Magazin #26 der Kulturstiftung des Bundes

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Frühling / Sommer 2016

№ 26


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Delaine Le Bas, *1965 in Worthing, ­Großbritannien Ausgehend von ihrer Zugehörigkeit zur Minderheit der britischen Romany Travellers beschäftigt sich die aus Südengland stammende Künstlerin Delaine Le Bas in ihrer Arbeit mit Themen der Ausgrenzung und Diskriminierung. Sowohl in m ­ edien- und raumübergreifenden Installationen als auch in kleinen Arbeiten wie Zeichnungen oder ­detaillierten Stoffarbeiten verleiht sie einem psychischen Zustand von Belagerung Ausdruck. Auf Kindheitserinnerungen und aktuelle Verhältnisse nimmt sie genauso Bezug wie auf Schamanismus, geschichtliche Begebenheiten oder – wie in ihrer jüngsten Arbeit »Medea Romnja« (Thessaloniki 2015) – auf den antiken griechischen Mythos. Der Wunsch nach Zugehörigkeit und seelischer Sicherheit spiegelt sich in oft pervertierten Kindheitsbildern oder einer Ironisierung des englischen »Home Sweet Home« wider. Ängste sind stets präsent, die die Künstlerin einer »Politics of Fear« zuschreibt. Mit oft graffitiartig verwandten Aussagen wie »Don’t tell me who I am«, »History Repeats Itself?« oder »Gypsy Power« sind ihre Arbeiten stets ­politisch. Sie haben aber über ihre aktive Wirkung auf die Roma-Emanzipationsbewegung hinaus eine universelle menschliche Bedeutung. Mit charis­matischen Auftritten in Live- wie auch ­Video-­­Performances, mit inszenierten Fotos und der ­Erarbeitung von Kostümen und eigenen Schattenrissen ist die Kunst Le Bas’ von besonderer I­ nti­mität. Ihr Körper, verletzlich und vergänglich, wird sowohl zum Austragungsort als auch zum handelnden Subjekt von Politik. Mit ihren Installationen wie »Safe European Home?«, einer Gemeinschaftsarbeit mit ihrem Mann, dem Künstler Damian Le Bas, sucht die Künstlerin gleichzeitig im öffent­lichen Raum den Kontakt zu ihrem Publikum. Video-Performances wie »Crystal Ball Genocide« an der ­damals über Jahre verwaisten Baustelle des »Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas« im Berliner Tiergarten 2012 verbinden ihren Artivismus auf für sie typische Art und Weise mit ihrer tiefgründig empfundenen künstlerischen Welt. In ihren Arbeiten erreicht Delaine Le Bas so eine sehr eigene unbedingte Dringlichkeit, die grundsätzliche Fragen zu den Themen Zugehörigkeit zu Nationen und Minderheiten, Gender Politics und Rassismus aufwirft. Delaine Le Bas studierte am Central Saint Martins College in London. Sie stellt seit vielen Jahren international aus. Ihre Arbeiten waren auf der Biennale von Venedig 2007, der Biennale von Gwangju/Korea 2012, der Prager Biennale 2005 und 2007, aber u. a. auch in Polen, Kanada, den USA und in Großbritannien zu sehen. Vertreten wird die Künst­lerin von der Berliner Galerie Kai Dikhas, die die erste Galerie für die zeitgenössische Kunst der ­Sinti und Roma ist. Delaine Le Bas zählt zu den herausragenden Künstler-Persönlichkeiten dieser Minderheit. Moritz Pankok


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Editorial

Inhalt

Neue Projekte

Wer in der letzten Ausgabe Texte vermisst hat, wird in dieser entschädigt. Der Streifzug durch unsere aktuellen Projekte, der d ­ ieses Magazin bestimmt, beginnt mit dem RomArchive und Förderprojekten, die sich ebenfalls mit der Kultur der Sinti und Roma beschäftigen. Manuel Gogos b­ efragt internationale Kulturschaffende nach ihrem Umgang mit Klischees und der Kontroverse darüber, wie die Selbstbehauptung einer diskriminierten ­­Ethnie funktionieren kann: Möchte man z. B. als Rom­ wahr­­genommen werden, der Künstler ist, oder lieber zu­­ allererst als Künstler, der (zufällig) Rom ist? (S. 18) Die ­literarischen Texte des aus Serbien stammenden und in Köln lebenden Jovan Nikolić sind eine mögliche Antwort darauf (S. 22).

Handtellergeschichten Gegenerzählungen von Sinti und Roma in den ­Wissenschaften und Künsten Seite 18

Der ­national­sozial­istische ­Völkermord an den Sinti und Roma Rajasthan Mindj Panther ­globale° – ­Festival für ­grenz­überschreitende ­Literatur 2016 Des­integration STADTLAND: Kirche Ellen Cantor Franz Marc – Der Turm der blauen Pferde Angezettelt Heiner Goebbels. Die Provinz des Menschen Möglichkeit ­Mensch

Kaum ist das Theatertreffen vorbei, sendet im Juni ein weiterer unserer Kulturellen Leuchttürme seine ­Signale. 2016 ist wieder Berlin Biennale-Jahr. Und wie immer gibt es um das Programm bis kurz vor dem Start viel Geheimnis und Rätselraten. Gregor Quack ist es gelungen, Lauren Boyle, Mitglied im vierköpfigen kuratorischen Team der 9. Berlin Biennale, die grundlegenden Ideen für das internationale Kunsthighlight zu entlocken und etwas über ihre New Yorker Sicht auf Berlin zu erfahren (S. 24). Ein dritter Leuchtturm ist der alle drei Jahre stattfindende Tanzkongress, dieses Jahr in Hannover. Er wird mit einer eigens dafür entwickelten Produktion des international gefeierten französischen Choreografen Boris Charmatz eröffnet, den Margarita Tsomou für dieses Magazin interviewt hat (S. 40). Literaturfestivals sind heutzutage fast immer international ausgerichtet. So auch die gobale° in Bremen und Umgebung, deren Spezialität es ist, Autor/innen zu präsentieren, die auf Deutsch schreiben, auch wenn es nicht ihre Muttersprache ist. Wir haben drei von ­ihnen gefragt, wie man sich über sprachliche oder kulturelle Grenzen hinweg verstehen und verständigen kann. Marica Bodrožić, Nicol Ljubić (beide aus Ex-Jugoslawien) und Marjana Gaponenko (aus der Ukraine) haben sehr unterschiedliche, sehr persönliche, sehr originelle literarische Antworten gegeben (S. 27–30). »Identität« ist in Zeiten von Migration, Globalisierung und Pluralisierung zu einem Leitbegriff kultureller Selbstbestimmung geworden. Wie steht es um die ­kul­turelle »Identität« von Juden, die aus ganz ver­schie­ denen Ländern nach Deutschland gekommen sind oder aktuell aus Israel besonders gerne nach Berlin ziehen? Wir haben Vertreter/innen einer jungen Generation ­gefragt, was es heißt, als Jüdin und Jude in Deutschland zu leben, das sich einiges auf seine Erinnerungskultur zugutehält (S. 31). Schließlich schreibt der Kulturwissenschaftler ­Kenneth Anders über die Umdeutung des Landes in »Landschaft«, wenn es mit dem Blick des Städters betrachtet wird (S. 43). Ein grundlegender und dennoch sehr ­anschaulicher Text für alle, die von Transformations­ prozessen in ländlichen Regionen betroffen sind und sie gestalten wollen – wie wir in unserem neuen großen Programm TRAFO. Zwei noch geradezu unerhört junge Dichterinnen, Sirka Elspaß und Christiane Heidrich, stellen wir Ihnen auf den Seiten 39 und 45 vor. Sie haben seinerzeit an einem von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Lyriker/innen-Netzwerk (»babelsprech«) teil­genommen. Wahrscheinlich hören Sie hier das erste Mal von ihnen, sicherlich aber nicht das letzte Mal. Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz Vorstand Kulturstiftung des Bundes

Die Schaukel. In Erinnerung an meine Mutter Die gestörten­ demo­­kratischen ­Verhältnisse in ­meiner Familie Zwei Erzählungen von ­Jovan Nikolić Seite 22 Kunst im Duty-free-Shop? Ein Gespräch mit Lauren Boyle vom kuratorischen Team DIS über die 9. Berlin Biennale Seite 24 Die Arbeit der Vögel von Marica Bodrožić Integrationscheck mit dem Vater von Nicol Ljubić Vom ­Lite­raten zum ­Telepathen von Marjana G ­ aponenko Seite 27 »Ich reise auf meiner ­Jiddischkeit, wohin ich will …« Sasha Marianna Salzmann und Max Czollek ­ über j­üdische Identitäten in Deutschland Seite 31

Wir nennen es Ludwig Rilke und Russland ICH

Neue Projekte Seite 35 Gedichte von Sirka Elspaß und Christiane Heidrich Seiten 39/45 Tänzer statt Soldaten oder Gesten ­gegen die Angst Boris Charmatz über neue Erfahrungsräume für den Tanz Seite 40 Das Schuldbewusstsein im Raum Über Ländlichkeit und Landschaft von Kenneth Anders Seite 43

Körper und Bühnen Influenza My Truth / Wie viele ­Wahrheiten ­passen in einen ­Menschen? Freispiel 2016 – still Bang on a Can @ Villa Musica Happy Hunting Ground Projeto Brasil Walls – ­Iphigenia ­in Exile Tanz und Theater

Neue Projekte Seite 46 Gremien & Impressum Seite 50

Khaos ­Borderlines Human Trade Network / »It’s all about food.« ­Wirklich? Asyl des müden Europäers LiteraTurm 2016 Our Common F ­ utures

Sisters in African Cinema


HAND t e l l e r G E SCHICH T E N

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Gegenerz채hlungen von Sinti und Roma in den Wissenschaften und K체nsten


19 »Der Diskurs der Macht erzeugt Un­geheuer.« (Michel Foucault) Die Lebenslinie von Europas Roma ist tausend Jahre lang. Ebenso lang, wie die Roma Opfer von Projektionen waren, durch den »bösen Blick« von Nicht-­ Roma erschaffen. Heute schauen Roma zurück, artikulieren sich in der Wissenschaft, der Schriftstellerei, der Bildenden Kunst. Bewaffnet mit postkolonialer Theorie entscheiden sie nun selbst, wie sie sich inszenieren, wie sie in Erscheinung treten möchten. Und sei ­es als Wahrsagerin, die dem Finanzmarkt das Schicksal aus der Hand liest. Der Autor Manuel Gogos im Gespräch mit der amerikanischen Theoretikerin Ethel Brooks, dem englischen Künstler Daniel Baker, der un­garischen Kunsthistorikerin Tímea Junghaus, der Musikethnografin Petra Gelbart und dem Sinto-­Musiker und -Aktivisten Romeo Franz.

­Deconstructing the Gypsy Manuel Gogos: Der »Zigeuner« ist eine europäische Erfindung. Lasst uns etwas auf die Archäologie dieser Bilder schauen und sie gemeinsam dekon­struieren: diese Projektionen von wilden Männern, ­lockenden Weibern und verlumpten, aber glücklichen Kindern. Damit kamen den Roma lange in etwa dieselben ­Attribute zu wie den afrikanischen und asiatischen »Primitiven« im kolonialen und ethnografischen Diskurs: Ist die Geschichte der Roma in Europa die Geschichte einer »inneren Kolonisierung«? Romeo Franz: Sie waren eine Randgruppe, wie unter anderem die Juden. Der Antiziganismus ist heute schon über 500 Jahre alt, seitdem gehört er zu Europa. Das Konstrukt des »Zigeuners« ist ja nur ein Abziehbild von schlechten Sitten, ein Hologramm der Unzivilisiertheit. Und für die Mehrheitsgesellschaft eine Warnung, sich anzupassen. Daniel Baker: Ich denke, diese Idee des »Anderen« als Sammelsurium von Ängsten und Sehnsüchten ist vieldeutig. Tatsächlich glaube ich, diese Kolonisierung funktionierte eigentlich wie eine Projektion. Durch verschiedene Mittel haben die Roma sich ja auch selbst von der Mehrheitsgesellschaft unterschieden. Dadurch haben sie eine Art Projektionsfläche abgegeben, auf die wiederum andere ihre Vorstellungen projizieren konnten. Tímea Junghaus: Aus kunsthistorischer Perspektive lässt sich das bestätigen. Im Panoptikum der Moderne sieht man: Die Künstler Zentraleuropas hatten es nicht nötig, nach Haiti zu fahren. Eben wegen dieser Charakteristika der Roma, der dunkleren Haut, den schwarzen Haaren, der abweichenden Kleiderordnung, besuchten die Künstler einfach die »Kolonie«, die ihnen am nächsten lag: die Roma-Siedlung. Da hatten sie ihre »Primitiven«. Petra Gelbart: Ich mag wirklich Daniels Idee von dieser reinen Projektionsfläche, die die Roma für die Mehrheitsbevölkerung darstellen. Aber aus der Perspektive der Musikwissenschaft gibt es da vielleicht eine gewisse Spannung. Viele Roma-Musiker, wenn nicht die Mehrheit, identifizieren sich selbst mit eben diesen Stereotypen. Sie sagen: Ja, wir sind eben heißblütig, wir sind leidenschaftlich, das macht gerade unsere Stärke aus! Und das gilt für so verschiedene Musikstile wie Flamenco, der wirklich kaum ohne diese emotionale Komponente gespielt werden kann; aber das gilt eben genauso für Gypsy Jazz, der musikalisch wirklich auf einem völlig anderen Blatt steht. So unterschiedlich sie klingen, so ähnlich wird darüber geredet.

