigentum zu sprechen heißt private, familiäre, soziale sowie lokale und globale Aspekte zu betrachten. Auch die Kunstproduktion ist nicht losgelöst von ökonomischen Bedingungen und Fragen des Eigentums. Im Hintergrund stehen Selbstausbeutung, Subventionen, das Produzieren von Privilegien oder Alters­ armut. Wer kann es sich leisten, Künstler zu sein? Das Performancekollektiv She She Pop arbeitet zu diesem Thema gemeinsam mit einem Chor von Künstler/innen, der von den koproduzierenden Theatern in den verschiedenen deutschen und europäischen Städten jeweils vor Ort zusammengestellt wird. An jedem Theater entsteht eine eigene Inszenierung, in der die ­Performerinnen von She She Pop mit dem Chor der gastgebenden Künstler/innen auf der Bühne stehen. She She Pop entwickeln vorab eine Reihe von Fragestellungen sowie musikalische, szenische und choreografische Ansätze. Sie überbringen Fragen und Antworten von Ort zu Ort und lassen

auf diese Weise Menschen miteinander sprechen, die sich nie wirklich begegnet sind. Jeder Ort bestimmt den Inhalt: Das können ehemalige sozialistische Städte sein wie Leipzig, Lublin oder Sofia sowie Städte, die zu den scheinbaren Gewinnern des Kapitalismus gehören wie München, Stuttgart oder Basel. „Oratorium“ wird im Juni 2017 in Hannover zum ersten Mal als work-in-progress präsentiert. So wird die Produktion zu einem musikalischen Spiel mit Chören und Soli, das durch seine zum Teil improvisierte Struktur auch eine permanente Weiterentwicklung erlaubt: eine vielstimmige Andacht mit offenem Ausgang. Künstlerische Leitung: She She Pop Künstlerische Mitarbeit: Ruschka Steininger Musikalische Leitung: Max Knoth Kostüme: Lea Søvsø Bühne: Sandra Fox Technische Leitung / Lichtdesign: Sven Nichterlein ­Management / ­Dramaturgie: Elke Weber Produktionsleitung: Anne Brammen Festival Theaterformen, Hannover: 9.–11.6.2017; Festival Konfrontationen, Lublin: Oktober 2017; ACT Festival, Sofia: November 2017; HAU Hebbel am Ufer, Berlin: Frühjahr 2018; Kaserne Basel: 8.–10.5.2018; Schauspiel ­Stuttgart: 18.–25.6.2018 www.sheshepop.de

Stargaze presents: ­spitting chamber music Spoken Words

stargaze ist ein Kollektiv von Musikern um den renommierten Berliner Dirigenten André de Ridder, das sich sowohl als orchestrales Ensemble wie auch als Band versteht. Es initiiert neue musikalische Kollaborationen und war bereits vielfach als Vorreiter und Ideengeber für ­Musikprojekte an der Schnittstelle von zeitgenössischer Musik, Pop und Elek­ tronischer Musik tätig. Für „Spitting Chamber Music“ lädt stargaze vier Spoken-Word-Künstler ein, gemeinsam neue Stücke zu entwickeln: Die französisch-arabische Rapperin Malikah, den deutschen Schriftsteller Robert Gwisdek alias „Käptn Peng“, den kali­ fornischen Rapper Lil B und die schottisch-liberische Band Young Fathers. ­Diese Künstler repräsentieren auch die Bandbreite der verschiedenen Spielarten von Rap und Spoken Word, verankert in viel älteren Traditionen der Oral Poetry und literarischen Dichtkunst. Über den Entwicklungszeitraum des Projektes werden Workshops stattfinden, in denen die Künstler gemeinsam mit ­stargaze „Tracks“ entwickeln. Formal und kompositorisch werden neue Wege eingeschlagen: für die Klassische Musik die Idee der kollaborativen Komposition, für den Hip-Hop die Klangerzeugung in Echtzeit mit klassischen Instrumenten. Arbeitsweisen aus dem DJ- und HipHop-Bereich werden mit denen der klassischen Komposition und experimentellen Arrangements verbunden. stargaze knüpft mit ­seinem Ansatz an eine Ent-

