Magazin #27 der Kulturstiftung des Bundes

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Herbs

Welt

t / Win Nº 27 ter 20 16


2 EDITORIAL Die Welt ist alles, was der Fall ist: Die Kulturstiftung des Bundes fördert tatsächlich weltweit. Bekanntlich müssen alle Projekte, für die Anträge auf Fördermittel gestellt werden, nicht nur in Deutschland Sichtbarkeit erlangen, sondern auch eine internationale Dimension aufweisen oder bestenfalls von internationaler Strahlkraft sein. Darin mögen sie sich auf den ersten Blick von unseren Programmen unterscheiden, die auf bundesweiter Ebene operieren: Man denke z. B. an Stadtgefährten – Fonds für ­Museen in neuen Partnerschaften oder an TRAFO – Modelle für Kul­ tur im Wandel oder an 360° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft. Bei genauerem Hinsehen lassen sich aber auch deren internationale Aspekte leicht identifizieren. Indem sie die Kulturinstitutionen in Deutschland dabei unterstützen, mit geeigneten Konzepten auf den demografischen Wandel einer immer internationaler werdenden Gesellschaft zu reagieren, behandeln auch sie Fragen und Themen, die durch die Verflechtung und das Zusammenwachsen der Welt aufgeworfen werden. Im letzten Heft haben wir der in vielen europäischen Ländern verwurzelten Kultur der Sinti und Roma breiten Raum gegeben, deren zumeist verkannte Eigenständig- und Eigenwilligkeit wir mit dem RomArchive fördern. In diesem Heft nun legen wir den Schwerpunkt auf Kooperationsprojekte mit außereuropäischen Kulturschaffenden, die die Kulturstiftung des Bundes aktuell fördert. Um den Eindruck der Heterogenität kommt man dabei nicht herum. Projekte im Zusammenhang mit mexikanischen, koreanischen, iranischen und indischen Künstler/ innen und Kulturschaffenden und deren Hintergründe stellen wir Ihnen auf den Seiten 6–16 vor. Was sie bei aller Unterschiedlichkeit verbindet, sind Einblicke, unter welch schwierigen Bedingungen Kulturschaffende sich behaupten und welch große Rolle künstlerische Ausdrucksformen in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen spielen. Auch der afrikanische Kontinent ist vertreten: Noch einmal liegt diesem Magazin eine neue Ausgabe der Zeitschrift Chimurenga Chronic bei, die wir über mehrere Editionen im Zusammenhang mit TURN – Fonds für künstlerische Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen ­Ländern gefördert haben. Auch die Bildstrecke, mit der wir jedes Mal einen Künstler beauftragen, ist großenteils auf dem afrikanischen Kontinent entstanden. Der documenta-Künstler Akinbode Akinbiyi gehört zu den bemerkenswertesten Fotografen in Deutschland, wovon auch die ihm jüngst in Weimar verliehene Goethe-Medaille zeugt. Schließlich stellen wir Ihnen Ausstellungen und ihre Leitideen vor, von denen wir hoffen, dass sie eine Art global turn in der Museumslandschaft auspro­ bieren. Wie lassen sich Museen zeitgemäß und zukunftsfähig verändern angesichts einer Welt, in der die künstlerischen Verflechtungen und Bezugnahmen immer enger werden? Das Kuratorenteam der Ausstellung Postwar im Haus der Kunst in München unter Leitung von Okwui Enwezor erzählt die Nachkriegsgeschichte der Bildenden Kunst insofern neu, als sie sie radikal aus ihrer Fixierung auf westliche Narrative löst und so den Gewinn einer Erweiterung westlicher Kunstgeschichtsschreibung eindrucksvoll vor Augen führt (S. 25). Drei weitere namhafte Museen, die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, das Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main und die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin

nehmen ihre jeweiligen Sammlungen ebenfalls unter dem Motto Museen verändern unter die Lupe und stellen sie in neue, (kunst-)historisch bisher vernachlässigte internationale Kontexte. Die in Heidelberg ­lehrende, international renommierte Forscherin für „Global Art History“, Monica Juneja, gibt einen Einblick (S. 29) in die Möglichkeiten und Anforderungen an global ausgerichtete kuratorische Konzepte, denen sich avancierte Museen heute stellen müssen. Wenn wir erst am Ende erwähnen, womit das Heft aufmacht, nämlich einem Essay der russischen Schriftstellerin und Aktivistin Maria Stepanova­ (S. 4), so wird sich sein Sinn unmittelbar enthüllen: Sie macht sich Gedanken darüber, warum in Europa die nationalistischen, die populistischen Bewegungen erstarken, die eine zunehmende „Welthaltigkeit“ unseres Kontinents fürchten. Auch das ist leider der Fall. Wie viel für uns auf dem Spiel steht, wissen Künstler/innen und Kulturschaffende vielleicht nicht besser, aber in den meisten Fällen erfahren oder erahnen sie es früher als andere. Wo sie Spuren in die Zukunft legen, sind wir, ist die Kulturstiftung des Bundes gern dabei. Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz Vorstand Kulturstiftung des Bundes


3 INHALT

NEUE PROJEKTE

An der Schwelle zur Nicht-Neuzeit Welches Gesicht hätte die konservative Wende der Gegenwart? Das Gesicht eines verjüngten Zauberers der Dunkelheit. ­– Ein Essay von Maria Stepanova Seite 4

Female Voice of Iran Festival iranischer Musikerinnen Ayşe Erkmen & Mona Hatoum Displacements/Entortungen Planet B 100 Ideen für eine neue Welt Together Apart Choreografische Annäherungen an das ­Zusammenhalten in Europa GOOD SPACE – politische, ästhetische und urbane Räume Crossing Media Naturzeit Natur im Zeitalter ihrer technischen ­Reproduktion Frau_Architekt Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architekten­beruf You May Also Like – Robert Stadler Werkschau Tetsumi Kudo Retrospektive Uncertain States Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen Unter Waffen Über Spuren von Militär und Gewalt im Alltag Planetary Consciousness Musik-Performance Empfindlichkeiten Festival zu Homosexualitäten und Literatur Hybrid Layers Markenbildung, Netzidentität, innovative ­Materialien und Präsentationsformen Die Welt ohne uns Erzählungen über das Zeitalter der ­nicht-­menschlichen Akteure The Moving Museum Arrivals and Departures TECHNE Produktionsplattform für Live-Art und Medienkunst Cage, Maierhof, Radigue @ klub katarakt 2017 Ur- und Erstaufführungen in Hamburg Silent Songs into the Wild Franz Schubert – Staged Concert Gedicht einer Zelle Triptychon der Liebe und Ekstase Nadia Internationales Theaterprojekt zur Erforschung von Fluchtgründen PLAY! zeitkratzer plays She She Pop ¡Adelante! Iberoamerikanisches Theaterfestival Gypsies Ein internationales Theaterprojekt zu Roma in Europa africologne Festival 2017 Eine künstlerische Plattform für trans­nationalen Austausch Eurotopia Acht Künstler. Acht internationale Statements Terra Mediterranea: In Action Deutsch-zypriotisches Kooperationsprojekt Die Selfmade-Aristokratie Ein kommunitaristisches Theater- und ­ Tanzprojekt von La Fleur Transit Europa Ein internationales Kulturprojekt Dicker als Wasser Konzepte des Familiären in der zeit­genössischen Kunst Exil Ensemble Ein Ensemble von Geflüchteten

Ich bin 132 ... 133 134 135 In Mexiko kämpft die Zivilgesellschaft einen mutigen Kampf gegen die oft alltäglich gewordene Gewalt. Eine ihrer Waffen: Kultur. Die Protagonisten dieses kreativen Widerstands stellt Peter B. Schumann vor. Seite 6 Zwei Gedichte von Luis Felipe Fabre Seite 8/9 Wenn die Welle bricht K-Drama, K-Pop, K-Fashion, K-Art. Trotz des großen Erfolgs koreanischer Kultur wirft Young-jun Tak einen kritischen Blick auf den Status der Künstler seines Landes. Seite 10 Was wir uns wahnsinnig wünschen Marc Sinan und Iva Bittová über das musikalische Bühnenprojekt „Rajasthan“, das am mythischen Ursprungsort der Roma ihrer Musik auf die Spur kommen will. Seite 12 Die weibliche Stimme Irans Warum sollen Frauen eigentlich nicht allein auf der Bühne singen? Unsere Autorin beschreibt den zähen Kampf um musikalische Gleichberechtigung. Seite 15 Neue Projekte Seite 17–20 I WONDER AS I WANDER BILDER VON AKINBODE AKINBIYI Inlay Das Sazlı Melaike „Aziz hatte das Paillettenröckchen ausgebessert, endlich konnte er es anziehen. Seine Augen waren schon kräftig geschminkt, doch es reichte ihm längst nicht. ...“ – Eine Geschichte von Ahmet Sami Özbudak Seite 21 Wie würde eine globale Moderne aussehen? Okwui Enwezor, Katy Siegel und Ulrich Wilmes über die Welt als ein globales Beziehungsgeflecht aus dem Blickwinkel der Kunst Seite 25 Jenseits der Glaswand Monica Juneja zu den Herausforderungen und Chancen der Globalität für Kunstmuseen Seite 29 Über die exzentrische Moderne und globale Resonanzen und Gleichzeitigkeiten Wie die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin und das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt ihre Sammlungen nicht-westlichen Akteuren öffnen. Seite 30 Neue Projekte Seite 32–37 Gremien & Impressum Seite 38


EIN ESSAY VON MARIA STEPANOVA

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An der

Schwelle

zur

NichtNeuzeit


5 er Schriftsteller Jewgeni Schwarz war in der Sowjetunion als Märchenerzähler abgestempelt, und dieser Umstand half ihm, dessen Freunde und Zeitgenossen reihenweise verbannt und hingerichtet wurden, zu überleben: zu leben bis zu seinem natürlichen, von niemandem anberaumten Tod. Er schrieb erfolgreiche Theaterstücke über Drachen, nackte Könige und Bären, die man für leichte Kost halten konnte – oder man konnte in den Ritzen und Lücken des Textes subtile, präzise Anspielungen auf die sich rasant verfinsternde politische Realität der Zeit entdecken, vielleicht auch die Finsternis selbst, die in ihm ­versteckt lag und dem Zuschauer auflauerte. 1940 schrieb Schwarz eine Geschichte, die später in sämtliche Lesebücher aufgenommen werden sollte; ihr Titel – Märchen von der verlorenen Zeit – klingt überraschend proustianisch, die Handlung ist schlicht: Böse Zauberer stehlen den Kindern die für deren Kindheit vorgesehene Zeit, wodurch aus den Kindern runzlige Greise werden und aus den Zauberern Kinder, die wieder ein sorgloses Leben zwischen Eisbahn und verbummelten Hausaufgaben genießen. Um sich das Gestohlene zurückzuholen, müssen die Helden die Uhrzeiger um siebenundsiebzig Umdrehungen zurückdrehen, in die Zeit davor, als die Kinder noch Kinder waren und die Schurken alte Zauberer. Die konservative Wende der jüngsten Zeit hat kein einheitliches Gesicht; wenn sie eines hätte, wäre es das Gesicht eines solchen verjüngten Zauberers: unnatürlich kindlich, mit Grübchen und goldenen Locken, ein Gesicht von einem Werbeplakat, Popanz einer fremden Zukunftsfantasie aus jener Zeit, als Schwarz seine Geschichte schrieb und Auden über den Ozean auf Europa blickte, das mit einem Mal zu den darkened lands of the earth gehörte. Lange Zeit schien es, als wäre dieses Gesicht ein für alle Mal verschwunden. Die Nachkriegswelt – und in diesem Punkt unterschieden sich der Westen und die Sowjetunion, Europa und Amerika kaum – hatte es sich zur Aufgabe gemacht, aus ihren Fehlern zu lernen und ein System aufzubauen, das keine Wiederholung des Vergangenen zuließ. Lehrstühle und Schulklassen, Generationen von Intellektuellen, die ganze mächtige Maschinerie der Kultur arbeiteten über Jahrzehnte an diesem „Nie wieder!“. Erinnern, wissen, wachsam sein, das war die Devise. Vor etwa einem Jahr habe ich einen Versuch unternommen, die Ursache für Russlands Entwicklung der letzten Jahre zu verstehen, jene veränderten Wahrnehmungsweisen (im Sinn der Sontag’schen ­sensibility), die all das möglich gemacht haben: die schweigende Putin’sche Mehrheit, den Krieg in der Ukraine, die politisch motivierten Gerichtsverfahren und die pausenlosen Festivitäten, die parallel dazu ablaufen. Das Geschehen in Russland schien mir ­damals als Extremfall, der sich unter veränderten ­Bedingungen nicht reproduzieren ließe und gerade ­deshalb lehrreich wäre. Die Grundzüge der Weltwahrnehmung, die ich festzuhalten versuchte, muteten sehr heterogen und in ihrer Kombination zugleich seltsam konsequent an: Es waren die bleibenden Kennzeichen einer Gesellschaft, die geprägt ist durch eine über ein Jahrhundert lang andauernde, unvorstellbare Gewaltgeschichte. Dieses Spezifikum Russlands – nämlich dass das Trauma sich hier nicht auf eine Grenzerfahrung reduzieren lässt, sondern eine Kette solcher Erfahrungen darstellt, deren jede die vorangegangene fortschreibt und vertieft, eine Art Korridor des permanenten Schmerzes – scheint mir nach wie vor einzigartig. Umso sonderbarer und bitterer ist es, ein Jahr s­ päter dieselben Züge in der Rhetorik und politischen Praxis von Ländern wiederzufinden, die ich bislang wenn nicht als Vorbilder betrachtet hatte, so doch als Spielarten der Norm – im Sinn von Lebensweisen, die durch das unsichtbare Netz eines ethischen Vertrags zusammengehalten werden. Jetzt sehe ich auch hier

das bekannte hybride Muster, das Nebeneinander ­unvereinbarer Standpunkte, die Inkonsequenz, den ­raschen Wechsel von Strategien und Lösungsansätzen, die Verdrehung von Tatsachen zum Zweck einer allgemeinen Emotionalisierung. Auch das Kulissenhafte, Unechte daran ist bekannt: Man beruft sich auf inexistente Präzedenzfälle, auf Traditionen, die man im­ ­selben Atemzug erfindet, und macht aus Phantomen Gegenstände einer tätigen Nostalgie. Man vereinnahmt fremde Diskurse ohne Rücksicht auf Kontext und Bedeutung. Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, Schwarz und Weiß mischen sich in dieser Logik, gehen fließend ineinander über. Und alle diese Wahrheiten und Unwahrheiten sprechen eine Sprache von gestern. Das Schlüsselwort des Slogans „Make America great again“ ist nicht „great“, sondern „again“. Auf der ­Tagesordnung stehen nicht Zukunftsfantasien, sondern ein Traum von der Vergangenheit. Diese Vergangenheit lässt sich weder lokalisieren noch beschreiben, weil sie nicht historischer, sondern fantastischer Natur ist; ihre Hauptmerkmale sind Glückseligkeit und Unveränderlichkeit. Stasis als Staatsideal war das unausgesprochene Ziel von Putins politischem Projekt – eines Projekts, das sich ausschließlich am Bild einer großen Vergangenheit orientiert, welche das Regime notdürftig zu rekon­ struieren versucht. Bis vor kurzem war es schwer vorstellbar, dass der Charme des politischen Reenactments globales Potenzial entfalten könnte. Heute aber scheint selbst die Sehnsucht nach der Welt vor 1913 schon wieder überholt. Nie haben wir so viele Dystopien und Katastrophenfilme gesehen wie in den letzten zwanzig Jahren. Ihre Botschaft wurde gründlich verinnerlicht: Die Zukunft ist immer schlechter als die Gegenwart und darf folglich nicht eintreten. Man muss sie um jeden Preis bekämpfen, oder zumindest dafür sorgen, dass sie der Vergangenheit möglichst ähnlich sieht. Die neue Wahrnehmung, die hinter der Wende nach rechts steht, sieht Größe wie Glückseligkeit wie auch Sicherheit grundsätzlich nicht als Sache der Zukunft: Man kann sie weder erkämpfen noch ererben, sondern nur imitieren. Das höchste Ziel ist die perfekte Nachbildung, ein Bild der Vergangenheit, das befreit ist von späteren Schichten, von den Spuren der Globalisierung, des Multikulturalismus, von jedem Hinweis auf das Allgemein-Menschliche, auf die Möglichkeit einer gemeinsamen Arbeit an einem besseren Leben. Lange stand die Welt der Idee von Veränderung als solcher nicht so hilflos und ängstlich gegenüber wie heute. Der Augenblick soll verweilen – nicht, weil er so schön ist, sondern weil wir allem, was nach ihm kommt, misstrauen; unser einziger sicherer Halt ist die Vergangenheit, das Terrain des (vermeintlich) exakten Wissens, der verlässlichen Modelle. All das fügt sich zu einem übergreifenden Muster, das nichts gemein hat mit 1917 oder 1933: Es geht nicht darum, der Welt eine neue Gestalt zu geben, sondern darum, sie von innen zu verriegeln. Was derzeit in Russland, Europa und Amerika vorgeht, scheint weniger mit Politik als mit Metaphysik zu tun zu haben. Die Entwicklung, die ich so gebannt beobachte und die derzeit die Karte der Welt verändert, ist ein verzweifelter Versuch, gegen die Zeit anzukämpfen, gegen die Unausweichlichkeit von Alter und Zerfall. Eine Welt, die ihre eigene Zukunft nicht mehr liebt, hat für die Idee des Fortschritts, der schrittweisen Entwicklung zum Besseren keine Verwendung. Wie auch für die Idee des Neuen – nicht im Sinn des neuesten Gadgets, sondern des Neuen an sich, als etwas Unbekanntem, Erschreckendem, das unser Leben zu einer Sache von Mut und Verantwortung macht. Rimbauds Forderung, „absolut modern zu sein“, kommt in der neuen Weltwahrnehmung nicht mehr vor, oder schlimmer, sie wandert in ­Lifestyle- und Instagram-Sphären ab und wird zur Parodie ihrer selbst.


6

Ich bin

In einer Welt, die vor dem Unbekannten zurückschreckt, wird die Position des Anderen überflüssig bis gefährlich. Als bevorzugtes Objekt der Beschreibung und des Erkenntnisinteresses treten an seine Stelle der Unsrige, „unsereiner“, „die Unseren“ – eine Galerie von Gipsabgüssen und Spiegelungen, ein ganzes Regiment der Muster und Vorläufer, in dem die Verfahren der Postmoderne ein unverhofftes Revival erleben. Aus dem Anderen dagegen wird der verhasste, der in der dunklen Außenwelt verschwimmende Fremde. An Schwarz’ Geschichte, geschrieben an der Schwelle der Katastrophe, tritt heute plötzlich ein Detail ins Bewusstsein: Um sich die verlorene, die gestohlene Zeit wiederzuholen, muss man die Uhrzeiger rückwärtsdrehen, siebenundsiebzig Umdrehungen gegen den Lauf der Zeit und Geschichte. Die Zauberer haben die Zeit beschleunigt, sie vorangetrieben, und sich auf diese Art selbst verjüngt und erfrischt, alle anderen aber künstlich altern lassen. Vom heutigen Punkt, aus der Sicht jenes verfrühten, erbärmlichen Alters, das seine Tage mit der Erinnerung an bessere Zeiten zubringt und das nach Russland auch Europa befallen hat, scheint es oft, als bewegten wir uns allzu schnell auf die Zukunft zu. Für mich besteht eine der wichtigsten Erkenntnisse der Nicht-­ Neuzeit aber darin, dass wir, die Kinder der Geschichte, in dem Bemühen, die Zeiger zurückzudrehen, nicht Zeit gewinnen, sondern verlieren. Würde man die Menschheitsuhr um siebenundsiebzig Jahre zurückstellen, stünde sie wieder auf 1939. Das sollten wir vermeiden. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja Maria Stepanova (*1972) ist eine interna­ tional preisgekrönte Lyrikerin, Essayistin, ­Internetpublizistin und seit 2007 Chef­­redak­ teurin des unabhängigen Online-Magazins Open­ space.ru, das 2012 als ausschließlich spenden­finanziertes Online-Kulturjournal COL­ TA.RU ­fortgeführt wurde. Dort werden kulturel­ le, ­soziale und politische Themen verhandelt, die monatlich über 900.000 Nutzer erreichen. ­Maria S ­ tepanova lebt in Moskau.

PETER B. SCHUMANN

Mir scheint, das „Vergangenheitsspiel“, das heute so viele spielen, ist zum Teil auch ein Produkt der Hochkultur der letzten Jahrzehnte, ­hervorgegangen aus eben jenem Kult des historischen Gedächtnisses, der eine Wiederholung des Vergangenen verhindern sollte. Die bloße Idee eines optimistischen Projekts ist durch Nationalsozialismus und Kommunismus gründlich diskreditiert; an die Stelle der Utopien sind Dystopien getreten – die Zukunftsvisionen der Nachkriegszeit beginnen mit Orwells 1984, und im selben Stil geht es weiter. Die Kultur sah es als ihre Pflicht, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und das brachte womöglich mehr Konzentration auf diese Vergangenheit mit sich, als die Welt sich ­leisten konnte. Ich spreche hier auch von meiner ­eigenen, keineswegs nur privaten Praxis: Für zu viele von uns ist die Vergangenheit zurzeit das zentrale Interesse, sie ist der optische Apparat, durch den wir die Gegenwart betrachten, und die Sprache, in der wir von der Zukunft sprechen. Möglicherweise hat die Kulturszene, die keineswegs mit Trump oder der Af D sympathisiert, in diesem Punkt trotz allem eine gemeinsame Grundlage mit deren Anhängern. Die Angst vor der Zukunft, der faszinierte Blick auf die Vergangenheit, das Misstrauen gegen die Idee der gemeinsamen Arbeit – all das betrifft auch uns.

132 … 133 134 135

Mit Kultur gegen die Kultur der Gewalt: Nicht nur die Bürger Mexikos, sondern auch zahlreiche Künstler kämpfen für einen gesellschaftlichen Wandel in ihrem

Land. Einen Blick auf den so mutigen wie kreativen Widerstand wirft Lateinamerika­ experte Peter B. Schumann.


7 „Fue el Estado!“ („Es war der Staat!“) malte ein Dutzend Aktivisten in meterhohen Buchstaben auf den Zócalo, den größten Demonstrations- und Aufmarsch­ platz Mexikos, im Herzen der Hauptstadt, vor dem Präsidentenpalast. Sie hatten eine gigantische Dimension für ihren Schriftzug gewählt, damit die Medien darauf reagieren mussten. Sie wollten so die juristischen Ablenkungsmanöver der Regierung von ihrer Verantwortung für die Verschleppung der 43 Studenten der Pädagogischen Landschule in Ayotzinapa brandmarken. Es war die bisher spektakulärste ­ ktion des Künstlerkollektivs Rexiste. A Sein Name ist Programm: Existo porque ­resisto – Ich existiere, weil ich mich wehre. Der Widerstand dieser jungen Leute ­findet nicht nur auf der Straße statt. Er drückt sich auch in grafischen Arbeiten, in einer Fülle von visuellem Material aus. Sie greifen allerdings nicht auf die traditionelle Ikonografie der Linken zurück, „auf rote Sterne und Plakate mit erhobenen Fäusten in Schwarz-Weiß-Rot, denn mit dem, was früher einmal revolutionär war, können wir uns nicht mehr identifizieren“. Sie wählen stattdessen meist lichte, sogar poppige Farben für ihre Bilder der Ermordeten von Ayotzinapa, für ihre Solidaritätsplakate, Videoanimationen oder Wandbilder. Es ist eine Kunst, die den Zeitgeist nicht verleugnet, sondern auf ihn politisch bewusst reagiert. Rexiste steht in der Tradition politischer Kunst in Mexiko, die mit dem ­Taller de Gráfica Popular in den 1940er ­Jahren einen Höhepunkt erreichte. Sie ist der zeitgemäße Ausdruck dieser großen Vergangenheit. Damit möchte das Künstlerkollektiv allerdings eher wenig zu tun ­haben. Es will sich nicht vereinnahmen lassen, nicht von der Geschichte und schon gar nicht von der Politik: „Wir wollen nicht Teil dieses politischen Systems werden und halten uns von allen Parteien fern. Wir wollen unabhängig unsere Meinung sagen und so die Wirklichkeit verändern.“ Das Misstrauen gegen jede Form von institutionalisierter Organisation ist unter den gesellschaftskritischen Künstlern und überhaupt in der jüngeren Generation der mexikanischen Bürgergesellschaft weit verbreitet. Diese besitzt zwar wenig politische Praxis, ist aber in einer der gewaltreichsten Phasen des Landes aufgewachsen. Sie hat den Krieg der Drogenbanden erlebt und musste mitansehen, wie er durch die militärische Intervention des Staates eskalierte, wie die Staatsorgane selbst zu Gewalttätern wurden, wie das System der Straflosigkeit immer weiter wucherte und wie die Justiz im Sumpf der Korruption versank, wie die politische Klasse sich daran bereicherte und wie sich die traditionelle Linke nahezu selbst auflöste. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der engagierte Teil der jüngeren Generation eigene Wege sucht. In der Bewegung YoSoy132 ­(IchBin132) hat sie ihre erstaunlichste ­Verwirklichung gefunden. Im Mai 2012 tauchte im Internet ein Video auf, das 131 Studierende zeigte, die ihren Ausweis

in die Kamera hielten, dessen Nummer und ihre Namen mitteilten. Sie solidarisierten sich mit dem studentischen ­Protest gegen den damaligen Präsidentschaftskandidaten Peña Nieto. Dieser war auf einer Wahlveranstaltung in der Iberoamerikanischen Universität erschienen, weil er hoffte, an dieser Elite-Hochschule, die bisher nicht durch politische Aktionen aufgefallen war, leichtes Spiel zu haben. Als er jedoch mit kritischen Fragen konfrontiert wurde und auf diese nur ausweichende Antworten bot, kam es zu heftigen Protesten und einem fluchtartigen Rückzug des heutigen Präsidenten. Danach schäumten staatstragende Medien und bezeichneten die Demonstranten als Dummköpfe und Faschisten. Diese reagierten mit ihrem Video auf die Diskriminierungen. Innerhalb weniger Stunden wurde es 20.000 Mal heruntergeladen. Es brodelte auf Facebook, Twitter und in E-Mails. Ein Hashtag tauchte auf und entwickelte enorme Anziehungskraft. Die Studierenden zahlreicher anderer Hochschulen schlossen sich an und mobilisierten die Massen zu Hunderttausenden: zu Demonstrationen, wie sie das Land in diesem Ausmaß nur selten erlebt hat. Zum ersten Mal formierte sich in ­Mexiko über das Internet eine soziale ­Bewegung: YoSoy132. (Der Ausdruck ­bedeutet: Ich, der/die 132. und steht für alle, die sich nach den 131 Studierenden mit dem Protest identifizierten.) Auf einer Generalversammlung formulierten die Studierenden die politische Tradition, in der sie sich sehen. „Wir vergessen nicht die revolutionären Kämpfe der Bewegungen der Arbeiter, Campesinos, Eisenbahner und Ärzte. Den Kampf um die Autonomie der Universitäten, den bewaffneten sozialen Widerstand der 1970er Jahre. Wir vergessen auch nicht die Studentenbewegung von Tlatelolco 1968! Wir sind die Erben der Wahlfälschungen von 1988 und 2006, der Wirtschaftskrisen von 1982, 1996 und 2008! Wir sind die Erben des Aufstands der Zapatista, des Massakers von Acteal, der ungesühnten Frauenmorde in Ciudad Juárez und im Bundesstaat Mexiko! Wir sind Teil dieser Geschichte und verlangen Gerechtigkeit! Für sie werden wir kämpfen! Heute und immer, wir, die 132er!“ Nach dem zu erwartenden Wahlsieg Peña Nietos löste sich die Bewegung in zahlreiche einzelne Initiativen auf. Für viele Aktivistinnen und Aktivisten blieb sie eine bleibende Erfahrung, die ihr Bewusstsein schärfte. Im Internet sind ihre Spuren zu finden. Dort erproben sie bis heute neue Möglichkeiten der Kommunikation und neue politische Praktiken. Sie verausgaben sich nicht mehr in Massenaktionen, sondern beschränken sich auf kleinere, zielgerichtete, oft ästhetische Interventionen wie die von Rexiste. Sie vertreten eine andere Form, Politik zu machen: versuchen beispielsweise, direkt im Alltag zu intervenieren wie das Frauentrio Hijas de violencia (Töchter der Gewalt). Wenn die drei Schauspielerinnen auf der Straße sexuell belästigt werden, greifen sie zu einer Konfetti-­ Pistole, schießen auf den Typ und singen

ihren „Sexista Punk“: „Jeden Tag derselbe Blick / und dieselben sanften Worte: / Mamacita, süßes Ärschchen, / darf ich nicht einmal? / Weißt du, was du machst, / heißt Vergewaltigung. / Ich warte auf den Tag, / an dem ich auf die Straße gehen kann, / ohne auf meinen Körper aufzupassen. / Sexist, Macho, / was willst du eigentlich? / Deine Männlichkeit beweisen? / Dann verpiss dich aus meinem Blickfeld!“ Sie wollen in ihrem Land, mit einer der höchsten Feminizid-Raten der Welt, andere Frauen ermutigen, sich zu wehren. „Wir glauben zwar nicht, dass wir so die Welt verändern. Doch wir haben ­damit die unsrige verändert“ lautet ihr ­Credo, das auf viele andere Künstlerinnen und Künstler zutreffen dürfte. Für diese Generation steht nicht die Auseinandersetzung mit der Drogenmafia und ihrer Kultur der Gewalt im Mittelpunkt des Handelns. Darüber wird ständig in den Medien berichtet. Ihnen geht es um die Gewalt der politischen Verhältnisse, die die Narcos hervorgebracht, geduldet oder unzureichend bekämpft hat. Und um deren Opfer – wie die Studenten von Ayotzinapa, die 2014 von einer Polizeieinheit verschleppt, dann mit dem Wissen von Militärs einer Drogenbande übergeben und von dieser massakriert wurden, ohne dass die Verantwortlichen bisher verurteilt worden wären. Ein Schlüsselerlebnis staatlichen Versagens bzw. staatlicher Mittäterschaft für diese Generation. Auch für das Kollektiv Másde131 (MehrAls131). Die Gruppe junger Journalisten, Fotografen, Designer und Filmemacher will über gesellschaftliche Missstände aufklären, die von den Medien ignoriert und von staatlichen Instanzen oft verursacht werden: wenn Renten von öffentlichen Verwaltungen oder Löhne von privaten Firmen verspätet oder überhaupt nicht ausgezahlt werden, wenn eine private Zufahrtstraße mit Genehmigung der Behörden quer durch ein Dorf gelegt wird oder wenn einer indigenen Gemeinde mit juristischen Tricks ein Stück ihres Landes geraubt wird. Die Reportagen, Filme und Videos der Gruppe können nur Nadelstiche verursachen. Ihre Mitglieder sind sich dessen bewusst. Sie haben jedoch 2012 auch gesehen, „was es bedeutet, eine Medienfront aufzubrechen, und was für Auswirkungen dies auf die Realität eines Landes haben kann“. Und Másde131 ist nur eine von zahllosen Gruppierungen der Bürgergesellschaft, die mit kleinen Schritten Veränderung bewirken. Wie ernst das System inzwischen ihre Internet-Auftritte nimmt, zeigen die Hackerangriffe, die im Juli zwei Wochen lang ihre Webseiten lahmlegten.

Peter B. Schumann (*1941 in Erfurt), Publizist, hat in zahlreichen Rundfunk-­ Features, Fernseh- und Filmbeiträgen d­­ie politische und kulturelle Situation Lateinamerikas dargestellt, mit der er sich seit den 1960er Jahren i­ntensiv ­beschäftigt. Aktuell gilt sein besonde­ res Interesse den Folgen des Neolibera­ lismus und dem Erstarken der sozialen Bewegungen in Lateinamerika.