Ethel Brooks: Es gibt wirklich starke Parallelen zum Kolonialismus. Und auch zum Orientalismus. In dem Sinne, wie Edward Said darüber schreibt, dass der Orientalismus wenig mit dem sogenannten »Orient« zu tun hat, dafür umso mehr mit unserer eignen Welt, dem »Westen«. Das ist wirklich wichtig. All diese Projektionen haben mehr mit den Nicht-­Roma, den Gadsche zu tun, als mit den Roma, mit uns. Dass diese Projektionen ein Teil unseres Verhältnisses zueinander geworden sind, das ist eigentlich das Verrückte.

Landkarten, Handkarten Manuel Gogos: Ethel, du hast beim Festival »Former West« im Haus der Kulturen der Welt im Jahr 2013 gemeinsam mit Daniel das Panel »A Roma Model / The Cosmopolitan Other« bestritten. Teil dieser Lecture-Performance war es, dass du, Ethel, aus der Hand gelesen hast, und du, ­Daniel, hast die Tarotkarten gelegt. Dieser performative Rückgriff auf das Klischee der Weissagungen – ist das eine kritische, auch postironische Form der Wissens­ produktion? Daniel Baker: Bei diesem speziellen Ereignis ging es darum, die Bildwelt der Vorhersage auf eine Spekulation über die Entwicklung der Finanzmärkte zu übertragen. Wir haben diese Bilder also einerseits als ­Referenz für die traditionellen Formen der Wissensproduktion der Roma selbst benutzt, zugleich aber als Hinweis auf die Mechanismen der Diskriminierung. Ethel Brooks: Das Hauptaugenmerk liegt für mich auf den verschlungenen Wegen der Wissensproduktion. Sei es bei Vorhersagen für die Finanzmärkte, aber ebenso bei der Ausdeutung der Vergangenheit wie in der Psychoanalyse: Im Herzen all dieser Wissensformen steht immer die Prophetie. Was ich wirklich faszinierend und »sprechend« fand, war der Furor, den wir damit auslösten. Da gab es auf der einen Seite diese Roma-Aktivisten, die sagten: »Ihr benutzt all diese stereotypen Bilder, damit schadet ihr unserer Sache!« Und auf der anderen Seite diese schrecklichen Leute, die sagten: »Ihr seid einfach magische Menschen, aber ihr verkauft eure Magie aus ...«

Storytelling Manuel Gogos: Das Klischee sagt, die Roma sind die Hüter des Geheimnisses, aber sie seien ohne historisches Bewusstsein – mit der Sorglosigkeit von Kindern lebten sie in den Tag hinein. Auch wenn ihre Kultur lange schriftlos war: Sind die Roma nicht im Gegenteil sehr traditionsbewusst? Ist das Storytelling nicht bloß eine alternative Form der Überlieferung? Oder ist das Storytelling am Lagerfeuer wieder bloß ein Klischee? Daniel Baker: Vielleicht ist das Storytelling ein Klischee, vielleicht auch nicht. Es hat schon eine historische Relevanz, einfach wegen der, sagen wir lieber: Nichtabhängigkeit der Roma vom geschriebenen Wort. Man kann natürlich sagen »illiterat« oder »schriftlos«. Aber in unserer Art der Kommunikation waren wir eben mehr damit beschäftigt, durch visuelle und performative Formen Bedeutung zu generieren. So würde ich sagen: Der Gypsy als Geschichtenerzähler – das ist ein Klischee, aber eines, das seinen Grund hat in einer sehr alten Tradition, einer alltäglichen Praxis. Stereotype werden von außen an eine Gemeinschaft herangetragen. Aber Symbole können auch innerhalb der Gemeinschaft ihre Bedeutung entfalten. Dazwischen verläuft nur eine feine Linie.

Fahrendes Volk? Manuel Gogos: Die Roma kamen am Vorabend der Neuzeit in Europa an, in einer Zeit also, da sich die Nationen langsam zu formieren begannen und wo die Verbindung von Land/Herkunft und Identität immer enger wurde. Diese Fremden, die da nun auftauchten, erho-

ben keinerlei Anspruch auf eigenes Land und auch nicht darauf, eine eigene »Nation« zu sein. Aber sie waren Grenzüberschreiter, Transnationalisten par excellence. Woran lag eigentlich das Ärgernis der Einheimischen, der Sesshaften? Petra Gelbart: Ich möchte die Frage umdrehen: Was ist für die Bevölkerungsmehrheit so lästig an der Tatsache, dass die allermeisten der Roma längst selbst sesshaft geworden sind? Ich komme aus Zentraleuropa, entstamme selbst einem Mix aus verschiedenen Roma-Kulturen. Einige davon folgten einem nomadischen Lebensstil, aber das war die absolute Ausnahme! Wir zählen 10 bis 12 Millionen Roma in Europa, wir sind die größte Minderheit, und gerade Zentraleuropa ist eine Region, wo Millionen und Abermillionen Roma leben, und zwar über Jahrhunderte am selben Ort. Und doch wird das ausradiert aus dem Diskurs. Romeo Franz: Vor zweihundert Jahren hatten meine Urururgroßeltern schon ihre Häuser. Das zeigt für mich, dass da immer schon der Drang war, Heimat auszubilden, sich zu verwurzeln. Das war der Anspruch. Unsere Identifikation ist sehr groß. Mein Großvater hat im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft. Wir sind sogar regionalpatriotisch, wir sind »preußische Sinti«. Ethel Brooks: Ich denke, in unserer Arbeit geht es auch darum, uns diese Geschichte der Mobilität, diese »nomadische Sensibilität« zurückzuerobern. Aber eben als komplexe Geschichte, mindestens so komplex wie die Geschichte Amerikas. Tímea Junghaus: Es ist schon eine großartige Chance, diese Geschichte jetzt aus unserer Sicht zu reformulieren. Dieses sogenannte nomadische Experiment heißt historisch ja vor allem das Durchlaufen verschiedener kleinerer und größerer Genozide: flüchten, sich verstecken, weiterziehen, wieder zum Opfer werden usf.

Im Schutz der Bäume Manuel Gogos: Jahrhundertelang nahmen die Roma Zuflucht zu den Wäldern. Die galten den Menschen in der »Zivilisation« der Dörfer und Städte als unübersichtlich, gefährlich. Die berühmte polnische Roma-Lyrikerin Bronisława Waj (Papusza) hat einmal geschrieben: »Niemand versteht mich, niemand als die Wälder und Flüsse ...« War das Leben draußen wirklich Ausdruck einer besonderen Naturverbundenheit der Roma? Oder war auch der Wald eigentlich eher eine Zuflucht, muss also auch diese ­Beziehungsgeschichte eigentlich politisch gedeutet werden? Ethel Brooks: In einem tiefen Sinn ist der Wald tatsächlich ein Versteck gewesen. Außerdem durften Roma kein Land besitzen. Ob im Habsburgerreich, in Spanien, Frankreich oder England, überall gab es diese Restriktionen. Wo sollten sie also sonst hin? Und was war ihnen überhaupt erlaubt, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Meine Mutter wuchs mit Pferden auf, sie schlief im Stall oder auf dem freien Feld, bis zu ihrem Tod hat sie eine Nostalgie für diese Lebensform empfunden. Aber der Grund dafür war keine besondere mystische Verbindung zur Natur; es war einfach das, wovon ihre Familie lebte.

Künstler-Bohème Manuel Gogos: Es gibt diese Negativkonnotationen der Roma. Umgekehrt identifizierten sich auch viele mit ihnen. Die Hippies träumten von der Lagerfeuerromantik dieser »europäischen Indianer«. Und auch die antibourgeoisen Affekte vieler Künstler schienen dem Lebensstil der »Bohemiens« zu entsprechen. Ein Beispiel wäre die Zigeunerromantik à la Achim von Arnims »Isabella von Ägypten« oder Federico García Lorcas »Poema del c­ ante jondo«. Sind das Formen der Anerkennung? Oder doch »positive Diskriminierung«?


20 Ethel Brooks: Es ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, genauer der romantischen Periode. Und die ist absolut symbiotisch verbunden mit diskriminierendem Rassismus. Ich liebe García Lorca, seine Zigeunerromanzen sind in vielerlei Hinsicht wunderschön. Aber es ist immer noch eine Inbesitznahme des Labels »Zigeuner«. Es ist dasselbe, was zuletzt in dem Song »Drunk in Love« von Beyoncé passiert, wo sie einfach die Stimme der ungarischen Roma-Sängerin Mitsou reingesampelt hat.

Daniel Baker: Ich denke, es gibt Gelegenheiten, wo die Selbstdefinition als Roma-Künstler nützlich ist, und andere, da ist sie nicht so nützlich. Ich habe das oft mit anderen Künstlern diskutiert. Natürlich versucht jeder von uns, erst mal so viel Aufmerksamkeit zu erregen wie möglich. Und wenn so eine Selbstetikettierung dabei hilfreich ist, dann ist das o.k., jedenfalls für mich. Die Etikettierung kann nützlich sein. In jedem Fall ist es aber eben genau das: nur ein Etikett.

Manuel Gogos: Roma werden gern als »geborene Musiker« apostrophiert. Dabei wird unterschlagen, dass musikalische Meisterschaft die Frucht harter Arbeit ist. Da gibt es eine Menge Geschichten, wie die des »begnadeten« Gitarristen Django Reinhardt, der von einer Wohnwagensiedlung bei Paris den europäischen Jazz begründet hat. Oder auch die Erfolgsgeschichte der Gypsy Kings. Woher kommt diese besondere Verbindung zur Musik, wie sie auch in den Klischees von der schönen Carmen oder den ungarischen Csárdás-Geigern anklingt?

Zigeunerbarock

Romeo Franz: Ich muss sagen, ich kenne mehr unmusikalische Sinti und Roma als musikalische. Wir kommen ja nicht mit einem Instrument in der Hand zur Welt. Uns prägt einfach das Umfeld. Ich selbst spiele Geige und Klavier. Meine erste Band war ein altmodisches Tanzorchester, wir machten eine Art »Dinner-Musik«. Später habe ich dann ­meine erste Sinto-Band gegründet, aber wir spielten nicht den ungarischen Csárdás. Die deutsche Sinti-Musik ist eher angelehnt an Django, also Richtung Caféhaus-Musik oder Swing. Nicht dass Sinti und Roma gute Musiker sind, ist eigentlich bemerkenswert, sondern die maßgebliche Beeinflussung berühmter Komponisten wie Liszt oder Brahms durch Roma-Komponisten. Das zeigt, wie die Kultur der Minderheit der ganzen Gesellschaft wichtige Impulse gibt. Daniel Baker: Die Musik ist die ikonische Kunstform der Roma, innerhalb wie außerhalb der Community weithin akzeptiert. Aber es ist eben nur ein Aspekt ihres Beitrags zur Gesellschaft. Diese Idee, dass ein Roma-Leben unzertrennlich mit dem kreativen Prozess verbunden wäre, in der Musik ist das sehr lebendig, in anderen Bereichen aber fast nicht existent.

Selbstartikulationen in der Kunst Manuel Gogos: Aber auch in der zeitgenössischen Kunst werden die Roma zunehmend sichtbar. Auch ihren medialen Gegenentwürfen werden immer mehr Bühnen bereitet, Räume geöffnet. Geht es ihnen darum, mit den eigenen Inszenierungen in Erscheinung zu treten, den eigenen Epiphanien?