© Shirin Neshat / Courtesy Gladstone Gallery, New York and Brussels

Shirin Neshat gehört mittlerweile zu den bedeutendsten Künstlerinnen, wenn es um das Spannungsverhältnis zwischen Islam und westlich geprägter Kultur geht. Ihre frühen Foto- und Videoarbeiten thematisieren ihre Sicht auf die Rolle der Frau im Iran und in islamisch geprägten Gesellschaften. In den späteren Arbeiten rücken die Themen des Lebens in Exil und Diaspora sowie die Erfahrung des Verlusts der Heimat stärker in den Fokus. Die Kunsthalle Tübingen plant eine große Übersichtsausstellung zum Werk der im Iran aufgewachsenen und in den USA lebenden Künstlerin. Wichtige Werke aus allen Schaffensphasen sollen zusammengeführt werden, von den berühmten Schriftfotografien der 1990er Jahre über die Videoinstallationen bis hin zu Neuproduktionen der Jahre 2016/2017. Im Zentrum der Ausstellung steht die kritische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Rollen von Frauen in patriarchalischen Gesellschaften. Ausgehend von den künstlerischen Positionen Neshats geht es sowohl um Rollenbilder muslimischer Frauen in westlich geprägten Gesellschaften als auch in islamisch geprägten Ländern. Begleitend ist eine Kooperation mit dem Arabischen Filmfestival Tübingen zu aktueller feministischer Film- und Videokunst geplant. Außerdem richtet die Kunsthalle Tübingen eine internationale Konferenz zur Kunst im Iran aus und veranstaltet gemeinsam mit Forschungszentren und der Universität Tübingen eine Ringvorlesung zur UN-Frauenrechtskonvention.

Künstlerische Leitung: Holger Kube Ventura Künstlerin: Shirin Neshat (IR) Kunsthalle Tübingen: 1.7.–29.10.2017

Shirin Neshat — Rapture Series, 1999 (Foto: Larry Barns)


39 Demokratie und ­Tragödie

wicklung an, die vom legendären Hip-­ Hop-Kollektiv Wu Tang Clan eingeleitet wurde, und führt sie in das Feld der Neuen Musik. Gemeinsame Live-Auftritte finden auf dem Acht-Brücken-Festival in Köln, dem XJazz-Festival in Berlin sowie während der Kunstfestspiele Herrenhausen statt.

Festival Internationale Neue Dramatik 2017

Künstlerische Leitung: André de Ridder / stargaze Komponistin: Mica Levi (GB), stargaze Sänger/innen: Robert Gwisdek, Brandon ‚Lil B‘ McCartney (US), Malikah (LB) Co-­ Arrangements und Musiker: stargaze Philharmonie, Köln: 5.5.2017; XJazz, Berlin: 6.5.2017; Capitol, Hannover: 7.5.2017 www.we-are-stargaze.com