Endstation Sehnsucht Theater in Mexiko: Ein Festival über Flucht, Identität und die Darstellbarkeit von Gewalt

Mexiko und Deutschland haben für 2016/17 die Durchführung von gegenseitigen Länderjahren beschlos­sen, um wechselseitig Kennt­nisse über die Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie im jeweils anderen Land­­ zu vertiefen. In diesem Rahmen ­findet das Festival Endstation Sehn­ sucht an den Münchner Kammerspielen statt und setzt einen Schwerpunkt im Bereich der Darstellenden Künste. Die Münchner Kammerspiele laden aktuelle ­mexi­kanische Produktionen des ­Freien Theaters ein, darunter zahl­ reiche europäische Erstaufführungen. Neben Gastspielen etablierter Gruppen liegt der Fokus vor allem auf jungen Regisseur/innen und Performer/innen, die ihre ersten eigenen Produktionen realisieren. Das Festival wendet sich mit ­Mexiko ­einer Region zu, die geprägt ist durch das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd und der urbane Alltag der Bürger durch Gewalt und organisiertes Verbrechen. Im Mittelpunkt des Festivals steht eine Inszenierung des mexikanischen Regisseurs Ángel Hernández, die sich des Themas Flucht und Migration im europäischen Kontext annimmt. ­In Mexiko stehen seine Arbeiten für eine neue Form des politischen ­Theaters: Er versucht, Räume und Schauplätze, die sich in der Hand des organisierten Verbrechens be­fanden, beschädigt oder sogar zerstört wurden, mit den Mitteln und für die Zwecke der Kunst zurückzugewinnen und zu revitalisieren. Mit seiner Intervention im Rahmen von Endstation Sehn­ sucht setzt er seine langjährige künstlerische Arbeit mit Arbeitsmigrant/innen in Güterzügen fort und stellt damit auch die Frage nach der Vergleichbarkeit der ­Situation an den Grenzen Europas und denen der Vereinigten Staaten. Kurator/innen: Christoph Gurk, Ilona Goyeneche, Matthias Lilienthal, Anne Schulz Künstler/innen: Ángel Hernández Arreola (MX), Lagartijas Tiradas al Sol (MX), Gabino Rodriguez (MX), Marianna Villegas (MX), Pollyester u. a. Münchner Kammerspiele: 22.–27.11.2016 ↗ www.muenchner-kammerspiele.de


8 Das Gedicht meiner Freundin Wenn ich mein Gedicht vorlese, heulen die Leute, gesteht sie mir. Du aber nicht, wirft sie mir vor: Ich habe dich beobachtet, erklärt sie mir, du heulst nicht, betont sie, du heulst nicht, wenn ich mein Gedicht vorlese, hält sie mir vor. Sie fragt mich: Ist dir womöglich egal, was in diesem Land abgeht? Leidest du nicht unter den Toten? Den Tausenden von Toten? Den vergewaltigten Frauen? Den massakrierten Migranten? Den Entführten? Den Verschwundenen, den Verstummten, den von Gewalt, Verbrechern, Regierung, Militär, von den Medien zum Schweigen Gebrachten? All jene, denen ich eine Stimme gebe in meinem Gedicht, sind sie dir egal?, fragt sie mich, will sie wissen, wirft sie mir vor, ermahnt sie mich. Die Leute aber, erklärt sie mir, ja: die Leute

LUIS FELIPE FABRE

klatschen, sie klatschen begeistert, wenn ich mein Gedicht vorlese, die Leute heulen und klatschen und dann kommen die Leute auf mich zu, sprechen mit mir. Sie raunt mir zu: Die Leute sagen mir, dass ihnen mein Gedicht gut gefällt. Aber du klatschst nicht, hält sie mir vor, oder klatschst nur ein bisschen, legt sie mir dar, weil dir alles egal ist, sagt sie, dir ist es egal, wiederholt sie, dir ist es egal, betont sie, dir ist egal, was hier abgeht. Was hier abgeht, ist, dass du neidisch bist: klärt sie mich auf. Was hier abgeht, ist, dass du eigentlich mein Gedicht hättest schreiben wollen: hämmert sie mir ein. Was hier abgeht, ist, dass du es aber gar nicht würdest schreiben können: herrscht sie mich an: macht mich nieder: du würdest es gar nicht schreiben können, weil dir egal ist, was hier abgeht.

Luis Felipe Fabre (*1974 Mexiko-­ Stadt), Dichter, Schriftsteller und Verleger, avanciert derzeit zu ei­ nem der interessantesten Köpfe der jüngeren Künstlergeneration Lateinamerikas. Er ist Autor meh­ rerer Gedichtbände und Heraus­ geber von zwei Anthologien ­mexikanischer Gegenwartslyrik. Wir veröffentlichen zwei Gedich­ te aus seinen 2013 erschienenen Poemas de Terror y de Misterio, in denen er auf die gegenwärti­ ge gesellschaftliche Situation in Mexiko Bezug nimmt: Es gebe Dinge, die man nur in Form von Gedichten verstehen könne, so Fabre. Seine Gedichte brechen mit traditionellen Formen, sind stark beeinflusst von filmischer Ästhetik und Popkultur, Comics, Krimis und Schundheften. Der Zombi-Themenkreis verrät Fab­ res Vorliebe für Splatterfilme. Auf Deutsch gibt es neuerdings ­Gedichte von Luis Felipe ­Fabre in: Luis Felipe Fabre, Neues ­mexikan­isches Kino, übersetzt von Rike Bolte, Berlin: Hochroth 2016. ­Fabre war auch Teilnehmer des Poesiefestivals der Literaturwerk­ statt in Berlin im Juni 2016.


9 Aus dem Zyklus Notas en torno a la catástrofe zombi

11

(„Notizen rund um die Zombi-Katastrophe“):

Und Santa Muerte? Welche Beziehung besteht zwischen dem Santa-Muerte-Kult und dem Aufstand der Lebendigen Toten?

1 Worin liegt der Ursprung der Zombie-Apokalypse?

12 Macht es Sinn, die Coatlicue

2

als Zombie-Vorgängerin zu begreifen?

Welche Beziehung besteht zwischen der Zombie-Apokalypse und dem Rätsel des

13

Hauses ohne Türen?

War Mictlantecutli ganz klar ein Zombie?

3

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„Tretet ein und ihr werdet beherbergt, Kinder“,

„Beeilt euch und tretet ein, Kinder, bevor

sprach süß aus dem Innern des Hauses ohne Türen

es zu spät ist: Mexiko ist nicht zu retten,

eine Stimme, die behauptete, die

Kinder, tretet ein:

Jungfrau von Guadalupe selbst zu sein. Habt ihr nicht mich, die ich Eure Mutter bin?“ 4 Zombie: wer sprach je zu dir: „Steh auf und geh?“ Beide Gedichte aus dem mexikanischen Spanisch von Rike Bolte Der unbekannte Virus-Jesus? Der Voodoo-Jesus? Der Tetrodotoxin-Jesus? Der Radioaktivitäts-Jesus? 5 Das Haus ohne Türen: ein unzugänglicher Zementblock, in dessen Innern ganz unerklärlich eine Stimme erklang: „Tretet ein, tretet ein. Ein Unheil naht: Kommt, Kinder, rasch, geschwind, tretet ein …“ 6 Man kam aber gar nicht rein! 7 Wieso in Mexiko? 8 Schuld ist der genmanipulierte Mais, versichern die Ökos. 9 Der Genmais-Jesus? Der Extreme-Gewalt-Jesus? Der Gepanschte-Drogen-Jesus? Der Experimentalwaffen-Jesus? 10 Jesus hat mit alldem nichts zu tun, versichert der Sprecher der Mexikanischen Erzdiözese.


YOUNG-JUN TAK

10

Wenn ­

die

Welle

bricht

Der weltweite Erfolg des ­koreanischen Films, der Kunst, ­Popmusik und Mode, allesamt vermarktet unter dem K-Label, zeigen das Potenzial und die D ­ ynamik koreanischer Künstle­ rinnen und Künstler. Gleichzeitig kämpfen diese in der kapitalisti­ schen Hochleistungs­ gesellschaft Südko­ reas mit ihrer ­prekären sozialen Lage, der Abhängigkeit von öffent­lichen Geldern und staat­licher Zen­ sur. Der Kunst­kritiker Young-jun Tak wirft einen kritischen Blick auf den Status der Künstler seines Landes.


11 Im Mai dieses Jahres gewann die Autorin Han Kang für ihren Roman Die Vegetarierin als erste Koreanerin den Man Booker International Prize. Am selben Tag erklärte die Dichterin Young-mi Choi, die seit ihrer über 500.000 Mal verkauften Gedichtsammlung 30 Jahre alt. Die Party ist zu Ende als Star-Autorin gefeiert wird, einer verblüfften Öffentlichkeit, dass sie Sozialhilfe beziehe. Auf der letztjährigen Biennale in Venedig wurde der Künstler Heung-soon für seine Videoarbeit „Factory Complex“, in der er die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen von Frauen in Asien in eine berührende Bildsprache übersetzt, als erster Koreaner überhaupt mit dem Silbernen Löwen geehrt. Ein Jahr zuvor wurde ein Bild des Malers Seun-dam Hong aus der Sonderausstellung anlässlich des 20. Jubiläums der Kwangju Biennale entfernt. In „Sewol Owol“ wird Präsidentin Geun-hye Park ironisch als Hahn dargestellt. Der Vorfall entfachte einen Streit um Zensur und führte dazu, dass der Präsident der Biennale-Stiftung Youg-woo Lee zurücktrat. Nach Angaben des Ministeriums für Kultur, Sport und Tourismus von 2014 gibt es in Südkorea zwischen 40.000 und 50.000 bildende Künstler, was ziemlich ­viele für die Größe des koreanischen Kunstmarktes sind. Bis 2008 die Finanzkrise aus den USA nach Korea schwappte, gab es zwar eine kurze goldene Zeit; zwei, drei Jahre lang kursierte sogar der Witz, dass jede Leinwand mit nur einer Spur von Farbe schon verkauft sei, heute aber ist es für die meisten Künstler im Grunde unmöglich, von ihrer künstlerischen Tätigkeit zu leben. Wenn ihr Studium abgeschlossen ist, fängt der Kampf um die Existenz an – was in Südkorea sehr wörtlich zu verstehen ist. 2011 sorgte der Tod von Go-eun Choi für ­Aufsehen – die junge Künstlerin war verhungert. Die ­Medien berichteten ausführlich über den Vorfall, der schließlich zur Verabschiedung des sogenannten Goeun-Choi-Gesetzes führte. Danach wird Künstlern ein Fördergeld für ihre künstlerische Arbeit gezahlt sowie die Möglichkeit geboten, eine Unfallversicherung abzuschließen. Voraussetzung dafür ist, dass sie von der ebenfalls 2011 gegründeten Korean Artists Welfare Foundation als Künstler in den Kategorien Literatur, Bildende Kunst, Musik, koreanische traditionelle Musik, Tanz, Theater, Film oder Unterhaltung anerkannt werden. Trotzdem reißen die Nachrichten über Künstler, die sich aus Armut das Leben genommen haben, nicht ab. Was nicht überrascht in einem Land, das die höchste Selbstmordrate aller OECD-Staaten hat. Schon vor ­Jahren schrieb dazu der britische Economist, dass der „enorme Leistungsdruck, sich auflösende Traditionen, Einsamkeit und Armut die Killer Südkoreas“ seien. Laut einem Bericht des Ministeriums für Kultur, Sport und Tourismus über die Lebenssituation von Künstlern liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen aus künstlerischer Tätigkeit im Theater bei 12.850.000 Won (ca. 10.400 Euro), im Film bei 8.760.000 Won (ca. 7.100 Euro), in der Bildenden Kunst bei 6.140.000 Won (ca. 5.000 Euro) und in der Literatur sogar nur bei 2.140.000 Won (ca. 1.700 Euro). Die monatlichen Lebenshaltungskosten betragen aber mindestens 1.960.000 Won (ca. 1.600 Euro). Die allermeisten Künstler schaffen es also nicht, ihre Existenz allein durch ihre künstlerische Tätigkeit zu sichern. Ein Grund liegt sicherlich darin, dass die Politiker in den zu knapp bemessenen staatlichen Fördergeldern eine Art Sozialhilfe sehen. Die wechselnden Regierungen teilen keine Vision, um in einer langfristigen Perspektive Kultur und Kunst zu unterstützen. Ihre Politik beschränkt sich auf oberflächliche Display-Leistungen, allenfalls spontane, improvisierte Lösungen – und für diese erwarten sie immer häufiger künstlerisches Entgegenkommen. Von Seiten der Künstler gibt es Bemühungen, die Situation zu verbessern, vor allem bildende Künstler haben die Initiative ergriffen und den Verein „Art Workers Gathering“ gegründet. Sie beschäftigen sich mit einer artists’ fee, einer Honorarregelung für Künstler. Nachdem die Verantwortlichen des 4th Art Factory Project keinem Teilnehmer ein Honorar gezahlt hatten, gingen die Künstler auf die Barrikaden. Ihre Proteste führten schließlich zu einem gesteigerten gesellschaftlichen

I­ nteresse an der artists’ fee und einer in den Institutionen wenn auch nur langsam wachsenden Bereitschaft, einen Weg zu finden, Künstlern ein Honorar zu zahlen. DER TRAUM VON K-ART

Bis dahin waren mit Ausnahme einiger Stars, die sich auf dem internationalen Kunstmarkt etablieren konnten, die meisten Künstler von staatlichen Geldern abhängig (den wichtigsten Fonds zur Förderung der Kultur verwaltet dabei das Arts Council Korea) oder von Konzernen wie Samsung, Hyundai, LG und Kumho Asiana, wobei Samsung, der größte Kultursponsor, erst Anfang des Jahres die Kunstwelt mit seiner Entscheidung schockierte, aus finanziellen Gründen seine Galerie „Plateau“ zu schließen. Koreaner sind leidenschaftliche Kinogänger, sie besuchen hin und wieder Konzerte, selten Theater, noch seltener Ausstellungen und kaum Lesungen oder Tanzveranstaltungen. Diese Zurückhaltung verstärkt die Abhängigkeit der Künstler von staatlichen Fonds und privatwirtschaftlichem Sponsoring, was Probleme schafft. Erstens erwarten koreanische Politiker von geförderter Kunst vor allem, dass sie kommerziell erfolgreich ist, für sie sind Kulturinhalte Ressourcen, in diesem Sinne erfolgreiche Pop-Bands und TV-Soaps die ideale Kunstform, auch weil viele der als „Koreanische Welle“ bezeichneten Kulturexporte dem Land ein cooles dynamisches Image verpassen sollen. Aktuell träumt die Regierung von einer weiteren Marke: Mit „K-Art“ will sie wie einst die YBA (Young British Artists) der Kunst eine sprunghafte Entwicklung bescheren. Das zweite Problem heißt Zensur. Die koreanische Regierung greift immer wieder in die Auswahlverfahren ein, um Künstler von Fördermaßnahmen auszuschließen, die nicht mit ihrer konservativen politischen Richtung übereinstimmen, oder um Projekte zu blockieren, die heikle soziale Themen behandeln. So hat das Arts Council Korea 2015 das Theaterstück „Alle Soldaten sind bemitleidenswert“ von Regisseur Geun-hyung Park gestoppt, indem es zunächst Druck auf die Jury ausübte, die das Stück zur Förderung vorgeschlagen hatte, und als diese sich weigerte, den Regisseur dazu zwang, von sich aus auf die Unterstützung zu verzichten. Warum aber wollte die Kommission Geun-hyung Park unbedingt von der Förderliste haben? Und warum strich auch das Nationale Koreanische Institut für Traditionelle Musik (National Gugak Center) aus seinem Aufführungsprogramm ein Stück von Geun-yung Park? Die Antwort findet sich in seinem vorherigen Stück „Frosch“, das den Verdacht auf ein ungerechtes Wahlverfahren bei der letzten Präsidentschaftswahl thematisiert und Junghee Park parodiert, den ehemaligen Diktator Südkoreas und Vater der amtierenden Präsidentin. LIEBER MALER, MALE MIR ...

Man könnte sagen, da hat ein Unternehmer (Staat) durch seinen Agenten (Fonds) bei einem Klienten (Künstler) ein Produkt (Kunstwerk) bestellt, das seinen Interessen schadet, weshalb er die Zahlung (Förderung) storniert. Man könnte auch sagen, dass das, was in Südkorea passiert, politische Zensur ist, wie die Koreaner sie aus vergangenen diktatorischen Zeiten kennen. In einer turbokapitalistischen Gesellschaft, in der Kultur unter einem enormen Vermarktungsdruck steht, ist staatliche Förderung oft die einzige Möglichkeit, künstlerisch gewagte und gesellschaftlich relevante Kunst zu ermöglichen. In Südkorea kann man beobachten, wie der Staat mit diesem Versprechen Künstler zähmt, was zum dritten und vielleicht größten Problem führt, der Selbstzensur. Die Fördertöpfe der staatlichen Institutionen wirken wie Waffen, mit denen Künstler unter Druck gesetzt werden können, ganz einfach weil sie ohne Förderung ihre künstlerische Tätigkeit nicht weiter verfolgen können. So planen und beantragen sie nur solche Projekte, von denen sie sicher sein können,

Walls Iphigenia in Exile

Deutsche und koreanische Theatermacher bringen eine zeitgenössische Wiederauflage von Goethes „Iphigenie auf Tauris“ auf die Bühne und reflektieren dabei Geschichte und Gegenwart ihrer Heimatländer. Wie auch Goethes klassisches Drama zeigt Walls – Iphigenia in Ex­ ile ­ Menschen in dem Versuch, ihre soziale Deter­miniertheit zu überwinden, innere wie äußere Grenzen zu überschreiten. Die Industrie­ nationen Südkorea und Deutschland haben beide ­Erfahrung mit Teilung und Mauern. Trotz ­Wohlstands gibt es Tendenzen der Abschottung gegenüber Zuwanderern: Wen sperren wir aus, und wen sperren wir ein? Zugleich stellt Walls die zeitlosen Fragen nach Neigung und Pflicht, Wahrheit oder Lüge. Vier koreanische und ein deutscher Regisseur interpretieren je einen Akt, zwei Autor/innen aus Deutschland und Südkorea bearbeiten und ergänzen das Stück um neue Texte. Walls wird von einem deutsch-koreanischen Ensemble zweisprachig gespielt und in Südkorea Premiere haben. Danach ist es am Deutschen Theater Berlin im Repertoire zu sehen. Künstlerische Leitung: Sonja Anders, Jungung Yang (KR) Regie: Kon Yi (KR), Jungung Yang (KR), Kyungsung Lee (KR), ZinA Choi (KR), Tilmann Köhler Bühne & Kostüme: Karoly Risz Video & Musik: Daniel Hengst Autoren: Mario Salazar, ZinA Choi (KR), Kon Yi (KR), Kyungsung Lee (KR) Dramaturgie: Ulrich Beck, Danbi Yi (KR) Produktions­ leitung: Ulrich Beck, HeeJin Lee (KR) Schauspieler/innen: Dakyung Yoon (KR), Hyun Jun Ji (KR), Kotti Yun (D/KR), Helmut Mooshammer, Sabine Waibel Asia Culture Center (ACC), Gwangju: 14.10.2016 (Premiere); Kammerspiele des Deutschen Theaters, Berlin: 23.10.–13.11.2016 ↗ www.deutschestheater.de

dass ihre Aussagen und Mittel der politischen Richtung der Regierung nicht komplett entgegenstehen. Auch Theaterleiter oder Kuratoren entwerfen lieber politisch neutralere Ausstellungen oder Aufführungen, um später unnötige Probleme zu vermeiden. Vor einiger Zeit hat die Regierung in Seoul entschieden, unter dem Motto „Prosperität der Kultur“ jeden letzten Mittwoch eines Monats die Museen eintrittsfrei zu öffnen und einen „Tag mit Kultur“ einzuführen, an dem es für den Besuch von Theatern Rabatte gibt. „Prosperität“ ist ein Begriff aus der Wirtschaftswissenschaft, Kultur aber bedeutet nicht allein, die Zahl der Besucher von Ausstellungen und Aufführungen zu steigern. Sie entsteht vielmehr, wenn Künstlerinnen und Künstler sich frei und glücklich fühlen, um ihr Publikum zu berühren und zu bereichern. Dann gibt es vielleicht auch mehr als nur einen „Tag mit Kultur“ im Monat. Aus dem Koreanischen von Yushin Ra

Young-jun Tak ist Wissenschaftler und Kunstkri­ tiker. Er schreibt Kritiken und Essays für Magazine und Websites wie ArtReview Asia, Canvas Magazine, Har­ per’s Bazaar Korea, Bazaar Art Korea oder The Artro. Zuvor hat er Vermittlungsprogramme für das Arts Council Korea konzipiert und als Redakteur für Art in Culture gearbeitet, ein monatlich erscheinendes kore­ anisches Kulturmagazin. Tak hat an der Sungkyunk­ wan University in Seoul Kunst, Englische Literatur und Vergleichende Kulturwissenschaften studiert und lebt und arbeitet seit kurzem in Berlin.


JAKOB KNESER IM GESPRÄCH MIT MARC SINAN UND IVA BITTOVÁ

12

Was

wir uns

wünschen

wahnsinnig


13 wölf Millionen Roma leben verstreut in ganz Europa, ­damit sind sie die größte Minderheit des Kontinents. Die frühe Geschichte der Roma liegt im Dunkeln, gesichert aber ist, dass das Volk der Rom vor zwölfhun­ dert Jahren aus dem heuti­ gen Rajasthan im Nordwes­ ten Indiens aufbrach, um über den Balkan nach Europa zu wandern. Wahr­ scheinlich stammen die Roma von den niederen Kasten wie den Dom ab, deren Angehörige sich als Tänzer und Musiker über Wasser hielten. Warum die Roma ihre Heimat verließen, darüber gibt es nur Spekula­ tionen. Eine von ihnen besagt, dass die ­Roma dem restriktiven Kasten-­System ihrer Heimat R ­ ajasthan entfliehen wollten: ein Aufbruch in eine neue Freiheit.

„Rajasthan“, ein von der Kulturstiftung des Bundes gefördertes Projekt der Dresdner Sinfoniker mit dem Berliner Gitarristen und Komponisten Marc Sinan, will dem mythischen Ursprungsort der Roma auf die Spur kommen. Im September und Oktober 2016 sind europäische Roma-Musiker und -Künstler in den nordindischen Bundesstaat aufgebrochen, um dort mit indischen Musikern zu arbeiten und unter der Leitung von Marc Sinan ein musikalisches Bühnenprojekt zu entwickeln. „Rajasthan“ ist nicht das erste Experiment dieser Art, auf das sich Marc Sinan einlässt. Bisher waren seine musikalischen Spurensuchen mit den Dresdner Sin­fonikern wie „Dede Korkut“ oder „Aghet“, mit dem das ­Orchester und sein Intendant ­Markus Rindt im Sommer 2016 enorme politische und ­mediale Aufmerksamkeit erlangten, allerdings auf den türkisch-­armenischen Kulturraum gerichtet. Indien ist für Marc Sinan Neuland. Rajasthan ist Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt, zugleich aber auch Ausgangspunkt für eine komplexe Geschichte von Identität und Zugehörigkeit der Roma. Jakob Kneser: Marc Sinan, was hat dich zu diesem

­Projekt inspiriert?

Marc Sinan: Es geht ganz klar um Zugehörigkeit und

Nicht-Zugehörigkeit, es geht um Stigmatisierung, um Lebenskraft, es geht um die Schönheit von Kultur, die unter allen Umständen entstehen kann oder unter keinen Umständen möglich ist.

„Rajasthan“ ist also viel mehr als ein musikalisches Ex­ periment: Im Kern geht es um den uralten Antagonismus zwischen dem „fahrenden Volk“ und den Sesshaften. In deren Blick auf die „Roma-Traveller“ mischt sich immer schon Faszination mit Angst, Bewunderung mit Abscheu. Die Roma waren als Grenzüberschreiter und Transnati­ onalisten par excellence den Sesshaften immer schon ver­ dächtig. Vor allem aber geht es um die Geschichte eines Stigmas, das die Roma auch tausend Jahre nach ihrem Exodus aus Indien nicht abstreifen konnten. JK Welche Spuren findet man im heutigen Rajasthan

überhaupt noch von den Roma?

MS Es gibt in Rajasthan keine Roma mehr, es gibt eben

nur diesen Mythos von der Flucht der Roma aus Rajasthan. Die Musiker, mit denen wir arbeiten werden, sind Musiker aus unterschiedlichen Kasten, zum Beispiel Bhopas. Diese Kasten sind genauso wie die Roma in Europa oder wie in irgendwelchen anderen Orten der Welt am unteren sozialen Ende der Gesellschaft angesiedelt. Das heißt, das sind Leute, die sind so arm, die haben kein Land und kein Vieh, die sind in ihrer Existenz darauf zurückgeworfen, dass sie als Musiker genug Geld verdienen können, um davon zu leben. Das entspricht sozusagen dem Klischee dessen, was wir uns unter einem Gypsy-Musician vorstellen. Zu allen sozialen Anlässen, zu denen man Musik braucht, sind dann diese Bhopa-Musiker, diese traditio­ nellen Musiker, unterwegs, und leben in Traveller-Communities. Sie sind eben in der gleichen gesellschaftlichen Position wie Roma heute noch in Europa, wie Roma wohl vor zwölfhundert Jahren in Rajasthan gelebt haben müssen.

JK Dieses Kasten-System haben die Roma mit ihrer

Migration nach Europa ja verlassen – oder doch nicht?

MS Ich finde das so ungemein schockierend: Wie kann

sich dieses Kasten-Stigma in der Gesellschaft, die Indien verlassen hat, über tausend Jahre immer noch perpetuieren, in Umständen, wo das gar nicht mehr nötig wäre. Also das ist ja wie eine Prophezeiung, die an den Menschen klebt, dass, obwohl sie diesen Ort quasi fluchtartig verlassen haben, dieser Rassismus, diese Nichtzugehörigkeit, diese Position in der Gesellschaft an ihnen haftet. Eine europäische Protagonistin des „Rajasthan“-Experi­ ments ist die tschechische Sängerin und Violinistin Iva Bittová. Sie ist die Tochter von Koloman Bitto, einem Roma-Musiker slowakisch-ungarischer Herkunft. Bitto­ vá, die inzwischen in der Nähe von New York lebt, hat ihren ganz eigenen, zwischen Jazz-Avantgarde und mäh­ rischem Folk oszillierenden Stil entwickelt. Das Interview mit ihr über ihre Roma-Wurzeln und ihren Vater soll nach einem Konzert in Ulrichsberg in Oberösterreich stattfin­ den, aber daraus wird nichts: Iva Bittová ist zu müde. Aber sie ist charmant, schnorrt zum Abschied noch eine Zigarette. Erst ein paar Wochen später klappt das Gespräch per Skype. Iva Bittová ist zurück von ihrer Europa-­ Tournee, sie sitzt im Garten ihres Hauses im Staat New York.

JK Was interessiert dich speziell an den Roma?

JK Wie wichtig ist das Roma-Erbe Ihres Vaters für Sie?

MS An den Roma interessiert mich, dass das eine Com-

Iva Bittová: Ich sage nie, dass wir eine Roma-Familie

munity ist, an der sich alle Welt abarbeitet in Form von Vorurteilen. Es gibt, glaube ich, keinen Ort auf der Welt, an dem es keine Vorurteile gegenüber den Roma gibt. Gleichzeitig sind die Roma überall und nirgendwo zu Hause und vollziehen damit in gewisser Weise das, was wir uns in unseren Träumen immer wünschen, nämlich dass es eigentlich keine Grenzen gibt. Es ist eine völlig andere Art und Weise, Leben und Gesellschaft zu betrachten, etwas, was wir uns wahnsinnig wünschen, vor dem wir aber so viel Angst haben, dass wir es immer hassen müssen. Das finde ich unglaublich interessant!

sind, jedenfalls sprach bei uns zu Hause keiner darüber. All das brachte erst meine Schwester auf, nachdem mein Vater gestorben war. Es gibt keinen mehr, den ich deswegen fragen könnte, denn mein Vater lebt nicht mehr, und sie fing an, sich als Roma zu fühlen, zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters. Meine Mutter, die noch lebt, sagt immer, er habe in der Schule und mit seiner Familie und Freunden ungarisch gesprochen. Es gibt einfach keine sichere Information über die Roma-Zugehörigkeit meines Vaters. Das ist verwirrend und führt immer wieder zu Streit zwischen meiner Mutter und meiner


14 älteren Schwester Ida. Und ich bin dazwischen und akzeptiere beide Seiten. Mein Vater wäre die einzige Person, die die Frage beantworten könnte. Aber er ist leider schon lange tot. JK Ihre Schwester Ida spricht in Interviews davon, dass

Ihr Vater seine Roma-Identität Zeit seines Lebens verleugnet hätte – aus Scham, Furcht vor Diskriminierung und Ausgrenzung. Können Sie das aus heutiger Sicht nachvollziehen?

IB Ich glaube nicht, dass mein Vater irgendwas ver-

steckt hat. Er hat generell nicht viel gesprochen – was er zu sagen hatte, hat er durch Musik gesagt. Er war ein wunderbarer Musiker, sehr emotional. Er spielte rumänischen, bulgarischen, ungarischen Folk, aber an Roma-Lieder kann ich mich ehrlich gesagt nicht erinnern. Aber es war immer sehr viel Emotion da, viele Tränen, viel Lachen. Er war großartig. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein so expressiver, emotionaler Mensch sein ganzes Leben etwas verstecken konnte.

JK Welche Rolle spielt die Musik der Roma für Ihre

Musik?

IB Was ich mache, beruht eigentlich nicht auf Roma-­

Musik. Ich kenne nur ein paar Roma-Songs aus der Zeit, als ich siebzehn war, nicht davor. Aber vielleicht gibt es da doch irgendwelche Ähnlichkeiten: Was ich an Gypsy-Musikern bewundere, ist ihr Temperament, ihr unglaubliches Talent. In ihrer Musik geschieht alles sehr spontan, und das ist bei mir genauso. Ich bin sehr wild in meiner Musik, in meinem Ausdruck, ich halte mich nicht an irgendwelche Grenzen, ich bin offen, vieles passiert instinktiv, spontan. Da gibt es schon Parallelen zur Art, wie Roma Musik machen.

JK Kann man sagen, dass die Nähe zur Roma-Musik

bei Ihnen weniger in bestimmten Liedern, Melodien oder Rhythmen besteht, sondern mehr in einer bestimmten Haltung?

IB So kann man es ausdrücken. Für mich in meiner Mu-

sik ist es essenziell, in gewisser Weise „nackt“ zu sein als menschliches Wesen und auf diese Weise ausdrücken zu können, was ich ausdrücken muss. Da ist nichts, wohinter ich mich verstecken kann, keine Maske, ich bin total offen. Und das ist bei den Roma ähnlich, wie sie singen und spielen, es kommt sehr direkt und ungefiltert aus ihrem Herzen und ihrer Seele. Und es ist dadurch auch sehr verletzlich, in dem Sinne, dass jemand sehr schnell sieht, wer man tatsächlich ist. Diese Musik zielt nicht auf eine bestimmte Wirkung ab, es ist einfach eine unmittelbare Reaktion auf das, was mir in meinem Leben geschieht.

JK Was hat Sie dazu bewogen, am „Rajasthan“-Projekt

teilzunehmen?

IB Seit dem Anfang meiner Karriere spüre ich, dass

Indien der Ort ist, zu dem ich gehen muss, Indien ist einfach eine der wichtigsten Inspirationsquellen für uns Musiker, denken Sie nur an die Beatles. Ich habe immer gehofft, dass ich eines Tages die Gelegenheit haben würde, aber irgendwie hat es nie geklappt. Und als ich jetzt die Einladung von Marc bekam, dachte ich, das ist das Beste, was passieren kann, denn wir werden Zeit haben, wirklich mit den Musikern zusammenzuarbeiten. Außerdem werden wir nicht in einer Metropole sein, sondern in kleinen Orten auf dem Land. Man kann sich so viel besser auf die Musik konzentrieren, wird nicht so abgelenkt von Lärm und Geräuschen.

JK Ist das „Rajasthan“-Projekt für Sie dennoch so etwas

wie eine Spurensuche?

IB Vielleicht werde ich, wenn ich einmal dort bin,

mehr über meine Wurzeln erfahren. Und vielleicht

hilft es mir auch, Erlebnisse aus meiner Kindheit zu verstehen. Als Kind hatte ich dunklere Haut als die anderen, auch als meine Geschwister, die blond sind. Und manchmal riefen mir Leute „gypsy girl“ hinterher, oder Kinder wollten in der Schule nicht neben mir sitzen. In Rajasthan zu sein wird mir vielleicht helfen, solche Geschichten besser zu verstehen. Iva Bittová will nicht als „Roma-Musikerin“ gelten, sie versteht ihre Musik global. Und liegt im Label „Roma-­ Musikerin“ nicht auch eine unnötige Selbststigmatisie­ rung, eine irgendwie überholte Festlegung von Kunst auf ethnische Wurzeln, perpetuiert man dadurch nicht ein ver­ staubtes Schubladendenken? Aber wieso nimmt Iva Bit­ tová dann an einem Projekt teil, das sich explizit der Er­ forschung der Wurzeln der Roma-Musik verschrieben hat? Für Marc Sinan ist diese distanzierte, fast schon abweh­ rende Haltung gegenüber der eigenen Herkunft sympto­ matisch – und in gewisser Weise auch integraler Teil des Projekts. JK Kannst du Iva Bittovás distanzierende Haltung zur

– möglichen – Roma-Herkunft ihres Vaters nachvollziehen?