Manuel Gogos: Matéo Maximoff, einer der ersten Roma-­ Romanciers – man hat ihn auch als ­»kulturelles Gedächtnis der Roma« bezeichnet – b­ eschreibt in seinem Roman »Die Ursitory« eine Gesellschaft, die nach eigenen Gesetzen und Werten funktioniert. Außenstehenden schien dieses Leben lange äußerst geheimnisvoll. Daniel, du bist selbst ein Künstler, der mit den einschlägigen Symbolen wie »Rosen«, »Hähnen« oder »Wohnwagen« spielt. Wollen diese geheimen Zeichen dechiffriert werden? Oder sind sie bloß das Dekor, unter dessen Oberfläche sich deine politische Botschaft verbirgt? Daniel Baker: Meine Arbeiten der letzten 10 bis 15 Jahre beziehen sich auf etwas, das ich »Roma-­Ästhetik« nenne. Das geht auf meine eigenen Anfänge als Künstler zurück, auf das, womit ich schon als Kind umgeben war, diese spezifische Dingwelt im Wohnzimmer meiner Familie, die irgendwie »beredt« war und Auskunft gab über die kulturellen und sozialen Werte meiner Gemeinschaft. Das hat Einfluss auf meine Arbeit gehabt, bis heute. Ich möchte verschiedenen Publikumskreisen Einblick verschaffen in diese Roma-Ästhetik, um damit auszuloten, welche Kraft ihr innewohnt, die breite Kultur zu beeinflussen. Mein modus operandi ist also eigentlich die »Infiltration«.

bereich der Nationalsozialisten haben höchstens zehn Prozent überlebt. Ohne Zweifel ist von einem Völkermord zu sprechen. Und doch wurde bis weit in die Nach­ kriegszeit geleugnet, dass es sich um eine rassische ­Verfolgung handelte. Es geht also nicht nur um die Verfolgung durch die Nazis, sondern zugleich um die Verdrehung der historischen Tatsachen und die Verdunkelung der NS-Verbrechen nach 1945? Romeo Franz: Der Rassismus, in dem nationalsozialistische Pseudowissenschaftler wie Eva Justin oder Dr. Robert Ritter quasi die rassentheoretische Grundlage für die ganze Vernichtung ersonnen haben, der geht nach 1945 eigentlich nahtlos weiter. Denn da saßen die Opfer wieder ihren Tätern gegenüber. Eva Justin stellte bis 1962 im Dienste der Stadt Frankfurt Feldforschungen über die Sinti und Roma an. Manuel Gogos: Du hast am Denkmal zum G ­ enozid an den Sinti und Roma mitgewirkt, mit deiner Komposition/Klanginstallation »Mare Manuschenge« / »Unsere Menschen« – einer ­Arbeit, die auch unmittelbar mit dem Schicksal ­deiner Mutter und deiner Großmutter zu tun hat. Romeo Franz: Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma, hat mich im Jahre 2012 angerufen, man suchte damals einen Geiger, der sollte für das Denkmal genau einen Ton einspielen. Ich hab das versucht, konnte aber diesen Ton irgendwann nicht mehr aushalten. Stattdessen habe ich dann einen Pfiff nachgespielt, mit dem die Sinti nach ihren Kindern pfeifen. Den kennt wirklich jeder von uns, das ist so etwas wie ein Erkennungszeichen, ein Ruf. Den hab ich dann auf die Zigeunermolltonleiter gesetzt. Kurz vor der Fertigstellung des Mahnmals habe ich mich dann mit Dani Caravan, dem israelischen Architekten des Mahnmals, auf der Baustelle verabredet, und der meinte nur: »Das ist es!« Für mich war das vielleicht das Bedeutendste, was ich in meinem Leben gemacht habe.

Das Lager Manuel Gogos: Eines der Leitmotive eurer aktuellen Kunstund Theorieproduktionen ist ja die Exterritorialität, die Neukartierung, aber auch: das Leben in einem Lager. Historisch waren das die Roma-Ghettos, aber auch die Sklavenviertel, und dann: das Konzentrationslager. Aber ist das nicht noch immer Teil der heutigen Lebenserfahrung allzu vieler Roma? Deportiert zu werden? Als displaced persons in einem Lager zu leben? Petra Gelbart: Egal, wo und wie Roma wirklich leben: Immer soll es ein Lager sein! Millionen von ihnen leben überall, in Städten und Wohnungen, nur nicht in einem Lager!

Tímea Junghaus: Unsere European Roma Cultural Foundation hat in Budapest einen Ort für Gegenwartskunst der Roma eröffnet, genau in ­einer politischen Situation, als Ungarns Roma tatsächlich kein anderer Ort mehr offenstand. Die Gallery 8 wurde damit zugleich zu einem Ort politischer Intervention, an dem es galt, ihre Selbst­ entwürfe in die Kunst einzuführen, nicht bloß im Dienste ihrer eigenen Community, sondern auch im Rahmen des europäischen Kunstkontexts.

Daniel Baker: Trotzdem, es gibt so etwas wie eine Sehnsucht nach dieser Form des Zusammenlebens. Das ist ja die andere Seite des Camps. D ­ iese Aspiration, das gemeinschaftliche Leben wäre e­ twas Lebendiges, Dynamisches. Und auch darin geht die Diskriminierung weiter. Wenn bei uns in England jemand sein Land nutzen will, um da Wohnwagen für Urlauber hinzustellen, wird man es ihm erlauben. Wenn aber die Gypsies dasselbe wollen, dürfen sie es nicht.

Ethel Brooks: Für unser Grazer Ausstellungsprojekt »Have a Look Into My Life« wurden alle möglichen Leute befragt: Welche Worte des Romanes sind dir die wichtigsten, welche sind Schlüsselbegriffe? So ging es auch um die Wiederaneignung der Sprache. Um die Rückeroberung der Bildwelt, aber ebenso um die Rückeroberung der Sprache.

Ethel Brooks: Ich schreibe gerade ein Buch über das Lager (Camp). Darin geht es auch darum: das Lager wieder zu übernehmen. Ich nutze das Wort »Lager« ganz bewusst. Es geht darum, ein Stück Geschichte der Roma abzustecken. Und das »Zigeunerlager« steht nun mal gegen die Monumentalität der Nation.

Manuel Gogos: Eine wichtige, komplexe Frage erscheint mir auch die nach der Ethnizität in der Kunst: Wenn Roma-Künstler und Intellektuelle wie Gabi Jiménez oder Damian Le Bas sich dezidiert als Roma-Künstler verstehen: Besteht da nicht eine gewisse Gefahr, sich in der Kunst selbst zum »Anderen« zu machen?

Porajmos (Genozid) Manuel Gogos: Über Jahrhunderte waren ­Sinti und Roma Vertreibungen ausgesetzt, der Marginalisierung und Diskreditierung, und dann auch der biologischen Vernichtung. Von insgesamt 500.000 Sinti und Roma im Macht-

Der Künstler, Kurator und Wissenschaftler Daniel Baker wurde in Kent, Großbritannien, geboren. Er promovierte über »Roma-Ästhetik« am Londoner Royal College of Art und wirkte als Künstler und Berater an den ersten beiden Roma-Pavillons der Biennalen von Venedig 2007 und 2011 mit. Ethel Brooks lehrt an der Fakultät für Frauen- und Gender-Studien und Soziologie der Rutgers University, USA. 2007 erschien ihr Buch »Unraveling the Garment Industry«, in dem sie sich mit Frauenarbeit in der globalisierten Wirtschaft befasst. Am 11. Januar 2016 berief Barack Obama Ethel Brooks in den U.S. Memorial Council. Sie sitzt im Beirat von RomArchive. Romeo Franz setzt als Violinist und Pianist die Musiktradition deutscher Sinti fort. Für das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma ­Europas in Berlin komponierte er die Klanginstallation »Mare Manuschenge«. Romeo Franz setzt sich in verschiedenen Funktionen für die Belange der Sinti und Roma in Deutschland ein. Die Musikerin, Wissenschaftlerin und Aktivistin P ­ etra Gelbart kombiniert Roma-Gesangstraditionen mit Elementen anderer Genres. Sie promovierte an der Harvard University mit einer musikethnologischen Studie und arbeitet zurzeit am Aufbau eines Zentrums für die Musik der Roma an der New York University. Petra Gelbart ist Kuratorin für Musik bei Rom­ Archive. Sie lebt in den USA und Tschechien. Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Tímea Junghaus ist Herausgeberin der umfassenden Publikation zur z­eitgenössischen Bildenden Kunst der Roma »Meet Your Neighbours« (2006). 2007 kuratierte Junghaus den ersten Roma-Pavillon der 52. Biennale von Venedig. Sie ist Gründungsdirektorin der in Budapest ansässigen European Roma Cultural Foundation. Manuel Gogos ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Er arbeitet als Literaturkritiker (Tagesspiegel, NZZ), Feature-­ Autor (WDR, Deutschlandradio) und Dokumentarfilmer (3sat, Arte). Gogos ist spezialisiert auf die Musealisierung von Migrationsbewegungen. Dafür hat er als Sohn eines griechischen Gastarbeiters auch ein biografisches Motiv.


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RomArchive Digital Archive of the Roma | ­ igitales Archiv der Sinti und D Roma | Romano Digitalno ­Archivo

Die Kulturstiftung des Bundes fördert fünf Jahre lang den Aufbau eines internationalen digitalen Archivs für Kunst der Sinti und Roma mit 3,8 Mio. Euro. RomArchive kontrastiert Stereo­ typen mit Fakten und einer von Sinti und Roma selbst erzählten G­­e­schichte. ­Ein internationales Kuratorenteam ist für die ­Inhalte verantwortlich, ein internationaler ­Beirat für die S ­ trategie. 2018 geht R ­ omArchive mit einer ex­ emplarischen ­Auswahl der ­wichtigsten ­künstlerischen Positionen aller Sparten sowie wissenschaftlichen Beiträgen zur Bürgerrechtsbewegung und Selbstzeugnissen zur NS-Verfolgung online. Rahmenveranstaltungen und Blog begleiten die Aufbauphase (­ 2015–2018). Von Beginn an stehen dem P ­ rojekt die European Roma C ­ ultural Foundation und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma beratend zur Seite. Auch das Goethe-­Institut und die Bundeszentrale für politische Bildung be­ teiligen sich an der Förderung von ­Rom­Archive. Die Stiftung Deutsche Kine­mathek ist Kooperationspartner und mit der technischen Umsetzung betraut. Um Rom­Archive inter­national zugänglich zu machen, wird es mehrsprachig aufgebaut. Neben Deutsch und Englisch verwendet das Archiv Romanes. 2019 übergeben die Initiatorinnen Isabel Raabe und Franziska Sauerbrey RomArchive an eine eu­ ropäische Roma-­NGO. ­Weitere Infos ­unter: ↗ www www.kulturstiftung-bund.de/romarchive, facebook.com/Romano­Archive und twitter.com/RomArchive

Außerdem fördert die Kulturstiftung des Bundes folgende Projekte zur Kultur und Geschichte der Sinti und Roma:

Der nationalsozia­ listische ­Völkermord an den Sinti und Roma Geschichte – Dimension – ­Erinnerung

Bis zur Anerkennung des Völkermords an den Sinti und Roma in Deutschland war es ein langer Weg. Erst 2012 wurde das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma eröffnet. Heute sind sie diejenige ethnische Minderheit in Deutschland, die am meisten gruppenbezogene Feindschaft auf sich zieht. Eine transportable Ausstellung im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg will durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte den Blick auf die Gegenwart schärfen und den Dialog zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft anstoßen. Das

Zentrum beleuchtet Stereotypisierung und Antiziganismus in der S ­ prache und rassistischen Bildern. Der Schwerpunkt der Ausstellung ist dem Völkermord in der Zeit des Nationalsozialismus gewidmet. Den D ­ okumenten der Nationalsozialisten ­werden Zeugnisse, Berichte und private ­Fotos der Sinti und Roma gegenübergestellt. Weiterhin beschäftigt sich die Ausstellung mit ideologischen Kontinuitäten vom Nationalsozialismus bis heute, der späten Anerkennung des Völkermords und diesem als prägendes Moment der Identität. Thematisiert wird ebenfalls die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma und der heutige Antiziganismus. Die gesamte Ausstellung wird in zwei Versionen, auf Deutsch und Englisch, produziert und durch multimediale Angebote ergänzt: Die Ausstellungstexte sind auf dem ­Smartphone abrufbar. Auch eine Online-Version der Ausstellung ist vorgesehen. Künstlerische Leitung: Reinhold Lagrene Projektleitung: Frank Reuter Dokumentationszentrum Reichspartei­tagsgelände Nürnberg: April 2017; NS-Dokumentations­ zentrum der Stadt Köln: Eröffnung 7.7.2017; weitere ­Stationen in Planung ↗ www.sintiundroma.de