Cohn Bucky Levy – ­ Der Verlust

Foto: Sammlung Christian Repkewitz

Eine deutsche Familiengeschichte

Im Jahr 1890 erreichten drei jüdische Schwestern das thüringische Altenburg und gründeten ein Geschäft, das wenige Jahre später als „M. & S. Cohn“ zum führenden Kaufhaus der Region avancieren sollte. Marianne Cohn führte gemeinsam mit ihrem Ehemann Sally Bucky das Unternehmen, später übernahm der Schwiegersohn Albert Levy die Geschäfts­führung. Ihr soziales und kulturelles Engagement machte die Familie zu einem wichtigen Cohn Bucky Levy – Der Verlust wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Faktor in der Stadt. Dennoch bewahrte Svea Haugwitz Ausstattung: Marianne 1933 niemand die Familie vor der Enteig- Hollenstein (CH) nung und Inhaftierung. Theater&Philharmonie Thüringen Einführungsveranstaltung/Symposium geht zusammen mit dem Yoram Loewen- Altenburg, Theater & Philharmonie stein Performing Arts Studio Tel Aviv den Thüringen: 14.5.2017; Aufführungen Spuren dieser deutsch-jüdischen Ge- Altenburg (verschiedene Orte) 20.5.– schichte vor dem Hintergrund der Scho- 2.6.2017; Aufführungen Performing ah nach. Künstler aus Deutschland und Arts Studio, Tel Aviv: 3.6.–30.11.2017 Israel nehmen sie zum Ausgangspunkt, www.tpthueringen.de um sich in einem gemeinsamen Theaterprojekt mit der Bedeutung und Erfahrung von Geschichte, mit Religiosität und NaCLIFFDANCERS tionalismus auseinanderzusetzen. Aktuelle gesellschaftliche Konflikte wie die Oder was der zeitgenössische ­zunehmende Islamophobie und das israelisch-palästinensische Verhältnis fließen Tanz für ein junges Publikum von in die Erarbeitung des Stückes ein. Die TV-Serien lernen kann Inszenierung arbeitet mit historischen Dokumenten, deutschen und israelischen Der Begriff „Cliffhanger“ bezeichnet Liedern sowie Textfragmenten bekannter das jähe Ende einer zumeist filmisch erjüdischer Autoren und wird im ehemaligen zählten Episode, das auf dem dramaturWohnhaus der Familie Levy in ­Altenburg gischen Höhepunkt innehält, offene Fraentwickelt und geprobt. Das Paul-­ gen des Rezipienten unbeantwortet lässt Gustavus-­­Haus soll zudem als Open ­Space und damit dessen Blick auf ein mögliches für Werkschauen, Diskussionsrunden und Fortsetzungswerk lenkt. Mit seinem ProVorträge dienen, in dem die Bürger/innen jekt „Cliffdancers“ untersucht das tanzdie Möglichkeit haben, mit den Projekt- haus nrw, inwieweit die Narrationstechnik beteiligten ins Gespräch zu kommen. Auf des Cliffhangers geeignet ist, um auf ihrer der Bühne werden Deutsch, Englisch und Basis zeitgenössische Tanzperformances Hebräisch gleichberechtigt nebeneinan- für ein junges Publikum zu entwickeln. der gesprochen. Die Aufführungen finden Es hinterfragt die überkommenen in der Stadt an verschiedenen Original- ­Rezeptionsgewohnheiten während einer schauplätzen statt und holen damit dieses Tanzvorstellung vor dem Hintergrund, Kapitel Altenburger Geschichte eindrück- dass Kinder und Jugendliche von heute lich ins Bewusstsein. selbst als Designer und Autoren ihres Alltags aufwachsen: Im Internet reagieren sie auf kürzlich Rezipiertes, spekulieren in Künstlerische Leitung: Bernhard Foren zu TV-Serien über die weitere inStengele, Lilach Segal (IL) Autorinnen: haltliche Entwicklung einzelner Folgen Mona Becker, Elizabeth Kuti (GB) und spinnen selbständig FortsetzungserDramaturgie: Eynat Baranovsky (IL),

zählungen weiter – „Fan Fiction“. Auf ­diese Weise entwickeln TV-Serien im Internet ihr eigenständiges mediales ­ Nachleben. Für ein junges Publikum von zwölf bis sechzehn Jahren gestaltet „Cliffdancers“ gezielt das mediale Nachleben einer Tanzproduktion. Künstler vom tanzhaus nrw realisieren gemeinsam mit ihren Kollegen von der belgischen Kopergietery eine dreiteilige Tanz-Serie. Auf dieser Basis entwickeln Schüler einer Düsseldorfer Hauptschule gemeinsam mit einem Team von Choreografen und Tänzern, Wissenschaftlern und Medienkünstlern, Bloggern und Gamedesignern die entsprechende Fan Fiction und verbreiten sie in den von ihnen genutzten Plattformen und Medien mittels Snapchat, Instagram oder You­ Tube. Ihre Ergebnisse präsentieren sie im Rahmen der Bühnenpremiere. Künstlerische Leitung: Mijke Harmsen Choreografie: Gaetan Brun-Picard (FR), Dani Brown, Enis Turan, Laura Vanborn (BE) Experten: Sam De Graeve (BE), Vincent Fröhlich, Johan De Smet (BE) u. a. tanzhaus nrw, Düsseldorf: 14.6.2017, 31.8.2017 (Showing), 14.–17.10.2017 (Premiere); Kopergietery, Gent: Juli 2017 (Showing), 23.–25.9.2017 (Try Outs) www.tanzhaus-nrw.de