MS Meine Großmutter in der Türkei ist Armenierin,

und ich bin der einzige Enkel, der das offiziell anerkennt. Für die anderen ist das irgendwo zwischen Scham und Ablehnung. Und ich sehe da bei Iva ein ähnliches Moment. Das ist wie eine psychologisch kollektive Prädisposition oder auch ein unbewältigtes Trauma. Und das finde ich auch so interessant an der Haltung, die Iva dazu hat, die eine Schwester hat, die im Roma-Erbe aufgeht und eine Mutter, die das mit einem großen Fragezeichen versieht, nenn’ es Ablehnung, Scham oder Verunsicherung. Iva selbst ist da hin- und hergerissen. Und sagt aber trotzdem auf die Frage: Möchtest du an einem ­Rajasthan-Roma-Projekt als Solistin teilnehmen? ganz klar: Ja, denn ich wollte schon immer diesen Ort aufsuchen.

JK Ist diese ablehnende Haltung möglicherweise auch

ein für das „Rajasthan“-Projekt produktiver Widerspruch?

MS Was ich auf gar keinen Fall will, ist so ein Klischee-­

Gypsy-Projekt, und deswegen ist eigentlich auch die Tatsache interessant, dass Iva Bittová eine gewisse Distanz zu ihrem Roma-Background hat. Weil das eben bedeutet, dass wir quasi gar nicht Gefahr laufen, so ein Klischee-behaftetes Projekt zu machen, das ist schon mal ganz wichtig. Iva interessiert mich als Musikerin und als Performerin, und ich denke, dass wir unterwegs sehen müssen, was das bei ihr auslöst. Unausweichlich wird es beim „Rajasthan“-Projekt auch um Vorurteile und Klischees gehen, gerade was die angeb­ lich angeborene Musikalität der Roma betrifft. Es sind Vorstellungen von ungezügeltem Temperament, von eruptiver Leidenschaft, auf das die überzivilisierten, af­ fektkontrollierten Sesshaften mit einer Mischung aus Neid und Verachtung blicken.

JK Viele Roma-Musiker selbst identifizieren sich mit

diesen Stereotypen von Leidenschaft und musi­ kalischer Virtuosität. Wie willst du solche Klischee-­ Fallen vermeiden?

MS Also wenn man sieht, in welcher Einfachheit und

Rauheit und Härte, sowohl der Natur als auch der Gesellschaft, Menschen in Rajasthan überleben und dabei eine Musik von großer Tiefe und Fröhlichkeit entwickeln, dann fragt man sich, ist das nicht in allererster Linie ein Synonym für Lebenswillen und Lebenskraft. Aber in dem Moment, in dem ich das sage, mache ich womöglich aus dem Roma-Musiker den virilen, fröhlichen Zigeuner. Es ist eine Grundfrage, die ich mir immer wieder stelle: Wie kann ich

mich möglicherweise dieser Geschichte nähern, ohne voreingenommen zu sein? Und ich denke, wie müssen es dadurch tun, dass wir weniger beurteilen als beobachten. JK Hattest du als „Gadsche“, als Nicht-Rom, Skrupel,

die Roma mit diesem Projekt zu „hegemonialisieren“, wie es in der Geschichte ja schon so oft vorgekommen ist? Wodurch fühlst du dich berechtigt, Roma-Traditionen für dein Projekt zu nutzen?

MS Die Amerikaner sprechen von appropriation, wenn

man als Nicht-Mitglied einer ethnischen Gruppe über diese ethnische Gruppe erzählt. Das möchte ich natürlich nicht, und das wird auch nicht passieren. Der Ansatz ist in diesem Fall ein anderer: Ich bin ja kein Erfinder einer Fiktion, sondern ich bin Dokumentarist. Man würde sich bei einem Dokumentarfilmer ja auch nicht die Frage stellen, ist der Rom oder Nicht-Rom, wenn er Roma dabei begleitet, oder wenn er Menschen begleitet, die ihre Verbindung zu den Roma suchen, die sich auf den Weg nach Rajasthan begeben. Und das ist genau meine Rolle: Ich bin quasi der Dokumentarist, der sich der Mittel des dokumentarischen Musiktheaters bedient, um eine Geschichte zusammenzustellen, in der eben Roma Protagonisten sind. Das ist, denke ich, der einzig mögliche und richtige Ansatz, um sich dieser Geschichte zu widmen. Marc Sinan (*1976) ist Komponist und ­ itarrist mit deutsch-türkisch-armenischen G Wurzeln. Mit der 2008 gegründeten Marc ­ ­Sinan Company sowie in Kooperation mit an­ deren Künstlern und Ensembles hat Marc ­Sinan in den vergangenen Jahren mehrere mul­ timediale Produktionen zu aktuellen politi­ schen Themen entwickelt, darunter „Hasretim“ (2012), „Dede Korkut“ (2014/15) und „Komitas“ (2015). 2016 erscheint bei ECM das aktuelle ­Album, das Sinan im Duo mit dem türkischen Musiker Oğuz Büyükberber eingespielt hat. Die Sängerin, Komponistin, Violinistin und Schauspielerin Iva Bittová wurde 1958 im mäh­ rischen Bruntál geboren. Für ihr virtuoses ­Violinspiel und ihre genreüberschreitenden Performances wird sie weit über die Grenzen Tschechiens hinaus verehrt. Als Musikerin wie auch als Schauspielerin erhielt Iva Bittová zahl­ reiche Auszeichnungen, 2003 spielte sie die Hauptrolle in „Želary“, der für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert war. 2015 erschienen ihre Interpretationen von Béla Bartóks slowakischen Volksliedern bei Pavian Records. Jakob Kneser (*1968), Autor und Filmema­ cher, wuchs in München und Bonn auf. Nach ­einem Philosophie- und Geschichtsstudium ­arbeitete er zunächst als Redakteur beim Mu­ sikfernsehen, bevor er sich als Filmemacher mit Dokumentationen im Bereich Wissenschaft und Kultur für ARD, ZDF, 3Sat und ARTE einen Namen machte. Jakob Kneser lebt mit seiner Familie in Bonn.


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Die ­

weibliche Stimme Irans

Der Iran besitzt ein reiches musikalisches Erbe. Nach der ­Revolution aber ­durften viele Jahre lang nur K ­ riegshymnen und seichte Instrumen­t almusik gespielt werden. Und bis ­heute fordern Frauen ihr

Recht, ­singen und auf­treten zu dürfen, wo und vor wem sie wollen. ­Unsere Autorin beschreibt den zähen Kampf um musi­kalische ­Gleich­berechtigung.

Im Laufe seiner Geschichte ist der Iran schon immer Begegnungsort verschiedener Völker gewesen – Kurden, Aseri-Türken, Luren, Balutschen, Turkmenen, Talyschen und Dutzende anderer Ethnien, die Seite an Seite lebten, jede mit einer eigenen Musikkultur, so alt wie die Geschichte des Irans selbst. Indem man die Musik einer bestimmten Region hört, bekommt man ein Gefühl für die Lebensweise der jeweiligen Menschen. Mütter ziehen mit ihren Wiegenliedern ihre Kinder groß und lehren sie durch die Musik Sprache, Rhythmus und das Verstehen von Gefühlen. Die Hälfte der iranischen Kultur besteht aus regionaler Musik. Diese wiederum wurde, als von jeher unzertrennlicher Teil ihres Lebens, ursprünglich von Frauen geschaffen, angefangen von Wiegenliedern bis hin zu den Liedern, die sie bei ihren täglichen Arbeiten wie beim Teppichweben und Melken der Tiere allein oder in der Gruppe sangen. Heute hört man solche Lieder immer seltener, weil viele Menschen in die Städte gezogen sind. Das Leben in der Stadt aber bedeutete für die Frauen Beschränkungen. Religiöse Überzeugungen in den Familien und Fanatismus in der Gesellschaft sowie Veränderungen in der politischen Führung hatten im Iran stets einschneidenden Einfluss auf die Rolle der Frauen, und damit auch auf die Musik. So führte die Musik in den ersten Jahren der Islamischen Revolution aufgrund vieler Gesetzesänderungen ein Schattendasein. Konzerte gab es keine mehr, ja selbst Musikinstrumente verschwanden aus der Öffentlichkeit, da die herrschenden Kreise glaubten, dass Musik den islamischen Glaubensüberzeugungen widerspreche. Aber obwohl es viele Gesetze gab, die Aufführungen komplett verboten, wurde Musik dennoch in Form religiöser oder revolutionärer Gesänge aufgeführt. Bei keiner dieser musikalischen Aktivitäten jedoch waren die Stimmen von Frauen zu hören, da die Meinung vorherrschte, dass die weibliche Stimme die Männer erregt und dies gegen die islamischen ­Vorschriften verstößt. Selbst in reinen Instrumental-­ Ensembles waren keine Frauen mehr zu finden. ­Glücklicherweise vollzog sich aber allmählich ein gesellschaftlicher Wandel. CHORGESANG JA –­ ­ OLOGESANG NEIN S

Trotz mannigfachen Widerstandes islamischer Gelehrter eröffneten allmählich wieder Musikschulen, an den Universitäten wurde Musik als Studienfach anerkannt und Frauen nahmen einen immer sichtbareren Platz in der Gesellschaft ein. Mehr als die Hälfte der Studierenden an den Universitäten sind heute Frauen. Auch in der Musikszene ist die Präsenz der Frauen spürbar gewachsen, Familien schicken ihre Töchter wieder in Instrumentalklassen und sogar zum Gesangsunterricht. Dennoch gibt es weiterhin viele Probleme, vor allem bei Musikaufführungen von Frauen. Speziell der Auftritt von Sängerinnen war lange Zeit komplett verboten. Frauen konnten wegen ihres Gesangs in große Schwierigkeiten geraten, mitunter hatten sie Angst zu Hause zu üben, und ihr Unterricht fand in Kellerräumen oder anderen abgeschirmten Orten statt. Schließlich wurden neue Gesetze zur Praxis des Frauengesangs erlassen, die den Frauen den Chorgesang erlaubten, sich aber immer noch kategorisch gegen weiblichen Sologesang wendeten. Die Auffassungen der Religionsgelehrten waren und sind unterschiedlich streng, je nachdem, wer an den ­politischen Schaltstellen der Islamischen Republik das Sagen hat. Weiblicher Sologesang blieb in der Öffentlichkeit verboten – bis den Frauen in einigen Städten erlaubt wurde, spezielle Konzerte nur für Frauen zu geben. Viele Musikerinnen nutzten diese Möglichkeit; andere waren dagegen, weil sie der Meinung waren, dass Musik nicht einer bestimmten Gruppe vorbehalten sein sollte. Für kurze Zeit wurde ein Musikfestival unter dem Namen „Yasmin“ speziell für Frauen ins Leben gerufen,


16 auf dem viele Frauen für andere Frauen musizierten, das aber nach zwei Jahren wieder abgeschafft ­wurde, nachdem der für das Festival Zuständige ausgewechselt worden war. „KÖNNEN ETWA NUR MÄNNER KÜNSTLER SEIN?“

Bis heute findet jährlich das Fajr-Musikfestival statt, das in den vergangenen Jahren einen Anteil von Konzerten von Frauen für Frauen im Programm hatte. Auch solche Konzerte unterliegen zahlreichen Auflagen oder anders gesagt: Schikanen. Alle Besucherinnen werden einer Leibesvisitation unterzogen, um sicherzustellen, dass sie keine Aufnahmegeräte oder Handys bei sich tragen. Selbst die Musikerinnen dürfen keinerlei Aufzeichnungen machen, da andernfalls ihre Stimmen außerhalb dieses speziellen Rahmens zu hören sein könnten. Mittlerweile gibt es neue Richtlinien, die Frauen erlauben, zusammen mit Männern zu singen, solange dabei alle religiösen Vorschriften eingehalten werden. Die meisten Frauen aber sind damit nicht glücklich und ­beschweren sich, dass sie nicht ihre wahre Stimme zu ­Gehör bringen dürfen. Sie sind nämlich überwiegend ­gezwungen, sich dem Stimmumfang des Mannes anzupassen, mit dem sie singen. Trotz dieser eigentlich inakzeptablen Umstände finden sie sich dazu bereit, um nicht gänzlich zu verstummen. Die Zahl der gemeinsamen Aufführungen wächst, viele männliche Musiker unterstützen die Frauen und es gibt Bemühungen, die Gesetzeslage zu verändern, zumal es nach Ansicht e­ iniger maßgeblicher Religionsgelehrter keine Einwände gegen die weibliche Stimme in der Musik gibt, solange diese nicht zu Unmoral führt. Bei den Feierlichkeiten zum vierzehnten Jahrestag der Gründung des „Iranischen Hauses der Musik“, die 2013 im Teheraner Wahdat-Saal stattfanden, forderte der Tar-Virtuose und Sprecher des Hauses der Musik, Dariush Pirnyakan, in Gegenwart des Vertreters des ­Ministers für Kultur und Islamische Rechtsleitung, den Frauengesang im Iran zu erlauben: „Seit vierundzwanzig Jahren herrscht Winter auf dem Gebiet der Musik. Noch immer hält man hierzulande Musik für religiös verboten. Dabei gibt es keine Überlieferung, der zufolge Musik aus Gründen der Religion verboten ist, und es ist nicht recht, die riesige Masse der Musikhörer zu ignorieren. Ich fordere die islamischen Rechtsgelehrten auf, zu erklären, wo in unserem Glauben verkündet wird, dass Musik verboten ist. Außerdem fordert das Haus der Musik, dass weiblicher Gesang ausgestrahlt werden darf.“ Die Hälfte aller Musiker im Iran seien Frauen, und sie dürften immer noch nicht singen. Pirnyakan stieß eine Debatte nach dem Warum des Verbotes von Frauengesang an, und es gab weitere Stimmen. So äußerte sich Hossein Alizadeh, der bekannte Virtuose, Komponist und Leiter des Ensembles „Hamavayan“, hinsichtlich der Geschlechtertrennung in der iranischen Musikszene: „Es ist nicht richtig zu glauben, überall wo Frauen auftauchen, sei Gefahr im Verzug, denn ohne die Frau gibt es auch keine Kunst, und Mann und Frau sind in allen Bereichen Partner.“ Schon vorher hatte Alizadeh das Verbot des weiblichen Gesangs nach dem Sieg der Islamischen Revolution infrage gestellt: „Warum hat man die Stimme der Frau aus dem musikalischen Gedächtnis gestrichen? Ich bin gegen jegliche Geschlechtertrennung. Können etwa nur Männer Künstler sein und singen?“ „FRAUENGESANG IST VERBREITUNG VON UNMORAL“

Es scheint, als ob das Tabu, die Stimme von Sängerinnen zu hören, kurz vor dem Fall steht. Und vielleicht ist unter der Regierung Hassan Ruhanis, der mit dem Versprechen angetreten ist, einige der Beschränkungen aufzuheben, ein Einvernehmen über den weiblichen Gesang in absehbarer Zeit nicht völlig undenkbar und wir

werden Zeugen, wie das Verbot des weiblichen Gesangs im Iran mit Zustimmung des Ministeriums für Kultur und Islamische Rechtsleitung aufgehoben wird. Wer die Hoffnungen allerdings dämpft, sind wichtige schiitische Religionsgelehrte, die sich gegen Frauen in der Musik aussprechen, darunter Ayatollah Makarem Shirazi, der mit Blick auf die Thematisierung des Frauengesangs durch einige Rechtsgelehrte befand: „Sie haben keine Ahnung, dass ein Student zwanzig Jahre braucht, um die erste Stufe des ejtehads (selbständige Auslegung der religiösen Texte) zu erreichen und vierzig Jahre bis zum Rang eines mojtaheds (Experten der Auslegung).“ Und Shirazi warnte: „Das Ministerium für Kultur und Rechtsleitung möge wissen, dass das Volk sich distanzieren wird, wenn solches sich wiederholt.“ Und Hojjatol-Islam va‘l-Muslimin Alidust, Oberhaupt der Rechtsgelehrten am theologischen Studienzentrum in Qom, befand: „Denjenigen zufolge, die die gesellschaftlichen Missstände erkennen, haben solche Aufführungen nichts anderes zur Folge als den Verlust der Schamhaftigkeit und den Zusammenbruch des geschützten Raumes der ­Familie. Die Singstimme einer Frau zu hören, ist Nicht-­ Familienmitgliedern eindeutig nicht erlaubt.“ Und schließlich war es auch eine Frau, Laleh Eftekhari, Teheraner Parlaments-Abgeordnete, die unverhohlen drohte: „Die Regierung hat geschworen, die Werte des Islams und die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen, und der Minister für Kultur und Rechtsleitung, Herr Jannati, muss energisch gegen den Regelverstoß im Frauengesang vorgehen. Frauengesang ist Verbreitung von Unmoral und Ausschweifung im Namen der Kultur, gegen die ernsthaft eingeschritten werden muss, da andernfalls das Volk selbst zur Bewahrung der religiösen Werte gegen diese kulturellen Regelbrecher vorgehen und Maßnahmen ergreifen wird, um die Errungenschaften der Islamischen Revolution und der iranischen und islamischen Kultur zu verteidigen.“ Wegen derartiger Drohungen haben viele Frauen den Iran verlassen. Andere wiederum sind im Land geblieben und bemühen sich, die Lage der Frauen vor Ort zu verbessern. Wenngleich es ihnen noch nicht erlaubt ist, alleine aufzutreten, und zahlreiche Konzerte in den Städten kurz vor Beginn abgesagt oder sogar mitten im Programm, allein aufgrund der Anwesenheit der Frauen, abgebrochen werden, hoffen sie weiter darauf, dass sich eines Tages ihre Lage verbessert. Paradoxerweise studieren sie schließlich schon in eben dieser islamischen Gesellschaft Musik oder besuchen eine der vielen Musikschulen – genau genommen begleitet und unterstützt die islamische Gesellschaft also in mancher Hinsicht die Frauen in ihren Fortschritten. Wie auch bei der Teilnahme von iranischen Sängerinnen an internationalen Festivals – vor einem Publikum aus Frauen und Männern. Sofern die Auslandsauftritte rein musikalischer Natur sind und keine religiöse oder politische Botschaft enthalten, unterstützt der Islamische Staat Iran diese Festivals und die Künstlerinnen können ohne Schwierigkeiten in den Iran zurückkehren und dort ihre Arbeit fortsetzen. Es bleibt zu hoffen, dass sich solche Widersprüche auflösen. Die iranische Gesellschaft macht im Augenblick vielfältige Veränderungen durch, und die Rolle der Frauen in ihr ist erfreulicherweise viel augenfälliger geworden. Aus dem Farsi von Isabel Stümpel-Hatami Aufgrund der im Artikel beschriebenen politischen Situation im Iran möchte die Auto­ rin nicht namentlich genannt werden.

Female Voice of Iran Festival iranischer Musikerinnen

In der Musik des Iran mischen sich zahlreiche Musiktraditionen des Mittleren Ostens: arabische, türkische, armenische, afghanische und viele andere Einflüsse kommen hier zusammen. Seit der Islamischen Revolution 1979 ist das ­kulturelle Leben und insbesondere die Musik stark reglementiert, Frauen ist das Singen in der Öffentlichkeit weitestgehend verboten. Viele Sängerinnen haben den Iran verlassen und leben im Exil. Dennoch eröffneten in den vergangenen Jahren zahlreiche Musikschulen und immer mehr junge Frauen nehmen Gesangsunterricht. Die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten bei ö­ ffentlichen Auftritten frei zu Gehör zu bringen, ist ihnen jedoch größtenteils verwehrt. Das Festival Female Voice of Iran hat sich zum Ziel gesetzt, Sängerinnen aus verschiedenen Regionen des Iran zu präsentieren und sie mit in Deutschland lebenden und arbeitenden iranischen Musikerinnen zu verbinden. Im Laufe des Festivals soll eine Gruppenkomposition unter der Leitung der deutsch-iranischen Musikerin Cymin Samawatie entstehen, die im Abschlusskonzert zur Aufführung kommen wird. Kuratorinnen: Yalda Yazdani (IR), Cymin Samawatie Künstler/innen: Jivar Sheikholeslami (IR), Yalda Abbasi (IR), Shadi Behyari (IR), Cyminology u. a. Villa Elisabeth, Berlin: 23.–26.2.2017 ↗ www.zeitgenoessische-oper.de


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Neue Projekte

Die interdisziplinäre Jury der Allgemeinen Projektförderung hat auf ihrer letzten Sitzung im Frühjahr 2016 31 neue Förderprojekte ausgewählt. Die Fördersumme beträgt insgesamt 4,8 Mio. Euro. Ausführlichere Informationen zu den einzelnen Projekten finden Sie auf unserer Webseite www.kulturstiftung-bund.de oder auf den Webseiten der geförderten Projekte. Nächster Antragsschluss für die Allgemeine Projektförderung ist der 31.1.2017. Die Mitglieder der Jury sind: Joachim Gerstmeier Leiter des Bereichs Darstellende Kunst bei der Siemens Stiftung / Dr. Angelika Nollert Direktorin Die Neue Sammlung – The International Design Museum Munich, Pinakothek der Moderne / Dr. Andreas Rötzer Verleger und Geschäftsführer des Verlags Matthes & Seitz Berlin / Dr. Eva Schmidt Direktorin des Museums für Gegenwartskunst Siegen / Albert Schmitt Managing Director der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen / Gisela Staupe Stellvertretende Direktorin des Deutschen Hygiene-Museums Dresden / Karsten Wiegand Intendant des Staatstheaters Darmstadt

Ayşe Erkmen & Mona Hatoum

© courtesy of the artist

Displacements / Entortungen

Das Museum der bildenden Künste Leipzig initiiert einen künstlerischen Dialog zwischen den Positionen der türkischen Künstlerin Ayşe Erkmen und der palästinensisch-britischen Künstlerin Mona Hatoum. Die Ausstellung ist das erste gemeinsame Projekt dieser beiden international bekannten Künstlerinnen. Leitmotiv der Ausstellung ist das Displacement, bei dem das Bekannte plötzlich fremd wird durch eine Verlagerung, eine Verschiebung oder auch Entortung. Beide Künstlerinnen begreifen Ort und historischen Kontext als Teil ihrer künstlerischen Reflexion. Auf je eigene Art setzen sie sich mit Fragen von Identität, Selbstbestimmung und Kontrolle, von Macht und Dominanz auseinander. Erkmen lässt sich mit jeder Arbeit neu auf die Besonderheiten eines Ortes ein. Sie entwickelt ihre Installationen in Auseinandersetzung mit dem historischen, politischen und institutionellen Rahmen, in dem sie entstehen. Häufig arbeitet sie mit einer Strategie des Displacements von bestehenden Kunstwerken in einen neuen Kontext. In den Werken Mona Hatoums spielen Fragen der kulturellen Identität, des Körpers und des Geschlechts eine wichtige Rolle. Sie wendet dabei Techniken des Displacement im Sinne einer Verfremdung an, die Verunsicherung hervorruft. Verführung und Sinnlichkeit etwa können zu Gefahrenquellen und Bedrohungsszenarien werden, Räume und Objekte werden neu definiert, Gegenstände des Alltags erfahren eine künstlerische Umdeutung. Für die Ausstellung in Leipzig werden Hatoum und Erkmen neue künstlerische Interventionen entwickeln, welche das Motiv des Displacements auf je eigene Weise reflektieren. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog und es findet ein breites Vermittlungsprogramm statt, das gemeinsam mit Studierenden neue interkulturelle Ansätze erprobt.

Künstlerische Leitung: Frédéric Bußmann Künstlerinnen: Mona Hatoum (GB), Ayşe Erkmen (TR) Museum der bildenden Künste ­Leipzig: 2.7.–1.10.2017 ↗ www.mdbk.de

Planet B 100 Ideen für eine neue Welt

100 Künstler, Designer, Architekten, Wissenschaftler und Unternehmer präsentieren in dieser Ausstellung ihre Utopien für das 22. Jahrhundert und setzen sich künstlerisch mit den dramatischen Veränderungen unseres Planeten auseinander. 60 Millionen Menschen befinden

↑ Vladimír Turner: Balcon Public

sich derzeit auf der Flucht, der Klimawandel gefährdet schon jetzt die gerechte Verteilung von Ressourcen und sozialer Sicherheit. Selten war die Macht der Religionen und der Zorn gegenüber Andersdenkenden so groß. Auf diese Themen und Konfliktfelder reagieren die beteiligten Künstler/ innen in ihren Arbeiten für die Ausstellung. Den Kern der Schau bildet eine begehbare Rauminstallation des Düsseldorfer Kollektivs Labor Fou, in der während des gesamten Ausstellungszeitraums ein Artist-in-Residence-­Programm stattfindet. Das Schweizer Konzeptkünstler-Duo „Atelier für Sonderaufgaben“ realisiert beispielsweise soziale und politische Interventionen im öffentlichen Raum, Hörner / Antlfinger entwickeln ein Projekt mit Flüchtlingen und der französische Fotograf Constantin Schlachter zeigt seine Naturfotografien als Visionen der Zukunft. Designerin ­Kathryn Fleming entwickelt aus Tierpräparaten täuschend echte, aber dennoch ­fiktive Tierformen, die optimal an das Leben in der Zukunft angepasst sind. Die Ausstellung verändert sich stetig weiter und wird sukzessive umgestaltet sowie durch Beiträge von Künstler/innen und Besucher/innen ergänzt. Künstlerische Leitung: Alain Bieber Künstler/innen: Hörner / Antlfinger, Labor Fou, Atelier für Sonderaufgaben (CH), Brad Downey (US/DE), Ben J. Riepe, Kathryn Fleming (US), Mathieu Tremblin (FR), Alvaro Urbano (ES/DE),

Eric Winkler, Valentina Karga (GR/DE), Constantin Schlachter, Vladimír Turner (CZ) NRW-Forum Düsseldorf: 2.6.–21.8.2016 ↗ www.nrw-forum.de

Together Apart Choreografische Annäherungen an das Zusammenhalten in Europa

Zum zehnjährigen Jubiläum d e s c­ horeografischen Zentrums K3 | Tanzplan Hamburg soll dort ein internationales Residenzprogramm stattfinden. Drei erfahrene künstlerisch-choreografische Teams erhalten so die Gelegenheit, Produktionen zu entwickeln, die schließlich im Rahmen des Festivals „Together Apart“ in Hamburg zur Aufführung kommen s­ ollen. Die drei eingeladenen Projekte ­untersuchen das reale und ideelle ­Zusammenhalten in Europa aus unterschiedlichen künstlerischen Perspektiven: Grundlage der Recherche des israelischen Choreografen Arkadi Zaides ist das EU-geförderte Technologie-Projekt TALOS. Das mobile Robotersystem, das zum Schutz der europä­ ischen Landesgrenzen als Prototyp entwickelt wurde, soll erkennen und verhindern, dass Menschen illegal Grenzen überschreiten. Zaides Produktion ist ein Reenactment des TALOS-Projektes, um dessen ethische Mechanismen sowie po-


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Künstlerische Leitung: Kerstin Evert Künstlerische Projektleitung: Solveigh Patett Beteiligte: Marco D’Agostin & Chiara Bersani (IT), Marble Crowd (IS), Igor Dobricic (RS), Rudi Laermans (BE), Arkadi Zaides (IL) K3 – Zentrum für Choreographie, Kampnagel Hamburg: Residenzen/ Rahmenprogramm: 15.8.2016– 28.3.2017, Festival: 29.3.–9.4.2017 ↗ www.k3-hamburg.de

GOOD SPACE – ­politische, ästhetische und urbane Räume Crossing Media

Das Ausstellungsprojekt der Galerien der Stadt Esslingen widmet sich der Erschließung, Wahrnehmung und Kon­ struktion von Raum. Mittels Perspektiven aus Kunst, Architektur und Wissenschaft fragt „Good Space“ nach der Funktion und Bedeutung des öffentlichen Raums und danach, wie dieser angesichts endlicher Umweltressourcen und begrenzter Flächen zu gestalten sei. Der Künstler Jasper Niens zum Beispiel untersucht, wie Orte durch gebaute Strukturen neu definiert werden. Los Carpinteros gehen von den prekären Rändern aus, um Zukunftsmodelle für Städte und Gesellschaften zu entwickeln. Stephen Willats vergleicht die Träume der Bewohner uniformer Großsiedlungen mit der gebauten Realität und Hito Steyerl thematisiert Überwachung und Unsichtbarkeit im digitalen Raum. Die Ausstellung zeigt auch, wie sich aus dem Studium pflanzlicher Evolutionsprozesse zukunftsweisende Technologien in den Bereichen des Bio-Designs oder der Stadtökologie ableiten lassen. Als „Ausstellung in der Ausstellung“ ordnet die Sonderschau „Everything is Architecture“ die visionären und utopischen Raum- und Architekturbegriffe der 60er und 70er Jahre in heutige Perspektiven geschichtlich ein. „Good Space“ bezieht die Räume der Stadt mit ein, so wird die Ausstellung nicht nur in der Villa Merkel, sondern

Foto: Uwe Dettmar, Deutsches Architekturmuseum

litische und ökonomische Interessen zu thematisieren. Die italienischen Choreograf/innen Chiara Bersani und Marco D’Agostin entwickeln in ihrer Produktion ein Format Olympischer Spiele, das die Idee des friedlichen sportlichen Wettstreits choreografisch dekonstruiert. Und das Kollektiv Marble Crowd um die isländische Choreografin Saga Sigurdardottir und den Komponisten Hallavarour Asgeirsson lotet in drei tänzerischen Essays das Potenzial von Vertrauen, Glauben und gemeinschaftlichem Handeln aus. In Kooperation mit dem Graduiertenkolleg Performing Citizenship entsteht ein begleitendes Programm mit zahlreichen künstlerischen und partizipativen Formaten, die das Publikum ­einladen, die Themen zu vertiefen. Eine internationale Tagung diskutiert Möglichkeiten kollaborativen Arbeitens in Tanz und Choreografie.

↘ Margarete Schütte-Lihotzky: Frankfurter Küche auch im umliegenden Park und in Nebengebäuden stattfinden. Vorträge, Workshops und Konzerte ergänzen die Schau, Forschungsspaziergänge sowie Kooperationen mit Hochschule und Jugendeinrichtungen schlagen eine weitere Brücke in die Stadt. Künstlerische Leitung: Andreas Baur Künstler/innen: Los Carpinteros (CU), Martin Creed (GB), Binelde Hyrcan (AO), Jon Rafman (CA), Hito Steyerl, Ryan Trecartin (US), Christoph Wachter & Mathias Jud (CH), Stephen Willats (GB), PNAT (IT), raumlaborberlin u. a. Referent/innen (Begleitprogramm): Juliette Desorgues (GB), Christoph Wachter & Mathias Jud, Stefano Mancuso (IT), Cristiana Favretto (IT), Claus Baumann & Marco Trotta, Damir Barbarić (HR), raumlaborberlin Villa Merkel, Esslingen am Neckar: 25.5.–21.8.2016 ↗ www.villa-merkel.de

Naturzeit Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduktion

Das Ausstellungsprojekt „Naturzeit – Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduktion“ handelt vom Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Kunst. Der Titel bezieht sich auf Walter ­Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, nimmt jedoch nicht mehr nur „Reproduzierbarkeit“ als Möglichkeit in den Blick, sondern beschreibt eine bereits vollzogene Gegenwart: Die künstliche „Reproduktion“ von Natur findet statt – gentechnisch, biochemisch, in Form von Renaturierung oder Fetischisierung durch Werbung und Medien.