Rajasthan Musikperformance von Marc Sinan Company und den ­Dresdner Sinfonikern

Der Gitarrist Marc Sinan hat in den letzten Jahren mehrere multi­mediale Produktionen zu aktuellen ­politischen ­Themen entwickelt und komponiert. In seiner preisgekrönten Produktion »Dede Korkut«, für die er sich auf eine ­musik­ethnologische Spurensuche nach ­Zentral­asien begab, greift er einen der bedeutendsten Stoffe der türkischen Literaturgeschichte auf und schlägt den Bogen zur aktuellen Problematik von Hass und Ausgrenzung. Für sein ­neues Projekt unternimmt er eine musikalische Recherche in den Bundesstaat Rajasthan im Nordwesten Indiens. Die Region gilt als Ursprungsort des Volkes der Sinti und Roma. Begleitet wird Marc Sinan u. a. von den bildenden Künstlern Delaine & Damien Le Bas, die das spätere Bühnenbild entwerfen, sowie der tschechischen Sängerin, Schauspielerin und Geigerin Iva Bittová. Die Reise ist für die Künstler/innen zum Teil eine Auseinandersetzung mit ihren eigenen kulturellen Wurzeln wie auch eine Möglichkeit der musikalischen Begegnung und des Austauschs. Marc Sinan komponiert auf der Grund­lage seiner musikalischen Recherche eine multimediale Musikperformance über die Kultur der Sinti und Roma. Die Pro­duktion wird Musik, Tanz und Theater, ­Bildende Kunst und Videokunst sowie traditionelle indische Volksmusik mit zeit­ genössischen musikalischen Einflüssen verbinden. Aufgeführt wird die Musikperformance von der Marc Sinan Com-

pany gemeinsam mit den Dresdner Sinfonikern und weiteren Künstler/­ innen. Die Dresdner Sinfoniker, mit denen der Komponist in der Ver­ ­ gangenheit ­bereits erfolgreich zusammengearbeitet hat, gehören zu den führenden Sinfonieorchestern für zeitgenössische Musik. Künstlerische Leitung, Komposition & Gitarre: Marc Sinan Violine, Stimme & Performance: Iva Bittová (CZ) Bühnenbild & ­Videoinstallation: Damian & Delaine Le Bas (GB) Musik: Marc Sinan ­ äste aus Indien Company Berlin & G Orchester: Dresdner Sinfoniker & No Borders ­Orchestra (RS) D ­ irigent: Premil Petrović (RS) Produzent: Markus Rindt HELLERAU, Dresden: Frühjahr 2017, weitere Aufführungen in Berlin, Pécs, Bukarest und Belgrad ↗ www.marcsinan.com

Mindj Panther Roma Armee

Die Geschichte der Roma ist eine von Verfolgung, Ausgrenzung und Diskriminierung. Die Anerkennung des Völkermords während des Nationalsozialismus erfolgte spät. Auch heute werden Roma Opfer von Hassverbrechen in Ungarn, Tschechien oder Deutschland. Antiziganistische Bilder werden in den Medien re­ produziert und ein Diskurs über ­vermeintliche Armutsmigrant/innen schürt Ressentiments. Das Maxim Gorki Theater Berlin will in diese rassistischen ­Projektionen der Mehrheitsgesellschaft intervenieren und Roma in künstlerischen Werken sichtbarer machen. »Mindj Panther – Roma Armee« ist Manifest, Theaterstück, Selbstermächtigung und Angriff. »Mindj« bedeutet auf Romanes »Pussy«, und so spielt der Titel sowohl auf Pussy Riot als auch die Black Panther an. Die Idee des Stücks geht auf die ­S chwestern Simonida und Sandra ­Selimović zurück. Die beiden Romnija aus Serbien leben in Österreich und orientieren sich in ihren Aktionen an der Wiener Gruppe, sie arbeiten situationistisch und aktionistisch. Gemeinsam mit der israelischen Regisseurin Yael Ronen sowie weiteren Roma-Schauspieler/innen entwickeln sie das Stück. Nach Recherchen wie dem Besuch historischer Orte oder von Gerichtssälen, in denen über die Abschiebung von Roma-­Familien befunden wird, entsteht im kollektiven Arbeitsprozess nach und nach die »Roma Armee«. Künstlerische Leitung: Yael Ronen (IL) Künstler/innen: Simonida Selimović (CS), Sandra Selimović (CS) u. a. Dramaturgie: Irina Szodruch Maxim Gorki Theater, Berlin: 1.1.2016–8.4.2017 ↗ www.gorki.de


22 Zwei Erzäh­ lungen von Jovan Nikolić

DIE SCHAUKEL In Erinnerung an meine Mutter Ich habe zwei Saiten in der Höhe aufgespannt und halte mich daran fest. Saiten, an denen jetzt ­meine freudige Angst und mein Freund, der Wind, spielen. Ich schaukele frei in der Luft und hebe mich, der Schwerkraft trotzend, von der Erde empor. Ich beuge mich vor, hinter mir pfeift die Luft wie ein Kometen­schweif, und dann stürze ich mich kopfüber von ­einem Punkt des Bogens hinunter und fliege zu einem anderen Punkt, der mich ruft, dahin zurück, wohin mein Rücken zeigt. Und das ist wahre Zauberei, denn rückwärts fliegen können nicht einmal die Vögel. Ich fliege wie Alice im Wunderland und verbinde diese beiden Punkte: der eine vorn und der andere, sein Zwillingsbruder, hinter einem unsichtbaren Spiegel in der Luft, aus dem ich gleichsam ständig heraus- und wieder hineinfliege. Bei jedem Flug nach oben, unten oder zurück empfinde ich irgendwo in der Bauchnabelgegend ein unbeschreibliches Vergnügen, von dem ich fast nicht weiß. Ein Vergnügen, an das sich mein Körper noch von der Wiege her erinnert, als mich, das Neugeborene, die Hände meiner Mutter in den Schlaf schaukelten. Wenn ich jetzt vor und zurück schaukele, habe ich kein Bedürfnis zu schlafen, weil ich mich schon wie im Traum fühle. Genauer: Während ich schaukele, verfalle ich ununterbrochen ins Träumen, aber ich fliege wach, mit weit geöffneten Augen durch die Träume. Jeder, der wachträumen und zu den Quellen seiner Freude zurückkehren möchte, wie die Donau in die Brigach und die Breg und vielleicht auch in die Musel in Bad Dürrheim (beziehungsweise den eigenen Seitenarm) fließt, möge sich mir anschließen und auf den Saiten meiner Schaukel in die Seitenarme seiner frühesten Erinnerung fließen, ohne Rücksicht auf das Alter. Bisweilen, wenn ich kräftig ausschlage, ergreift mich eine angenehme Angst, mit den Schwüngen die Scheitelpunkte der Bewegung zu überschreiten, durch das Gewicht meines Körpers auszuscheren und ins Unbekannte zu entfliegen. Diese Angst vorm Fliegen ist nicht panisch, sie weckt nur Sehnsucht nach jener lange vergessenen Zeit, da jeder Mensch wirklich fliegen konnte – wenn er sich bloß erinnern würde, dass er es irgendwann konnte. Ich schaukele, vor und zurück, und noch einmal und noch einmal, mit jedem Schwung atme ich kräftig ein, und auch die Luft scheint mich einzuatmen. Und wieder ergreift mich ein süßer Schauder davor, dass mich diese zyklische Bewegung für immer bezwingen könnte, dass ich nach einem ganzen, einem vollen Kreis für immer ein kleiner Planet bleibe, gefangen in einer kreisförmigen Einsamkeit. Doch es gibt eine Möglichkeit, den Schauder und die durch Schaukeln erzeugte Angst im Bauch zu unterbrechen. Mit einfachen, kontrollierten Körperbewegungen, mit leichtem Bremsen kann ich das ganze Spiel beruhigen und anhalten. Jeden Augenblick kann ich mit einem Schritt die Schaukel verlassen und sicheren Boden betreten. Noch kurz danach, getragen von einem Vergnügen, in dem sich unbeschreiblicher Genuss und leichte Angst mischen, werde ich, unsicher gehend, das Gefühl zu schaukeln in den Beinen haben und nicht begreifen, dass meine Schaukel auch das Pendel einer Uhr war. Dass ich mit jeder Bewegung die Zeit durchmaß, die mir zu leben gegeben war.

Die GESTÖRTEN­demokratischen VERHÄLTNISSE in ­meiner Familie Schon seit geraumer Zeit erkläre ich meinen Verwandten, dass ich nicht mehr jedes Mal, wenn ich nach Belgrad komme, um Urlaub zu machen, an unseren Debatten teilnehmen möchte, sollte Politik das Thema sein. Nach diesen Gesprächen reden wir mindestens eine Woche lang nicht miteinander. Und dann versöhnen wir uns eilig, kurz vor meiner Abreise. Das letzte Mal begann es damit, dass mein Vater nach dem Mittagessen unerwartet verkündete: »Ich glaube an keine Europäische Union. Denkt ihr etwa, die USA würden die Entstehung eines weiteren wirtschaftlichen Gegenspielers neben China, Russland und Indien erlauben?« »Sei nicht so streng«, meldete sich Mutter zu Wort, »das wird zur Entwicklung der Demokratie und der Solidarität in der Welt beitragen.« »Was für eine Demokratie, zum Teufel?«, rief Vater aus. »Für eine europä­ische Demokratie ist ein europäisches Volk erforderlich, aber es gibt keins, sondern nur Nationalstaaten.« »Gut«, mischte ich mich notgedrungen ein, »aber immerhin wird das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit weiterentwickelt, das ist eine der europäischen Ideen, wenn ich mich nicht irre. Außerdem stellt das Modell der Europäischen Union eine Sicherheit dafür dar, dass die Länder Europas nie mehr gegeneinander Krieg führen.« »Das werden sie in der Tat nicht tun, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus«, schrie mir Vater ins Gesicht, »sie führen jetzt ausschließlich gegen andere Krieg. Wurde Serbien mit seinen sieben Millionen Einwohnern nicht wegen eines einzigen Diktators bombardiert? Auch Serbien ist seit jeher ein Teil Europas. Und von welchen moralischen Prinzipien sprichst du? Alle europäischen Regierungen werden von Banken und den multinationalen Konzernen gesteuert, ist das klar? Erzähl mir nichts von sozialer Gerechtigkeit, jetzt, da die Eliten Profite anhäufen und die Armut des Volkes immer größer wird. So geht es nicht weiter.« Da meldete sich Großvater: »In den USA besitzen 400 Leute so viele Reichtümer wie die Hälfte der Bevölkerung. Das habe ich in der Zeitung gelesen, ich weiß aber nicht mehr, in welcher es war und wann.« »Trotzdem gefällt mir die Idee, dass es keine Visa mehr gibt, dass die Grenzen verschwinden und eine gemeinsame Währung eingeführt wird«, fügte Mutter hinzu. »Die Europäische Union, wie wir sie bis vor ein, zwei Jahren gekannt haben, gibt es nicht mehr«, schaltete sich nun auch meine Schwester in die Diskussion ein, »sie hat sich vor unser aller Augen so schnell verändert, dass wir keine ernsthafte Veränderung bemerken konnten.« »Sehr interessant«, entgegnete ich, »und wie ist es dir trotz dieser Geschwindigkeit gelungen, sie zu bemerken?« »Nun, ich habe sie nach Europas Finanzkrise, die gewiss nicht ich verursacht habe, zuerst im Portemon­ naie und im Haushaltsbudget gespürt!« »Natürlich«, fuhr Vater fort, »die Krise haben die Bankoligarchen heraufbeschworen, gemeinsam mit den politischen Eliten. Heute haben die Politiker so viele Privilegien, als gierten sie nach dem alten feudalen Glanz. Und keiner kann ihnen etwas anhaben.« »Na, sie haben die Polizei und die Armee, die sie vor dem hungrigen und unzufriedenen Volk schützen«, sagte Großvater. »Ihr zwei könnt das sehen, wie ihr wollt, aber ich lebe in Deutschland, in einem Land, wo die Wähler die Regierung auswechseln können, wo sogar der Präsident abgelöst wird, wenn er gegen demokratische Grundsät-