Im Jahr 2017 setzt die Schaubühne Berlin bei ihrem „Festival für Internationale Neue Dramatik“ (FIND) den Fokus auf das Thema „Demokratie und Tragödie“. Das Wechselverhältnis von Demokratie und Tragödie begleitet uns seit der griechischen Antike. Mitleid, Furcht und Schrecken angesichts der auf der Bühne verhandelten Konflikte sollten die Bürger von ihren eigenen Affekten reinigen und ihr politisches Bewusstsein entwickeln. Die eingeladenen Theatermacher/ innen beschäftigen sich mit dem gegenwärtigen Stand der Demokratie, ihrer Gefährdung, ihrer verdrängten Schuld und ihren Widersprüchen. Ausgehend von zumeist krisenhaften Diagnosen der aktuell existierenden Demokratien befragen sie unsere politischen und sozialen Konzepte von Gemeinschaft und Miteinander und entwerfen Szenarien, wie wir in Zukunft zusammen leben können. Angélica Liddells Stück ist eine düstere, dystopische Zukunftsvision für ein Europa, das sich komplett abgeschottet hat. Anne-Cécile Vandalem ist eingeladen mit einer Tragikomödie über den Rechtspopulismus. Romeo Castellucci geht in seiner Produktion weit in die Geschichte zurück zu Alexis de Tocqueville, um einen Blick auf die Gegenwart und die Demokratie in Amerika zu werfen. Und Christophe Meierhans erprobt mit den Zuschauern am Küchentisch neue Formen des Miteinanders. Alle Produktionen sind auf dem Festival zum ersten Mal in Berlin zu sehen. Die Bandbreite reicht von Schauspiel und dokumentarischem Theater bis zu szenischen Installationen und interdisziplinären Formaten. Künstlerische Leitung: Thomas ­Ostermeier Mitwirkende: Romeo Castellucci (IT), Dead Centre (IE), Angélica Liddell (ES), Mapa Teatro (CO), Christophe Meierhans (CH), Sanja Mitrovic (CS), Milo Rau (CH), Anne-­ Cécile Vandalem (BE) Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin: 30.3.–9.4.2017 www.schaubuehne.de

Collective Ma’louba Interdisziplinäres K ­ ollektiv für ­arabischsprachige Künstler von beiden Ufern des Mittelmeers

Im Zentrum des Projekts steht die Etablierung eines arabischsprachigen, ­internationalen Künstlerkollektivs. Das Kernkollektiv – bestehend aus dem ­syrischen Regisseur Rafat Alzakout, dem syrischen Autor Mudar Alhaggi und der syrischen Schauspielerin Amal Omran – wird mit Künstlern aus dem arabischen Raum verschiedene interdisziplinäre Projekte entwickeln, in deren Mittelpunkt eine arabischsprachige Theaterproduktion steht. Ergebnis sind vielgestaltige Gesamtkunstwerke, die Theater, Tanz, Film,


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Kurator: Rolf C. Hemke Produktionsleitung und Dramaturgie: Immanuel Bartz Regie: Rafat Alzakout (SY), Fadhel Jaibi (TN) Autor: Mudar Alhaggi (SY) Schauspiel: Amal Omran (SY) ­ Ruhrfestspiele Recklinghausen: 16.–17.5.2017; Theater an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr: 19.5.2017; Theater im Aufbau Haus, Berlin: 10., 11., 14.6.2017; Fringe Festival, Edinburgh: 2.–27.08.2017; Théâtre de l’Union / Festival Les Francophonies en ­Limousin, Limoges: 21.–30.9.2017; Badisches Staatstheater Karlsruhe, Kleines Haus: 10.–22.4.2018 www.theater-an-der-ruhr.de

Spurensuche: 100 Jahre Russische Revolution Russische Kulturtage in Freiburg 2017

Im Jahr 2017 jährt sich die Russische Revolution zum 100. Mal. Die revolutionären Umbrüche hatten lang anhaltende sozioökonomische und kulturelle Auswirkungen weit über die Grenzen Russlands hinaus und prägten das gesamte 20. Jahrhundert. Mit einer Spurensuche zur Russischen Revolution widmen sich die Russischen Kulturtage in Freiburg diesem bedeutenden Ereignis und reflektieren die historischen und insbesondere gegenwärtigen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. In modellhafter Weise kooperieren dafür über zwanzig wissenschaftliche und künstlerische Einrichtungen der Stadt. In Zusammenarbeit mit internationalen Partnern wie z. B. dem Staatlichen GULAG-Museum Moskau, der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und der Staatlichen Russischen Bibliothek Rudomino gehen die Institutionen in Ausstellungen, Theaterstücken, Forschungsprojekten, Filmreihen, einer Konferenz und einer Ringvorlesung der künstlerischen Sprengkraft der Revolution und ­ihrem Einfluss auf westeuropäische Kulturen und Gesellschaften bis heute nach.