Was bedeutet es für die Beziehung von Mensch, Natur und Kunst, wenn die Natur und die unmittelbare ästhetische Erfahrung von Natur durch Reproduktion verändert und manipuliert wird? Wenn das Natürliche vom Künstlichen nicht mehr zu unterscheiden ist, das Künstliche „naturidentisch“ wird? In welchem Maße ist die Kunst durch die Verbreitung neuer visueller Technologien selbst zu einem Instrument der Vermittlung und Wahrnehmung von ­Natur geworden? Diesen Fragen geht die Ausstellung nach, Ausgangspunkt ist eine Betrachtung des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit seiner ruralen Tradition. Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur unterliegt hier starken Transformationsprozessen und hat daher exemplarische Bedeutung. Die Schau zeigt neu geschaffene Gemälde, Zeichnungen, Installationen und Filme. Erweitert wird das Ganze durch vier Teilprojekte im öffentlichen Raum, u. a. in Kooperation mit der AG Umweltethik der Universität Greifswald und dem Botanischen Institut Greifswald. In allen Bereichen arbeiten Künstler, ­Naturwissenschaftler und Naturschützer eng zusammen. Künstlerische Leitung: Andreas ­Wegner, Terezie Petišková (CZ) Kurator/in: Andreas Wegner, Vendula Fremlová (CZ) Künstler/innen: Markus Ambach, Marcel Broodthears (BE), Brian Conley (US), Karl-Heinz Eckert, Thomas Heise, Helmut Hoege, Christoph Keller, Gerd Rohling, Blashoslav Rozboril (CZ) u. a. Kunstverein Schwerin: 5.5.–24.9.2017; Brno House of The Arts, Brno: 15.9.–5.11.2017; Bibliothek der Universität Greifswald: 20.10.–10.12.2017 ↗ www.kunstverein-schwerin.de

Frau_Architekt Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architektenberuf

Die Architektur war lange Zeit eine Männerdomäne. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden an Deutschlands Hochschulen erstmals Architek­ tinnen ausgebildet. Gegenwärtig sind weniger als ein Drittel der Architekten Frauen, aber schon im Jahr 2020 werden es über die Hälfte sein, denn momentan studieren mehr Frauen als Männer an den ­Architekturhochschulen. Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt wird dieser Entwicklung mit einer Ausstellung und einem großen internationalen Symposium Rechnung tragen. In der Schau „Frau_Architekt“ ­werden Architektinnen wie Emilie ­Winkelmann, Lilly Reich, Karola Bloch oder ­Sigrid Kressmann-Zschach-Losito ­porträtiert. Anhand ihrer Biografien werden historische Entwicklungen sichtbar ­gemacht und erläutert. So gilt Winkelmann, die 1907 ihr eigenes Büro eröffnete, als erste selbständige Architektin in Deutschland. Karola Bloch, die Frau des Philosophen Ernst Bloch, war im Exil Architektin und ernährte so ihre Familie während deren Aufenthalts in den USA. Später ging die bekennende Kommunistin nach Leipzig in die DDR und war als Architektin tätig, bevor sie 1961 in die BRD übersiedelte. Sigrid Kressmann-Zschach-Losito galt als Star-Architektin im Westberlin der 1960er Jahre, sie hatte 300 Mitarbeiter und realisierte Großprojekte wie den Steglitzer Kreisel in Berlin. Lotte Cohn, die in Berlin an der Technischen Hochschule Architektur studiert hatte, ging als erste freie Architektin nach Palästina/Israel. Die begleitende Konferenz gibt ­Einblicke in den Stand der internationalen Forschung im Kontext von Emanzipation und Frauenbewegung im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig möchte sie die


19 Gegenwart beleuchten und Szenarien für die Zukunft entwickeln. Ein Katalog dokumentiert die Forschungsergebnisse. Wissenschaftliche Leitung: Mary ­Pepchinski Architektinnen: Emilie Winkelmann, Elisabeth von Knobelsdorff, Marie Frommer, Lotte Cohn (IL), Grete Schütte-Lihotzky (AT), Lotte Stam-Beese (NL), Grit Bauer-Revellio, Iris Dulin-Grund, Verena Dietrich, Lilly Reich, Karola Bloch, Sigrid Kressmann-Zschach-Losito u. a. Referentinnen: Edina Meyer-Maril (IL), Mary McLeod (US), Harriet Harris (GB), Helena Mattsson (SE), Mariann Simon (HU), Lynne Walker / Elizabeth Darling (GB), Katja Frey / Eliana ­Periotti (CH), Yasmin Schariff (GB) u. a. Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main: 22.9.2017–25.2.2018 ↗ www.dam-online.de

You May Also Like – Robert Stadler Werkschau

Künstlerische Leitung: Robert Stadler (FR/AT) Kurator: Alexis Vaillant (FR) Künstler: Robert Stadler (FR/AT) Staatliche Kunstsammlungen ­Dresden, Kunsthalle im Lipsiusbau: 18.3.–25.6.2017 ↗ www.skd.museum.de

Tetsumi Kudo Retrospektive

Die Ausstellung im Fridericianum in Kassel soll einen fundierten und umfassenden Einblick in das Werk des japanischen Künstlers Tetsumi Kudo bieten. Mit der Retrospektive möchte das ­Fridericianum an seine vorangegangenen Ausstellungen wie „Inhuman“ anknüpfen und die Diskussion über die Neuformierung des Menschen in Zeiten technologischen Wandels thematisch fortführen. Kudo sprach sich mit seinen Werken für eine „neue Ökologie“ aus, deren ­Ausgangspunkt der Atombombenabwurf über Hiroshima war. In seinen Arbeiten werden Natur, Kultur und Technologie auf eine Weise miteinander kurzgeschlossen, dass die Trennungslinie zwischen diesen drei Sphären beständig hinterfragt wird. Das Menschliche ist in Kudos Werk verschaltet, verdrahtet, einge­ pfercht oder zerstückelt. In seinen Maschinengärten, Brutkästen, Käfigen und Treibhäusern – die allesamt einem

­unheimlichen Science-Fiction-Kosmos entlehnt scheinen – setzen Schadstoffe, Umweltgifte und nukleare Katastrophe nicht nur zerstörerische, sondern auch schöpferische Prozesse in Gang. Biologische Abläufe, organische Körperlichkeit und technoide Apparaturen sind stets eng miteinander verschränkt. Für die Kritik am westlichen eurozentrischen Humanismusbegriff ist sein Werk daher eine wichtige Referenz. Ein sich angesichts technologischer Entwicklungen veränderndes Menschenbild und sich wandelnde Konzepte von Körperlichkeit stehen im Fokus des Vermittlungskonzeptes. Das Verhältnis von Natur, Humanität und Technologie wird in Diskussionen mit Wissenschaftler/innen und Künstler/innen sowie in langfristigen Kooperationen mit Schulen und anderen Bildungseinrichtungen thematisiert. Künstlerische Leitung: Susanne Pfeffer Künstler: Tetsumi Kudo (JP) Fridericianum, Kassel: 25.9.2016–1.1.2017 ↗ www.fridericianum.org

Fotomontage: Studio Robert Stadler, Fotos: Herbert Jäger, Constantin Meyer

Der in Österreich geborene und in Frankreich lebende Robert Stadler gehört zu den zeitgenössischen Designern, die Kunst und Design in produktiver

Weise aufeinander beziehen. Seinen Arbeiten gelingt es, die Grenze zwischen Kunst und Design, zwischen dem Objekt als Produkt oder als Kunstwerk beständig zu unterwandern und in kreativer Weise zu bespielen. Ein zentrales Thema Stadlers ist die zunehmende Digitalisierung und die damit verbundene Wiederholbarkeit und Unverbindlichkeit gegenständlicher oder bildlicher Welten. Einen weiteren Schwer­punkt seines Werkes bildet die Auseinandersetzung mit Konsum und Produktion. Die geplante Ausstellung im Lipsiusbau in Dresden präsentiert das Werk des Designers und seinen kritischen Blick auf unsere Objektwelt zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum. Stadlers Arbeiten werden ergänzt durch eine Auswahl von Objekten der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden wie Möbel, Werkzeuge, Masken oder Gemälde. Die Auswahl trifft Stadler gemeinsam mit dem französischen Kurator Alexis Vaillant, außerdem wird der Designer auch neue Arbeiten für die Schau entwerfen. So entsteht genre- und epochenübergreifend eine „Gemeinschaft von Objekten“, die sowohl im Hinblick auf zeitgenössisches Design wie im Hinblick auf die Sammlungen der SKD neue Perspektiven eröffnet. Für das Dresd­ner Kunstgewerbemuseum ist die Ausstellung ein wichtiger Schritt, um sich im zeitgenössischen Designdiskurs auch international zu positionieren. Weitere Stationen der Schau in Deutschland und im europäischen Ausland sind geplant.

↑ Johann Joachim Kaendler: Bologneser Hund, Porzellansammlung, Staatliche Kunstsammlungen Dresden; Robert Stadler: Stuhl 107, Thonet GmbH, Fotomontage: Studio Robert Stadler


20 Uncertain States

Planetary ­ Consciousness

Künstlerisches Handeln in ­Ausnahmezuständen

Kurator/innen: Werner Heegewaldt, Anke Hervol, Jeanine Meerapfel, ­Johannes Odenthal Kuratorische Beratung: Katerina ­Gregos (GR/BE), Diana Wechsler (AR) Künstler/innen: Reza Aramesh (IR), Ayşe Erkmen (TR/ DE), Yervant ­Gianikian / Angela Ricci-Lucchi (IT), Mona Hatoum (LB/ GB), Isaac Julien (GB), Zineb Sedira (DZ/FR), Graciela Sacco (AR/GB), Nasan Tur, Micha ­Ullmann (IL), Arkadi Zaides (BY/IL) u. a. Objekte und Dokumente aus den ­Archiven von Erich Arendt, Walter Benjamin, Ruth Berlau, Bertolt Brecht, Valeska Gert, Lilian Harvey, Heinrich Mann, Bruno Taut, Kurt Tucholsky u. a. Akademie der Künste, Berlin: 15.10.2016–15.1.2017 ↗ www.adk.de

↓ Timur Si-Qin: Axe Effect, 2011

Unter Waffen Über die Spuren von Militär und Gewalt im Alltag

Design ist ein selten thematisierter, jedoch wesentlicher Aspekt von Waffen. Die Waffe als gestaltetes Objekt ist nun auch der Ausgangspunkt der Ausstellung im Frankfurter Museum Angewandte Kunst. Eine Besonderheit dieser Schau ist die enge Verknüpfung von Kunst und ­Design, von künstlerischen und Design­ objekten. Das Spektrum der Exponate reicht von den Handtaschen mit eingegossenen Pistolen des Designers und Konzeptkünstlers Ted Noten bis zu einem „Thron“, für den der mosambikanische Künstler Gonçalo Mabunda ausrangierte AK 47-Gewehre verschweißte, die aus dem Bürgerkrieg in seinem Heimatland stammen. Parfumflakons in Handgranatenform von Viktor & Rolf thematisieren die Ästhetisierung von Waffen und Gewalt im Alltag. Folgt man der Prämisse der Kuratoren, dass Design oftmals sehr präzise Aufschluss gibt über die verborgenen Ängste und Wünsche einer Gesellschaft, so wird die Ausstellung dem Besucher die andere Seite der „friedlichen westlichen Gesellschaft“ vor Augen führen. Die Ausstellungsarchitektur verstärkt die Verknüpfung von Kunst und Design, indem sie sich an der Formensprache von Messen (Kunst-, Technolo-

gie- oder auch Waffenmessen) orientiert und so Exponate der Angewandten Kunst neben Exponaten der Bildenden Kunst gleichermaßen als Waren oder begehrte Sammlerobjekte präsentiert werden. Mit dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Universität Frankfurt sind Vorträge und Podiumsgespräche geplant zu soziologischen, anthropologischen und psychologischen Aspekten von Aggression und Gewalt. In Kooperation mit dem Filmmuseum entsteht eine Filmreihe, die sich mit der Ästhetisierung von Gewaltdarstellungen im Film beschäftigt. Kurator/innen: Ellen Blumenstein, Daniel Tyradellis, Matthias Wagner K Kuratorische Assistenz: Juliane Duft, Anna Gien Designer/Hersteller: Raffaele Iannello (IT), Juan Cristobal Karich (CL), Helmut Lang (AT/US), Gonçalo Mabunda (MZ), Alexander McQueen (GB), Ted Noten (NL), Philippe Starck (FR), Victor & Rolf (BE) u. a. Künstler/innen: Omer Fast (IL), Clara Ianni (BR), Barbara Kruger (US), Kris Martin (BE), Rami Maymon (IL), Julian Röder, Timur Si-Qin (CN/ US), Ala Younis (KW) u. a. Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main: 10.9.2016–26.3.2017 ↗ www.museumangewandtekunst.de

Der Mensch hat tief in die Natur eingegriffen, ist selbst zu einer Art „Naturgewalt“ geworden. Mit der zunehmenden Verschärfung von Ressourcen-, Klimaund Umweltproblemen nimmt die Spaltung der Weltbevölkerung in Gewinner und Verlierer immer weiter zu, Millionen Menschen sind auf der Flucht. Das Projekt „Planetary Consciousness“ setzt sich auf mehreren Ebenen mit der Verbundenheit der Menschen mit ihrem Planeten auseinander, untersucht die Zusammenhänge von Klimawandel und Migration und beschwört die visionäre Kraft des Menschen. In einem Zeitraum von neun Monaten erarbeiten das transnationale Ensemble Hajusom, das Ensemble Resonanz, das burkinische ÉcoArt-Projekt „Garten von Silmandé“ und weitere internationale Künstler/innen und Wissenschaftler/innen Positionen für ein künftiges nachhaltiges Leben und eine neue Weltgemeinschaft. Diese werden in einer Musikperformance auf Kampnagel schließlich zusammengeführt und ineinander verwoben. Ziel von „Planetary Consciousness“ ist, Vorstellungen von einer anderen Welt spür- und erlebbar zu machen. Dafür wird der Medienbunker Hamburg in ein Forschungslabor umgewandelt, in dem Musik, Text, Choreografie und Ausstattung entwickelt und inhaltliche Recherchen vorangetrieben werden. Zwischenergebnisse werden öffentlich präsentiert und diskutiert. Ein zweites Laboratorium eröffnet im „Garten von Silmandé“ in Ouagadougou: Ab September 2016 pflanzen hier Kinder gemeinsam mit Künstler/innen Bäume und pflegen diese. Der Videokünstler Josep Tapsoba begleitet sie auf diesem Weg – die Videobilder fließen in das Raumkonzept der abschließenden Musikperformance ein. Eine Koproduktion mit Kampnagel Hamburg, Maxim Gorki Theater Berlin, Theater im Pumpenhaus/Münster und C.I.T.O. Ouagadougou. Künstlerische Leitung: Dorothea Reinicke, Ella Huck Musikalische Leitung: Juditha Haeberlin, Viktor Marek, Wolfgang Mitterer (AT), Tim-Erik Winzer Komposition: Wolfgang Mitterer u. a. Performer/ innen: Ensemble Hajusom Musiker/ innen: Ensemble Resonanz Ausstattung: Jelka Plate u. a. Choreografie: Jochen Roller u. a. Video: Joseph B. Tapsoba (BF) Kampnagel, Hamburg: 1.–4.6.2017 ↗ www.hajusom.de

© Timur Si-Qin

Durch die Zunahme der Flüchtlingsbewegungen seit 2015 gehört die Erfahrung von Ausnahmezuständen auch in Westeuropa wieder zum Alltag. Die Akademie der Künste entwickelt eine ­Ausstellung, die sich unter dem Titel „Uncertain States“ dem Thema Flucht und Migration widmet. Die Erfahrungen von Künstler/innen im Nationalsozialismus und im Kalten Krieg werden in Beziehung gesetzt zu aktuellen wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und künstlerischen Recherchen. So soll ein Dialog entstehen zwischen historischer Erfahrung von Flucht und Exil, den Ergebnissen der aktuellen Migrationsforschung und künstlerischen Positionen zum Thema. Ausgangspunkt der Ausstellung ist ein „Erfahrungsraum der Dinge“, der anhand von ausgewählten Biografien und Gegenständen aus den Archiven der Akademie der Künste, beispielsweise von Heinrich Mann oder Walter Benjamin, von Fluchterfahrungen zeugt. Die Materialien können verstörende und traumatisierende Aspekte von Flucht, aber auch das Potenzial von Neuanfängen thematisieren und so für aktuelle Fragestellungen fruchtbar gemacht werden. In den zeitgenössischen künstlerischen Positionen – etwa von Mona Hatoum oder Arkadi Zaides – steht die Erfahrung von Fragilität und Instabilität, Gewalt und Verlust im Zentrum. ­Parallel zur Ausstellung soll ein sogenannter ­Denkraum eingerichtet werden: Wissenschaftler/innen und Künstler/innen sind zu Gesprächen und Workshops eingeladen, aktuelle Projekte und beispielhafte Initiativen wie das Grandhotel Cosmopolis aus Augsburg oder das Migration-­ Audio-Archiv aus Köln werden vorgestellt.

Musik-Performance


I wonder as I wander

Bilder von

Akinbode Akinbiyi












I WONDER AS I WANDER Akinbode Akinbiyi 1. Das Wesentliche ist die Führung des Lichtes, wie es immerfort den Pfad, den Weg beleuchtet, uns begleitet wie ein enger Freund. Sowohl in den dunkelsten Ecken der Nacht als auch tagsüber, wo wir glauben, gut sehen zu können. Aber das ist es, wir sehen nur begrenzt, zielgerichtet, meistens sogar nur auf einen bestimmten Punkt konzentriert. Das Licht aber ist überall. Ob Baum, Pflanze, Gebäude, Straße oder der umherirrende Mensch – das Licht über­ deckt alles, strahlt in seiner alles umfassenden Verklärung, dass wir letztendlich erkennen müssen, wie sehr wir davon abhängig sind. Ich bewandere das Labyrinth der Straßen schon seit meiner Kindheit. Es heißt, als Kind sei ich mal aus der elterlichen Woh­ nung weggelaufen, noch nicht drei Jahre alt. Man fand mich und brachte mich zurück, aber ich war schon infiziert. Keine entfernte Biegung war seitdem zu weit, kein in der Distanz flimmernder Hügel zu steil, als dass ich hätte umkehren und denselben Weg zurück nach Hause gehen wollen. Nur weiter, weiter, bis tief in die Nacht, tief in den Wald hinein. 2. Früher waren die Wanderungen ganz unbekümmert, ganz ohne jede Erwartung oder versteckten Wunsch. Ich ging einfach los und genoss den Rhythmus der körperlichen Bewegung, das Einatmen der frischen Luft. Ich entdeckte neue Stadtteile, neue Straßen, bekam ein größeres Verständnis für die kommerziellen und sozialen Zusammenhänge der Gegend. Damals war das Lesen von soge­ nannter Weltliteratur für mich sehr wichtig. Von verschiedensten Autoren bekam ich Anregungen, wie ich eine Stadt tiefer und nuancierter erleben könnte. Die Marktplätze, die Vergnügungsvier­ tel, die Wohngegenden, alles versuchte ich zu durchstreifen, so intensiv wie möglich zu erleben. London, Lagos, Ibadan waren damals die Städte, die mich am meisten anzogen. In London war ich immer wieder in den Sommer­ monaten, um Geld zu verdienen und nachts wie besessen zu tanzen. In Ibadan war ich wegen des Studiums und fuhr dann öfter nach Hause nach Lagos. Ibadan, vor allem, war entscheidend. Es gab so viel zu entdecken. Die Gassen und verwinkelten Pfade waren wirkliche Labyrinthe, ein Wirrwarr von schier unendlichen Ecken und weiterführenden engen Wegen zwischen vorwiegend Lehmbauten und fester gebauten Stadthäusern. Die Stadt schwingt sich über mehrere Hügel, liegt ganz nahe dem Boden und war damals bedeckt mit einem Meer von Wellblechdächern. Wie schon gesagt, das waren damals unbekümmerte, fast möchte ich schreiben: unschuldige Wanderungen, ohne Fotoappa­ rat, ohne den Wunsch, der Umgebung visuell habhaft zu werden. 3. Diese visuelle Auseinandersetzung fing dann in Deutschland, in Heidelberg, an. Der Kauf eines ersten Apparats, einer Spiegelreflex­ kamera aus Japan, die mich damals durch ihren konzentrierten Fokus zwang, genauer und reflektierter um mich herumzuschauen. Immer noch bewanderte ich die Umgebung, lernte die Altstadt und Vorstädte gut kennen und ging mit der Zeit bis nach Frankfurt am Main, um wieder eine größere Stadt zu erkunden. Diesmal aber immer mit der Spiegelreflexkamera dabei. Später waren München dran und Hamburg, Städte, die mich anzogen und nie genug von sich zeigen konnten. Ich wechselte die Ausrüstung, ging über auf das Mittelformat und wurde mit den Wanderungen intensiver. Lagos lockte aus der Entfernung, da ich die meiste Zeit in Europa verweilte, in Deutschland. Lange in München und dann endgültig in Berlin. Aber immer wieder war ich in Lagos, suchte nach meiner Biografie, nach meiner Vergangen­ heit in der Gegenwart von ausufernden neueren Stadtteilen und einer Verkehrsdichte, die weltbekannt wurde. Lagos galt damals als chaotisch, unregierbar, gefährlich, kriminell. Tatsächlich war sie chaotisch, aber mitten in diesem Chaos herrschte eine gewisse Ordnung, ein gewisser Rhythmus. Sie war hektisch, manchmal brutal, sehr dynamisch, aber darunter war die Ordnung der Stadt­ bevölkerung, ihr eigenwilliger Gesang inmitten des Getöses und der Hitze. Ich habe immer wieder von dem intimen Tanz gesprochen zwischen dem einfühlsamen Wanderer und der Stadt, die er bewandert. Der Tanz ist nicht ganz ausgeglichen zwischen diesen

zwei Tänzern, da die Stadt dominiert und ständig führt. Sie zeigt, wo der Weg weitergeht, und sagt, wohin wir unsere Füße setzen sollen. Sie umarmt auch den einsamen Wanderer, drückt ihn fest an ihren Busen, so sehr, dass er kaum noch atmen kann. Die Stadt, die ich liebe, aber die mich mit der Zeit unterdrückt, völlig beherrscht. Gerade die sogenannten Megastädte, Städte mit mehr als fünfzehn, zwanzig Millionen Einwohnern. Unüberschau­ bar, fast unvorstellbar. Menschenmassen, die jeden Tag die Straßen füllen und für eine Dichte sorgen, die manche als unerträglich bezeichnen. Balogun Market auf Lagos Island, der manchmal so voll und undurchdringlich scheint, dass der Ortsfremde sich nicht mehr vorstellen kann, wie er wieder herauskommt. Der Markt erstreckt sich über verschiedene benachbarte Stadtteile, ist so uferlos und groß, dass man tatsächlich den Überblick verliert. Trotzdem finden Kundige, was sie wollen, ob Textilien, Autoersatz­ teile, Möbel, Elektrowaren. 4. Besondere Momente, individuell, intuitiv, sind das Entscheiden­ de. Der rote Faden ist der Weg vor einem, die Straße, der Gehweg, der Pfad. Ich wandere und bewundere. I wonder as I wander, ein Gedicht des Afroamerikaners Langston Hughes, begleitet mich seit Jahrzehnten in meinen Stadtwanderungen. Momente, die man nur schwer beschreiben kann: Sie sind serendipitous, fallen einem zu. Du stehst gerade an einer Kreuzung, beobachtest das Kommen und Gehen und spürst, wie etwas in der Luft liegt. Oft die Vorah­ nung eines Unfalls, da der Verkehr gerade zu hektisch und unkon­ trolliert ist. Und dann passiert er, der Unfall, und viele sind scho­ ckiert, ergriffen. Oft ist das Geschehene zu blutig, zu traumatisch, um fotografiert zu werden. Nicht alle sind an der Sensation interes­ siert, am Spektakel der gebrochenen, verletzten Gebeine und Körper. Aber immer wieder gibt es Momente, die darüber hinaus­ gehen. Das Zucken der Mobiltelefone, um ein schnelles Bild zu machen, in den Händen gehalten wie ein kleines Schießgewehr oder ein Guckloch – diesen Moment fotografierte ich einmal in Bamako, als ich auf eine Menschenansammlung traf und sah, dass dazwischen ein furchtbar zugerichteter Mann lag. Zuerst dachte ich, er wäre von einem Auto erfasst worden. Dann erklärte mir jemand, dass er ein Dieb sei und von der Menschenmeute so brutal zugerichtet worden war. Als die Ambulanz kam, gingen die Schau­ lustigen etwas zur Seite und der Zugerichtete wurde sorg­fältig aufgeladen. Dies war der Moment für mich, diese Nachahmer eigentlich meiner Tätigkeit, das Aufnehmen von besonderen Momenten, selbst aufzunehmen. Sie fotografierten mit Mobiltele­ fonen. Ich fotografierte sie mit meinem Mittelformatapparat. Zwischen uns der bewusstlose, zugerichtete Mann. 5. Wie so oft im Leben ist es ein Kommen und Gehen, oder besser gesagt, ein Geben und Nehmen. Ich gehe, um aufzunehmen. Indem ich mich aber hingebe, der Stimmung des Tages, dem Besonderen in gerade diesem Moment, bekomme ich auch etwas von der Umgebung. Die Bilder enthalten und erzählen besondere Momente. Mehrere Bilder in einer Sequenz ergeben eine Geschichte, die der Stadt, des Weges. Die Aufnahmen sind Erzählmomente, sind sorgfältig komponierte Fragmente, die, wenn sie länger angeschaut werden, eine Tiefe eröffnen, andere Ebenen zum Vorschein bringen. Diese Ebenen sind sozusagen hinter der Oberfläche der Bilder, sind darunter, und verlangen ein konzentriertes, unentwegtes Anschauen, ein Hineintauchen in den Fluss des Visuellen. Die Stadt, die Städte, sind nicht nur Lärm und urbane Geschäftigkeit, sind nicht nur Menschenmassen und Verkehr, sondern auch Orte tiefsitzender Rituale, Orte wo wir, die umherirrenden Einwohner, Sinn und Zweck unseres Daseins zu ergründen versuchen. 6. I wonder as I wander, but more than that, I photograph in order to understand the constantly encroaching visual fragments.

Akinbode Akinbiyi (*1946) wuchs in England und im nigerianischen Lagos auf. In den 1970er Jahren begann er als Autodidakt zu fotografieren und wurde bald zu einem international gefragten Reportage- und Architekturfotografen. Er kuratierte zahlreiche Ausstellungen afrikanischer Kunst und Fotografie in Deutschland sowie den deutschen Beitrag zur Fotografie-Biennale in Bamako. Im August dieses Jahres erhielt er die Goethe-Medaille. 2017 zeigt Akinbiyi neue Arbeiten auf der documenta 14 in Kassel und Athen. Akinbode Akinbiyi lebt in Berlin.


AHMET SAMI ÖZBUDAK

21

Das

Sazlı

Melaike Aziz hatte das Paillettenröckchen ausgebessert, endlich konnte er es überstreifen. Seine Augen waren schon kräftig geschminkt, doch es reichte ihm längst nicht. Er trug eine weitere Schicht auf. Und noch eine! „Mach mal halblang, du kratzt dir noch die Augen aus“, bremste Mesut, warf die Perücke ab und warf sich auf den Sessel hinten im Raum. „Du übertreibst total mit dem Kleopatra-Konzept.“ ­ Er war es gewohnt, dass Mesut den Bogen überspannte, wenn er gute Stimmung schaffen wollte, aber heute Abend nervte er. Aziz hätte ­ ihm am liebsten den Stift ins Auge

gestochen. Er holte tief Luft. Dann legte er das gold gefärbte Halsband um, musterte die Elefanten darauf und ließ die Finger über die leicht erhabenen Motive gleiten. „Du kriegst wohl nie genug davon, die Rüssel zu streicheln!“ Mesuts unablässig plappernde Stimme kam ihm wie eine Hand vor, die ihm mit langen Fingernägeln über die Eingeweide kratzte. Er stand auf, ­ rieb sich Jasminessenz hinter die Ohren und Nelkenessenz um die Brüste und auf die Schultern. ­ Dann setzte er die in Violett und ­Hellrosa ­ gehaltene Federmaske auf. Er drehte sich um sich selbst. Sein mit Glöckchen und Pailletten besetztes Röckchen klimperte harmonisch.

Kabarett

Masturi! AHMET SAMI ÖZBUDAK über den Umgang mit Homosexualitäten in der Türkei Beginnen möchte ich mit dem Ort, an dem ich meine Kindheit verbracht habe, denn die Kindheit ist der Kern von uns Erwachsenen. Ich finde es aufregend zu denken, dass die prächtigen Dinge, die wir beim Anblick eines Baumes sehen, aus einem Kern hervorgegangen sind. Meine Kindheit verbrachte ich in Alan­ya. Ich war anders als die anderen Kinder, vielleicht erlebte ich schon dort die ersten großen Traumata meiner Homosexualität; und schuf als ein unter dem Faschismus der Normalität zertretener, als ein getretener Kern den Baum, den Sie hier vor sich haben. Alanya war eine kleine Stadt, die ersten faschistischen Schläge erhielt ich in meiner Kindheit, von Verwandten, von Freunden, von meiner Familie. Vielleicht verspotten sie dich manchmal auch nur, doch den größten Schaden fügen Blicke zu, und das war in der Zeit meiner Kindheit noch schlimmer. Die Leute verletzen dich also zuerst mit ihren Blicken. In einer konservativen, muslimischen Gesellschaft ist das noch einmal so brutal und schmerzend. Dieser Faschismus, dem ich ausgesetzt war, wirkte sich selbstverständlich auf meine Entwicklung als Autor aus. In Iz („Die Spur“), einem meiner ersten Theaterstücke, war die Hauptfigur ein Transvestit namens Sevengül. Die Tiefe und Wahrheit ihres Charakters unterschied sich meines Erachtens von denen der anderen. Denn in der Figur ­Sevengül vereinten sich Momente des qualvollen Wegs zahlreicher in der Türkei lebender Homosexueller. Auch in meinem ersten Roman Masturi Ka­ bare („Kabarett Masturi“) steht die „Erker-Moral“, also eine heuchlerische Moral, im Zen­ trum. Bei der Entwicklung der Lebensformen im Umfeld der Hauptfigur Aziz habe ich versucht, die allgemeine Haltung zur Homosexualität in der Türkei zu reflektieren. Aziz’ Onkel beispielsweise ist ein konservativer, ungebildeter, strenger Mann, wie er in der Türkei häufig anzutreffen ist, ja geradezu ein Klischee darstellt. Ebenso seine Eltern. Sie sind zwar im Verhältnis zum Onkel toleranter, schwimmen aber auf derselben Welle mit. Bei der Darstellung der Eltern habe ich noch einen weiteren wichtigen Punkt berührt, nämlich den der Nicht-Akzeptanz. Das größte Problem der Familien von Homosexuellen in der Türkei ist es, nicht akzeptieren, nicht wahrhaben zu wollen. Die Situation ist ihnen durchaus bewusst, doch aufgrund des moralischen Faschismus verweigern sie sich der Realität. So ist es auch bei Aziz’ Eltern, sie ignorieren Aziz’ Homosexualität, ihr größter Traum besteht darin, dass Aziz eines Tages heiratet und eine Familie gründet. Die Homosexualität der beiden anderen Hauptfiguren des Romans, Ceylan und Eren, hinterfragt etwas anderes, nämlich den ­Umgang des Bürgertums mit Homosexualität. ­Reiche,


22 die das Istanbuler Nachtleben beherrschen, sind besonders scharf auf Homosexuellen-­ Shows als Ouvertüre. Locations, wo Männer in Frauenkleidern auf der Bühne stehen, Transvestiten Bauchtanz zeigen, schwule Sänger auftreten, waren stets beliebt. Der Blick des Bürgertums auf „die Schwulen“ ist nicht viel anders als der Blick auf Affen im Zoo. Im Leben dieser Leute gehören diese Figuren zu den wichtigsten Amüsierquellen. Und in Kabarett Masturi habe ich versucht, den Blick dieser Kreise, zu denen auch Eren und Ceylan gehören, nachzuzeichnen. Da die Rede nun auf Istanbul gekommen ist, möchte ich auch darauf eingehen, wie sich schwules Leben in Istanbul tatsächlich darstellt. Das ist keine ganz einfache Frage, sie ist vielmehr detailreich und verzwickt. Die bereits erwähnte heuchlerische Moral prägt auch in Istanbul das homosexuelle Leben stark. So können Sie etwa jede Nacht Dutzende Transvestiten und Transsexuelle beim Anschaffen auf den Bürgersteigen zwischen Osmanbey und Şişli sehen. Wer sind ihre Kunden? Da ist von einem breiten Fächer zu sprechen, vom verheirateten Mann bis zu jungen Leuten, vom Polizisten bis hin zu finanzstarken Geschäftsleuten. Die meisten von ihnen sind zweifellos konservative Leute, die tagsüber ein ganz normales Leben führen und das Wort Homosexualität nicht einmal in den Mund nehmen würden. Nachts aber wandelt sich ihre Psyche und sie setzen sich in ihre Limousinen, um auf dieser Meile tätige männliche Sexarbeiter zu treffen. Das kann als die dunkle Seite schwulen Lebens in Istanbul bezeichnet werden. Andererseits existiert aber auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Personen, die ihre Beziehungen couragiert frei ausleben. Diese Gruppe ist ­beruflich vor allem in künstlerischen und Design-­Berufen tätig, hier finden sich auch die Engagierten und Aktivisten der LGBT-Bewegung. Wie viele andere Bereiche auch, hat das schwule Leben in Istanbul mit den Gezi-Protesten eine neue Dimension erreicht, seither ist es organisierter und wagt mehr. Der GayPride-March im Sommer 2013 zur Zeit der ­Gezi-Proteste verlief unglaublich euphorisch, nicht allein schwule Kreise traten für die Pride-­ Parade ein, auch von Heterosexuellen kam breite Unterstützung. Diese große Energie störte die türkische Regierung, im Folgejahr kam es beim Pride-Marsch zu Polizeigewalt, Tränengas wurde eingesetzt und der Marsch massiv attackiert. Die LGBT-Bewegung in der Türkei weckt einerseits Hoffnung, andererseits gibt sie ­Anlass zur Sorge. In der derzeit herrschenden konservativen Atmosphäre sucht sie nach einer Sprache und kämpft um ihre Existenz. Denn in einem islamischen Land ist offene, frei gelebte Homosexualität nicht hinnehmbar. Sollte sich die Intensität der aktuellen islamischen Atmosphäre steigern und die Türkei sich in ein noch stärker islamisch geprägtes Land verwandeln, wird der Existenzkampf für schwule ­Kreise noch erheblich härter werden. Schwules ­Leben wird seinen Platz im Rahmen der erwähnten heuchlerischen Moral finden, es wird zu einer stärker im Untergrund existierenden Lebensweise werden, wobei auch heute dieses Underground-Element nicht geringzuschätzen ist. Sollte sich die politische Atmosphäre aber entgegengesetzt entwickeln, kann von starken, fortschrittlichen Kreisen gesprochen werden, die einen guten Teil der Bereiche Kunst, Kultur und Design in der Türkei dominieren. Ahmet Sami Özbudak, Mai 2016, Istanbul Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