ze oder Gesetze verstößt. Außerdem ist die Pressefreiheit beeindruckend, es gibt keine Unberührbaren, und das Sozial- und Gesundheitssystem verdient ebenfalls jeden Respekt. Und ich bitte euch, mir nicht jeden Urlaub in Serbien zu vergällen!« »Na, dann geh mit deinem pro-europäischen Triumphalismus in dein Deutschland zurück«, schlug ­Vater mit der Hand auf den Tisch, »und vergiss nicht: Du bist dort nur ein Migrant mehr, und das wirst du auch immer bleiben!« »Mein Sohn«, versuchte Großvater die Lage zu beruhigen, »hast du denn nicht verstanden, dass Amerika Europa dominiert! Neulich stand in den Zeitungen, Amerika werde nicht erlauben, dass Snowden den Nobelpreis bekommt. Was ist das denn für eine Königliche Schwedische Akademie, wenn Amerika auf sie Einfluss nehmen kann?« »So ist es«, freute sich Vater, »und siehst du denn nicht, welchen Einfluss Amerika auf die Länder Euro­ pas hat? Etwa als auf amerikanischen Befehl dem Flugzeug von Boliviens Präsident Morales der Überflug über mehrere Länder Richtung Moskau verweigert wurde und es in Wien landen musste! Hey, sie haben 13 Stunden lang das Flugzeug des Präsidenten eines souveränen Staates durchsucht! Und du willst mir etwas von der sogenannten freien und demokratischen Europäischen Union erzählen?!« »Sie haben sich wie amerikanische Vasallen benommen«, schlussfolgerte Großvater. »Gut, ihr zwei«, wandte ich mich an Vater und Großvater, entschlossen, den Tisch und die ganze mir einseitig und sinnlos erscheinende Diskussion zu verlassen, »warum dieser Hass auf Amerika, wenn wir doch angeblich über Europa sprechen?« Da erhob sich Großvater: »Weil Amerika ein sündiges Land ist! Die Amerikaner sind schuldbeladen, sie haben Genozide an Völkern anderer Hautfarbe begangen! Amerika ist schuldbe­laden in Colour! Die Rot­ häutigen haben sie in Reservaten zusammengetrieben, die Schwarzen waren für sie Sklaven und auf die Gelbhäutigen haben sie zwei Atombomben geworfen, siehst du: darum!« »Und vergiss nicht«, warf Vater friedlich ein, »diese drei Farben sind die der Flagge deines Deutschlands …« »Ich denke, dass das mehr als böswillig ist, und dass wir nicht weiter polemisieren sollten«, sagte ich, verließ den Esstisch und ging in mein Zimmer. »Außerdem«, fügte ich hinzu, als ich an ­meinem Vater vorbeikam, »ist das Gelb der deutschen Flagge kein Gelb, sondern Gold.«

Jovan Nikolić (*1955) ist einer der bedeutendsten Vertreter zeitgenössischer Roma-Literatur. In Belgrad als Sohn einer Serbin und eines Rom g ­ eboren, lebt er seit seiner Emigration aus Serbien 1999 in Deutschland. Neben seinen Lyrik- und ­Prosa-Bänden veröffentlichte er als Kolumnist, Kabarettist und Songtexter auch Theaterstücke und ­satirische Texte. 2000 wurde sein Drama »Kosovo mon amour« bei den Ruhrfestspielen uraufgeführt. In deutscher Sprache sind bisher von ihm erschienen: »Zimmer mit Rad. Gedichte und Prosa« (Drava, 2004), »Weißer Rabe schwarzes Lamm« (Drava, 2006 & 2011) und »Seelenfänger, lautlos lärmend« (Drava, 2011). Jovan Nikolić ist Mitglied des serbischen P.E.N., seit 2002 Vizepräsident der International Romani Writers’ Association IRWA sowie Ehrenmitglied der Internationalen Roma Akademie für Kunst und Wissenschaft in Belgrad. Er erhielt zahlreiche Stipendien, Auszeichnungen und Preise unter anderem von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem deutschen P.E.N., von KulturKontakt Austria und dem Cultural City Network Graz.


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K UNST i m D U T Y f r e e SHOP?

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Ein Gespr辰ch mit Lauren Boyle vom 足kuratorischen Team DIS 端ber die 足9. Berlin Biennale


25 Gregor Quack: Ich würde gerne anfangen mit der Frage, was genau DIS eigentlich ist. Ich weiß, dass es eine Gruppe ist, die aus vier Einzelpersonen besteht: Lauren Boyle, David Toro, Solomon­­Chase und Marco Roso. Aber darüber hinaus scheint es so, als finde man immer mehr Definitionen, je länger man sucht. Lauren Boyle: Stimmt. Wir sind vom Design-Kollektiv bis zum Modemagazin schon mit so ­ziemlich jedem Etikett bedacht worden. Wir sind ein Künstlerkollektiv, wir sind Redakteure und Herausgeber, wir sind Stylisten, wir sind Unternehmer und jetzt gerade sind wir Kuratoren. Uns gefällt dieser Facettenreichtum. Wenn jemand eine neue Bezeichnung für uns hat, sagen wir nur: »Her damit!« Und doch gibt es gewisse Unterschiede zu anderen Kollektiven. In einem Interview haben Sie einmal erklärt, Sie verstünden sich eher als Körperschaft denn als Kollektiv. Was genau war damit gemeint? Wir wollten so vor allem auf unsere Affinitäten zur Geschäftswelt hinweisen. Wir haben uns nicht etwa als Non-Profit-Organisation gegründet, sondern als GmbH. Das Lustige dabei ist, dass das Ganze aus wirtschaft­ licher Sicht eigentlich noch nie so richtig gut funktioniert hat. Die Idee zur GmbH-­Gründung war ursprünglich nur entstanden, weil es der einfachste Weg war, ein gemeinsames Bankkonto zu eröffnen, ohne verheiratet zu sein. DIS nahm seinen Anfang in 2008, als David und Solomon in einer Rund-E-Mail schrieben, sie würden ein Online-Magazin gründen. Bald bildete sich eine Gruppe aus zunächst sieben und dann vier Leuten. Wir fingen an mit der Magazin-Website, dann wurde u­ nsere Bildagentur DISimages gegründet, und später kam mit DISown auch noch ein Laden für von Künstlern gestaltete Alltagsprodukte hinzu. Dass es so naheliegend schien, sich als Wirtschafts­ unternehmen einzutragen, hatte sicher auch etwas mit dem Standort New York zu tun, oder? Ganz genau. Wir haben DIS kurz nach dem Beginn der Finanzkrise gegründet. Es war eine sehr interessante Zeit in New York. Die Jahre zuvor hatten wir alle sehr viel zu tun gehabt in unseren sogenannten Kreativwirtschaftsjobs für große Firmen wie Apple. Doch da die meisten dieser Jobs auf Free­lance-Basis funktionierten, gab es kurz nach dem Crash schon keine Aufträge mehr. Zum ersten Mal seit Jahren hatten wir auf einmal so etwas wie Freizeit. Es ist uns sehr bewusst, dass die Finanzkrise für viele Menschen schlimme Folgen hatte, aber für uns war es auch eine reinigende und produktive Erfahrung. Obwohl das Ganze schnell zu einem globalen Problem wurde, muss sich der Crash in New York besonders erderschütternd angefühlt haben. Absolut, es war deutlich mehr als eine bloße Kursschwankung. Uns erschien es wie ein ­klarer Bruch mit dem vorhergehenden Jahrzehnt. Es war ja auch das Jahr, in dem Obama zum Präsidenten gewählt wurde. Es war nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle, ästhetische und mentale Umwälzung. Alles stand in Frage und wir sahen das als Möglichkeit, eine Bühne zu bauen für unsere unglaublich kreativen Freunde und Bekannten, die damals noch kein Publikum für ihre Arbeit fanden. Schlägt sich Geschäftsaffinität auch darin nieder, wie man mit Freunden und Geschäftspartnern umgeht? Kann es für eine GmbH einen echten Unterschied geben zwischen eurem kollektivem Denken, Freundschaft und Networking? Natürlich schwingen beim Wort Networking immer zusätzliche Konnotationen mit, aber wir begrüßen das. Als wir mit dem Magazin begannen, erweiterten wir unser Netzwerk. Der Vorteil des Netzwerkbegriffs ist, dass schon das Wort Netzwerk die Möglichkeit zur Expansion und Veränderung nahelegt. Man will bei jedem Projekt auch neue Leute einladen, darf aber dabei nicht vergessen, wo man herkommt. Wir haben im Laufe unserer Karriere viel Unterstützung von anderen erhalten, und natürlich wird unsere Berlin Biennale auch voll mit diesen Menschen sein, mit manchen, die uns schon lange begleiten, und anderen, die neu hinzugekommen sind.

Jetzt wo Sie dabei sind, eine Biennale zu kuratieren, fällt auf, dass die institutionalisierte Kunstwelt anfänglich kaum eine Rolle in der Arbeit von DIS gespielt hat. Hatte das ebenfalls etwas mit dem Umfeld in New York zu tun? Mit Sicherheit. In New York geht es ums Überleben. Es gibt kaum so etwas wie öffentliche Förderung von Kunst, die Mieten sind extrem hoch und verschiedene Industrien haben sich dort schon immer gerne vermischt. In so einem Umfeld wird man nicht komisch angeguckt, wenn man ­neben der Kunst auch noch einen anderen Job hat. Es ist zum Beispiel im Allgemeinen kein Problem, Kunst zu machen und gleichzeitig für eine Tech-­Firma zu arbeiten. Für uns selber war es sehr prägend, nicht in einer Kunstweltblase zu leben, sondern auch andere Erfahrungen zu sammeln. Von uns vieren hat nur Marco jemals eine Karriere als traditioneller Künstler begonnen. Doch auch bei ihm lief das immer neben seiner Tätigkeit als Creative Director bei Garnier, Wella und L’Oréal. Hätten wir Maler werden wollen, dann hätte es uns wahrscheinlich tatsächlich nach Berlin oder Philadelphia gezogen, aber wir alle wollten lieber im wunderschönen Chaos von New York leben. Wenn Ihr Selbstverständnis so eng mit der Stadt New York zusammenhängt, wie fühlt es sich dann an, in Berlin zu arbeiten? Der Sprung nach Berlin erlaubt uns, ein gewisses Gefühl der Fremdheit zu kultivieren. Wir kommen aus einem anderen Land, wo Dinge anders funktionieren, und in gewisser Weise fühlen sich auch Institutionen wie die KW Institute for Contemporary Art und die Berlin Biennale für uns manchmal an wie fremde Länder. Aufgrund unserer unterschiedlichen Hintergründe sprechen wir nicht immer die gleiche Sprache, aber wir glauben auch, dass dabei durchaus produktive Missverständnisse entstehen können. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, alles für jeden sein zu wollen – relevant sein und zeitgenössisch, vermittlungsstark, repräsentativ und kritisch. Wenn wir die Berlin Biennale komplett mit großen Künstlernamen füllen würden, hieße es: »DIS wollte der Kunstwelt gefallen und ist zum Mainstream geworden.« Würden wir hingegen nur mit jungen Kreativen arbeiten, die sich nicht im Kunstbetrieb bewegen, dann hätten wir schlicht genau die Erwartungen an uns erfüllt. Unsere Lösung: Wir machen einfach beides. Und trotzdem gibt es zumindest im DIS Magazine immer wieder Momente, die man durchaus kritisch nennen könnte. Mein Lieblings­beispiel ist die frühe Fotostrecke Shoulder Dysmorphia. Die Fotos geben vor, einen neuen Beauty-Trend zu porträtieren, bei dem die Form der Schulterblätter chirurgisch verändert wird. Das Projekt nimmt existierende, industriegeförderte Trends – plastische Chirurgie, unrealistische Schönheitsideale – und überhöht sie bis zu ihrer ebenso logischen wie absurden Schlussfolgerung. Der Unterschied ist aber, dass es für uns nur selten heißt »Wir gegen die anderen«. Uns ist wichtig, uns über unsere eigenen Interessenkonflikte im Klaren zu bleiben. Es geht uns um eine Art radikale Offenheit unserer Gegenwart gegenüber. Wir interessieren uns beispielsweise sehr für kommerzielle Bildsprachen – eine gewisse Art zu lächeln, eine spezielle Form von Softbox-Licht, in dem ­alles gleichmäßig, normal und perfekt aussieht. Anstatt zu versuchen, solche Techniken als bösartig oder manipulativ zu enttarnen, spielen wir mit dieser kommerziellen Bildsprache. Wenn Sie mich fragen, worum es in unserer Berlin Biennale geht, dann könnte ich sagen: Es geht darum, der Gegenwart ihr Drag-Outfit anzuziehen. Sie interessieren sich ausdrücklich für die unmittelbare Gegenwart. Viele bisherige Berlin Biennalen haben sich hingegen manchmal fast obsessiv mit Berlin als Geschichtsschauplatz beschäftigt. Spielt dieser Aspekt auch bei Ihrer Erfahrung der Stadt eine Rolle? Natürlich ist Geschichte überall. Für uns ist es aber trotzdem das Wichtigste, Berlin so zu begegnen, wie es uns heute entgegentritt. Wie gesagt, wir sind Touristen hier. Eine unserer ersten Aufgaben als Kuratoren sollte es sein, unsere Ausstellungsorte zu bestimmen und dafür