Künstlerische Leitung: Sarah Sigmund Künstler/innen: Steinunn ­Thórarinsdóttir (IS), Birgit Dieker, Armand Pierre Fernandez (FR), Morten Traavik (NO), Sylvie Fleury (CH), Yinka Shonibare (GB), Lee Bul (KR), Via Lewandowsky Militärhistorisches Museum der Bundeswehr, Dresden: 15.9.2017–28.2.2018 www.mhmbw.de

Wunder der Prärie: ­Response Ability / ­ rtfremde Einrichtung A Ein Experiment für die Kultur­ einrichtung der Zukunft

Europa schottet sich derzeit vielerorts ab, nationalistische, fremdenfeind­ liche Bewegungen erhalten Zulauf, ein neuer Rechtspopulismus gewinnt Raum. Gleichzeitig entstehen Graswurzelbewegungen, die sich gegen autoritäre, anti­ liberale und rechtsradikale Tendenzen wehren. Selbst wenn Kultureinrichtungen vor diesem Hintergrund zunehmend sozialpolitische Aufgaben übernehmen, bleiben ihre eigenen Strukturen davon meist unberührt. Das Künstlerkollektiv zeitraumexit fragt deshalb: Welche Spurensuche: 100 Jahre Russische Revolution — Igor Ponosov, Performance ­ Funktion hat Kunst in der aktuellen ­„Roter Kubus”, Moskau, 2008 ­politischen Landschaft? Welche Kultur­ einrichtung braucht und will eine StadtTargeted Die Russischen Kulturtage 2017 in gesellschaft? Freiburg sind ein Projekt des neu gegrünDas Projekt ist ein radikales ExperiInterventions deten Zwetajewa-Zentrums für russische ment auf Zeit, das politische, partizipaHumanoide Wesen und Kultur an der Universität Freiburg. Sie tive und ästhetische Prozesse inszeniert ­Raketenobjekte und spielerisch den Betrieb einer Kulturzeigen auf eindrückliche Weise, wie sich eine ganze Stadt zu einem Themenschwereinrichtung als Allmende erprobt. punkt vernetzen kann. Dresden hat mit dem MilitärhistoriDas Festival „Wunder der Prärie“ schen Museum der Bundeswehr eines der präsentiert im September 2017 zunächst Projektleitung: Elisabeth Cheauré sehenswertesten kulturgeschichtlichen internationale künstlerische Arbeiten Künstlerische Leitung: Margarita Museen in Deutschland. Seit seinem ein- zum Thema politische Partizipation. Augustin Mitwirkende Institutionen: drucksvollen Umbau durch den Architek- Zeitgleich treffen Vertreter/innen von Zwetajewa-Zentrum für russische Kultur ten Daniel Libeskind 2011 gehört es laut Kultureinrichtungen aus ganz Europa New York Times 2013 zu den „41 Places to beim „European Summit Culture of Proan der Universität Freiburg und Kulturamt der Stadt Freiburg in Zusammenar- go“ weltweit. Neben der Dauerausstellung test“ auf politische Aktivist/innen, um mit Militärtechnik, Schlachtengemälden über die Beziehung von Protestbewegunbeit mit Universität Freiburg, Theater und Uniformen finden regelmäßig Sonder- gen und Kultureinrichtungen zu diskuFreiburg, Hochschule für Musik, Komausstellungen mit zeitgenössischer künst- tieren. Zum Abschluss des Festivals übermunales Kino, Literaturbüro, Ensemble lerischer Ausrichtung statt. Die künstleri- gibt zeitraumexit schließlich seine Recherche, Ensemble SurPlus, E-Werk, schen Installationen im öffentlichen Raum Infrastruktur bis Sommer 2018 an zivilKunstverein, Theater im Marienbad, Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk, des Arsenalhofs – „Targeted Interven- gesellschaftliche Gruppen aus dem Intions“ – sollen Besucher schon vor dem und Ausland. Wer einziehen darf, wird in Stadt­bibliothek u. a. Mitwirkende Betreten des Museums auf die Sonderaus- einem öffentlichen Wettstreit verhandelt Personen: Sergej Lebedew (RU), stellung „Gewalt und Geschlecht“ ein- und von einer Versammlung (Souverän) Amir Reza Koohestani (IR), Juri ­Andruchowytsch (UA), Chto Delat (RU), stimmen. Die Ausstellung widmet sich entschieden. Eine Kommission aus FesMari Bastashevski (RU), Arseny Zhilyaev (De-)Konstruktionen von Geschlechter- tivalteilnehmern und Gästen (Legislative) (RU), Igor Ponosov (RU), Maria rollen und kulturhistorischen Zuschrei- entwickelt ein demokratisches ­Verfahren, bungen im Kontext von Gewalt, Krieg und das die Bespielung regelt. Umsetzung ­Thorgevsky (CH), Stephan ­Weilands, Militär. Inwiefern lässt sich die Komplexi- und Einhaltung der Regeln unterliegen Irina ­Scherbakowa (RU), Peter Weibel, tät menschlicher Emotionen anders als im der „Kunstmonarchin“ Tanja Krone Dietmar Neutatz, Ekaterina Dmitrieva Modell des aggressiven Mannes und der ­( Judikative). Nach ­antikem Vorbild steht (RU), Nikolaus Katzer (RU), Larisa Polubojarinova (RU), Dirk Kemper (RU), friedfertigen Frau abbilden? Die Arbeiten ihr ein Chor zur Seite, gebildet aus zeitgenössischer internationaler Künstler/ ­ Studenten der Popakademie BadenIgor Schajtanov (RU), Aleksej Zherebin innen bilden einen Kunstparcours mit Ob- Württem­berg. (RU) u. a. jekten, die sich auf unterschiedliche Weise Das Projekt macht ästhetische und mit Körperlichkeit und Gewalt auseinan- demokratisch-parlamentarische Praxis Verschiedene Orte in der Stadt, dersetzen. Mit den der Ausstellung vorge- erfahrbar und regt zu einer internationaFreiburg: 1.10.2017–15.12.2017 www.zwetajewa-zentrum.uni-freiburg.de schalteten Installationen entsteht eine Art len Diskussion über Rolle und Funktion Fremdkörper im Gesamtkomplex des Mu- von Kultureinrichtungen an. Es wird von seums, der gängige Erwartungen an den Studierenden der Universität Mannheim Gedächtnisort deutscher Militärtradition begleitet und ausgewertet. Zusätzlich irritiert. „Targeted Interventions“ ist auf entsteht eine Videodokumentation. ein internationales Publikum ausgerichtet.