„Von diesen Düften krieg ich Kopfschmerzen“, jammerte Mesut hinter ihm. Er aber reagierte mit einem sexy Hüftschwung. Das Sazlı Melaike war an Wochenenden rappelvoll, keine Stecknadel hätte zu Boden fallen können. Töchter und Söhne aus reichem Hause ­ feierten Junggesellenabschied, Jungen mit Gel im Haar hatten ganze ­ Flakons Parfüm über sich entleert, Casanovas, die ihren Gattinnen entlaufen waren … ­ Der Club war das Siegel der Istanbuler Nächte. Gleich einer Stätte für Messen für die Massen, die das Vergnügen zum Gottesdienst erhoben hatten. Den Gipfel der Messe bil­ dete die Tanzshow des Trios Mesut, Mügü und Aziz. Dessen waren sich die drei vollkommen bewusst, wenn sie auf die Bühne gingen. Im Vorprogramm traten drei dralle Tänzerinnen auf und kündigten ihre Show an. Die Stammgäste im Sazlı Melaike wussten, wenn Mashallah erklang, das Duett von Alabina und den Gipsy Kings, war die Zeit für ihren Auftritt da. Die drei erregten Aufmerksamkeit: Mügü, eine Frau Ende dreißig, die keine andere Wahl mehr hatte, Mesut, der mit Anfang vierzig seine ­ letzten Trümpfe ausspielte, und Aziz, der unter dem Pseudonym Zambak Sude auftrat: geschminkte Lilie. Gemeinsam arbeiteten die drei Monat für Monat ein neues Konzept aus und inszenierten nach dem jeweiligen Motto eine Tanzshow. Am Ende der Show gab Aziz eine pantomimische Vorstellung, da präsentierte er gewagt seinen Körper, um den so manche Frau ihn beneiden konnte, in all seiner Eleganz und Schönheit. Nicht, was er tat, wurde bestaunt, sondern sein Body. Wenn ihm der Schweiß ausbrach, verströmte er den Geruch von Jasmin und Nelken. Der Duft seiner Haut mischte sich darunter und überall, wo er durch ­ die Menge tanzte, hinterließ er seine Note. Manche würden mit diesem Geruch onanieren in der Nacht, das wusste er. Wie gern trieb er das Spiel der verbotenen Früchte mit Frauen und Männern gleichermaßen! Er schwebte durch die Menge und alle schnupperten ihm hinterher. Niemand durchschaute seinen Tanz, seine Show. Doch alle jieperten nach ihm. „Wer ist das?“ „Wer ist das?“ „Wer ist das?“ Immer wieder kam diese Frage aus der Menge. Einer fing an, andere endeten damit. „Wer ist das?“

Bis er die Maske fallen ließ, wusste er selbst nicht, wer er war. Er wischte sich mit geölter Watte die Schminke ab, wischte und wischte. Bis Aziz zum Vorschein kam. In manchen Nächten tauchte Aziz früher auf, in anderen gar nicht. Er betrat die Bühne als Zambak Sude, sie griff auf sein Leben über und gestattete Aziz nicht, in ihren Kreis einzutreten. In den Nächten, in denen Zambak Sude an ihm kleben blieb, fühlte er sich mies. Ich hab’s nicht geschafft, Aziz zu werden, ich bin Zambak Sude geblieben, wohin mag diese Nacht mich tragen, fragte er sich manchmal. Eine dieser Nächte war heute. Seine Aziz-Identität hatte sich verborgen gehalten. Er ging zum Hinterausgang des Sazlı Melaike. Hier sah es immer gleich aus. Stapel hunderter Plastikflaschen, Spirituosenkästen, nach Schweiß riechende Arbeiter, Katzen dutzendweise, im Dunklen gleich Sternen aufglimmende Zigaretten. Das war das andere Gesicht des Sazlı Melaike. Vor der Tür vorn ­ eine Istanbuler Straße flirrend nach Parfüm duftend, hinten ein feuch­ tes, elendes, stinkendes Loch. Aziz zog es vor, durch diese Tür hinauszugehen. Er mochte es sogar. Hier war wenigstens kein Hauch vom heuchlerischen Leben drinnen zu spüren. Hier war alles nur das, was es war. War es Elend, dann war es eben Elend. Er trat auf die stille Gasse und lief nach Nişantaşı hinauf. Verwaist war die Nacht. Die Gassen gehörten den Katzen und Hunden. Das Viertel unterschied sich vollends vom Tages-Nişantaşı, vielleicht zog es als einziger Istanbuler Kiez ein Nachthemd über. Es war kühl geworden. Aziz lief, Aziz lief schnell. Er schwitzte wie auf der Bühne. „Nun schlaf schon ein, Zambak Sude, hey Aziz, zeig dich endlich“, murmelte er vor sich hin. ­ Er würde sich nicht zeigen. Es juckte ihn. Er lief am Rand des Gehsteigs entlang. Der Teufel hatte ihm ein Fünkchen Erregung in die Brust gesetzt. Die Erregung wuchs bei jedem Schritt. Es kam der Augenblick, da er am Straßenrand stehenblieb. Autos hupten. Er warf den Fahrern ­ verstohlene Blicke zu. Soll ich mich heute Nacht amüsieren? Er schob den Hintern vor, hielt ihn den Scheinwerfern der Autos, die ihm Signal gaben, deutlicher hin. Er ließ die Backen wie im Leerlauf wackeln. Reihenweise hielten Männer neben ihm. Ein Mann mit hellem Teint und grauem Haar. Sein Lachen klang


23 falsch, der also nicht. Ein Jungspund mit erstem Bartflaum. Er hatte ihn im Club gesehen, ein Geizhals. Ein netter Opa Mitte sechzig. Die Mühe lohnte nicht. Ein untersetzter Blonder. Die Luxuslimousine, die er fuhr, gehörte ­ nicht ihm, er war nur der Chauffeur. Ein behaarter Mittdreißiger. Der Jeep war sein Prestigeobjekt, tierisch nervös wirkte er. Der war ­ es nicht wert. Anscheinend hatte Zambak Sude heute Nacht keine Chance, sich zu amüsieren, und Aziz war unauffindbar. Wie die Nacht drückte! Er war von Harbiye ganz bis Elmadağ gelaufen. ­ Jetzt hielt er den Blick gesenkt. Und war froh, dass ihm keiner über den Weg gelaufen war. Er sollte es nicht tun. Auch wenn sein Körper sich nach Wassern sehnte, auf denen er noch nie gesegelt war, sollte er es bleiben lassen. Ein paar Mal hatte er es getan, hatte völlig Unbekannte umarmt. Ein kurzes Herzflattern, wozu sollte das gut sein. Er war noch in Gedanken, da folgten ihm die Scheinwerfer eines Autos, blendeten auf und ab. Wer mochte das sein? Da war offenbar jemand hartnäckig. Ein Oller oder ein Zuhälter, ein Spinner oder ein Per­ verser. Er drehte sich um. Ein Chevrolet, Modell 1960, indigoblau. ­ Irres Ding. Für ihn war das dröhnende Ding nur ein altes Auto. Wie ein Alter kurz vor einem Hustenanfall. Aziz hatte keine Lust, sich abmühen zu müssen, er bog in die Straße nach Dolapdere hinunter ein. An der Ecke vom monströsen Wohnblock Sarıcazade Abdullah Osman Bey, der Hof wie ausgestorben, erwischte er ihn. An die Wand gepresst, starrte Aziz auf den Wagen. Die Scheinwerfer blendeten ihn, wollte der ihn zerquetschen, würde er an der Mauer kleben bleiben. Stoßweise ging sein Atem, er zitterte. Vielleicht einer von früher, schoss es ihm durch den Kopf. Der Wagen hörte auf zu röcheln, die Tür ging auf. Ein Mädchen mit orangefarbener Perücke stieg aus. Das Perückenhaar ­ hatte sie hochgesteckt und oben drauf einen Schmetterling aus Tüll gesetzt. Sie trug ein gepunktetes Minikleid. An die Autotür gelehnt, schüttete sie sich aus vor Lachen. Wie irre. Lachte. Hörte gar nicht auf zu lachen. Je mehr Aziz zitterte, desto heftiger lachte sie.

Empfindlichkeiten

„Schiss gehabt, Mädel?“, fragte sie und brach erneut in übermütiges Gelächter aus.

Festival zu Homosexualitäten und Literatur

„Komm her, Süße, ich nehm dich mit!“

Welche Relevanz hat die eigene sexuelle Orientierung für den Umgang mit Texten, für Schreiben und Lesen? Wie finden biografische Erfahrungen in literarischen Verfahren, Formaten und Stillagen ihren Niederschlag? Und in welcher Weise wirken sich gesellschaftliches Umfeld und intellektuelle Strömungen auf die zeitgenössische Literatur Europas aus? Diesen Fragen spürte im Juli 2016 ein Schriftstellertreffen im Literarischen Colloquium Berlin nach. Der Titel der mehrtägigen Veranstaltung bezog sich auf das seinerzeit Aufsehen erregende Buch „Die Geschichte der Empfindlichkeit. Homosexualität und Literatur“, in dem Hubert Fichte 1987 zu beantworten suchte, ob sich ein spezifischer Schreibstil homosexueller Schriftsteller identifizieren ließe. Sein Werk eröffnete Diskurse, in deren Folge seither die unterschiedlichsten Positionierungen, Selbstdefinitionen und Ästhetiken ­aufeinandertreffen. Autor/innen, Wissenschaftler/innen und Akteure der GLBTI-Szene aus ganz Europa waren nach Berlin eingeladen, sich in öffentlichen Foren und Gesprächen, Lesungen und Performances zu Homosexualität als einem Topos der europäischen Literatur auszutauschen. Eine begleitende Ausstellung, die unter den Leitmotiven „Maske, Körper, Schrift“ Fotografien von Leonore Mau versammelt, diente den Teilnehmer/innen als mögliche Inspirationsquelle und wird anschließend auch in Österreich und Slowenien gezeigt.

Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, schüttelte Aziz ­ den Kopf. „Na komm schon, steig ein, ich fress dich nicht, keine Angst.“ Das Mädchen war unverschämt und hemmungslos. Vielleicht eine Kundin der Location. Doch wie hätte sie Aziz erkennen sollen? War er denn hinter den Masken überhaupt zu erkennen? Brav stieg Aziz ins Auto, das Mädchen zwinkerte ihm zu, dann lächelte es. „Ay, was für ein süßes Ding du bist!“ Sie kniff ihn in die Wange. Der Wagen rollte den Hang hinab. „Hast du Hunger?“ Das junge Mädchen war locker, als wären sie alte Freunde. „Setzt du mich bitte irgendwo ab?“ „Ach, was für einen Bammel du hast, kleines Rehkitz! Würdest du etwa gleich wieder aussteigen, wenn ein Mann am Steuer säße?“ Wieder lachte sie. Sie blieb so ungeniert wie zuvor.

Künstlerische Leitung: Samanta Gorzelniak & Thorsten Dönges Autor/innen: Mario Fortunato (IT), Masha Gessen (RU/ US), Saleem Haddad (GB), Hilary McCollum (IE), Murathan Mungan (TR), Ahmet Sami Özbudak (TR), Masha Qrella & Band, Antje Rávic Strubel, Abdella Taia (FR), Suzana Tratnik (SI), Michał Witkowski (PL) u. a.

„Ich zahl, was immer du kostest.“ „Sie sind auf dem Holzweg, ich schaffe nicht an.“ Wieder ließ das Mädchen einen dreisten Lacher hören.

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„Hör mal, ich hab Hunger, fahren wir zum Goldenen Horn, essen wir eine Suppe?“ Aziz schwieg. „Komm, fahren wir“, bestimmte das Mädchen kess. Als sie vor der Suppenküche parkten, schämte er sich vor den An­ gestellten des Lokals. Mit größtem Selbstvertrauen stieg das Mädchen aus. Sofort buckelten alle vor ihr. Ein grauhaariger Hüne am Eingang des Restaurants begrüßte sie eu­ phorisch, kaum dass er sie erblickt hatte. Augenscheinlich ein in die Jahre gekommener Don Juan. Nun wurde Aziz doch neugierig auf das ­ ­Mädchen. „Verrückte Dirn, was hast du wieder mit deinem Kopf angestellt? Wie geht’s Cengiz Bey? Alles okay?“ Der Mann knallte diese und eine Reihe ähnlicher Fragen mit überschwänglichem Gelächter heraus. Aziz musterte er gleichgültig. Sie setzten sich an einen der Tische mit Blick aufs Goldene Horn.

„Zwei Mal Kuttelsuppe“, orderte das Mädchen. „Ich hab für dich mit entschieden, aber Kuttelsuppe ist hier wirklich gut.“ Sie tat, als wäre Aziz gar nicht da, zerrte ihn aber zugleich am Arm, um ihm ihre Welt vorzuführen. Aziz war immer noch benommen. Hatte ihn etwa das eine Glas Whisky Soda derart benebelt? Seine Psyche waberte im Vakuum, das Mädchen hat­ te geschickt seine herumfliegenden Strippen aufgenommen und zog daran. Wie eine versierte Puppenspielerin. „Wie heißt du?“ „Aziz.“ „Ich bin Ceylan. Du kannst mich Ceyo nennen. Eigentlich fänd ich’s nett, wenn du Anfisa zu mir sagst.“


24 Kurz schwiegen beide. „Was machst du beruflich?“, fragte Ceylan, obwohl sie sehr genau wusste, was der junge Mann tat. „Wir sind selbständig.“ Ceylan ließ die Hemmungslosigkeit nicht fahren. Die Angestellten schienen daran gewöhnt zu sein. Gab es Bewegung, warfen sie schmunzelnde Blicke zum Tisch. „Hach, heutzutage ist auch jeder selbständig.“ „Wir haben ein Lokal in Çemberlitaş, da bin ich. Mein Vater, mein Onkel und so“, führte Aziz aus. „Oh, ich liebe der Gegend, da eine Gasse, wo anderen liegt, da?“

die Garküchen da in gibt’s doch diese ein Lokal neben dem ist euer Laden auch

„Nein, wir sind in Çemberlitaş.“ „Ich hab einen Freund, Ismail, der macht Mode, ich war oft mit ihm zum Stoffegucken da, himmlisch!“ Bald waren die Suppen verzehrt und sie miteinander warm geworden, schon gingen sie wie Freunde miteinander um. Aziz war immer gut mit Frauen und Mädchen ausgekommen. Seit Grundschuljahren war das so, es wunderte ihn nicht. „Kommst du mit zu uns?“, fragte Ceylan. „Nein, ich muss nach Hause, Ceylan Hanım.“ Wieder brach das junge Mädchen in ihr nervtötendes Gelächter aus. „Ceyo, Mann, Ceyo!“ Sie rauchte großspurig und fuhr raubeinig Auto, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ­ was für einen Wagen sie da lenkte. „Wo wohnst du denn?“ „In Yedikule.“ „Hey, ich fahr dich rum.“ „Ich komm schon alleine hin.“ „Wie willst du da um diese Uhrzeit hinkommen?“ Energisch war sie, geradezu halsstarrig. Sie ließ sich nicht davon abbringen, Aziz bis vor die Haustür in der Hacı-Kadın-Gasse ­ in Yedikule zu bringen. Sie stoppte den Wagen und sah ihm in die ­Augen. „Wissen deine Eltern um dich, Sweetie?“, fragte sie frech. „Natürlich nicht.“

Zärtlich und mitleidig sah Ceylan ihm ins Gesicht. Um gleich darauf selbstbewusst an seinen Lippen zu kleben. Sie küsste ihn, feurig und kühn. Völlig perplex ließ Aziz den Kuss unerwidert über sich ergehen. Zweifellos spähte seine Mutter durch die Gardinen. Und wahrscheinlich sein Vater ebenso. „Faruk!“, würde die Mutter dem Vater freudig zurufen. „Aziz sitzt da mit einem Mädchen im Wagen, sieh nur!“ Beide würden tief durchatmen und Frieden finden. Benommen vom Kuss stieg Aziz aus und steckte den Schlüssel ins Schloss. Die Tür ging auf, noch bevor er den Schlüssel umdrehte. „Wie geht es dir, mein Sohn?“ „Gut, Mama.“ Dieser Ton, wie sie „mein Sohn“ sagte! Sie floss schier über vor Zärtlichkeit und Freude. Sein Vater gab sich mit anderem beschäftigt, doch zweifellos war sein Kopf bei ihnen. Begeistert nahm er die rituelle Waschung vor, ganz offensichtlich überglücklich. Das Wasser aus dem Hahn spritzte auf den Boden. „Nicht so stürmisch, Faruk, ich hab gerade erst gefeudelt“, klagte die Mutter. „Allahhümme salli“, grummelte der Vater zur Antwort. Aziz ging ohne viele Worte auf sein Zimmer. Hinter ihm her rief die Mutter: „Hast du Hunger?“ Er überhörte sie geflissentlich. Er betrat sein Zimmer. Kusine Cemile schlief auf ihrem Lager am Boden. Er streckte sich rücklings auf dem Bett aus. Sofort stand ihm das seltsame Mädchen vor Augen, das ihm über den Weg gelaufen war. Ein verrücktes Ding. Sonderbare Nächte war Aziz gewohnt. Doch so etwas Verrücktes war ihm noch nie passiert. Wer weiß, wie sehr seine ­ Eltern sich freuten. Ganz offensichtlich wären sie überglücklich, wenn er heiratete. Redeten nicht längst die Nachbarn? Keiner war dumm. Ging Aziz, der bunte Vogel des Viertels, durch die Straßen, stieß man sich mit Ellbogen an und das Geraune ging los. Lief er ­ vor dem Café oben an der Gasse vorüber, hörte er ein Grummeln. Das spielte sich vor allem in seinem Inneren ab. Ein Mob, Steine in den Händen, verfolgte ihn, gleich würden sie werfen, da rief einer: „Aziz, was macht dein Papa, grüß ihn schön!“ Nicht dass den Fragesteller Faruks Befinden interessiert hätte, doch mit der naiven Antwort, die Aziz

geben würde, hätten er und die anderen ihren Spaß. Mutter Zambak und Vater Faruk waren sich der Situation selbstverständlich vollkommen bewusst. Vermutlich dachten sie eben darüber nach, als sie nebeneinander im Bett lagen und im selben Moment die Blicke an die Decke richteten. Was sollte nur aus dem Jungen werden? Der Zweifel nagte bös an ihnen. Sie versuchten, seinem Unterbewusstsein einzureden, er solle endlich heiraten. Was, um Gottes willen, wenn der Junge so war, wie die verfluchten Nachbarn behaupteten? Mit einem Stoßgebet bemühten sie sich, den Gedanken zu verscheuchen, alle beide. Ihr einziger Trost war, dass ihr Sohn aufs Abendgymnasium ging. Wer weiß, was geschehen wäre, hätten sie je das Gymnasium Sazlı Melaike zu Gesicht bekommen. Das blieb ein Geheimnis. Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Ahmet Sami Özbudak (*1980 in Hatay/­ Türkei) verbrachte Kindheit und Jugend in Alan­ ya und studierte an der Universität Istanbul Ar­ chivwesen. Seither lebt und schreibt Özbudak in Istanbul und ist als Intendant und Stücke­ schreiber bei GalataPerform tätig. Sein Stück „Die Spur“ wurde beim Heidelberger Stücke­ markt 2011 mit dem Europäischen Autorenpreis ausgezeichnet, 2013 wurde Özbudak von der türkischen Zeitschrift Theater Theater zum Stü­ ckeschreiber des Jahres gekürt, „Die Spur“ liegt seit Mai 2016 auch in Romanform vor. Zuletzt er­ hielt Özbudak 2014 den Cevat-Fehmi-Başkut-­ Sonderpreis. Özbudaks Stück „Hayal-i Temsil“ („Aufführung einer Vision“) über das Leben der Schauspielerinnen Afife Jale und Bedia Muvah­ hit wurde ins Repertoire der Städtischen Büh­ nen Istanbul aufgenommen. Zuletzt inszenierte er das Stück „Kar Küresinde Bir Tavşan“ („Ein Hase in der Schneekugel“) bei ikincikat/Zwei­ terStock Istanbul. „Das Sazlı Melaike“ (etwa: „Event-Engel“) ist ein Ausschnitt aus Özbudaks Debütroman Kabarett Masturi (Istanbul 2014). Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei sagte ­Ahmet Sami Özbudak im August 2016: „So sehr das aktuelle Geschehen in der Türkei mir auch die Motivation zum Schreiben aus den Händen zu reißen versucht, bemühe ich mich doch wei­ ter, mit meinem Schreiben Widerstand zu leis­ ten. Schreiben ermutigt mich, beim Schreiben spüre ich mich atmen.“


aussehen?

OKWUI ENWEZOR, KATY SIEGEL, ULRICH WILMES

Wie würde 25

eine globale ­Moderne


26 Die unmittelbar auf das Ende des Zweiten Weltkriegs folgenden Jahre, die in Europa den entscheidenden Sieg über Deutschland und in Asien den über Japan beschreiben, markierten einen Wendepunkt in der Weltgeschichte. Die Katastrophe und das Chaos, die der Krieg verursacht hatte – mit der Zerstörung ganzer Städte und Länder, Zigmillionen Getöteter und einer massiven Flüchtlingskrise, ausgelöst durch das Schicksal von Millionen staatenloser Menschen – breiteten sich aus vor dem Hintergrund des ersten Einsatzes der Atombombe und des gesamten Grauens der Konzentrationslager. Die moralischen und technologischen Vermächtnisse von Hiroshima und Au­schwitz wurden zum Symbol für die Krise des Humanismus.

ie wohl keine Ausstel­ lung ­zuvor in Deutsch­ land unternimmt die Ausstellung ­„Postwar: Kunst ­zwischen dem Pazifik und ­Atlantik, 1945–1965“ den ­Versuch, die eurozen­ trische bzw. westliche Perspektive zu über­ winden, ­indem ­sie die W ­ elt als ein globales Beziehungs­ geflecht aus dem Blickwinkel der Kunst der Nachkriegszeit ­beschreibt. Wir veröffentlichen eine gekürzte Fassung des Ausstellungskon­ zepts der Kurator/ innen Okwui Enwezor, Katy Siegel und Ulrich Wilmes: ein essayis­ tischer Überblick über die globalen Konstel­ lationen und Entwick­ lungslinien in der Kunst der „Postwar“-­ Ära.

Im Bereich der Kunst markiert die Nachkriegszeit einen besonderen historischen und kulturellen Wendepunkt, denn sie führte zur schwindenden Dominanz westeuropäischer Kunsthauptstädte und zum Aufstieg der internationalen Präsenz und Vormachtstellung der zeitgenössischen amerikanischen Kunst, der Populärkultur und der Massenmedien. Diese Verlagerung spiegelte in der Tat die veränderten Bedingungen der geopolitischen Machtverhältnisse, in denen das besiegte Europa sich neue Förderer und Beschützer erwarb und sich ihnen fügte. Während der Kalte Krieg den Kontinent in zwei getrennte Einfluss-Sphären teilte – in die Länder des Warschauer Paktes in Ost- und Mitteleuropa, die mit der Sowjetunion alliiert waren, und in die mit den Vereinigten Staaten von Amerika verbündeten westeuropäischen Staaten der NATO, der North Atlantic Treaty Organization –, offenbarte auch der Zustand der Künste eine klare ideologische Verwerfung: zwischen Kommunismus und kapitalistischer Demokratie, „Sozialismus und freiheitlicher Demokratie“. Durchdrungen war diese vereinfachende Zweiteilung, die komplexere künstlerische Motivationen verschleierte, von der den Begriffen Abstraktion und ­Sozialistischer Realismus jeweils zugeschriebenen ideologischen und künstlerischen Logik, wobei die beiden Begriffe im Wettstreit einer erneuerten Sicht der Kunst nach dem Krieg zu moralischen Äquivalenten wurden. Dieselben Einfluss-Sphären teilten auch den Pazifik zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wieder in zwei unbeugsame Konkurrenten. Im globalen Maßstab jedoch erschwerten Kämpfe gegen den Kolonialismus, Unabhängigkeits­ bewegungen und der Widerstand gegen die Kolonialmächte in Afrika, Asien und dem Mittleren Osten diese Zweiteilung, selbst als die Machtblöcke des Kalten Krieges die neuen Nationen umwarben und unter ihre jeweilige Kontrolle zu bringen versuchten. Diese zunehmend unabhängiger werdenden ­Akteure schlugen im Gefolge von Imperialismus und Krieg ziemlich andere Ausrichtungen und Allianzen vor – einschließlich einer Panafrikanischen Union und blockfreier Staaten. Die Frage, die man sich überall stellte, war: Wie würde eine globale Moderne aussehen? Wenn wir die Karten der Nachkriegsmoderne neu zeichnen müssen, welche Methoden könnten wir einsetzen? In welchem Ausmaß übte das Politische Druck auf das Ästhetische, das Kulturelle auf das Künstlerische aus? Und umgekehrt: Wie verhandelten, widerstanden oder untergruben Künstler, Kritiker und Intellektuelle politische Ideologien? Wie wurden künstlerische Praxis und ästhetischer Rahmen in verstreuten politischen und kulturellen Kontexten rekonstruiert? Und welche Auswirkungen hatten umgekehrt intellektuelle Bewegungen aus den früheren kolonialen Randgebieten auf die Terrains der Moderne? Wie also hat der Kreislauf von Kunst, Objekten, Diskursen und Ideen die globalen Konturen der Nachkriegsmoderne geformt? Welche Verbindungen – falls überhaupt – bestanden in der Nachkriegswelt zwischen Form und Kontext? Die Nachkriegsära wird eingeleitet durch das Bild der Bombe – eine Technologie, die in eine Ära inei-


27 nander verflochtener Anfänge und Enden, Versprechen und Apokalypsen führte. Während die aus derselben Zeit stammenden Bilder der Konzentrationslager dem europäischen Streben nach moralischer Universalgültigkeit ein Ende setzten, signalisierten die Bombe und die Verwüstung von Hiroshima und Nagasaki das Ende der politischen Macht Europas in der ganzen Welt und den Beginn einer Ära amerikanischer Militärdominanz, die wiederum, frisch nach dem Krieg, ein neues Wettrüsten in Gang setzte. Während das Kriegsende in Japan eine Zeit der Besatzung einläutete, führte es auch in eine Ära der Befreiungs- und Unabhängigkeitskämpfe in Afrika, Asien, im Mittleren Osten und anderswo. In seiner internationalen Allgegenwärtigkeit als Bild und in seiner Bedrohung für die ganze Welt half die Atompilzwolke, ein neues Bewusstsein vom Erdball als eine einzigartige, in sich geschlossene Einheit zu schaffen sowie ein neues Gefühl für Maßstab durch das aus der Militärtechnologie erwachsene Raumfahrtprogramm, das Bilder der Erde lieferte, die dieses Gefühl der globalen Einheit und des Miteinander-verbunden-Seins noch verstärkten.

zerstörerisch betrachteten. Bei einer Nachkriegskunst-Konferenz in Darmstadt fanden die politischen Gegner Hans Sedlmayr und Theodor W. Adorno eine erstaunliche gemeinsame Basis in ihrem Beklagen eines fehlenden Zentrums einer zeitgenössischen Kultur, da die zeitgenössische Kunst nicht in der Lage schien, sich an fundamentale menschliche Anliegen einschließlich Emotion und Alltagsleben zu richten. Dieses Anliegen fand sich auch bei ostdeutschen Migranten wie zum Beispiel Georg Baselitz, der die politisch aufgeladene Wahl zwischen Abstraktion und Sozialistischem Realismus umging und deformierte, aber überaus lebendige individuelle Figuren darstellte. Der Theologe Paul Tillich führte in die MoMA-Ausstellung „New Images of Man“ ein, die Bilder von Künstlern wie Francis Bacon und Alberto Giacometti zusammenbrachte, und warnte gleichermaßen vor „der Gefahr, in der der moderne Mensch lebt: der Gefahr, seine Menschlichkeit zu verlieren“, einer Gefahr, die sowohl im Totalitarismus als auch in der Technologie-orientierten Massengesellschaft angesiedelt sei.

Der amerikanische Einsatz der Bombe stand für Amerikas militärische und ökonomische Dominanz und inszenierte diese; US-Künstler wie Norman Lewis oder das italienische Movimento Arte Nucleare in den Werken „Every Atom Glows: Electrons in Luminous Vibration“ (1951) und „Nuclear Explosion“ (1951) waren angesichts der wunderbaren Naturoffenbarungen der Bombe erregt und standen ehrfürchtig vor der Kraft biblischen Ausmaßes, auch wenn sie den bedauernden Einlassungen der US-Regierung über den Einsatz gegenüber skeptisch waren. Offensichtlich war die Bombe auch eine japanische Geschichte, die von Fotografien (viele davon erst später veröffentlicht) und von Künstlern wie Iri und Toshi Maruki erzählt wurde, die nur drei Tage nach der Bombardierung nach Hiroshima zurückkehrten und ­beschlossen, mit einem ehrgeizigen Bilderzyklus, den „Hiroshima-Tafeln“ (1950–1982), zu beginnen, der das Leiden beschreiben sollte, das sie dort sahen. Infolge der Technikverehrung durch die Futuristen konzen­ trierten sich auch italienische Künstler ziemlich stark auf die Bombe. 1952 malte Enrico Baj das „Manifesto Bum“ (das „Boom-Manifest“), ein Kopf in der Form einer schwarzen Pilzwolke vor einem giftgelben Hintergrund, mit Anti-Atom-Slogans und Formeln überschrieben: „Die Köpfe der Menschen sind mit Sprengstoff geladen / jedes Atom explodiert.“

Die wichtigste Gegenkraft zum universalistischen westlichen Humanismus kam in unterschiedlichen Strömungen aus ehemaligen europäischen Kolonien. Leopold Senghor schrieb 1961 von der Notwendigkeit, das menschliche Wesen zu spezifizieren und aufzuspüren, und zwar im Gegensatz nicht nur zum modernen (westlichen), sondern auch zum marxistischen Universalismus: „Der Mensch ist nicht ohne Heimatland. Er ist nicht ein Mensch ohne Hautfarbe oder Geschichte oder Staat oder Zivilisation. Er ist ein westafrikanischer Mensch, uns Nachbar, der durch seine Zeit und seinen Ort präzise bestimmt ist … ein Mensch, der jahrhundertelang gedemütigt wurde, und das vielleicht weniger wegen seines Hungers und seiner Nacktheit, sondern wegen seiner Farbe und seiner Kultur, in seiner Würde als leibhaftiger Mensch.“ Die von Künstlern wie Hamed Owais und Inji Efflatoun gemalten schwer arbeitenden Körper drücken diese spezifische Würde aus.