26 »unentdeckte Orte« in der Stadt zu finden. Uns war das nicht ganz geheuer. Wenn wir als Berlin Biennale heute ein »verlassenes« Gebäude bespielen, dann kann es durchaus sein, dass wir es damit unfreiwillig für den Aufkauf durch private Investoren vorbereiten. Also haben Sie den Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor als einen Hauptschauplatz der Biennale ausgesucht. Der ist ja so ziemlich genau das Gegenteil von »unentdeckt«. Der Pariser Platz war einer der ersten Orte, für den wir uns interessiert haben. Der Platz ist natürlich eine typische Touristenfalle, aber wir haben uns sofort daran erinnert, wie Michael Jackson genau dort vor mehr als zehn Jahren sein Baby aus dem Fenster des Hotel Adlon baumeln ließ. Der Pariser Platz ist also schon länger ein Ort, an dem man sich in der prekären Balance zwischen öffentlichem und privatem Raum üben kann ... nicht erst seit jedes historische Monument von einem Rudel aus Selfiesticks eingerahmt ist. Der gesamte Platz ist umgeben von einem unsichtbaren Netzwerk aus wirtschaftlichen und politischen Machtzentralen. Hier finden sich die amerikanische und französische Botschaft, aber auch Lockheed Martin, das Allianz Stiftungsforum, die DZ Bank und BP Europa. Für die 9. Berlin Biennale benutzen wir das Gebäude der Akademie der Künste. Es handelt sich um eine historische Stätte, die in eine Glasarchitektur gehüllt wurde ... eine perfekte Metapher für das heutige deutsche Selbstbild als historisch verankerter Nationalstaat mit modernem, transparenten Gesicht. Typisch für Berlin werden die Galerieräume den ganzen Sommer wegen Umbauarbeiten geschlossen sein. Wir sind froh darüber, denn so können wir einfach den Rest des Gebäudes einnehmen: Aufenthaltsräume, Flure, Veranstaltungsräume, die normalerweise nicht so leicht öffentlich zugänglich wären. Also wird die 9. Berlin Biennale in den KW stattfinden, am Pariser Platz und ... ... und dann gibt es auch noch das ehemalige Staatsratsgebäude, ein riesiger DDR-Bau, in dem auch Teile der alten Stadtschlossfassade verbaut sind. Heute beher-

9. Berlin Biennale Vom 4.6. bis 18.9.2016 findet die 9. Berlin Biennale unter der künstlerischen Leitung des DIS Teams − Lauren Boyle, ­Solomon Chase, Marco Roso, David Toro − statt. Die Kuratoren wählen jedes Mal andere Orte in Berlin aus. Diesmal sind es die Akademie der Künste am Pariser Platz, die KW Institute for Contemporary Art und die ESMT European School of Management and Technology im ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR, außerdem die DZ Bank am Pariser Platz und ein Boot, das auf der Spree durch Berlin-­ Mitte fährt. Die Kulturstiftung des Bundes fördert die Berlin Biennale seit 2004 als einen ihrer Kulturellen Leuchttürme mit jeweils ­2,5 Mio. Euro. Die Berlin Biennale akzentuiert die Vielgestaltigkeit und Internationalität der Berliner Kunstszene, hinterfragt und überwindet mit ­ihrem Anspruch auf permanente Erneuerung aber auch übliche Methoden von internationalen Kunstausstellungen.

bergt er die ESMT European School of Management and Technology. Uns gefiel, wie unmittelbar dort die Vergangenheit des real existierenden Sozialismus auf die Bildsprache der internationalen Geschäftswelt prallt. Wenn man an den Börsentickern vorbeiläuft und gleichzeitig ­Walter Womackas sozialistisch-realistisches Fenster auf sich herabblicken sieht, dann ist damit eigentlich schon alles gesagt. Wir werden zusammen mit einigen Künstlern in den unrenovierten Teil des Gebäudes einziehen. Waren Sie vor allem auf der Suche nach Räumen, in denen gewisse Spannungen sichtbar werden? Ja, das könnte man so sagen. Viele Orte, an denen wir ausstellen werden, fühlen sich an wie Geschäfts- oder Firmenräume, wie Durchgangszimmer oder Duty-freeShops. In den einzelnen Kunstwerken der 9. Berlin Biennale wird es nicht unbedingt direkt um Tourismus oder Gentrifizierung gehen, aber vielleicht könnte man sagen, dass diese Themen die Grundstimmung der Biennale bilden. Die Künstler Korakrit Arunanondchai und Alex Gvojic etwa bauen zusammen eine Installation in einem Touristendampfer auf der Spree. Sie bauen ihn um zu einem thailändischen Hochzeitsboot und zeigen zusätzlich einen neuen Film. Über die gesamte Dauer der 9. Berlin Biennale wird dieses Boot den üblichen Touristen­routen auf der Spree folgen, vorbei an der Museumsinsel und mitten durch den Regierungsbezirk. Der Biennale-Besucher wird wieder zum Touristen gemacht, zum prototypischen Sammler zeitgenössischer Erfahrungen. Wie beeinflusst Ihre Erfahrung mit redaktioneller Arbeit Ihr Denken als Kuratoren? Ich glaube, es hilft uns, Künstlerinnen und Künstlern mehr Freiräume zu lassen. Uns ist die Kuratorenpose eher suspekt. Wir haben selbst Erfahrung darin, Bilder zu produzieren. Also konzentrieren wir uns lieber darauf, Plattformen zu bauen, anstatt Künstlern zu sagen, wie sie ihre Arbeit machen sollen. Wir verstehen die einzelnen Ausstellungsorte als jeweils eine solche Plattform, aber wir arbeiten auch daran, darüber hinaus noch weitere zu schaffen. Da wäre zum Beispiel die Kommunikationsstrategie, die wir gemeinem mit unserem guten Freund, dem New Yorker Creative Director Babak Radboy, entwickeln. Sein Projekt trägt den Namen Not In The Berlin Biennale und versammelt ganz einfach eine große Gruppe an Künstlern, die nicht an der eigentlichen Berlin Biennale teilnehmen. Es ist interessant, dass Sie sich besonders für ­solche Themen zu interessieren scheinen, die andere Kuratoren für nebensächlich oder gar störend halten würden. Genau darum geht es uns. Not In The Berlin B ­ iennale ist ein eigenständiges Projekt, das nicht von der eigentlichen Berlin Biennale handelt, sondern schlicht vor ihr steht. Wie eine Art Haut beschützt es die zentralen Funktionen der eigentlichen Biennale, ist aber gleichzeitig auch selber das größte Organ.

Genau. Wo andere vielleicht ein Symposium zur Datensicherheit organisieren würden, da wollen wir einen Schritt weiter gehen. Wir wollen nicht nur über die Entwicklung der Privatsphäre nachdenken, sondern sie auch aktiv betreten und aufs Spiel setzen. Das ist unsere Herangehensweise an die meisten Themen und Ideen. Ich bin etwas überrascht, dass Ihnen Aktion so viel wichtiger ist als Analyse. Die von Artur Żmijewski kuratierte 7. Berlin Biennale legte damals auch besonderen Wert auf Kunst als effektives Mittel zur politischen Veränderung. Das Interessante ist, dass unsere Version wahrschein­ lich der 7. Berlin Biennale ähnlicher sein wird als der achten Ausgabe. Inwiefern? Natürlich werden die beiden einander optisch kaum ähneln, aber ich glaube schon, dass uns eine gewisse Liebe zum Transgressiven verbindet. Denn obwohl wir es nicht als aktives Ziel verfolgt haben, glaube ich, dass unsere Biennale manchen Besuchern fast unangenehm sein wird. Unsere Bespielung der Akademie der Künste etwa widerspricht den Prinzipien, für die diese Institution stehen soll. Wir entstammen einer anderen Generation als Żmijewski und haben wohl auch andere Vorstellungen davon, wie politische Kunst heute aussieht. Aber ­genau wie in seiner Biennale haben auch wir viele Künstler eingeladen, die aktiv über neue Gesellschaftsund Verhaltensmodelle nachdenken, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Für manchen mag das nach »solutionism« aussehen, doch es wird mit Sicherheit auch genügend verwirrende und verunsichernde Momente geben. Es wird zum Beispiel nicht immer klar sein, wie ernst es ein Künstler wie Christopher Kulendran Thomas meint, wenn er Ausstellungsbesuchern neue Investmentchancen nahelegt. Es wird Momente in unserer Ausstellung geben, in denen man nicht genau weiß, ob man noch in einer Kunstinstallation ist oder schon in der VIP-Lounge eines Immobilien-Hedgefonds. Aber können traditionelle Kategorien nicht in manchen Fällen auch wichtig und schützenswert sein? Etwa wenn es darum geht, die Kunst vor der Totalübernahme durch die Modewelt zu beschützen? Ich glaube, wir müssen uns wirklich keine Sorgen machen, dass es von einem auf den anderen Tag keine Kunst mehr gibt. Doch es stimmt tatsächlich, dass wir uns mit unserer Arbeit oft in ein Spannungsfeld begeben, das so aufregend wie unauflösbar scheint. Die gleiche Kategorienunschärfe, die sich innerhalb der Kunstwelt frisch und grenzüberschreitend anfühlt, läuft in anderen, größeren Kontexten Gefahr, bloß der immer stärkeren Homogenisierung der Kreativwirtschaft in die Hände zu spielen.

Besteht dieser zu schützende Kern der Biennale für Sie vor allem aus einzelnen Personen oder geht es auch etwas abstrakter um konzeptuelle Ideen, die Ihre kuratorische Arbeit leiten? Es gibt ein paar Kernideen, auf die wir in unseren internen Diskussionen immer wieder zu sprechen kommen. Uns faszinierte beispielsweise die wachsende Popularität hyper-individualistischer Denkweisen in einer Zeit, die eigentlich gerade von der Machtlosigkeit des Einzelnen gekennzeichnet ist. Einerseits ist es der gemeinsame Nenner von Gedanken zum Anthropozän, Big Data und object-­oriented philosophy, dass sie alle auf Kosten des einzelnen Subjekts operieren. Und andererseits werden ehemals für universell gehaltene Symbole zu immer maßgeschneiderteren Individualprodukten stilisiert ... vom custom sneaker über persönliche Trainingspläne bis hin zur Politiker-Hoffnung, das politische Denken auch der kleinsten Zielgruppen zu analysieren.

Die unterschiedlichen Aspekte der Biennale zielen fast sämtlich darauf ab, der Gegenwart zu begegnen. Soll es offen bleiben, ob hinter allem am Ende so etwas wie eine politische Haltung steht? Wir für unseren Teil hoffen vor allem, dass Besucher kommen, Zeit in der Ausstellung verbringen, nachdenken, reflektieren, sich treffen und miteinander reden und vielleicht einen grünen Saft trinken. Wie gesagt: Wir haben nicht viel übrig für schlicht binäre Logik – kritisch oder affirmativ, gut oder böse. Wir haben keine abschließenden Antworten auf die Fragen, die unsere komplexe Welt jeden Tag stellt. Man macht es sich zu einfach, wenn man glaubt, man könnte die Widersprüchlichkeiten der Welt lösen, indem man sich für eine Seit entscheidet oder indem man beide Seiten – sei es Professionalität und Dilettantismus, sei es Kunst und Nicht-Kunst – gegeneinander ausspielt. Es ist viel anstrengender, sich selber zum Symbol für alle losen Enden und ungeklärten Fragen zu machen. Mit unserer Berlin Biennale wollen wir dem wilden Knäuel aus Ideologien und Ästhetiken, das im Jahr 2016 die Möglichkeiten individueller Erfahrung bestimmt, ein Gesicht geben.