© Igor Ponosov

Musik, Lesungen und Workshops umfassen können. Inhaltlich spielt die Auseinandersetzung mit kulturellen Traditionen, Mythen und Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart des arabischen Sprachraums eine wesentliche Rolle. Außerdem untersuchen die Künstler kulturelle Gemeinsamkeiten und Differenzen Europas und der arabischen Welt. Arbeitsund Produktionsort ist das Theater an der Ruhr in Mülheim. Das Künstlerkollektiv möchte temporäre, transnationale, mehrsprachige Begegnungsräume auf nationaler und internationaler Ebene schaffen. Die Gesamtprojekte touren als Ganzes oder in Teilen und dienen dem Aufbau internationaler Vernetzungen. Um die Verbindung in den arabischen Kulturraum zu erhalten und künstlerische Rückkopplungen zu beziehen, wird ein zweiter ­Arbeitsstandort am Théâtre National ­Tunisien in Tunis eingerichtet, das mit Fadhel Jaibi einen der wichtigsten Theaterkünstler im arabischen Raum zum Direktor hat.


41 Leitung und Kuration: Gabriele ­Oßwald, Jan-Philipp Possmann, ­Wolfgang Sautermeister Künstlerische Mitarbeit: Tanja Krone Künstlerische Mitwirkende: Ant Hampton (GB), David ­Weber-­Krebs (BE), Christophe ­Meierhans (CH), ongoing projects Sonstige Mitwirkende: Sibylle Peters, Jan van Deth, Raul Zelik, Marijana Cvetkovic (CS), Zsuzsa Berecz (HU), Andreas L ­ iebmann (DK) Mannheim: 13.9.2017–7.7.2018 www.zeitraumexit.de

Abbildung aus der Zeitschrift „Revista Manchete“, Brasilien 1971, mit Dank an Paulo Tavares