Fotografien und Filme von zerstörten Städten und von Überlebenden der Konzentrationslager wurden unmittelbar nach dem Krieg veröffentlicht. Der Schock, den diese Bilder hervorriefen, das volle Erkennen des Maßstabs und des Ausmaßes des Schreckens der Lager löste Kunstwerke aus wie Andrzej Wróblewskis „Rozstrzelanie z gestapowcem (Rozstrzelanie IV)“ (1949), Gerhard Richters „Atlas“ (1962–heute) und Wolf Vostells Zyklus „German Views from the Black Room“ (1958–63). Hiroshima und Auschwitz legten das Versagen der westlichen Zivilisation offen. Im Kielwasser dieser Schocks gab es ambivalente politische Versuche, ­gerechtere geopolitische Systeme zu finden durch neue Rechtsformen wie die Vereinten Nationen und die Menschenrechtserklärung von 1948, die vermeintlich all­ gemeingültig war, jedoch vom westlichen Einfluss ­dominiert wurde, oder die Kämpfe für volle Bürgerrechte und die Autonomie der Völker in den ehemaligen ­europäischen Kolonien. Philosophen und Künstler ­versuchten, die menschliche Natur selbst tiefer zu erforschen in Debatten, zu denen auch Diskurse über Negritude und Existenzialismus gehörten sowie die Rechte von Einzelnen und Gruppen innerhalb größerer (oft unterdrückender) sozialer und politischer Einheiten. Diese Künstler kombinierten häufig bewusst Figuration und materiellen Aufbau, weigerten sich, zwischen Abstraktion und Darstellung zu wählen – oder zwischen physischem und sozialem Leben –, da sie das Binäre nicht nur als ideologisch falsch, sondern auch als zutiefst

Manchmal, wie in Franz Fanons „Neuem Menschen“, beanspruchten die ehemals Kolonialisierten ein moralisches Recht, Humanismus weitreichend und universell zu definieren, ein Recht, das der Westen mit seinem inhumanen Verhalten im Krieg und bei der Kolonisation verwirkt hatte. Diesen neuen Humanismus erkennen wir zum Beispiel in den Denkern, die der indische Künstler Francis Newton Souza darstellt – farbige Körper, die sich das traditionelle intellektuelle und ethische Vorrecht des westlichen Menschen aneignen. Die andere Hälfte der Binarität des Kalten Krieges ist natürlich der Sozialistische Realismus der sowjetischen, chinesischen, ost- und mitteleuropäischen Kunst. Hier fand in einem größeren Ausmaß die institutionelle Aneignung vor – und nicht nach – der Herstellung statt, aber gleichwohl können auch Berichte über diese Kategorie übermäßig starr sein. Selbst in der Blütezeit seiner Erzwingung war der Sozialistische Realismus kein einheitlicher Stil. Unter Mao produzierten chinesische Künstler große offizielle Porträts des Vorsitzenden (Jia Youfu, „Marching Across the Snow-Covered Mount Minshan“, 1965) und vorbildlicher Arbeiter, aber es gab auch eine gewisse Toleranz gegenüber traditioneller Tuschemalerei, bei Hinzufügung passender Symbole der neuen Ordnung wie der roten Fahne. In der Sowjetunion zeichnet sich die Kunst von den 1940er Jahren bis zu Stalins Tod in erster Linie durch zustimmende Darstellungen der Arbeit und vor allem durch heroische Bilder der Parteiführer aus (Wassilij Jakowlew, Porträt von Georgii Zhukov, Marschall der Sowjetunion, 1946). Während des nach Stalin einsetzenden politischen Tauwetters wurden die von den Russischen Wanderern des 19. Jahrhunderts beeinflusste Genremalerei wie auch der von der sowjetischen Kunst der 1920er und frühen 1930er Jahre beeinflusste „Strenge Stil“ bekannter. Außerhalb der UdSSR gab es beträchtlich mehr Spielraum für Künstler, die im offiziellen Sozialistischen Realismus arbeiteten, und Maler wie der in Litauen geborene und später in Krakau lebende Andrzej

Postwar Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945–1965

Das Münchner Haus der Kunst hat z­ usammen mit internationalen Institutionen ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt entwickelt, das in drei Teilen – Nachkriegszeit, Postkolonialismus und Postkommunismus – untersucht, welche kulturellen ­Einflüsse und Vermächtnisse die Kunstproduktion auf der ganzen Welt seit 1945 geprägt haben. Der erste Teil des Projekts konzen­ triert sich auf die Kunst der Nachkriegsära ­zwischen 1945 und 1965. Die Aus­ stellung „Postwar“ im Haus der Kunst präsentiert vom 14. Oktober 2016 bis 26. März 2017 Kunst der Nachkriegszeit aus mehrfacher Perspektive – Ost und West, Nord und Süd, Kolonisatoren und Kolonialisierte, Pazifik und Atlantik –, indem sie regionale, nationale, transnationale und andere Interessen oder Verwandtschaften in ihren dynamischen Beziehungen aufzeigt. Die Ausstellung gliedert sich in acht thematische Abschnitte: 1. Nachwirkungen: Die Stunde Null und das Atom­ zeitalter; 2. Form ist bedeutsam; 3. Neue Menschenbilder; 4. Realismen; 5­ . ­Konkrete Visionen; 6. Kosmopolitische ­Moderne; 7. Formsuchende Nationen; 8. Netzwerke, Medien & Kommunikation. Künstlerische Leitung: Okwui Enwezor Kurator/innen: Okwui Enwezor, Katy Siegel, Ulrich Wilmes Künstler/innen: Lygia Clark (BR), Öyvind Fahlström (SE), Gutai (JP), Tadeusz Kantor (PL), Wifredo Lam (CU), Ernest Mancoba (SA), A. R. Penck, Gerhard Richter, Gerard Sekoto (SA), Anwar Jalal Shemza (PK), Andrzej Wróblewski (LT) u. a. ↗ www.hausderkunst.de


28 Wróblewski schufen Werke, die zwar offiziell gebilligte Themen darstellten, gleichzeitig aber einen persönlichen Zeichenstil und surrealistische Elemente einführten.

nachklingenden Ende kolonialistischer Beziehungen sondern an einer dialektischen Beziehung zum Nationalismus orientieren würde?

Während der internationale abstrakte Stil, der die Nachkriegswelt dominierte, in erster Linie materialistisch und gestisch war, blieb weltweit auch die geometrische Abstraktion der Vorkriegszeit bestehen, wenn auch mit einem Impetus, der sich von dem der europäischen Vorkriegskünstler ziemlich unterschied. Die Neokonkrete Kunst in Südamerika war durch Max Bills ersten Besuch in Argentinien und seine Teilnahme an der ersten Biennale São Paulo 1951 genetisch mit der europäischen Konkreten Kunst verwandt. Aber sie hatte auch lokale Wurzeln wie den Vitalismus eines Joaquín Torres García, den sie mit der europäischen Moderne vereinte, und wurde zu einem völlig eigenständigen Phänomen, das den individuellen Betrachter als Teilnehmer einbezog und weit über die Formen von Malerei und Skulptur hinausging. Parallel entwickelte sich ein nationalistischer Stil, der sich nicht gegen den westlichen Kapitalismus stellte, sondern mit diesem in Wettbewerb trat. Infolge der massiven Umwälzungen des Zweiten Weltkriegs verschoben sich die Begriffe eines Kosmopolitentums radikal. Die Menschen waren in Bewegung. Riesige Bevölkerungsgruppen (Flüchtlinge, Staatenlose, zerstreute Minderheiten usw.) bewegten sich von einem Ort zum anderen, hin und her zwischen Kontinenten, Ländern und Städten, bildeten verstreute Linien von Vertreibung, Migration, Exil, Verbundenheit, Ansiedlungen. In seinem Aufsatz „Reflections on Exile“ (Betrachtungen über das Exil) berührt Edward Said das ­Dilemma des Exils und stellt fest, dass das „Exil auf merkwürdige Art zwingt, darüber nachzudenken, aber schrecklich zu erleben“ ist. Die feindselige Politik und die eingeschränkten Möglichkeiten in ihrer Heimat hatten afroamerikanische Schriftsteller und Künstler wie James Baldwin und Beauford Delaney dazu getrieben, nach Paris als einem Ort kosmopolitischer Zuflucht zu emigrieren.

Nationalismus ist eines der Schlüsselwörter in der ständigen Bewegung während der Nachkriegszeit. Benedict Anderson benutzt die Idee der „gedachten Gemeinschaft“, um die sich wandelnden Gedankenströmungen von Nation und Nationalismus zu beschreiben. In seiner bahnbrechenden Studie zu Nationen und Nationalismus bietet er entscheidende Einsichten, wenn er uns auffordert, über „die politische Kraft von Nationalismen im Gegensatz zu ihrer philosophischen Armut und sogar Zusammenhanglosigkeit“ nachzudenken.

Für Mark Tobey waren China und Japan Orte der Befreiung, wenn auch auf ziemlich andere Art. Wenn wir also an Kosmopolitismus denken, sollten wir ihn uns zusätzlich innerhalb von Prozessen der Veränderung, des Umbruchs, der Gelegenheiten, der Fantasie und als eine Form der Kulturen überkreuzenden und transnationalen künstlerischen Selbstgestaltung vorstellen.

Man kämpfte um die Definition dessen, was an der Identität wahrhaft national war, zum Beispiel in der Debatte zwischen jenen, die im gleichzeitigen Streben nach Unabhängigkeit und Modernität das Ablegen kultureller Traditionen vertraten, und jenen, die die indigene Identität als zentral für die nationale Identität betrachteten. In Südostasien beschrieb man die Wahl als eine zwischen Ost und West, wobei „der Westen“ für Europa, Zukunft, Bildung und technischen Fortschritt stand und „der Osten“ für indigenes Wissen und nicht-westliche Identität, Vergangenheit und Tradition.

„Neue Kreuzformen“, wie Wissenschaftler sie nannten, tauchten in der Moderne und in der zeitgenössischen Kunst auf, als Bürger aus Kolonien und ehemaligen Kolonien offiziell und inoffiziell im Westen studierten oder als Flüchtlinge vor Unterdrückung und Rassismus aus ihren Heimatländern flohen, um anderswo einen Ort zum Leben zu finden. Der Zweite Weltkrieg war vielleicht für eine der größten und umfassendsten kulturellen und künstlerischen Migrationsbewegungen verantwortlich. Wir können an die Nachkriegskunst also in neukombinierten Begriffen denken, als einen Prozess sowohl der Gewöhnung an als auch der Entwöhnung von einer Kultur, durch die Künstler den internationalen Stil der Abstraktion mit indigenen, traditionellen oder lokalen Bildwelten verbanden und zu einer neuen ästhetischen Logik und neuen formalen Konzepten verschmolzen. Kategorien wie das Lokale, Tradition, Nationalität, Autonomie, das Universelle usw. kollidieren und verbinden sich, um neue Bedeutungen zu schaffen. Verwandte Diaspora-Situationen und die verschiedenen kolonialen Vermächtnisse wie auch Rücklagen für Austauschzwecke im Kalten Krieg schickten Künstler in die ganze Welt, um in Zentren moderner Kunstproduktion zu studieren und am dortigen Kunstmarkt teilzunehmen. Auch Zeitschriften wie beispielsweise Black Orpheus sind während der gesamten Nachkriegszeit wichtig als Quelle virtueller Reisen und Schnittpunkte. Das legt nahe, dass wir nicht nur an Diaspora und Exil denken sollten, sondern auch an bewusst gewählte Geistesverwandtschaften. Wie würde sich unser Bild eines Kosmopolitentums verändern, wenn es sich nicht am

Künstler in den Vereinigten Staaten und Europa lehnten es häufig ab, sich ihren nationalen Regierungen, die sich als korrupt und militaristisch erwiesen hatten, anzuschließen. In Ländern, die erst vor kurzer Zeit um ihre Unabhängigkeit gekämpft und sie erlangt hatten, besaß Nationalismus eine andere Wertigkeit, und so suchten Künstler im Irak, in Kuba, China, Indien und Pakistan, Israel, Indonesien, Thailand, den Philippinen, Nigeria, dem Senegal und Südafrika nach kulturellen Formen, um eine neue nationale Identität zu artikulieren. Nigerianische Künstler zum Beispiel engagierten sich in Institutionen und in der Regierung, indem sie sich persönlich für nationale Unabhängigkeit und die Rolle der Kultur bei der Errichtung einer nationalen Identität einsetzten. Ben Enwonwu und Uzo Egonu stellten in einer Art Kritik an der europäischen Aneignung dieser Bildwelten afrikanische Masken und In­­ strumente dar. In Ägypten schilderte Gazbia Sirry das Martyrium ägyptischer Menschen in den Händen der britischen Besatzer, wobei er die ägyptischen Bedingungen auch mit der Unterdrückung der Afroamerikaner verknüpfte (deren Bürgerrechtsbewegung, von der die Arbeit von Jack Whitten und anderen durchdrungen war, eine nationalistische Färbung annehmen konnte).

An ihrem Ende verschiebt die Ausstellung „Postwar“ das Verständnis einer mit der Massenkultur beschäftigten Kunst weg vom üblichen Fokus auf Konsumgüter und die Zeichen und Logos, die für sie Werbung machten, hin zur Verteilung, Verbreitung und Kommunikation jener Zeichen über Technologie und Netzwerke. Kommunikation war zum Beispiel auch das zugrundeliegende Thema der kybernetischen Systemtheorien, die eine internationale Gruppe von Künstlern reizte, die ihre Wurzeln in verschiedenen ästhetischen und politischen Ausrichtungen hatten. Eine besondere Anziehungskraft übte sie auf Künstler aus, die über nationale Grenzen hinweg nach geistiger Verwandtschaft suchten: Die Belgrader Ausstellung „Neue Tendenzen“ von 1961 zeigte Arbeiten von 29 Künstlern aus Argentinien, ­Österreich, Brasilien, Frankreich, Deutschland, Italien, der Schweiz und Jugoslawien. Ziel dieser optischen und kinetischen Kunst wie zum Beispiel der von Mohammed Melehi war die Informationsvermittlung auf einer ­fundamentalen, physiologischen Wellenlänge, die über die kulturellen Eigenheiten von Sprache hinausgeht. In ­ähnlicher Weise brachte Kommunikation Künstler zu neuen Technologien. Die britischen Künstler der ­„Independent Group“, vor allem John McHale, orientierten sich an den technologischen, ja futuristischen Aspekten der populären Kultur, von Transistoren bis hin zu Robotern. Fluxus- und andere Künstler, darunter Karl Otto Götz und Nam June Paik, experimentierten mit dem

neuen Medium der Fernsehübertragung in dem Streben danach, eine Kunst zu schaffen, die nicht nur am letzten Stand der technischen Entwicklung teilhatte, sondern ganz speziell auch das Potenzial hatte, mit einem Publikum zu kommunizieren, das über das in Kunstgalerien zu findende hinausreichte. All diese Künstler suchten nach einer Kunst, die einer Welt entsprach, die als ein­ ziges, in sich geschlossenes System oder als ein solcher Organismus konzipiert war. Den vollständigen Text mit vielen Künstlerbeispielen sowie einer konkreteren Beschreibung der acht ­Abteilungen der Ausstellung finden Sie unter www.hausderkunst.de. Okwui Enwezor ist seit Oktober 2011 Direktor des Haus der Kunst, München. Katy Siegel lehrt Mo­ dern American Art an der Stony Brook University, New York. Ulrich Wilmes ist Hauptkurator am Haus der Kunst, München.


MONICA JUNEJA

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Jenseits

der

Glaswand Museen der Moderne und die Herausforderung der Globalität

Als der französische Kunsthistoriker Serge Guilbaut die 1940er Jahre zum Zeitraum stilisierte, „when New York stole the idea of modern art“ (in seinem gleichnamigen Buch von 1983), deutete er auf eine Geografie der Moderne hin, die bis heute den etablierten kunsthistorischen und damit den musealen Diskurs mitgeformt hat. Die lineare Erzählung moderner Kunst positionierte sich entlang der Achse Paris-Berlin-Wien, die dann von dem kriegsgebeutelten Europa nach New York verlängert wurde. Wo und nach welchem Prinzip lassen sich in diesem Narrativ die „Außenposten der Moderne“, etwa Shanghai, Bombay, São Paulo, Kairo, Mexiko-Stadt, Teheran oder Ljubljana, welche die jüngere Forschung nach und nach ans Licht bringt, zuordnen? Jeder dieser Orte bildete ein Laboratorium für künstlerische Experimente, die aus modernen Subjektpositionen hervorsprudelten und an einem wachsenden Netzwerk von grenzüberschreitenden, häufig weiträumigen Begegnungen beteiligt waren. Eine Kunstgeschichtsschreibung, die sich überwiegend mit der Erstellung von Genealogien stilistischer Einflüsse beschäftigt, hat uns eine Erzählung von der Moderne als Exportgeschichte zivilisatorischer Errungenschaften aus westlichen Zentren in die aufsaugenden „Peripherien“ der Welt beschert. Der Gegensatz zwischen dem Ort des Ursprungs, dem Hort der Originalität, und den vermeintlich abgekupferten oder Nachzügler-Varianten der Moderne findet sein Echo im musealen Kanon. Die Exklusion nichteuro­ päischer Strömungen aus den großen Sammlungen moderner Kunst fällt – im Gegensatz zur äußerst sichtbaren Gegenwartskunst aus unzähligen Weltregionen – schlagartig auf. Sei es London, New York oder Berlin, an solchen Orten sind die Abteilungen zur Moderne und Avantgarde in den großen Museen von einer Art Glaswand umgeben – hier hat nicht nur die außereuropäische, sondern auch die osteuropäische Avantgarde nach wie vor keinen Platz. Inzwischen aber ist der kunsthistorische Diskurs über die Moderne vielfach revidiert worden, um die dem gängigen Narrativ zugrunde liegenden teleologischen Tendenzen, universellen Ansprüche und Geschlechter­ ideologien kritisch zu hinterfragen. Die postkolonialen Studien haben ihrerseits den grundsätzlichen Eurozentrismus angegriffen, indem sie anstelle von Konzepten

des Exports und des Derivats Begriffe wie Kulturelle Übersetzung oder Mimikry heranziehen, um die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Welträumen, vor allem unter dem Zeichen des Kolonialismus, zu erschließen und den Künstlern unter kolonialen Bedingungen die Fähigkeit, eigenständige künstlerische Positionen zu entwickeln, zuzusprechen. Die radikalen politischen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen seit dem Ende des Kalten Krieges haben im Kunstbereich eine Neuschreibung kultureller Geografien angeregt, in der es nicht um die Umkehrung der alten Zentrum-Peripherie-Modelle geht, sondern um eine veränderte Kartografie auf der Basis von Gemeinsamkeiten, Reziprozität und Vielfalt. Und schließlich geht die Perspektive einer globalen oder transkulturellen Moderne von der Prämisse aus, dass die Moderne einen Daseinszustand oder eine Lebensbedingung definiert, in der ganz unterschiedliche materielle Elemente und soziale Akteure ständig aus ihren Ursprüngen gerissen und über wachsende Netzwerke des Reisens und des ökonomischen Handels miteinander in Kontakt gebracht werden. Der Ansatz regt an zu untersuchen, auf welche Weise der grenzüberschreitende Dialog und die darauffolgenden transkulturellen Beziehungen eine bedeutende und immer gegenwärtige Rolle in der Geschichte der Moderne spielen. Von Bewegungen wie dem Primitivismus, dem Surrealismus über grundlegende Prozesse wie Abstraktion und Montage bis hin zu den Grenzgängen der Popkultur zeigt sich, dass kulturelle Differenz nicht anormal oder etwas Besonderes ist, sondern eine strukturelle, vielleicht auch normative Eigenschaft der künstlerischen Produktion unter den Bedingungen der Moderne als globaler Prozess. Welche Herausforderung bildet die Neuperspektivierung der Kunst- und Kulturgeschichte zur Moderne unter dem Zeichen des global turn für die museale Praxis des Ausstellens und Sammelns? Als national verankerte Institutionen mit der Funktion, die Staatsbürgerschaft mitzugestalten, befinden sich Museen – ähnlich wie der gegenwärtige Nationalstaat – vor der Aufgabe, sich in einer global verflochtenen Welt neu zu positionieren. Um der transkulturellen Vergangenheit des ­nationalen Gebildes als auch der zunehmenden Pluralität der Gegenwart gerecht zu werden, verlangt die Beziehung

zwischen Nation und Kultur grundlegend reflektiert zu werden. Konkreter sind Museen und Sammlungen ­aufgefordert, innovative Konzepte zu gestalten, um grenz­ überschreitende Verbindungen zwischen Akteuren, künstlerischen Strömungen und Objekten sichtbar und erfahrbar zu machen und um zugleich die eigene Sammlungsgeschichte mit zu reflektieren. Während etliche ethnologische Sammlungen einen selbstreflexiven Prozess des Sich-neu-Erfindens bereits in Gang gesetzt haben, zeigen sich – mit einigen wenigen Ausnahmen – die ­einschlägigen, kanonbildenden Kunstmuseen in dieser Hinsicht zögerlicher. Einen Weg in diese Richtung bahnte die im Pariser Centre Pompidou durch Catherine Grenier kuratierte Ausstellung Modernités plurielles 1905–1970 (Oktober 2013 bis Januar 2015), inspiriert von einer inklusiven, vernetzten Vision der künstlerischen Moderne. Trotz mutiger Grenzüberschreitung gelangte das Pariser Projekt schnell an seine Grenzen. Eine auf die eigene Sammlung allein angewiesene Ausstellung läuft Gefahr, die der Sammlungsgeschichte innewohnenden, historisch-kulturell bedingten Machtbeziehungen und Asymmetrien zu reproduzieren, wenn das Ausstellungskonzept die Erwerbskriterien außereuropäischer Objekte zu ­bestimmten historischen Zeiten nicht als Teil seines ­theoretischen Gerüsts thematisiert. Die einzelnen choreografierten Momente einer Begegnung bislang un­ bekannter außereuropäischer Künstler mit der Pariser Kunstwelt, die sich dem Publikum darboten, bewirkten so am Ende eine Verfestigung seiner vorhandenen Auffassung von Paris als Zentrum. Dennoch gilt das Experiment als wichtiges Beispiel eines „critical curating“. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Ausstellung mit Leihgaben, mit dem Ziel, die Wege einer „exzentrischen“ Moderne zu entdecken. Was in der Wissenschaft als „bloß additiv“ verpönt wird, könnte für das Medium Ausstellung ein dynamisches Potenzial besitzen, und zwar das Nebeneinander-Platzieren von Werken, denen der Stilkanon bislang getrennte geografisch-kulturelle Räume zugewiesen hat. Eine solche Geste der Distanzüberbrückung und des In-Beziehung-Setzens könnte unerwartete Überraschungen hervorbringen. Die Überwindung von Gattungs- und Stilordnungen sowie von gängigen Qualitätskriterien, die selbst ein ideologisches Erbe der westlichen Moderne sind, kommt für viele Kunstmuseen einem Tabubruch nahe. Hier mag ein Dialog mit kuratorischen sowie künstlerischen Praktiken aus der Gegenwartskunst frische Impulse bringen – vor allem wenn es um die Entgrenzung des alleinstehenden „Meisterwerks“ geht, um es als Teil eines Beziehungsgeflechts zwischen Materialität, dem Seriellen und dem Repetitiven neu zu positionieren. Sowohl die kunsthistorische Forschung als auch die Museen sind heute bestrebt, verborgene oder vergessene Geschichten und Spuren ans Licht zu bringen und ­adäquate Gestaltungsmodi sowie eine Sprache – sei es fachlich oder museal – zu schaffen, um eine Antwort auf die Herausforderung der Globalität zu finden. Dafür benötigen sie die Intensivierung des jüngst begonnenen, wechselseitig synergetischen Austauschs miteinander. Die Rehabilitierung moderner Kunst im Deutschland der Nachkriegszeit ­verdankt ihren Erfolg in wesentlichem Maße der Zielstrebigkeit, Vision und dem Mut zur Grenz­ überschreitung, wie ihn Kuratoren und Museumsleiter aufbrachten wie etwa Werner Schmalenbach, um ein Beispiel zu nennen. Vielleicht ist heute eine weitere Grenz­ überschreitung angesagt.

Monica Juneja ist Professorin für Globale Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Sie hat in Neu-Delhi studiert, in Paris promoviert und hatte Gastprofessuren in Wien, Atlanta und Zürich inne. Zuletzt war sie Fellow am Getty Research In­ stitute, Los Angeles. Sie forscht und schreibt ­zu Transkulturalität und visueller Repräsentation so­ wie zur Geschichte der materiellen Kultur und des Kulturerbes. Ihre Monografie in Vorbereitung heißt Can Art History be Made Global? A Discipline in Transition, entstanden aus den Heinrich Wölfflin L­e­ctures, die sie an der Universität Zürich hielt.


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museum global Seit einigen Jahren wendet sich der westlich dominierte Diskurs der Bildenden Kunst außereuropäischen Entwicklungen in der Gegenwartskunst und der Moderne zu und wird auch in Zukunft von nicht-westlichen Akteuren – Künstlern, Kuratoren und Theoretikern – stärker beeinflusst werden. Mit ihrem Programm museum global möchte die Kulturstiftung des Bundes Impulse für ein Umdenken und eine Neubestimmung von Sammlungen aus nicht-westlicher Perspektive auch in der deutschen Museumslandschaft verstärken. In einer von Globalisierung, Migration und Transkulturalität bestimmten Gesellschaft ist es für Kunstmuseen von großer Bedeutung, diese Entwicklungen mitzugestalten und ihre Sammlungs-, Forschungs- und Ausstellungspraxis deutlicher als bisher zu internationalisieren. Die Kulturstiftung des Bundes fördert deshalb Projekte der Kunstsammlung NRW Düsseldorf, der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, und des MMK Frankfurt am Main, die die Geschichte der modernen Kunst in eine globale Perspektive rücken. Hierbei geht es nicht so sehr darum, Versäumnisse in der Sammlungsgeschichte der Häuser aufzuzeigen, sondern vielmehr ein neues und komplexes Bild der jeweiligen Sammlungen zu entwerfen sowie einen Ausblick auf die Zukunft der Museumseinrichtungen zu unternehmen. Die Ergebnisse der über drei Jahre laufenden Arbeits- und Forschungsprozesse sollen ab dem Jahr 2017 in Neupräsentationen der Sammlungen münden, die in den drei Häusern Dauer- und Sonder­ ausstellungsbereiche gleichermaßen ­ein­­beziehen. Gemeinsam ist den drei ­Ausstellungsvorhaben, dass die eigenen Sammlungen im Vordergrund stehen und auf dieser Grundlage nach Anschlussmöglichkeiten mit nicht-westlicher künstlerischer Produktion gesucht wird. Kunstsammlung NRW, Düsseldorf: Die exzentrische Moderne 20.1.2016–22.1.2016: Konferenz ­„museum global? Multiple Perspektiven auf Kunst 1904–1950“ 18.1.2017–20.1.2017: Symposium „Wem gehört das Museum?“ 14.4.2018–12.8.2018: Ausstellung „Die exzentrische Moderne“ Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin: Globale Resonanzen 2.12.2016–3.12.2016, Hamburger Bahnhof, Berlin: K ­ onferenz „The Idea of the Global Museum“ MMK Frankfurt am Main: Globale Gleichzeitigkeiten November 2017–April 2018: Ausstellung „Globale Gleichzeitigkeiten. Das MMK Frankfurt im Dialog mit lateinamerikanischer Kunst der 60er und 70er Jahre“; Sommer/Herbst 2018: Ausstellung „Globale Gleich­zeitigkeiten“ im Museo de Arte Moderno de Buenos Aires ­(MAMBA)

Die

ex­zentrische Moderne Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf MARION ACKERMANN

Seit den späten 1990er Jahren wächst das Interesse an einer globalhistorischen Perspektive auf eine Moderne, die sich lange vorrangig auf jene Kunstrichtungen beschränkte, die sich im 20. Jahrhundert in Paris, Wien und später New York entwickelten. Als Landesgalerie für eben jene moderne Kunst hat die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen mit dem auf drei Jahre (2015 bis 2017) angelegten Forschungsprojekt museum global eine kritische Analyse und Befragung begonnen, die den Blick auf Erzählungen einer Moderne jenseits des westlichen Kanons lenkt. Die zentrale Frage hierbei: Wie geht man in einer diversen Gesellschaft mit einer in sich geschlossenen, auf Kunst aus Europa und Nordamerika basierenden Sammlung der modernen Kunst um? Welche Per­ spektiven, Themen und Fragen − auch an die eigene Sammlung − verbinden sich mit der Öffnung des Blicks auf die anderen Modernen in Südamerika, ­Afrika, Asien? Und was bedeutet dies für das Verständnis der Moderne überhaupt? Zu den frühen Erlebnissen, die Werner Schmalenbach, von 1962 bis 1990 erster und langjähriger Direktor der neugegründeten Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, prägen sollten, zählte der Besuch des damals 19jährigen der Ausstellung und Auktion „Entartete Kunst“ 1939 in der Galerie Fischer in Luzern. Schmalenbach, in Göttingen geboren, studierte zu der Zeit Kunstgeschichte in Basel. Für ihn bedeutete dieser verfemende Eingriff ins künstlerische Schaffen das „deutsche Desaster“. Er war der Auffassung, dass man mit den dort ausgestellten Werken „mit einem einzigen Schlag ein Weltmuseum der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts begründen“ könnte. Es war gerade diese „Lücke“ in der deutschen Kunstgeschichte, diese Kunst, die über zwölf Jahre verboten und verfemt wurde, die er später für die Kunstsammlung mit allen Mitteln sichern wollte. Durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges dis­ tanzierte er sich von seinem Heimatland und nahm später sogar die Schweizer Nationalität an: „Deutschland war seit 1933 ein fremdes Land geworden. Ich fühlte mich in Paris zu Hause, das ich schon vor dem Krieg besucht hatte und wohin ich häufig fuhr. Und zu Hause fühlte ich mich auch in der französischen Kunst. Mir war vor allem der Kubismus näher als der deutsche Expressionismus ...“ Diese Einstellung trat bei seinen Ausstellungen und Ankäufen immer wieder zu Tage. Gleich in seinem ersten Jahr als Direktor der Landesgalerie sicherte er Hauptwerke von Georges Braque, Fernand Léger und Joan Miró. Heute reicht der Bestand hochrangiger Einzelwerke der

Klassischen Moderne der Kunstsammlung von Henri Matisse, Pablo Picasso, René Magritte und Max Ernst bis zu Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner, Wassily Kandinsky, Emil Nolde und Piet Mondrian. Eine Sammlung definiert sich aber nicht nur über jene Werke, die durch das Museum angekauft oder dem Museum geschenkt wurden, sondern es gehört auch zu ihrer Geschichte, was durch die Sammlungstätigkeit keine Berücksichtigung fand. Bei dem Aufbau der Sammlung kam es Schmalenbach „niemals auf die möglichst lückenlose Darstellung der Geschichte an, sondern immer nur auf eine möglichst dichte und starke Ansammlung künstlerischen Potenzials. Es wird nicht nach fehlenden Künstlern oder Strömungen Ausschau gehalten, sondern nach Werken, durch die dieses Potenzial sich verstärkt.“ Er verfolgte das Ziel, „eine Landessammlung mit dem Anspruch einer Nationalgalerie“ zusammenzustellen, ein Motto, das auch heute noch viele dazu verleitet, die Kunstsammlung als „heimliche Nationalgalerie“ zu bezeichnen. Schmalenbach sammelte die damals in Europa als Meister oder Genies gefeierten Künstler. Analysiert man die Ankäufe Schmalenbachs jedoch aus heutiger Sicht, so fanden Werke von Künstlerinnen der Klassischen Moderne sowie nicht-westlicher Künstlerinnen und Künstler kaum den Weg in die Sammlung. Es drängt sich also geradezu auf, den für die Entstehung der eigenen Sammlung maßgeblichen kunsthistorischen Kanon auf den Prüfstand zu stellen. ­Dabei gehen wir − entsprechend des Sammlungsschwerpunkts der Kunstsammlung – von der Epoche der Klassischen Moderne aus, und damit von einem Zeitraum, der bis zum Beginn des Forschungsprojekts in Deutschland von keinem anderen Museum (öffentlich) verfolgt wurde. Der zunächst scheinbar naheliegende Weg, sich dem Thema des Globalen geografisch zu nähern, hat nur zu Beginn des Projekts Annäherungen an gewisse Fragestellungen erlaubt. Aufgrund der selbst auferlegten Bescheidung, die komplexe Welt nicht anmaßend in ihrer Ganzheit vermessen zu wollen, nähern sich die Kuratorinnen nun nicht mehr Ländern und Regionen, sondern verfolgen lokal verortete, aber auch transregionale Mikrogeschichten. Gerade die persönlichen Bekanntschaften der Künstler sowie der Austausch in Form von Korrespondenzen, Publikationen, Reisen und Ausstellungsbeteiligungen stimulierten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entwicklung der Avantgarden rund um den Globus. Auch für die Auseinandersetzung mit den lokalen Modernen ist Behutsamkeit geboten, zielt doch das Befragen des bestehenden Kanons keinesfalls auf das Formulieren eines neuen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, arbeiten Kuratorinnen und Kolleginnen und Kollegen der Abteilung Bildung gemeinsam an der Umsetzung, denn kunsthistorische Inhalte sind vielfach nicht von der Frage nach der Sprecherperspektive zu trennen. In der Ausstellung „Die exzentrische Moderne“ sollen jene künstlerischen Praxen vorstellt werden, die außerhalb von Europa und Nordamerika im Austausch mit oder aber unabhängig von der westlichen Moderne entstanden sind. Dabei spielen Verflechtungsprozesse zwischen den Kulturen sowie die Rückwirkungen auf die Konstruktion der westlichen Moderne einerseits und auf die Kunstwelten der außereuropäischen Länder andererseits eine wesentliche Rolle. Das Projekt museum global will dafür sensibilisieren, dass jedwede Form der Festschreibung stets vor dem Hintergrund aktueller soziopolitischer und kultureller Ereignisse kritisch hinterfragt werden sollte. Dadurch kann das Museum eine kritische Rolle innerhalb seiner Gesellschaft einnehmen und aktuelle Diskurse zur Disposition stellen. Dem Museum kommt dadurch verstärkt eine soziale Funktion zu: Es wird zu einem Ort der Begegnung, des gemein-


31 samen Lernens, der Diskussion und Entwicklung von Ideen. Um unsere Besucherinnen und Besucher bereits früh in das Projekt einzubinden, werden Vermittlungsformate und -methoden entwickelt, die auf die Interessen und Orientierungen einer sich durch Migration wandelnden Gesellschaft reagieren und transkulturelle Aspekte aufgreifen. Das Projekt wird langfristig nicht nur Einfluss auf die Präsentation und den Umgang mit der eigenen Sammlung – beispielsweise im Blick auf die Neukonzeption der „Sammlung Online“ − nehmen, sondern ebenso auf die Ankaufsstrategie und die inhaltliche Ausrichtung des Museums. Was auch immer in der geplanten Ausstellung sichtbar werden wird, es wird nicht der Endpunkt sein, sondern der Startpunkt für vielfältige Folgeprojekte.