Und das Besondere an Ihrer Herangehensweise ist, dass Sie bei alledem keine Partei ergreifen. Sie machen sich das Paradox zu eigen.

Gregor Quack ist freier Kunstkritiker und Doktorand an der Stanford University in Palo Alto.


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DIE ARBEIT DER V ­ ÖGEL Über angeschnittene ­Herzen ­und ­messerscharfe ­Worte von Marica Bodrožić

Wie verständigen und verstehen wir uns über sprachliche und kulturelle Grenzen ­hinweg? Wir haben drei zum Literaturfestival ­globale° eingeladene ­Autoren gefragt.

Wie erobert ein Kind die Welt? Vogel für Vogel. Wort für Wort. Lächeln für Lächeln. Wenn wir ganz jung sind, sehen uns die Worte wie weit entfernte, aus unserem Inneren verbannte und in den ewigen Raum ausgelagerte Himmel an. Mit jedem neuen Klangraum strömen sie zu uns zurück, werden Teil unserer inneren Ohren. Wir fürchten uns nicht vor den Folgen, weil wir noch gar nichts davon wissen. Wir sind jenseits der Grammatik und zugleich immer in ihr drin. Die Welt ist gnädig, sie verordnet uns weder Verstehen noch Grenzen. Das Unbekannte, der Fremde, das Fremde an sich ist eine uns von Beginn an zugewiesene Kategorie, denn der allererste Nächste ist uns schon ein Fremder. In jenem Land, das wir Kindheit nennen, gibt es keinen Pass und keine Nation, wir sind Menschen, Ausgesetzte, die andere brauchen, um einen Platz in unserem Menschsein zu erlangen – fremd aber ziehen wir ein, fremd ziehen wir wieder aus. Wann hören wir mit dieser Bewegung der Unschuld eigentlich auf? Vogel für Vogel erobern wir das große Draußen der Klänge, ohne sie zu deuten, irgendwann wissen wir dann, wo die Sätze der Sprech­ enden enden, was die Pausen sagen, wie sie mitreden und wann die Worte, wann die Lücken zwischen ihnen sprechen. Wir senden unsere Laute zu der Liebe der Anderen, sehen und hören inwärts, ob sie in der Wonne (oder in der Missgunst) einer menschlichen Stimme aufblühen (oder verschwinden). Wenn wir Kinder sind, liebt uns das Leben. Wir lieben bedingungslos zurück. Unweigerlich aber kommt die Zeit der Gefahren. Die Uhren ticken mit. Rätsel und Wunder sind verpönt. Dabei ist die Essenz unseres Lebens das Unlogischste schlechthin: Die Liebe hat keine Logik. Jetzt wollen sogar alle freiwillig normal sein. Wir machen uns verdächtig, wenn wir grundlos lächeln. Manchmal denken die Leute, dass man verrückt ist oder bedürftig oder etwas von ihnen will. Das Neue aber klopft an, ist rätselhaft beharrlich. Wenn Fremdheiten aufeinandertreffen, vervielfacht sich u. a. das Rätsel des Lächelns. Warum lächelt ein Mensch? (Und wenn nicht: warum nicht!) Was will er? Was mache ich nur, wenn das Leben wieder eine Frage wird, in die ich ohne fertige Antworten hineinleben muss? Fremde kommen ins Land und bringen nicht nur Not, sondern auch Fragen mit. Wer bin ich, wenn der Andere alles ist, was er in nur einer Hand halten kann? In meiner Berliner Straße wohnt eine alte Frau. Sie ist vielleicht schon hundert, aber sagt es mir nicht. Ich muss immer alles bei ihr erraten. Sie lächelt mich von ihrem Fenster an, im Winter sitzt sie hinter dem Glas und sieht auf die Straße. Im Sommer nimmt sie Platz auf ihrem Balkon. Wenn sie nicht dort ist, mache ich mir Sorgen. Ob sie Verwandte hat? Ihr Mann ist vor kurzem gestorben. Das hat sie mir erzählt. In welcher Sprache das war, das wusste ich am Anfang gar nicht. Dennoch liebe ich sie. Ich weiß nicht, wie sie heißt, denn wenn sie spricht, ist es in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Nach Monaten der Lächelfreundschaft begreife ich, dass es Türkisch ist, was sie mir anbietet. Wie ich es bewundere, dass sie, auf ihren Stock gestützt, die Straßen unserer gemeinsamen Stadt, einer Weltstadt, wie es jetzt überall einvernehmlich über das Dorf Berlin heißt, wie sie also unbeirrt und mit beeindruckender Zielgerichtetheit und schelmischem Funkeln

in den Augen von Ziel zu Ziel schreitet und überall Halt macht, wo man sie kennt. Da ist eine Art Kneipe, in die nur die türkischen Männer aus dem Kiez gehen. Sie nennen es Verein. Reingucken kann man nicht. Ich versuche es erst gar nicht. Seit Jahren ist der Laden ein Rätsel für mich. Die Stimmung dort aktiviert das alte Jahrhundert in mir, das Dorf, aus dem ich komme, in dem die Männer das Sagen hatten, am Billardtisch des Gasthauses und auf der Straße und in der Kirche. Das hat meinem Körper nicht gefallen. Es war die Übermacht der Männer, die mich innerlich verkrampfen ließ. Aber eines Tages nahm mein Vater mich mit. Der Billardtisch war nun ein Paradies in grün und freundlich. Die Männer, mit Hut und ohne, mir zugewandt, lächelten, das überraschte mich. Gegenüber vom türkischen Verein liegt die Geburtsstraße von Marlene Dietrich. Ich liebe diese Frau, diesen einzelnen Menschen, der sich dem Bellen der Barbaren widersetzt hat. Das blutige 20. Jahrhundert hat sie nicht gebrochen. Warum nicht? Sie hatte eine eigene Ethik. Ich denke an Marlene, während vor mir meine Hundertjährige steht. Ihre Gestalt ist den Frauen meines Dorfes sehr ähnlich. Jetzt sehe ich, dass sie etwas macht, was die dalmatinischen Frauen nie gemacht ­haben. Sie geht einfach in den Vereinsladen rein und schwenkt ihren Gehstock. Sehr demonstrativ. Eine Art Gruß an die Männer, die rauchen und gestikulieren, und ja, das sehe ich richtig, in Ehrfurcht vor der alten Mutter erstarren. Sie verbeugen sich nahezu vor ihr. Was für eine Gestalt, ganz in Schwarz, Kopftuch, riesige Schuhe, ein von Furchen und Falten durchzogenes Gesicht. Das Patriarchat kann ihr nichts. Mit ihrem Gehstock zaubert sie sich Tee in die Hand, Holz ist treu, es hilft. Tee. Dampft. Männer haben ihn für eine Frau vorbereitet, die eine Forderung ist. Sie beugt sich keinem von denen, von Natur aus ist sie nur eins: Chefin. Anderntags bringe ich meiner Hundertjährigen spontan zwei Stück Kuchen. Ich sehe sie hinter dem Fenster sitzen und winke sie runter. Sie kommt, sieht den Kuchen, küsst mich, sagt: Danke meine Schwester. Ich muss lachen. Vor lauter Glück. Sie spricht jetzt deutsch. Das mit der Schwester ist ihr wichtig. Manchmal verliert man Menschen, manchmal bekommt man welche geschenkt. Danke meine Schwester, denke nun auch ich, wir sprechen zwar verschiedene Sprachen, aber ich weiß, dass du deinen Mann vermisst und dass du einsam bist und dass du im Sommer ohne ihn allein auf dem Balkon sitzen wirst. Er wird dir fehlen. Komischerweise auch mir. Er saß ja da immer so eine ganze Weile am Tag. Und ich weiß noch, wie es war, als ich ihn das erste Mal dort erblickte. Es war erschütternd. Er erinnerte mich an meinen Vater, kurz vor seinem Tod, kurz bevor die schwere Krankheit ihn im Alter von sechsundsechzig Jahren unter die Erde brachte, dorthin, wo alle Körper Brüder und Schwestern der Erde sind. Die Wurzeln der Bäume machen keine Unterschiede. Bäume haben keine Pässe, nur Namen. So ist es immer gewesen. Und ich beneide sie. Ich sitze in meiner Küche und schaue auf die Wipfel der Bäume im Hinterhof. Das Radio läuft. Mein ­alter Weltvermittler. Welt. Lässt sie sich vielleicht besser über die Ohren als mit den leicht zu überlistenden Augen wahrnehmen? In einer Kultursendung, die ich gerne


28 höre, der ich vertraue, hätte ich beinahe gesagt, wird plötzlich und zu meiner großen Über­raschung das Wort neutralisieren benutzt, im Zusammenhang mit den vielen Flüchtlingen. Ich sehe sofort Dr. Mengele vor mir. Ihn und seine Giftspritze. Es gibt auch Worte, die Giftspritzen sind. Sie schlagen das Herz auf der Stelle tot. Effizient. So erwischt man den ganzen Menschen und muss noch nicht einmal eine böse Spritze benutzen. Wenn man Menschen ihr Herz nimmt, dann sind sie von allein neutralisiert, es muss nicht einmal Blut fließen. Kann das jemand wollen? 2016. Hier. In der Welt, in der auch ich lebe, ist es nun doch hitzig geworden. Das 20. Jahrhundert flackert in allem mit, besonders in den Worten. Die Barbaren haben etwas von sich dagelassen. Sie dürfen nicht gewinnen. Es wollen wieder viele, dass es brennt. Wir müssen die sprachlosen Schwestern und Brüder und Bäume beschützen. (Uns kann das gleiche Schicksal widerfahren, wenn es brennt, brennt es für alle.) Das können wir nur, wenn wir uns selbst nicht neutralisieren lassen. Fühlend bleiben. Ein Mensch, der empfindet und des Lebens gedenkt, wenn es ihm in der Gestalt eines anderen Menschen begegnet. Der Vater einer Berliner Freundin lebt in Tel Aviv. Immer wenn sich jemand in Israel in die Luft jagt und andere in den Tod mitnimmt, kommt sein palästinensischer Freund zu ihm und sie reden miteinander. Sie können nichts tun gegen den Tod und die Gewalt. Aber sie wollen einander nicht vergessen. Zusammensein heißt: Wir sind Freunde. Wir bleiben es. Wir sehen uns an. Wir sind immer noch Menschen. Vögel fliegen vielleicht vorbei, wenn die beiden Männer Tee miteinander trinken. Die Arbeit der Vögel vollzieht sich immer auf dieselbe Weise, ganz gleich, was in der Welt der Menschen geschieht. Die Arbeit der Vögel ist leise, so leise wie das Leben der Menschen kurz ist. Die beiden Freunde wissen um ihre Vergänglichkeit. Vielleicht muss jeder von uns einen solchen Freund haben, schon allein deshalb, um ihn genau dann zu treffen, wenn in der Welt einmal mehr nur die Waffen sprechen. Wir können uns natürlich auch in uns selbst einsperren. Aber niemand kann ein Jemand sein ohne die Liebe (die Augen, die Ohren) der Anderen.

INTE­GRATIONS­CHECK mit dem ­VATER von Nicol L ­jubić

Es gibt einen Fragebogen, mit dessen Hilfe sich untersuchen lässt, wie gut Migranten in Deutschland integriert sind. Ich würde mit dir gern zum Spaß ein paar Fragen durchgehen ... Ich bin integriert, sehr gut sogar. Vielleicht ja auch nicht und du weißt es nur noch nicht. Ich lebe seit über 50 Jahren in diesem Land. Ich habe auch einen deutschen Pass. Der hat mich damals 750 Mark gekostet, das war eine Stange Geld. Bist du so weit? Kann ich anfangen? Von mir aus. Du wirst schon sehen. Wann genau bist du nach Deutschland gekommen? Im November 1962. Das Land deiner Herkunft? Das weißt du doch. Jugoslawien. Welche Ausbildung hast du? Ich bin gelernter Autoelektriker, aber auch das weißt du doch. Kennst du deine Rechte als Immigrant? Ich habe alle Rechte. Ich bin schließlich Deutscher, ­waschechter Deutscher. Wie stehst du zur Todesstrafe? Mit der Todesstrafe gäbe es weniger Verbrecher. Also bist du dafür? Wer kleine Kinder vergewaltigt und umbringt, gehört auf den elektrischen Stuhl. Du weißt schon, dass das nicht mit dem Grundgesetz in Einklang steht? Ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Ich bin mir sicher, die meisten denken so.