Foto: Radjawali Irendra, 2016

Open Border Ensemble Erweiterung des Schauspiel-­ Ensembles

Die Münchner Kammerspiele veranstalteten im Herbst 2015 den „Open ­Border Kongress“ und starteten zugleich ein Modell­projekt, dessen Ziel es war, das Theater selbst in ein „Welcome Theatre“ zu verwandeln. Über eine gesamte Spielzeit hinweg hat sich das Theater auf personeller, organisatorischer und künstlerischer Ebene mit den Themen Flucht, Ankunft und Willkommenskultur ver­ bunden. Mit dem Folgeprojekt „Open Border Ensemble“ wollen die Münchner Kammerspiele nun diese inhaltliche Auseinandersetzung vertiefen und die „Konversion“ des Theaters weiterentwickeln. Sechs Künstler/innen mit Migrationshintergrund werden nach einem Open Call für das „Open Border Ensemble“ engagiert. Sie entwickeln gemeinsam mit dem libanesischen Regisseur Rabih Mroué ein Stück über die Geschichte Syriens und den Aufstieg des Assad-Regimes. Die Künstler/innen des Open Border Ensembles werden auch in die künstlerische Gestaltung des bereits etablierten Welcome Cafés an den Kammerspielen eingebunden. Leitgedanke ist es, die Integration von Künstler/innen in den Theaterbetrieb als ein ästhetisch avanciertes Vorhaben zu begreifen, bei dem beide Seiten voneinander profitieren. In der Spielzeit 2017/2018 wird das Open Border Ensemble eigenständig künstlerische Produktionen entwickeln, gleichzeitig soll die Anbindung und Integration des Ensembles in die betriebliche Struktur der Münchner Kammerspiele intensiviert werden. Langfristig soll das Ensemble integraler Bestandteil des ­ Schauspielensembles der Münchner Kammerspiele werden. Dramaturgie: Rania Mleihi (SY) Regie: Rabih Mroué (LB), Lola Arias (AR), Jessica Glause Welcome Café München, Kammer 2, München: 23.1.2017, 20.2.2017, 20.3.2017, je ein Termin im April, Mai, Juni 2017; Projekt Mroué, Kammer 3, München: Frühjahr 2017; Projekt Glause, München: Spielzeit 2017/18; Projekt Arias, München: ­Spielzeit 2017/18 www.muenchner-kammerspiele.de

Verschwindende ­Vermächtnisse — Drohnenluftaufnahme von illegal zerstörter Regenwaldlandschaft in West Kalimantan (Borneo), Indonesien

Verschwindende ­Vermächtnisse — Bauphase der Transamazônica-Autobahn, die während der brasilianischen Militärdiktatur durch den Regenwald geschnitten wurde

Verschwindende ­Vermächtnisse Die Welt als Wald

Mit der Wiedereröffnung des Naturhistorischen Museums Hamburg ist eine Neuorientierung des Museums in Richtung Klimagerechtigkeit und Herausforderungen des Anthropozäns verbunden: Wie können Naturkundemuseen auf den Klimawandel und das Schwinden der Artenvielfalt reagieren? Was bedeutet es, eine naturkundliche Sammlung zu bewahren, aufzubereiten und auszustellen und dabei diese aktuellen Aspekte zu berücksichtigen? Ausgangspunkt der geplanten Ausstellung ist der 160. Jahrestag der Veröffentlichung der Darwin-Wallace-Papiere, einer zentralen Abhandlung der Biologie. Der Naturforscher Alfred R. Wallace unter-

nahm im 19. Jahrhundert Expeditionen nach Südamerika und Asien. Dabei sammelte er tropische Fauna, dokumentierte die biologische Vielfalt und entschlüsselte die Mechanismen der natürlichen Auslese. Die Sammlung gilt als Grundlage seiner bahnbrechenden Theorien. Heute allerdings steht zur Debatte, ob solche Ent­ deckungen noch möglich wären, da das Ökosystem Regenwald in Folge von Abholzung und Umwandlung in Monokulturplantagen weitgehend zerstört ist. Die Kuratoren führen aktuelle Forschungsergebnisse, historisches Archivmaterial aus naturkundlichen Samm­ lungen weltweit und zeitgenössische künstlerische Positionen zusammen. Die künstlerischen Arbeiten befragen das Erbe des europäischen Kolonialismus in den Tropen und setzen sich mit den teilweise radikal veränderten Landschaften Amazoniens und des Malaiischen Archipels aus-

einander. So versucht die Ausstellung der von heute aus gesehen i­dyllischen Unbedarftheit von Wallaces Eindrücken ein aktuelles Bild ent­gegenzusetzen und den ökologischen Wandel für den Besucher erfahrbar zu machen. Künstlerische Leitung: Anna-Sophie Springer, Etienne Turpin (CA/ID) Künstler/innen: Julian Oliver (NZ), Crystelle Vũ (FR) Wissenschaftliche Berater: Matthias Glaubrecht, Felix Sattler, Frank ­Steinheimer Centrum für Naturkunde, Hamburg: Herbst/Winter 2017/18; Tieranatomisches Theater – Raum für forschende Ausstellungspraxis, Berlin: Frühjahr/ Sommer 2018; Naturwissenschaftliche Sammlungen, Martin-Luther-­Universität Halle-Wittenberg, Halle: Herbst 2018 www.reassemblingnature.org