Globale

Resonanzen. Revision *Arbeitstitel

einer

Sammlung* Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin UDO KITTELMANN MIT JENNY DIRKSEN, MELANIE ROUMIGUIÈRE, ANNA-CATHARINA GEBBERS, GABRIELE KNAPSTEIN, DANIELA BYSTRON Ausgangspunkt und Zentrum unserer Beschäftigung mit dem Projekt museum global ist die Sammlung der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin. Sie mag dafür zunächst ungeeignet erscheinen: Ihrer Genese eingeschrieben – ebenso wie ihrem Namen – ist der Gedanke der nationalen Repräsentation, an ihren Beständen deutlich ablesbar sind die historischen Risse des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, der Teilung in Ost und West. Eine internationale Anbindung hat sie vor allem in Westeuropa und im Nordamerika der Nachkriegszeit gesucht. Dabei gibt es Ausnahmen. Einige, wie die Gemälde des türkischen Künstlers und Archäologen Osman H ­ amdi Bey (1842–1910) und des in Kuba geborenen Künstlers Wifredo Lam (1902–1982), waren uns bekannt. Andere, wie die Skulpturen der bolivianischen Künstlerin Marina Nuñez del Prado (1908–1995) oder der kroatischen Künstlerin Olga Jevrič (1922–2014),

g­ eraten erst jetzt, im Zuge unserer Recherchen zum Projekt, in unseren Fokus. Aber auch über diese Ausnahmen hinaus erweisen sich die Werke der Sammlung, die künstlerischen Interessen und Lebenswege, die mit ihnen verbunden sind, als widerständig zu einer Erzählung der Sammlung, die ihre internationalen und transkulturellen Verflechtungen außer Acht lässt. Jetzt geht es darum, genau diese Verflechtungen – diese globalen Resonanzen, die nie nur einseitig wirken – aufzugreifen, herauszuarbeiten und zu thematisieren. Es zeigt sich hier erneut, dass die Arbeit mit einer Sammlung nie abgeschlossen ist. Die Fragen, die man an sie richtet, sind zutiefst zeitgebunden. Auch die Frage nach einem „globalen Museum“ ist begründet in der erhöhten Konnektivität unserer sich immer weiter globalisierenden Gegenwart. Ihr liegt ein Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften und dem internationalen Ausstellungswesen zugrunde, der als global turn viele blinde Flecken bisheriger Geschichtsschreibung offenbart. Sie fordert heraus zu einer Neupositionierung der Sammlung, die wir für dieses Projekt als Experiment formulieren. Dieses Experiment steht in direktem Zusammenhang mit der für die kommenden Jahre bevorstehenden Neuordnung und -präsentation der Nationalgalerie, die sich aus der Renovierung der Neuen Nationalgalerie und dem geplanten Neubau am Kulturforum ergibt. Die Ausstellung, die wir im November 2017 eröffnen, ist als Rekontextualisierung der Kunst der Moderne in unserer Sammlung ein wesentlicher und notwendiger Schritt auf diesem Weg zu einem Museum des­ 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig knüpft dieses Ausstellungsvorhaben an vorausgegangene Reflexionen der Sammlungsbestände der Nationalgalerie an: Genannt sei hier als jüngstes Beispiel die Ausstellung „Die Schwarzen ­Jahre. Geschichte einer Sammlung. 1933–1945“ (2015/16), eine Auseinandersetzung mit Kunst, Politik und Museumsgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus. Ihr und weiteren Sammlungspräsentationen in der Alten und der Neuen Nationalgalerie sowie im Hamburger Bahnhof war das Anliegen gemeinsam, aus der Perspektive der Gegenwart eine neue Sicht auf die gewachsenen Bestände, auf die Kunst zu ermöglichen und dabei auch den jeweiligen Kanon kritisch zu hinterfragen. Maßgeblich für diese Vorgehensweise waren und sind auch die Erfahrungen mit Ausstellungen von Künstlern. Dazu gehört „Intolerance“ von Willem de Rooij, die 2010/11 in der Neuen Nationalgalerie eine Reflexion institutioneller Arbeitsweisen und Ausstellungspraxis, aber auch eine visuelle Untersuchung der Dreiecksbeziehung zwischen frühem globalem Handel, interkulturellen Konflikten und gegenseitiger Attraktion darstellte. Einen Bezugspunkt für unsere jetzige Arbeit bildet darüber hinaus die Ausstellung „Parergon“ von Mariana Castillo Deball, die 2014/15 am Hamburger Bahnhof anhand von Objekten, historischen Ereignissen und zufälligen Geschehnissen ein assoziatives Netz bislang nicht erzählter Geschichten spannte und so auf die Rolle der Imagination in der Geschichtsschreibung hinwies. Solche Reflexionen gilt es fortzuführen und zu erweitern in einer Ausstellung, die die Sammlung der Nationalgalerie als Ganzes begreift unabhängig von den unterschiedlichen Standorten und Zusammenhängen von Alter Nationalgalerie, Neuer Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, Museum Berggruen und Sammlung Scharf-­ Gerstenberg. Die Präsentation auf der nahezu gesamten Ausstellungsfläche des Hamburger Bahnhofs ist dabei programmatisch: Es handelt sich um den experimentellen Entwurf eines ganzen Museums, der sich, ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Sammlung, auf in ihr vorhandene Anbindungen an bislang in ihrer Geschichtsschreibung nicht berücksichtigte Kontexte einlässt, sie explizit macht. Dieses Projekt bietet uns die Chance zu einer

intensiven Zusammenarbeit als Team und darüber hinaus zur Erweiterung unseres internen Blicks auf die Sammlung durch die Blicke externer Wissenschaftler und Kuratoren. Es ist die Herausforderung, uns das eigene Kunstverständnis bewusst zu machen, dem zwar eine zeitgenössische Auffassung von Globalität zugrunde liegt, das aber ebenso eine Verortung aufweist, die sich vielleicht am ehesten als abendländisch beschreiben lässt. Und nicht zuletzt regt es an, Fragen zu stellen. Darunter diese: Welche Vorgehensweisen lassen sich entwickeln, um mit einer Sammlung in ihr ablesbare Gedanken sichtbar zu machen, die über das vermeintlich Bekannte hinausweisen und erlauben, es neu zu sehen? museum global ist somit für uns ein Findungsprozess mit einer wesentlich destabilisierenden Funktion. Wir begrüßen das sehr.

Globale

Gleichzeitigkeiten MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main SUSANNE GAENSHEIMER UND KLAUS GÖRNER Das MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main verfolgt seit einigen Jahren in seinem Ausstellungsprogramm und in seiner Sammlungspolitik die Öffnung und Erweiterung auf nicht-westliche Positionen der internationalen Gegenwartskunst und untersucht kritisch die veränderten sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen in einer globalisierten Welt. Große Ausstellungen wie „Die Göttliche Komödie. Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwartskünstler“, die Überblicksausstellung zum Werk von Hélio Oiticica „Das große Labyrinth“ oder die aktuelle Ausstellung von Kader Attia „Sacrifice and Harmony“ sind nur einige Beispiele. Die Gegenwartskunst, besonders aber die aus „nicht-westlichen“ Kunsttraditionen, entsteht in einem erweiterten Horizont und wird auch so rezipiert. Unser Sammlungsbeginn jedoch liegt in den 60er und 70er Jahren, ist in einem rein westlichen Kontext entstanden und wird – auch heute noch – so rezipiert. Unser Anliegen ist es also, unseren „Altbestand“ in einen erweiterten Zusammenhang zu stellen, um Möglichkeiten zu entwickeln, ihn aus einer globaleren Perspektive zu verstehen. Dadurch erhoffen wir uns – im Hinblick auf die Rezeption – eine gewisse Angleichung zwischen den Werken vom Beginn unserer Sammlung und ihrer Fortführung heute. Mit der Sammlung Ströher kamen herausragende Werke der amerikanischen Pop- und Minimal Art sowie Meisterwerke vornehmlich deutscher Künstler aus dieser Zeit in das MMK. Bis zur Eröffnung des Museums im Jahr 1991 lag der Sammlungsschwerpunkt ein-


32

Neue

deutig auf Werken dieser Regionen und ihre Entstehungszeit liegt lange vor der sogenannten „Global Art“. Der westliche Fokus der Sammlung – und später auch der Ausstellungen – beeinflusst aber weiterhin auch die Rezeption dieser Werke. Idee und Ziel unseres Ausstellungsprojekts mit dem Museo de Arte Moderno de Buenos Aires (MAMBA) ist es daher, Hauptwerke aus unserer Sammlung in einen vertiefenden und befruchtenden Dialog mit Schlüsselwerken lateinamerikanischer Kunst aus der gleichen Periode zu bringen. Obwohl der Kunst des lateinamerikanischen Kontinents seit einigen Jahren ein verstärktes Interesse in Europa und Nordamerika entgegengebracht wird, ist die Beschäftigung mit ihrer Geschichte zumindest in europäischen Institutionen immer noch ein Desiderat. Die Beiträge zu den wichtigen Ausstellungen und Biennalen hier sind sporadisch und in vielen Fällen isoliert. Das hat zur Folge, dass der Beitrag Lateinamerikas zur Kunstentwicklung der Nachkriegszeit zu wenig bekannt ist und in den kunsthistorischen Diskursen in Europa, teilweise auch in den USA, eine viel zu geringe Rolle spielt. Dies ist umso erstaunlicher, als lateinamerikanische Künstler ihr Werk oftmals im Austausch mit den Entwicklungen in Europa und Nordamerika gebildet haben. Gerade wegen dieser Verflechtung scheint die Kunst Lateinamerikas für unser Vorhaben besonders geeignet. Am Beispiel Lucio Fontanas, der eine Schlüsselrolle in diesem Projekt spielen soll, lassen sich sowohl Nähe als auch Ferne dieser ­Beziehung anschaulich machen. Als Sohn italienischer Eltern in Argentinien geboren, wechselte er im Laufe seines Lebens zwischen Europa und Argentinien, war Teil beider Kunstwelten und nahm erheblichen Einfluss auf deren Entwicklung. Vor den sehr unterschiedlichen politischen, ökonomischen und historischen Hintergründen wollen wir den Entwicklungslinien in ihren Parallelitäten, in ihren Überschneidungen und in den Gegenstellungen verfolgen. Die kuratorische Zusammenarbeit der beiden Museen ist insofern essenziell, als wir nicht daran interessiert sind, allein aus einer europäischen Sicht heraus den Horizont zu erweitern. MMK und MAMBA suchen deshalb zu einem kritischen Dialog zu gelangen, der die je eigene Auffassung einer Revision unterzieht und für das eigene Narrativ auch andere Autorschaften zulässt. Wie sich schon jetzt zeigt, bringt die wechselseitige Perspektive aus zwei Kontinenten und Kulturkreisen eine Veränderung der Wahrnehmung der Werke mit sich. Sie in einen erweiterten und ungewohnten Kontext zu stellen, birgt neue Erkenntnisse über die einzelnen Werke. Darin sehen wir auch den Zugewinn für die Besucher. Nicht allein werden die beiden Ausstellungen neue, bislang unbekannte Werke dem jeweiligen Publikum vorstellen, durch die unüblichen Dialogsituationen wird auch das Wissen und die Einschätzung der bekannten Arbeiten eine Veränderung erfahren. Gerade von der Präsentation vergleichbarer Positionen aus differenten Kontexten erwarten wir signifikante Verschiebungen der Wahrnehmung. Die sich kreuzenden Blicke von „außen“ auf die Sammlungs- und Ausstellungspolitik der jeweiligen Kultursphäre verändert auch den Blick auf die Genese der eigenen Kunstgeschichten und ihrer Institutionen. Wir erhoffen uns daher eine Reihe von Anregungen und Richtlinien, die auf lange Sicht das Selbstverständnis des MMK und seiner Praxis modifizieren werden.

Projekte Hybrid Layers

Die Welt ohne uns

Markenbildung, Netzidentität, innovative Materialien und Präsen­ tationsformen

Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure

Für die digital sozialisierte Generation junger Künstler ist das Internet Alltag und Teil der künstlerischen Praxis. Es dient als unerschöpflicher Fundus, ebenso wie die hochästhetisierte Welt der Werbung und des Corporate Designs. Mit großer Selbstverständlichkeit werden die neueste Software und avancierte technische Geräte wie 3-D-Drucker genutzt, um Bilder, Videos und Skulpturen zu realisieren. Aus Daten werden Objekte und umgekehrt. Welche Kunstformen haben sich in den letzten Jahren angesichts der Allgegenwärtigkeit digitaler Technologien und virtueller Oberflächen herausgebildet? Die Ausstellung „Hybrid Layers“ präsentiert künstlerische Positionen, die den rasanten Fortschritt digitaler Technik, Markenbildung und Netzidentität widerspiegeln. Junge international agierende Künstler/innen wie Daniel Keller, Enrico Boccioletti und Delia Jürgens untersuchen, welche Effekte die neuen Medien auf unsere ästhetischen Kategorien und unsere alltägliche Wahrnehmung ­haben. Die Ausstellung nimmt zudem Bezug auf das Innovations-Start-up-Festival „CODE_n“, das im September 2016 die Technologie-Start-ups und Unternehmen der digitalen Kreativwirtschaft im ZKM versammelt. Eine Auswahl der eingeladenen Künstler/innen werden u. a. in ­Gesprächsrunden am Festival ­aktiv teilnehmen und anschließend ihre Beobachtungen und Erfahrungen in Form von neu produzierten Werken, Performances und Aktionen in die Ausstellung einfließen lassen. „Hybrid Layers“ ist somit auch experimenteller Workshop und Think Tank an den Schnittstellen von Ökonomie und Technik, Kunst und Konsum. Künstlerische Leitung: Peter Weibel Kurator/innen: Giulia Bini (IT), Sabiha Keyif, Daria Mille (RU), Philipp Ziegler Künstler/innen (Auswahl): Ricardo Benassi (IT), Enrico Boccioletti (IT), GCC (Kollektiv/Golfstaaten), Delia Jürgens, Daniel Keller (US), Katja Novitskova

Im Zentrum der Ausstellung steht die Frage, wie eine Welt ohne Menschen aussehen kann. Dabei geht es nicht um Szenarien der Zukunft nach einer möglichen Katastrophe, Ausgangspunkt ist vielmehr die Feststellung, dass das post-humane Zeitalter bereits unmerklich begonnen hat. Die Instrumente für eine „Welt ohne uns“ stehen bereit: Die ersten fahrerlosen Autos sind auf den Straßen unterwegs, Algorithmen erstellen Zeitungsartikel und Maschinen übersetzen Texte. Schon heute sind hybride Konstellationen aus Mensch und Technologien Gegenstand nicht nur zahlreicher Hollywood-Filme, sondern auch zeitgenössischer Medienkunst. Die in den Hartware MedienKunstVerein ­eingeladenen internationalen Künstler/ innen thematisieren eine Ökologie nach dem Menschen, ein Zeitalter des Post-Anthropozäns, in dem nicht-­menschliche Akteure die Macht übernommen haben. Diese anderen ­„Lebens“-­Formen – gentechnisch veränderte Mikroorganismen oder „monströs“ erscheinende Pflanzen, Algorithmen und künstliche Intelligenzen – sind unter Umständen anpassungsfähiger als der Mensch und ihm dadurch überlegen. Die Ausstellung ist so angelegt, dass ihr Besuch dem Gang durch ein Gewächshaus mit Gruppierungen seltsam anmutender Pflanzen gleicht. Ergänzt werden die künstlerischen Arbeiten mit kulturhistorischen und popkulturellen Artefakten sowie Filmen zum Posthumanismus. Nach der ersten Präsentation im Dortmunder U wird die Ausstellung in Ljubljana zu sehen sein. Künstlerische Leitung: Inke Arns Künstler/innen: Morehshin Allahyari (IR), LaTurbo Avedon (US), Will Benedict (US/FR), David Claerbout (BE), Harun Farocki (DE), Wanuri Kahiu (KE), Ignas Krunglevicius (LT), Mark Leckey (GB), Eva & Franco Mattes (IT/USA), Julien Prévieux (FR), Daniel Rourke (GB), Suzanne Treister (GB) u. a.

ZKM Karlsruhe: 2.6.2017 (Eröffnung)

HMKV im Dortmunder U: 22.10.2016–5.3.2017; Aksioma, ­Ljubljana: 18.2.–30.4.2017

↗ www.zkm.de

↗ www.hmkv.de


33 The Moving Museum

Foto: Thomas Dashuber

Arrivals and Departures

Der Einzug der Sammlungen des Ethnologischen Museums und des ­Museums für Asiatische Kunst in das ­Humboldt Forum im künftigen Berliner Schloss ist eines der großen museologischen Vorhaben der letzten Jahrzehnte. Der Videokünstler Theo Eshetu wird den Prozess des Umzugs künstlerisch und dokumentarisch begleiten. Eshetu begreift Bewegung als Ritual und setzt die Umzugsbewegung mit der bewegten ­Geschichte der Objekte selbst und ihrer Herkunft in Beziehung. Der Videoessay „The Moving Museum“ zeigt die verschiedenen Aspekte des Umzugsvorhabens und die Perspektiven, aus denen es betrachtet werden kann. Neben Kunst, Politik und Architektur sind das vor allem die nationalen Selbstbilder, die den Wiederaufbau des Berliner Schlosses hervorgebracht haben oder in ihm reflektiert werden. Was bedeutet es, wenn ein Gebäude monarchischer Vergangenheit wiederhergestellt wird und darin nun Objekte kolonialer Herkunft ihren Platz finden sollen? „The Moving Museum“ gibt einerseits Einblicke in die neue Museumsarchitektur und fragt andererseits nach dem Ideengebäude, das Deutschlands kulturelle Identität im 21. Jahrhundert zusammenhält. Es reflektiert die Rolle von Völkerkundemuseen und ihre Beziehung zur Kunst, deren eurozentrischer Kanon zunehmend infrage gestellt wird. Theo Eshetu verschmilzt Interviews, Anekdoten, Ideen und dokumentarische Bilder zu einer multiper­ spektivischen Collage, die zusammengehalten wird durch die zentrale Frage: Was verrät das Projekt Humboldt Forum über die Zukunft unserer globalisierten Welt? Künstlerische Leitung: Theo Eshetu (GB) Projektleitung: Bettina Probst Berlin: 11.06.2016–31.12.2019 ↗ www.preussischer-kulturbesitz.de

TECHNE Produktionsplattform für ­Live-Art und Medienkunst

Gemeinsam mit dem Theater Rampe initiiert das Künstlerhaus Stuttgart „TECHNE“, eine öffentliche Produktionsplattform für Live-Art und Medienkunst. Über einen internationalen Aufruf werden acht Künstler/innen bzw. Künstlergruppen eingeladen, in Aufenthaltsstipendien ihre Projektideen zu produzieren und anschließend öffentlich zu präsentieren. Thema der Aufgabenstellung ist „technè“: ein Begriff aus dem antiken Griechenland, der – deutlich weiter angelegt als unsere enge Vorstellung von „Technik“ – Kunst und Technik als Einheit begreift und etwa mit „Kunstfertigkeit“ oder auch „Kunstlehre“ zu übersetzen ist. „TECHNE“ sucht nach aktuellen künstlerischen Positionen, die sich diesem Begriffsfeld aus ­einer ­alternativen und kritischen Perspektive ­nähern. Die Künstler sind aufgefordert,

der Technik neue Aspekte zu entlocken und damit in gesellschaftlicher, ökologischer oder ethischer Hinsicht neue, auch utopische Zusammenhänge zu entwerfen. Jedes Projekt geht gezielte Kooperationen mit einem oder mehreren High-Tech-Unternehmen bzw. Forschungseinrichtungen ein, die in der Stuttgarter Region so zahlreich vertreten sind. Die interdis­ ziplinäre Produktionsplattform bringt Theater und Kunst mit Technologie und Forschung zusammen. Alle entstehen-

Cage, Maierhof, Radigue @ klub katarakt 2017 Ur- und Erstaufführungen in Hamburg

Das Hamburger Künstlerfestival klub katarakt präsentiert seit 2005 alljährlich experimentelle Musik auf Kampnagel und legt dabei seinen Schwerpunkt auf Urund Erstaufführungen. Aufgrund der großen Publikumsnachfrage stieß das Mu-

v­ erankert damit seine Kunst in der akustischen Realität. Auch an ihn ergeht für die Ausgabe 2017 ein Kompositionsauftrag. Seine Arbeit wird durch das Nadar-­ Ensemble uraufgeführt und in einer Lecture von ihm selbst erläutert. Die drei Schwerpunkt-Konzerte des kommenden Festivals führen die bisherige Arbeit des klub katarakt konsequent fort und erweitern das Festival um erheblich größere Formate, ohne seinen genuin experimentellen Charakter aufzugeben.

↘ Nico and the Navigators: Julla von Landsberg (Sopran) und Michael Shapira (Tanz)

den Arbeiten werden im laufenden Programm von Theater Rampe und Künstlerhaus Stuttgart sowie im Rahmen eines mehrtägigen Festivals gezeigt – begleitet von internationalen Gastspielen und Diskussionen, Konzerten und Ex­kur­ sionen. Künstlerische Leitung: Jan-Philipp Possmann Kurator/innen: Fatima Hellberg, ­Bureau Baubotanik, Martina ­Grohmann, Marie Bues Künstler/ innen: Geumhyung Jeong (KR), Ant Hampton (BE), Christophe Meierhans (BE), ­KairUs (AT/FI) u. a. Künstlerresidenzen: 1.9.2016– 31.12.2017; Ausstellung im Künstlerhaus Stuttgart: 1­ .11.–22.12.2017; Festival im Theater Rampe, Stuttgart: 1.–5.11.2017 ↗ www.theaterrampe.de

sikfestival in den vergangenen Jahren mehrfach an seine Grenzen, daher ist eine Erweiterung des Formats wie auch der räumlichen Möglichkeiten angestrebt. 2017 stehen zwei Uraufführungen von Michael Maierhof und Eliane Radigue sowie die Erstaufführung von John Cages „103“ mit dem dazugehörigen Film „One“ im Mittelpunkt. John Cage überlässt es in seinem großen Spätwerk allen 103 Mitgliedern des Orchesters, wann genau und wie lange sie innerhalb gewisser Grenzen ihre Klänge spielen. Es gibt weder Dirigent noch ­Konzertmeister – jeder Ensemblemusiker ­interpretiert seine eigene Stimme und ­balanciert eigenverantwortlich den gemeinsam gestalteten Gesamtklang mit. Die Stücke von Eliane Radigue entstehen stets in enger Zusammenarbeit mit den Interpreten der Uraufführung. Das spezifische Zusammenspiel jedes Musikers mit seinem Instrument bedingt maßgeblich die Komposition, die wiederum in enger Beziehung zum jeweiligen Aufführungsort entsteht. 2017 kommt ein von klub katarakt in Auftrag gegebenes Werk von Radigue zur Uraufführung. Der Hamburger Komponist Michael Maierhof erweitert in seinen Arbeiten das herkömmliche Instrumentarium des ­Orchesters um Alltagsgegenstände und

Künstlerische Leitung: Jan Feddersen, Robert Engelbrecht Organisatorische Leitung: Ernst Bechert Komponist/ innen: John Cage (US), Michael ­Maierhof, Eliane Radigue (FR) ­Künstler/innen und Interpret/innen: Carol Robinson (FR), Julia Eckhardt (BE), Rhodri Davies (GB), Junge ­Symphoniker Hamburg, Nadar ­Ensemble (BE) Kampnagel, Hamburg: 18.–21.1.2017 ↗ www.klubkatarakt.net

Silent Songs into the Wild Franz Schubert – Staged Concert

Viele Lieder Franz Schuberts erzählen vom Wandern und Fortgehen, vom ewigen Fremdsein und der Einsamkeit. Wie singt man und wie klingen seine ­Stücke im 21. Jahrhundert – in Zeiten ­massiver Völkerwanderung? Das Berliner Theaterensemble Nico and the Navigators verwebt Lieder aus den Schubert-­ Zyklen „Schwanengesang“, „Winterreise“ und „Die schöne Müllerin“ zu einem neuen Ganzen. Es entwickelt eigene klangliche


Nadia Internationales Theaterprojekt zur Erforschung von Fluchtgründen

↓ Still aus der 3-Kanal-Video-Installation „Gedicht einer Zelle“

Künstlerische Leitung: Nicola Hümpel, Oliver Proske Musiker: Tobias Weber, Matan Porat, Novus String Quartett Von und mit: Nikolay Borchev (BY), Julla von Landsberg, Ted Schmitz (US), Yui Kawaguchi (JP), Anna-Luise Recke, Michael Shapira (IL) Uraufführung: Palais des Beaux-Arts, Brüssel: 7.2.2017; Niedersächsische Musiktage: 2.–10.9.2017; Konzerthaus Berlin: 25.9.2017; Elbphilharmonie, Hamburg: Frühjahr 2018; Radialsystem V, Berlin: Frühjahr 2018 ↗ www.navigators.de

Gedicht einer Zelle Triptychon der Liebe und Ekstase

Mit „Gedicht einer Zelle“ schafft der Komponist und Musikproduzent Stefan Winter eine Klanginstallation, die Elemente jüdischer, christlicher und islamischer Musik und Dichtung verbindet. Die zugrunde liegenden Texte stammen aus dem Alten Testament sowie der christlichen und islamischen Mystik: „Das schönste aller Lieder“ (300 v. Chr.) aus dem Alten Testament, „Das fließende

Licht der Gottheit“ (13. Jahrhundert) von Mechthild von Magdeburg und „Die Einheit mit dem Göttlichen“ (8. Jahrhundert) von der islamischen Mystikerin Rabi’a al-Basri. Den Texten liegen Themen zugrunde, die die drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam über alle Differenzen hinweg verbinden: die Liebe, die Ekstase und das Verlangen nach dem Göttlichen. Auf Basis dieser Texte komponiert und arrangiert Stefan Winter eine Klang- und Videoinstallation, die Geräusche und Stimmen, zeitgenössische und traditionelle Musik verbindet und bei den geplanten Konzerten zusammen mit Live-Musik und Improvisation zu hören sein wird. Das Projekt verbindet nicht nur verschiedene Musiktraditionen wie Neue Musik und Improvisation, Volksmusik und Kunstlied, es bringt auch herausragende internationale Instrumentalisten sowie Live-Musik mit digitaler Audiokunst zusammen. Das klassische orientalische Saiten-­ Instrument Kanun, gespielt von Rajab Suleiman, trifft auf Cello-Improvisationen von Ernst Reijseger und jüdische Klänge von Alan Bern oder Uri Caine. Die Konzerte finden unter anderem in München, Haifa und Istanbul statt.

Künstlerische Leitung: Paulien Geerlings (NL) Internationale Projektkonzeption und Leitung: Heidi Wiley Autor: Daniël van Klaveren (NL) Regie: Juliane Kann, Peer Perez Øian (NO), Isabelle Gyselinx (BE), Giacomo Giuntini (IT) Aufführungen: Det Norske Teatret, Oslo: 1.10.–24.12.2017; Fondazione Teatro Due, Parma: 1.2.–30.11.2017; Staatstheater Braunschweig: ­1.4.–21.6.2017; De Toneelmakerij, Amsterdam: 4.2.–17.3.2017; Théâtre de Liège: 1.10.–30.11.2017; Premiere am ­Theatre De Krakeling, Amsterdam: 4.2.2017; Workshop: De Toneelmakerij, Amsterdam: 13.–15.6.2016; ­Staatstheater Braunschweig: 13.–16.9. 2016; ETC Internationale Theater­ konferenz: Badisches Staatstheater Karlsruhe: 13.–16.4.2017; Projekt­ seminar: ETC/Deutsches Theater Berlin: 13.–16.6.2017 ↗ www.etc-cte.org

Urheber / Regie / Klang- und Geräuschkomposition / Künstlerische Leitung: Stefan Winter in Zusammenarbeit mit Mariko Takahashi (JP) Performance: Noriko Kura Komposition: Alan Bern, Uri Caine (US), Fabio Nieder, Rajab Suleiman (TZ), Fumio Yasuda (JP) Musiker/ innen: Mtendeni Maulid Ensemble (TZ), Ernst Reijseger (NL), Vokalensemble Exaudi (GB), Barockensemble Forma Antiqva (ES) u. a. Plaza Zuloaga, San Sebastian: 20./21.7.2017; School of Arts, Haifa: 6.–25.10.2017; Kunsthalle Rathaus­ galerie, München: 1.–25.11.2017; Le Rocher de Palmer, Bordeaux: 2017; Bahçeşehir Universität, Istanbul: 2017 ↗ www.winterandwinter.com

© Sarah Jonker

Interpretationsformen, um so einen neuen Zugang zu Schuberts Werk zu finden. Sänger und Performer aus sechs Nationen lassen sich aus heutiger Sicht auf die darin verhandelten starken Affekte ein, auf das Wechselbad der Gefühle zwischen Schmerz und Verlust, Sehnsucht und Liebe, Wut und Hoffnung. Unter der künstlerischen Leitung von Nicola Hümpel erwachsen aus den musikalischen Assoziationen zwischen den einzelnen Stücken Szenen mit aktuellen gesellschaftlichen Bezügen. Das „Staged Concert“ weicht die Grenzen zwischen Konzert und Gesang, Tanz und Schauspiel, zwischen Hochkultur und Alltagsrealität auf und fragt: Welche Wirkkraft und Brisanz vermag das Schubertsche Liedgut nach rund 200 Jahren zu entfalten? Wie können sich Lebensgefühl und Weltanschauung von heute darin widerspiegeln? Eine Dokumentation über den Entstehungsprozess dieses Experiments ist geplant.

„Nadia“ ist ein internationales The­ aterprojekt, in dem fünf renommierte Theater aus ganz Europa parallel je eigene Inszenierungen auf die Bühne bringen: das belgische Théâtre de Liège, die ­italienische Fondazione TeatroDuo, die Amsterdamer Kompanie De Toneelmakerij, Norwegens größtes Schauspielhaus Det Norske Teatret sowie das Staatstheater Braunschweig. Allen fünf Inszenierungen liegt derselbe Text zugrunde, der in Zusammenarbeit mit dem Autor Daniël van Klaveren entsteht und sich mit der religiösen Radikalisierung unserer Gesellschaften im internationalen Kontext befasst. Ausgangspunkt ist die Frage, weshalb junge Mädchen aus Westeuropa ihre Familien verlassen, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Dabei sollen weniger dessen Rekrutierungsstrategien als vielmehr unsere eigenen Gesellschaften untersucht werden: Wie verorten sich westeuropäische Jugendliche im Spannungsfeld zwischen Perspektivlosigkeit und immer vielfältiger werdenden Wertesystemen? Was macht extremistische Positionen in ihrer Radikalität für junge Menschen in Westeuropa so attraktiv? Junge Regisseure an den jeweiligen Häusern adaptieren den Text ortsspezifisch und setzen ihn in je eine Inszenierung um. Die Ensembles stehen während der Produktionsphase in gegenseitigem Austausch; während der Aufführungen sind sie in Chatrooms miteinander vernetzt, was das Bühnengeschehen um einen virtuellen Raum erweitert. Auf einer Open-Source-Plattform wird der Dialog an das Publikum weitergespielt und dient

dort als Anstoß für eine weiterführende Beschäftigung mit dem Thema. Nach den Premieren sind Gastspiele in allen beteiligten Ländern geplant. Zur Abschlussveranstaltung des Projektes im Rahmen der Autorentage 2017 werden alle beteiligten künstlerischen Teams sowie Experten zum Thema „Radikalisierung der Gesellschaft“ eingeladen und eine Auswahl an Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin gezeigt. Die Konzeption und Entwicklung von „Nadia“ erfolgt ­unter dem Dach der European Theatre Convention, einem europäischen Netzwerk öffentlicher Stadt- und Staatstheater. Es präsentiert das Projekt auf Konferenzen sowie als Best-Practice-­Beispiel in fachspezifischen künstlerischen und kulturpolitischen Foren europaweit.

©Winter&Winter

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↑ Nadia. Ein internationales Theaterprojekt der European Theatre Convention


35 PLAY!

Foto: Hamze Bytyci

zeitkratzer plays She She Pop

zeitkratzer ist ein vielfach ausgezeichnetes europäisches Solisten-Ensemble, das für eigenwillige Programme und ungewöhnliche Kooperationen bekannt ist. Sein Repertoire umfasst Werke von John Cage bis Karlheinz Stockhausen, von Nam June Paik bis Philip Glass sowie ­Kooperationen mit Musikern wie Lou Reed, Carsten Nicolai oder Elliott Sharp. Hinzu kommen interdisziplinäre Kooperationen mit Choreografen und Tänzern wie Sasha Waltz oder Rubato, mit der Modedesignerin Lisa D oder Videokünstlern wie ­Lillevan. Gemeinsam mit She She Pop, einem Performancekollektiv, das die Kunst der Selbstentblößung und die öffentliche Verhandlung von Tabus zum Programm erhoben hat, entsteht nun die Konzertperformance „Play!“. She She Pop versucht bei dieser Produktion, die verborgenen Rituale und die Selbstverständlichkeiten im Handeln der Musiker/innen zu hinterfragen und sie in künstlerisch produktiver Weise von ihren Instrumenten zu „entfremden“. Welche Aspekte der Aufführungssituation werden verdrängt oder zurückgehalten und wie kann es aussehen, wenn das Zurückgehaltene plötzlich auf die Bühne drängt? So dekonstruiert She She Pop das feierliche Ritual eines Konzertabends und fordert die Musiker und ihr Publikum musikalisch und intellektuell heraus. „Play!“ wird zeigen, ob und wie es den Musiker/innen gelingt, die Würde ihrer Musik zu verteidigen. Künstlerische Leitung: Reinhold Friedl, Lisa Lucassen, Sebastian Bark Künstler/innen: Nora Krahl, Frank Gratkowski, Verena Grimm (MX), Hilary Jeffery, Maurice de Martin, Ilia Papatheodorou, Hild Sofie Tafjord (NO), Martin Wurmnest HAU, Berlin: Oktober 2017; Kammerspiele München: Oktober 2017; RomaEuropa Festival, Rom: 18./19.11.2017 ↗ www.zeitkratzer.de ↗ www.sheshepop.de

¡Adelante! Iberoamerikanisches Theaterfestival

Das Festival ¡Adelante! ist dem zeitgenössischen Theater Iberoamerikas – Lateinamerika, Spanien und Portugal – gewidmet. Das Theater Heidelberg möchte mit diesem Festival einen Austausch über inhaltliche und ästhetische Fragestellungen des Theaters anstoßen und langfristige Partnerschaften zwischen Lateinamerika und Europa initiieren. Neben zwölf ausgewählten Gastspielen und einem Rahmenprogramm mit zahlreichen partizipativen Formaten umfasst das Festival auch eine deutsch-­ chilenische Koproduktion. Künstler/innen des Theaters Heidelberg erarbeiten gemeinsam mit der chilenischen Theatergruppe Colectivo Zoológico eine Produktion über Mechanismen der Abgrenzung und Ausgrenzung und das globale

Phänomen des  NIMBY (Not in My ­Backyard). Diese Haltung findet sich in Chile und Deutschland gleichermaßen: „Sozialer Wohnungsbau ja, aber ‚Not in My Backyard‘, „Windkraft ja, aber ‚Not in My Backyard‘“. Zu den eingeladenen Produktionen gehören beispielsweise: Pablo Manzis Uraufführung „Donde ­viven los Barbaros“ (Wo die Barbaren ­leben), die in schnellen Dialogen durch-

Gypsies Ein internationales Theaterprojekt zu Roma in Europa

Sinti und Roma bilden mit vielen Millionen Zugehörigen die größte europäische Minderheit, die ungeachtet ihrer Diversität eine auffällig einheitliche Ausgrenzung erfährt. Ihr Bild ist geprägt von

Merzhäuser / Roesler Projektleitung Frankreich: Sarah McKee (FR) Projektleitung Rumänien: Codruta Popov (RO) Mit: Gina Calinoiu (RO), Ursula ­Hobmair, Matilda Leko (RS) u. a. Staatstheater Braunschweig: 23.2.–6.4.2017; Nationaltheater Temeswar: 18.–22.5.2017, Théâtre de la Manufacture, Nancy: 20.–25.11.2017 ↗ www.werkgruppe2.de

africologne Festival 2017 Eine künstlerische Plattform für transnationalen Austausch

↗ #Carmen: Auf dem Markt verkauft eine serbische Romni ein Bild des deutschen Malers ­Torino,

Belgrad 2016

spielt, welche Spuren Fremdenfeindlich­ keit in einer Gesellschaft hinterlässt. Die Antigone-Adaption des mexikanischen Regisseurs David Gaitán, die in einer Art Reality-TV-Format die Kluft zwischen offiziellem politischem Diskurs und Eigen­ interessen der Politik verhandelt. Die chilenische Gruppe La Re-Sentida, die mit ihrer jüngsten Produktion großes Aufsehen erregte, weil sie die historische Figur des Präsidenten Salvador Allende und sein Versprechen einer besseren, sozial gerechteren Zukunft in die Gegenwart transferiert. Die kubanische Regisseurin Sandra Ramy mit einer Produktion, welche Theater, Tanz, Videokunst und Poesie vereint und die medialen und ökonomischen Dynamiken der Modeindus­ trie hinterfragt. Und die kolumbianische Theatergruppe Mapa Tetro, die in Heidelberg die Uraufführung des letzten Teils ihres Triptychons „Los Incontados“ (Die Nichterzählten) über das enge Verhältnis von Fest und Gewalt in der kolumbianischen Gesellschaft präsentiert. Künstlerische Leitung: Holger Schultze, Lene Grösch Produktionsleitung: Florian Werkmeister Kurator/in: Ilona Goyeneche (MX), Jürgen Berger Regie: Rolf Abderhalden Cortés (CO), Nicolás Espinoza (CL), Marco Layera (CL), Pablo Manzi (CL), José Ramón Hernández Suarez (CU), David Gaitán (MX), Felipe Hirsch (BR), Sergio Blanco (UY), Chela de Ferrari (PE), Àlex Serrano (ES), Sandra Ramy (CU) u. a. Ensembles: Mapa Tetro (CO), Colectivo Zoológico (CL), La Re-Sentida (CL), Bonobo (CL), Persona (CU), Osikán (CU), SEÑOR SERRANO (ES) u. a. Theater und Orchester Heidelberg: 11.–18.2.2017 ↗ www.theaterheidelberg.de

beharrlichen Zuschreibungen und Vorurteilen. Angesichts fortwährender diskriminierender Narrative, z. B. vom „Zigeuner“ als „ziehender Gauner“ oder von der „Zigeunerromantik“, dreht das Recherchetheater-Projekt „Gypsies“ die Perspektive um und fragt: Wie nehmen die verschiedenen Roma-Gruppen ihre eigene Existenz in Europa wahr? Welches Bild von Europa haben sie, welche Rolle spielen Nationalgrenzen und nationale Identitäten? Zwingt das Ausgeschlossen-Werden durch die nationalen Mehrheiten dazu, die Zuschreibung eines anderen „Wir“ anzunehmen? Ziel des Projekts ist, die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremd­zuschreibung von Sinti und Roma in Deutschland, Rumänien und Frankreich zu erforschen. Dafür werden drei Projektteams gemeinsam mit beteiligten Schauspielern jeweils eine Woche mit Roma-Familien verbringen und ausführliche Interviews führen, deren Transkriptionen die textliche Grundlage für die mehrsprachige Spielfassung darstellen. Außerdem werden vor Ort Lieder, Musik und Geräusche gesammelt, die das Ausgangsmaterial für Neu-Kompositionen bilden. Die Inszenierung „Gypsies“ ist eine Koproduktion der werkgruppe2 mit dem Staatstheater Braunschweig, dem Théâtre de la Manufacture Nancy und dem Nationaltheater Temeswar. Die Aufführungen werden an allen drei Spielorten von Publikumsgesprächen begleitet. Künstlerische Leitung: werkgruppe2, Hamze Bytyci (RS) Regie: Julia Roesler Musikalische Leitung: Matilda Leko (RS) Ausstattung: Charlotte Pistorius Video: Hamze Bytyci (RS) / Charlotte Pistorius Dramaturgie: Silke Merzhäuser, Christine Besier Recherche: Bytyci /

Das africologne Festival wurde 2011 vom Theater am Bauturm in Köln als biennales Festival initiiert. Es wird im Jahr 2017 zum vierten Mal stattfinden und seine internationalen Kontakte deutlich ausbauen. africologne arbeitet 2017 erstmals mit Satellitenstandorten und Partnern in Paris und Düsseldorf zusammen sowie weiteren Koproduktionspartnern in europäischen und afrikanischen Ländern, darunter das Tanzhaus nrw in Düsseldorf, das Festival de Marseille, das Festival Récréâtrales in Burkina Faso und das Tarmac des Auteurs in der Demokratischen Republik Kongo. Ein besonderer Fokus liegt auf der Auseinandersetzung mit afrikanischen Theatertraditionen und aktuellen künstlerischen Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent. Neben Theater, Tanz und Performance präsentiert das Festival auch Musik, Bildende Kunst, Film und Literatur. Ergänzt wird das Programm durch Workshops, Arbeitstreffen und innovative Gesprächsformate, welche die Vernetzung der afrikanischen Künstler/innen untereinander und mit europäischen Künstler/innen stärken sollen. Ein Dialogforum zum Thema „Demokratisierung in Afrika – Alles nur Theater?“ findet in Köln sowie in Paris und Hamburg statt. Künstlerische Leitung: Gerhardt Haag Projektleitung und Kuratorin: Kerstin Ortmeier Künstler/innen: Laetitia Ajanohun (BE), Panaibra Gabriel Canda (MZ), Serge Aimé Coulibaly / Faso Danse Theatre (BF), Edoxi L. Gnoula (BF), Jan-Christoph Gockel, Laurenz Leky, Philipp Löhle, Etienne Minoungou / Compagnie Falinga (BF), Nicole Nagel, Criss Niangouna (CG) u. a. Tanzhaus nrw und weitere Orte, Köln: 14.–24.6.2017 ↗ www.africologne.de


36 Acht Künstler. Acht internationale Statements

Das Theaterprojekt Eurotopia will mit den gängigen Erzählungen über Europa brechen und stattdessen Ungesagtes und Tabus zum Ausgangspunkt für eine radikale Utopie jenseits bürokratischer Verengungen machen. Mit den Mitteln der Kunst soll die kollektive Einbildungskraft quer durch Nationen und Milieus gestärkt werden. In einer Zeit, in der die Kriege Europa an seinen Grenzen einholen und das europäische Versprechen mehr denn je zur Debatte steht, stellt Eurotopia triftige Fragen: Kann das Fremde zum konstitutiven Element in-

schen Schwerpunkten gespielt, zu denen Gäste wie Navid Kermani oder Slavoj Žižek eingeladen sind. Das Theater Freiburg bietet zudem Einführungen und Übersetzungen ins Englische und Arabische an. Künstlerische Leitung: Viola Hasselberg, Ivo Kuyl (BE) Künstler/innen: Memet Ali Alabora (TR), Thomas Bellinck (BE), Felicitas Brucker, Ruud Gielens (BE), Emre Koyuncuoğlu (TR), Faustin Linyekula (CD), Jarg Pataki (CH), Milo Rau (CH), ORTREPORT & Meier/Franz (DE/AT/CH) Theater Freiburg: 4.3.–15.7.2017 ↗ www.theater.freiburg.de

onen gehören unter anderem das spanisch-griechische Kollektiv Hackitectura mit ihren Karten des Allgemeinguts oder die filmischen Reflexionen der Künstlerin Eleni Kammas, die sich mit den GeziPark-­Protesten und der Macht der freien Meinungsäußerung beschäftigen. Ein sprechendes Schuldenmahnmal, das der kurdische Künstler Ahmet Ögüt entwickelte, zählt ebenso zu den gezeigten Werken wie Arbeiten des Choreografen und Anthropologen Panayiotou, die sich mit Praktiken der Archivierung auseinandersetzen, in denen sein Heimatland Zypern als postkoloniales Patchworkobjekt erscheint. Die Ausstellung wird in Leipzig, in Nikosia (Zypern) im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres und in Petach Tikva (Israel) gezeigt. Erstmals wird damit

↘ Mona Marzouk: Trayvon, 2016

neren Zusammenhalts werden? An welchem Haus wollen wir bauen? Was kann Europa sein? Das Theater Freiburg lädt Künstler/ innen unter anderem aus der Türkei, dem Kongo, Belgien und Deutschland ein, auf diese Fragen in einem künstlerischen Experiment zu reagieren. Milo Rau, Memet Ali Alabora, Faustin Linyekula, Felicitas Brucker u. a. begeben sich hierfür auf Recherchereisen, für die sie die Grenzen der eigenen künstlerischen Praxis überschreiten. Aus ihren Erfahrungen entwickeln sie acht kontroverse Statements, die zueinander in Bezug stehen. Die Recherchen werden in einer gemeinsamen Probenphase im Theater Freiburg zusammengeführt und alle Statements kommen parallel im Haus auf die Bühne. Bereits vor der Premiere öffnet das „Europäische Hinterzimmer“, um Künstler und Publikum in offenen Proben und politischen Salons miteinander ins Gespräch zu bringen. Eurotopia wird an vier Wochenenden mit jeweils unterschiedlichen themati-

Terra Mediterranea: ­ In Action Deutsch-zypriotisches ­Kooperationsprojekt

Ausgangspunkt dieser deutsch-zypriotischen Kooperation ist die Mittelmeerregion oder „Terra Mediterranea“, geografisch von Südeuropa, Vorderasien und Nordafrika umgeben. Was zeichnet dieses Gebiet aus, das aktuell vor allem als Flüchtlingsroute im Fokus des politischen Weltgeschehens steht? Welche Verbindungen schafft der „flüssige Kontinent“ zwischen Afrika, Asien und Europa? Die Halle 14 in Leipzig entwickelt entlang dieser Fragen gemeinsam mit dem Nicosia Municipal Arts Center auf Zypern eine Ausstellung. Die Schau reflektiert Gegenwart und Zukunft des ­Mittelmeerraums und versammelt dazu­­ 18 künstlerische Positionen aus neun ­Ländern. Zu den ausgewählten Positi-

eine Produktion der Halle 14 in weiteren internationalen Kunstzentren in Europa und Israel fortgesetzt und vernetzt Kulturschaffende aus der Mittelmeerregion und Deutschland. Ergänzt wird die Ausstellung durch das partizipative Langzeitprojekt „Die Geschichten der Dinge“, das die Erfahrungen der Besucher dokumentiert, sowie durch weitere Veranstaltungen, Workshops und Gespräche. Kurator/innen: Michael Arzt & Yiannis Toumazis (CY) Designer/ Hersteller: Ana Adamović (RS), Sofia Bempeza (GR), Banu Cennetoglu (TR), Marianna Christofides (CY), Hackitectura (ES), Elizabeth Hoak-Doering (US), Eleni Kamma (GR), Mona Marzouk (EG), Christodoulos Panayiotou (CY) u. a. Ausstellung: HALLE 14 – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Leipzig: 17.9.–20.11.2016; Kunstvermittlungsprojekt „Die Geschichten der Dinge /

The Stories of Things“, HALLE 14 – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Leipzig: 17.9.–31.10.2016; Fortsetzung Ausstellung: Nicosia Municipal Arts Centre, Nikosia: 1.1.–31.12.2017; Museum of Art, Petach Tikva: 2018 ↗ www.halle14.org

Die Selfmade-­ Aristokratie Ein kommunitaristisches Theaterund Tanzprojekt von La Fleur

La Fleur ist eine internationale Gruppe, die noch im Entstehen befindlich ist und eine neue Art der Theaterarbeit entwickeln möchte. Viele ihrer ­Mitglieder kommen aus den Pariser Banlieues und den sogenannten Problemvierteln Hamburgs. Die damit verbundenen Zuschreibungen unterlaufen sie jedoch konsequent sowohl auf der Bühne wie auch im Leben. Als Mitglieder ­einer „Selfmade-Aristokratie“ nehmen sie Rollen an und wechseln ihren Status nach Belieben. Nach dem Prinzip ­„Bestimme, wer du sein willst!“ geht es um Selbstbehauptung und eine anarchische Lust am Spiel. Ausgangspunkt des Theater- und Tanzstücks sind Honoré de Balzacs Romane „Das Mädchen mit den Goldaugen“ und „Glanz und Elend der Kurtisanen“. In Recherchetreffen in Hamburg und Paris entwickelt die ­Gruppe Rollen, Texte und Handlungen, die Überschneidungen zwischen Balzacs Romanmotiven und heutigen Phänomenen produzieren. Viele der Balzacschen Figuren haben im Team von La Fleur eine aktuelle Entsprechung. Ähnlich wie die Dandys, Kurtisanen und Strategen im 19. Jahrhundert bilden heutige Tänzer/innen, DJs und Schauspieler/innen eine Art widerständige Aristokratie von unten. In den urbanen Szenen und Tänzen werden Gender-Identitäten und sozialer Aufstieg erprobt. Je limitierter die Verhältnisse, umso anspruchsvoller ist es, den Techniken der Verschwendung und Leidenschaft zu folgen und ein quasi aristokratisches Verhalten an den Tag zu legen. Mit Fülle, Körperlichkeit und Sinnesempfinden stellt „Die Selfmade-Aristokratie“ die hanseatische Tradition der Keuschheit und Sparsamkeit auf den Prüfstand. Die Beteiligten verweigern sich der Armseligkeit der Umstände und geben sich genau die Identität, die sie sich ausgesucht haben. Künstlerische Leitung: Monika Gintersdorfer, Franck Edmond Yao (CI) Künstler/innen: Alex Cephus (US), Jean-Claude Dagbo (FR/CI), Elise Graton (FR), Christian Jäger, Boro Sangui (FR/CI), Madou Sanguin (FR/ CI), Marion Siefert (FR), Magne Karel Audrey Tendjou (CI) u. a. Workshop: MC 93, Paris: ­21.11.–1.12.2016 Aufführungen: Paris: 26.–31.10.2017; Wien: 2.–4.6.2017; Hamburg: ­12.–14.10.2017; Berlin: 18.–20.10.2017; Düsseldorf: 21./22.10.2017 ↗ www.lafleur-international.tumblr.com

Foto: Walther Le Kon, 2016

Eurotopia


37 Transit Europa

© Verena Jaekel

Ein internationales Kulturprojekt

Mehrere Theaterhäuser und die Schauspielschule Ernst Busch haben sich zusammengefunden, um der afghanischen Theatergruppe „Azdar“ / „Parwaz“ einen zehnmonatigen Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen und sie mit europäischen Künstler/innen in Kontakt zu bringen. Azdars Anliegen ist es, die Kultur Afghanistans mit den Mitteln des Theaters zu transportieren und zu bewahren. Als „Parwaz Puppet Theatre“ spielen die Mitglieder von Azdar auch Puppentheater. Sie wurden mehrfach von den Taliban bedroht. „Transit Europa“ besteht aus vier Teilprojekten, die Azdar mit verschiedenen Künstlern und Institutionen verbindet. Im Projekt „Kula – nach Europa“ trifft die Gruppe auf Spieler/innen deutscher und französischer Theaterhäuser, um gemeinsam an einer mehrsprachigen Inszenierung zu arbeiten. „Kula“ bezeichnet ein Tauschsystem in Neu Guinea, bei dem Gegenstände von geringem ökonomischen, aber hohem symbolischen Wert getauscht werden, und steht damit exemplarisch für die Art des kulturellen Austauschs, die das Projekt praktizieren will. Jede Gruppe bringt dafür eine Geschichte mit, die für sie kulturell prägend ist, und gibt sie nach dem „Kula“-Prinzip an die anderen weiter. Am Theater Freiburg präsentiert Azdar seine Fassung des Stücks „Geschichte einer Tigerin“ von Dario Fo für das Puppentheater und konfrontiert das Freiburger Publikum mit einer zeitgenössischen persischen Sicht auf einen europäischen Text. Die Initiative der Schauspielschule Ernst Busch sieht mehrere gemeinsame Workshops sowie die Inszenierung eines Stücks des persischen Dichters Dschelaladdin Rumi vor. Im Projekt „Deutschland-Knigge“ entwickelt der Regiestudent Max Martens mit Azdar ein mobiles Theaterformat für persischsprachige Flüchtlinge, das europäische Kulturwelten thematisiert, aber auch die Konflikte, die sich aus dem Zusammentreffen der Kulturen ergeben. Künstlerische Leitung: Robert Schuster Regie: Max Martens, Ahmad Nasir Formuli (AF), Arash Absalan Choreografie: Martin Gruber Ausstattung: Eva-Maria Van Acker (BE) Dramaturgie: Julie Paucker (CH) Mit den Ensembles von: Azdar Theatre / Parwaz Puppet Theatre (AF), AZA (F), Theater Freiburg und Deutsches Nationaltheater Weimar Aufführungen: Deutsches ­Nationaltheater Weimar: 1.–4.9.2016; Schauspielhaus Bochum: 7.–9.10.2016; La Filature Scène Nationale, Mulhouse: 12./13.10.2016; Kurtheater Baden: 27.10.2016; Theater Chur: 29.10.2016; Theater Freiburg: 10.–13.12.2016 ↗ www.kunstfest-weimar.de ↗ www.nationaltheater-weimar.de

↓ Verena Jaekel: San Francisco, 23.4.2006, aus der Serie „Neue Familienportraits – New

Family Portraits“

Dicker als Wasser Konzepte des Familiären in der zeitgenössischen Kunst

Die Familie steht immer wieder im Fokus gesellschaftlicher Debatten und diente vielfach als Projektionsfläche für Werte- und Generationenkonflikte. Seit 1968 haben ganze Generationen gegen überkommene Traditionen und festgefahrene Rollenmuster gekämpft und versucht, neue Modelle des Zusammenlebens zu etablieren. Die Ausstellung im Kunstpalais Erlangen beschäftigt sich mit den vielfältigen Formen des Zusammenlebens als Familie und wirft einen Blick in deren Zukunft: Welche Bedeutung hat Familie angesichts globalisierter Arbeitsbedingungen und pluralisierter Lebensformen heute noch? Wie verändern medizinische und technische Möglichkeiten wie Leihmutterschaft oder Reproduktionsmedizin unser traditionelles Familienverständnis? Die eingeladenen Künstler/innen und Wissenschaftler/innen verschiedenster Disziplinen wie Kunstgeschichte, Philosophie, Soziologie oder Gender Studies untersuchen Familie und Familienentwürfe mit Schwerpunkt auf dem Konzept des „Doing Family“. Die Künstler/ innen reflektieren aus der Distanz oder persönlich involviert den gegenwärtigen Status der Familie. Nina Katchadourians ­Videoarbeit „Accent Elimination“ setzt sich mit der Sprachgeschichte ihrer ­eigenen Familie auseinander und Johannes Paul Raether beschäftigt sich in seinen Performances mit der Zukunft der

menschlichen Fortpflanzung. Ergänzt wird die Ausstellung durch ein umfangreiches Vermittlungsprogramm, zahlreiche Kooperationen mit Erlanger Schulen und weiteren Einrichtungen der Stadt sowie einer wissenschaftlichen Tagung zum Thema. Künstlerische Leitung: Amely Deiss, Ina Neddermeyer Künstler/innen: Simon Fujiwara (GB), Badr el ­Hammami (MA), Verena Jaekel, Haejun Jo (KR), Fadma Kaddouri (MA), Nina Katchadourian (US), Ragnar Kjartansson (IS), Johannes Paul Raether u. a. Kunstpalais Erlangen: 24.9.–27.11.2016 ↗ www.kunstpalais.de

­ nsemble“ auf. Das Theater hat ein umE fangreiches zweijähriges Modellprojekt entwickelt, das den Fokus auf Integration legt. Die künstlerische Produktion mit Geflüchteten soll modellhaft ausgebaut werden und für andere Häuser adaptierbar sein. Dazu soll ein professionelles Ensemble aus sieben Geflüchteten entstehen, das über zwei Jahre lang fest am Maxim Gorki Theater arbeitet. Mit dramaturgischer Betreuung entwickeln die Mitglieder des Exil Ensembles pro Spielzeit eine tourfähige Produktion, die an kooperierenden Theatern g­ astieren soll. Alle Ensemblemitglieder ­sollen sowohl in Produktionen des Gorki spielen als auch eigene performative Abende und Lectures entwickeln. Im Rahmen des Projektes erhalten sie die Möglichkeit einer vertiefenden Ausbildung, werden von Schauspieler/innen des Gorki Theaters in einem Mentorenprogramm unterstützt und haben die Gelegenheit, an Masterclasses mit Regisseur/innen wie René Pollesch, Sebastian Baumgarten, Helgard Haug oder Falk Richter teilzunehmen. Ihr eigenes Wissen und ihre ­Erfahrungen geben sie im Rahmen des ­Vermittlungsprogramms des Maxim Gorki Theaters weiter. Drei Mitglieder des Exil Ensembles stehen bereits fest, weitere vier Mitglieder werden in einem Open Call gewonnen. Das Maxim Gorki Theater ist prädestiniert für ein solches Modellprojekt an einem deutschen ­ Stadttheater. Seit die Regisseurin Shermin Langhoff die Intendanz übernommen hat, bilden die Themen Flucht und Migration einen zentralen Bezugspunkt der künstlerischen Arbeit und das ­Theater erhält viele Anfragen anderer Institutionen, die von der erprobten Praxis lernen möchten. Künstlerische Leitung: Shermin Langhoff, Yael Ronen (IL), Sebastian Nübling Künstler/innen: Ayham Majid Agha (SY), Maryam Abu Khaled, Karim Daoud (PS), Aleksandar Radenković (CS), Dimitrij Schaad (KZ), René Pollesch, Sebastian Baumgarten, Helgard Haug, Falk Richter u. a. Berlin: Workshops / Master Classes, Studioproduktion, Bühnenproduk­ tionen: 1.6.–31.12.2017; Tournee ­Bühnenproduktionen mit Workshops: 1.1.–31.7.2018 ↗ www.gorki.de

Exil Ensemble Ein Ensemble von Geflüchteten am Maxim Gorki Theater

Das Thema Flucht und das Engagement für Geflüchtete gewinnt immer stärkeren Einfluss auf den Theateralltag. Häufig öffnen die Theater nicht nur ihr Haus für Migranten, sondern versuchen auch, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche auf der Bühne darzustellen. Wie können geflüchtete Künstler/innen dauerhaft in die deutschen Ensembles integriert werden? Welche bürokratischen und sprachlichen H ­ ürden gibt es und wie sind diese zu ­meistern? Wie kann Integration in der s­ peziellen Welt des Stadttheaters erfolgreich gelingen? Diese Fragen greift das Maxim ­Gorki Theater in Berlin mit dem „Exil


38 DAS MAGAZIN Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen ­möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter: ↗ www.kulturstiftung-bund.de/­ magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, ­erreichen ­Sie uns auch telefonisch unter ­ +49 (0) 345 2997 131. ­ Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf! Das Magazin Nº 27 können Sie auch als E-Magazin in englischer Sprache abrufen unter ↗ www.kulturstiftung-bund.de/magazine.

DIE WEBSITE Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine ­umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der Stiftung, ­die Förderanträge und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns auf: ↗ www.kulturstiftung-bund.de ↗ facebook.com/kulturstiftung ↗ twitter.com/kulturstiftung

IMPRESSUM Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 2 06110 Halle an der Saale T +49 (0)345 2997 0 F +49 (0)345 2997 333 info@kulturstiftung-bund.de ↗ www.kulturstiftung-bund.de Vorstand Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz (verantwortlich für den Inhalt) Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Beratung Tobias Asmuth Schlussredaktion Therese Teutsch Gestaltung Neue Gestaltung, Berlin Ole Jenssen, Pit Stenkhoff

KULTURSTIFTUNG DES BUNDES STIFTUNGSRAT Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Vorsitzende des Stiftungsrats Prof. Monika Grütters Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien für das Auswärtige Amt Prof. Dr. Maria Böhmer Staatsministerin für das Bundesministerium der Finanzen Jens Spahn Parlamentarischer Staatssekretär für den Deutschen Bundestag Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident Dr. h.c. Wolfgang Thierse Bundestagspräsident a.D. Dr. h.c. Hans-Joachim Otto Parlamentarischer Staatssekretär a.D.

kompensiert Id-Nr. 1659485 www.bvdm-online.de

Druck BUD, Potsdam Redaktionsschluss 22.8.2016 Auflage 26.000 Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes – alle Rechte vor­behalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes. Die Kulturstiftung des Bundes wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.

Dr. Volker Rodekamp Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft Johano Strasser P.E.N. Deutschland Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di Prof. Klaus Zehelein Ehemaliger Präsident des Deutschen Bühnenvereins Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats

JURYS UND ­KURATORIEN Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themen­ spezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter ↗ www.kulturstiftung-­ bund.de bei den entsprechenden Projekten.

DIE STIFTUNG

als Vertreter der Länder Boris Rhein Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst Dr. Eva-Maria Stange Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen

Vorstand Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin

als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Beigeordneter, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund

Sekretariate Beatrix Kluge / Beate Ollesch (Büro Berlin) / Christine Werner

als Vorsitzender des Stiftungsrats der ­Kulturstiftung der Länder Erwin Sellering Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-­ Vorpommern als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Durs Grünbein Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

Bildnachweis Akinbode Akinbiyi (courtesy of the artist)

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Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder

STIFTUNGSBEIRAT Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten. Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vorsitzender des Stiftungsbeirats Dr. Dorothea Rüland Generalsekretärin des DAAD, stellv. Vorsitzende des Stiftungsbeirats Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Vorstands der Deutsche Bank Stiftung Jens Cording Beauftragter der Gesellschaft für Neue Musik Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats

Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor

Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche Justitiariat / Vertragsabteilung Christian Plodeck ( Justitiar) / Katrin Gayda / Stefanie Jage / Anja Petzold Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung) / Tinatin Eppmann / Juliane Köber / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier / Therese Teutsch Förderung und Programme Kirsten Haß (Leitung) / Torsten Maß (Leitung Allgemeine Projektförderung) / Sebastian Brünger / Teresa Darian / Anke Engemann / Anne Fleckstein / Dr. Marie Cathleen Haff / Markus Huber / Antonia Lahmé / Carl Philipp Nies / Uta Schnell / Karoline Weber / Friederike Zobel Programm-Management und Evaluation Ursula Bongaerts (Leitung) / Marius Bunk / Kristin Dögel / Marcel Gärtner / Bärbel Hejkal / Steffi Khazhueva / Anja Lehmann / Frank Lehmann / Dörte Mocbeichel / Nadine Planert / Ilka Schattschneider / Anne-Kathrin Szabó / Alexandré Vetters Projektprüfung Steffen Schille (Leitung) / Franziska Gollub / Fabian Märtin / Lina Schaper / Saskia Seidel / Antje Wagner Verwaltung Andreas Heimann (Leitung) / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe


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