42 KULTURSTIFTUNG DES BUNDES STIFTUNGSRAT Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Vorsitzende des Stiftungsrates Prof. Monika Grütters Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien für das Auswärtige Amt Prof. Dr. Maria Böhmer Staatsministerin für das Bundesministerium der Finanzen Jens Spahn Parlamentarischer Staatssekretär für den Deutschen Bundestag Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident Dr. h.c. Wolfgang Thierse Bundestagspräsident a.D. Dr. h.c. Hans-Joachim Otto Parlamentarischer Staatssekretär a.D.

Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Dr. Volker Rodekamp Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft Johano Strasser P.E.N. Deutschland Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di Prof. Klaus Zehelein Ehemaliger Präsident des Deutschen Bühnenvereins Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats

JURYS UND ­KURATORIEN Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themen­ spezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter ↗ www.kulturstiftung-­ bund.de bei den entsprechenden Projekten.

DIE STIFTUNG

als Vertreter der Länder Rainer Robra Staats- und Kulturminister, Chef der Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Dr. Eva-Maria Stange Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen

Vorstand Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin

als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Beigeordneter, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund

Sekretariate Beatrix Kluge / Beate Ollesch (Büro Berlin) / Christine Werner

als Vorsitzender des Stiftungsrates der ­Kulturstiftung der Länder Erwin Sellering Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-­ Vorpommern als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Durs Grünbein Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

STIFTUNGSBEIRAT Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten.

Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor

Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche Justitiariat / Vertragsabteilung Christian Plodeck ( Justitiar) / Katrin Gayda / Stefanie Jage / Anja Petzold Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung) / Tinatin Eppmann / Juliane Köber / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier / Therese Teutsch Förderung und Programme Kirsten Haß (Leitung) / Dr. Marie Cathleen Haff (Leitung Allgemeine Projektförderung) / Sebastian Brünger / Teresa Darian / Anne Fleckstein / Michael Fürst / Marie Krämer / Antonia Lahmé / Carl Philipp Nies / Uta Schnell / Karoline Weber / Friederike Zobel

Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vorsitzender des Stiftungsbeirates

Programm-Management und Evaluation Ursula Bongaerts (Leitung) / Marius Bunk / Marcel Gärtner / Bärbel Hejkal / Sarah Holstein / Constanze Kaplick / Steffi Khazhueva / Anja Lehmann / Frank Lehmann / Dörte Koch / Nadine Planert / Ilka Schattschneider / Anne-Kathrin Szabó / Kathleen Wismach

Dr. Dorothea Rüland Generalsekretärin des DAAD, stellv. Vorsitzende des Stiftungsbeirates

Projektprüfung Steffen Schille (Leitung) / Franziska Gollub / Fabian Märtin / Lina Schaper/ Antje Wagner

Dr. Franziska Nentwig Geschäftsführerin Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e.V.

Verwaltung Andreas Heimann (Leitung) / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe

Jens Cording Beauftragter der Gesellschaft für Neue Musik Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats


43 DAS MAGAZIN Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen ­möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter: ↗ www.kulturstiftung-bund.de/­ magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, ­erreichen ­Sie uns auch telefonisch unter ­ +49 (0) 345 2997 131. ­ Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf! Das Magazin Nº 28 können Sie auch als E-Magazin in englischer Sprache abrufen unter ↗ www.kulturstiftung-bund.de/magazine.

DIE WEBSITE Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der ­Stiftung, die Förderanträge und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter ↗ www.kulturstiftung-bund.de ↗ facebook.com/kulturstiftung ↗ twitter.com/kulturstiftung

IMPRESSUM Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 2 06110 Halle an der Saale T +49 (0)345 2997 0 F +49 (0)345 2997 333 info@kulturstiftung-bund.de ↗ www.kulturstiftung-bund.de Vorstand Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz (verantwortlich für den Inhalt) Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Beratung Tobias Asmuth Schlussredaktion Therese Teutsch Gestaltung Neue Gestaltung, Berlin Bildnachweis Alexander Kluge

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kompensiert Id-Nr. 1762637 www.bvdm-online.de

Druck BUD, Potsdam Redaktionsschluss 15.2.2017 Auflage 26.000 Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes – alle Rechte vor­behalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes. Die Kulturstiftung des Bundes wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.


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