Marica Bodrožić (*1973 in Zadvarje/Dalmatien), ­ utorin, Übersetzerin und Filmemacherin, unter­richtet A im Auftrag des Goethe-Instituts an Schulen und U ­ ni­versitäten. Bodrožić erhielt bislang zahlreiche Auszeichnungen, unter ihnen den Förderpreis zum Adelbert-­von-­ Chamisso-Preis, das Grenzgänger-­ Stipendium der Robert Bosch Stiftung, den Initiativpreis Deutsche Sprache sowie den Literaturpreis der Europäischen Union. Zuletzt erschien ihr Buch »Das Auge hinter dem Auge« (Otto Müller Verlag, 2015). Nicol Ljubić (*1971 in Zagreb/Jugoslawien) wuchs in Schweden, Russland und Deutschland auf. Studium der ­Politikwissenschaften, freier Journalist und Autor. Auszeichnungen: Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis u. a. Zuletzt e ­ rschien sein Buch »Als wäre es Liebe« 2012 bei Hoffmann und Campe. Marjana Gaponenko (*1981 in Odessa/Ukraine), ­ tudium der Germanistik, schreibt seit ihrem 16. L S ­ ebensjahr auf Deutsch, 2015 erschien ihr erstes Theater­stück bei Suhrkamp, Auszeichnungen: Adelbert-­­­­von-ChamissoPreis u. a. Zuletzt erschien von ihr 2015 »Strohhalm in Luzifers Schweif« in der edition miromente.

Kennst du deine Pflichten? Pünktlichkeit ist das A und O. Und dich an die Regeln halten. Zwischen ein und drei Uhr wird kein Rasen ­gemäht. Früher haben sich die Nachbarn auch daran gehalten, aber seit hier die ersten Ausländer wohnen, wird darauf nicht mehr geachtet. Die mähen, wann sie wollen. Und nicht die Hand aufhalten, das ist auch eine Regel. Mir hat niemand etwas geschenkt. Als ich nach Deutschland kam, habe ich bei einem Autohändler gearbeitet. Habe wochenlang ­Blinker montiert. Die deutschen Kollegen waren sauer auf mich, weil ich in einer Stunde mehr geschafft habe als die in drei. Und nach der Arbeit bin ich zu einem anderen Autohändler und habe bis nachts Unfallautos repariert. Ich habe nie was vom Staat bekommen. Ich sag immer, du musst den Leuten Arbeit geben und nicht Geld fürs Nichtstun. Müssen Migranten, die sich entscheiden, in Deutschland zu wohnen, die deutsche Sprache lernen? Die Sprache ist das A und O. Wenn du die Sprache nicht kannst, behandeln sie dich wie einen Idioten. Deshalb habe ich von klein auf zu dir gesagt: Lern Deutsch! Das ist das Wichtigste. Und sei gut in der Schule! Wie gut ist dein Sprachvermögen, auf einer Skala von 1 bis 10 ... 10.

Aber ich habe doch immer deine Briefe geschrieben, weil du Schwierigkeiten hattest mit der Orthografie, und du sagst nach 50 Jahren immer noch der Straße statt die Straße und bei dir bekommt man etwas in den falschen Heiz. Im Laden regst du dich manchmal über die Verkäufer auf, die dich nicht verstehen, aber – ehrlich gesagt – das ist auch nicht immer ganz leicht. Wenn du mich fragst: Ich würde dir auf der Skala eine 6 geben. Dich fragt aber keiner. Aber wenn du eine 10 hast, was habe ich dann? Auch eine 10. Obwohl du auch mal eine Vier im Zeugnis in Deutsch hattest. Ich erinnere mich, vor allem weil du zwei Tage nicht mit mir geredet hast. Weil ich das bis heute nicht verstehe. Deutsch ist deine Muttersprache, wie kann man da eine Vier im Zeugnis haben? Kommen wir lieber zur nächsten Frage: Müssen Migranten, die sich entscheiden, in Deutschland zu wohnen, deutsche Freunde haben? Ja. Ich habe nur deutsche Freunde. Schon allein die ganze Verwandtschaft. Der Bruder deiner Mutter, die Schwester, der andere Bruder. Und der Kegelverein. Bernd, Klaus, Gustav und die anderen Kegelbrüder. Sollen Migranten, die sich entscheiden, in Deutschland zu bleiben, ihre eigenen Sitten und Gebräuche behalten? Besser nicht. Stell dir mal vor, die Griechen, die sagen gern Avrio, wenn sie etwas tun sollen, Avrio heißt morgen, und Avrio ist Avrio, so kommt man aber in Deutschland nicht weit. Gehört Essen auch zu Gebräuchen? Ich denke schon. Das ist schon wichtig, ich meine, Eisbein und Labs­ kaus, das ist nichts für mich. Ich vermisse die Palatschinken von meiner Schwester, Palatschinken mit Nüssen, da könnte ich mich reinsetzen. Wenn deine Mutter Pfannkuchen macht, dann sind das Tortenböden. Und ­Slivovic. Wenn ich in Kroatien bin, muss ich immer allen Nachbarn eine Flasche mitbringen. Früher habe ich in der Badewanne meinen eigenen Slivovic gebrannt, das ganze Haus hat nach Alkohol gestunken und dann sind sie alle gekommen, Klaus, Hartmut, die ganze Nachbarschaft. Ivo, haben die gesagt, keiner macht so guten Schnaps wie du! Müssen Migranten, die sich entscheiden, in Deutschland zu bleiben, die deutsche Kultur kennenlernen? Das mache ich doch jeden Tag vor dem Fernseher. Den Alten mag ich, Schimanski nicht, kein deutscher Polizist kann sich solche Manieren leisten, den hätten sie längst rausgeschmissen. Plusminus gucke ich gern, die haben gute Tipps, wie man Strom sparen kann zum Beispiel, letztens haben die Bio-Essen getestet und herausgefunden, dass das alles Quatsch ist, es ist nicht besser als normales Fleisch. Warst du mal im Theater? Hast Goethe oder Schiller gelesen? Auf der Reeperbahn war ich mal, in einem Varieté, aber das ist schon lange her. Ich habe Bücher von Konsalik und Simmel gelesen, die sind auch beide schon tot.


29 Hast du dich schon mal als Migrant diskriminiert ­gefühlt? Ich bin kein Migrant, ich bin Deutscher, waschechter ­sogar. Hast du dich schon mal als waschechter Deutscher diskriminiert gefühlt? Ich habe mit deiner Mutter eine Wohnung gesucht, ist aber auch schon fünfzig Jahre her, damals konnte ich noch kein Deutsch. Als der Vermieter das gemerkt hat, hat der gesagt: Ein Ausländer, bloß nicht! Und dann war deine Mutter sauer, dass ich den Mund aufgemacht habe. Wir haben damals noch im Schrebergarten gewohnt. Ein Zimmer, Küche, kein fließendes Wasser und statt einer Toilette hatten wir einen Topf. Warum bist du überhaupt nach Deutschland gekommen? Mein älterer Bruder war vor mir aus Jugoslawien abgehauen, er lebte in Martigues und hatte Arbeit gefunden und schrieb, wie gut es ihm ging. Ich wollte zu ihm und träumte von einem besseren Leben. Ich habe in Frankreich politisches Asyl bekommen, das war damals kein Problem. Ich habe dann auf einem Schrottplatz gearbeitet und 1962 bin ich nach Deutschland, weil ich deine Mutter kennengelernt habe. Welche Erwartungen hattest du an Deutschland? Ich wollte arbeiten. Sonst nichts. So ist das eben, wenn man in ein Land kommt und nichts hat, dann muss man bei Null anfangen. Aber ich habe was aus meinem Leben gemacht. Und sieh dich um: Wir haben ein eigenes Haus, ein Auto, wir sind immer in Urlaub gefahren, du hast studiert. Du hast alles. Und keiner behandelt dich wie einen Idioten, weil du die Sprache nicht kannst. Aber ich habe diesen Nachnamen, der nicht deutsch klingt. Und manchmal fragen mich die Leute, woher ich so gut Deutsch kann. Junge, du hast einen deutschen Pass, deine Mutter ist Deutsche, du bist auf deutsche Schulen gegangen. Dafür spreche ich kein Kroatisch. Ich kann mich nicht mal mit meiner kroatischen Familie unterhalten. Und wenn ich in Kroatien bin und die Leute sehen meinen Namen, können sie es nicht fassen, dass ich ihre Sprache nicht spreche. Ich wollte, dass du Deutsch sprichst, wir leben in Deutschland und werden auch in Deutschland bleiben und in Deutschland wird Deutsch gesprochen. Was sollst du hier mit Kroatisch? Aber es geht doch auch darum, seine Biografie nicht zu verleugnen. Zu unserer Biografie gehört doch auch, dass wir einen Teil der Familie in Kroatien haben. Deswegen war es mir auch wichtig, dass deine Enkel deinen Nach­namen bekommen, damit ihnen bewusst ist, dass ihr Opa in einem anderen Land geboren wurde. Und damit Deutschland sich daran gewöhnt, dass Deutsche auch Özbek heißen oder Aziz oder eben Kovač wie wir. Junge, hast du irgendwelche Probleme in diesem Land? Dir geht es gut. Aber es gehört doch dazu, sich einzumischen. Integration heißt Teilhabe, nicht alles stillschweigend akzeptieren. Junge, sei zufrieden mit dem, was du hast. Ich habe mich auch nie beschwert. Ich habe auch nie Ärger gemacht. Bin nicht ein einziges Mal zu spät zur Arbeit gekommen. Und wenn ich was mache, dann richtig. Pfuscherei gibt es bei mir nicht. Aber es geht doch nicht darum, so zu werden wie die Deutschen. Das ist Assimilation. Es geht doch darum, sich über die kulturellen und sprachlichen Grenzen hinweg zu verstehen. Und nicht seine Identität aufzugeben. Ich weiß nicht, was du willst. Wirklich nicht. Du bist hier geboren. Du bist doch kein Kroate, du sprichst ja nicht mal die Sprache. Welche Identität gibst du denn auf? Ob dir das gefällt oder nicht: Du bist waschechter Deutscher, so waschecht wie ich. Vielleicht noch ein bisschen wasch­echter.

Vom ­LITE­RATEN zum TELEPATHEN von Marjana Gaponenko Lord Weidenfeld gewidmet Montag 8. September 2081 Hochelegant und durch sein Alter gebeugt steigt er die Hoteltreppe hinab – der Dinosaurier der deutschen Literatur. Die weiße Nelke im Knopf­ loch des Sakkos, als symbolische Brücke zur Natur, schwingt ausgelassen. Seine romantische Ader hat Gustav Hennings in zahlreichen Ge­dichten, Romanen und Theaterstücken trotz der ­Aktualität seiner Themen wie kein anderer d ­ urchschimmern lassen. Das dunkelhäutige Stubenmädchen, das in einer Mauernische einen gigantischen Fresienball von welken Blüten befreit, scheint zu begreifen, dass er es ist, auf den die vielen Journalisten in der Hotellobby warten. Der jungen Frau fällt es sichtlich schwer, nicht über das ganze Gesicht zu strahlen. Gustav Hennings zwinkert ihr im Vorübergehen zu. Das Klicken von Kameras ist zu hören. So volksnah sieht man den Grandseigneur nur selten. Längst hat er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, und wäre es nicht das Staatsbankett zu Ehren seines 100. Geburtstags, hätte er diesen Tag fernab des Hauptstadttrubels begangen – bei sich im Grünen mit seinen vierbeinigen Lieblingen oder bei einem Telepathie-Experiment in seinem Bunker. Der Nobel-Laureat für Literatur finanzierte ihn vor mehreren Jahrzehnten mit dem Preisgeld. So feierte er seinen Abschied von der Welt der Worte. Die Grube für den Bunker hob er selbst zweiundachtzigjährig in seinem Garten aus. MG Marjana Gaponenko: Herr Hennings, was ist das für ein Gefühl, als Literat mit einem Staatsbankett geehrt zu werden, während man selbst längst auf anderen Gefilden tätig ist? H Hennings: Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits muss so ein Staatsbankett eine feine Sache sein, es wäre gelogen, wenn ich versichern würde, dass es mir gleichgültig ist, ob der deutsche Staat meine literarischen Ergüsse der Vergangenheit würdigt oder nicht. Nein, ich freue mich darauf, ich tue es sogar mit kindlicher Freude und würde am liebsten all die Menschen informieren, die mal mit mir mitgefiebert und mir so einen Tag prophezeit haben, doch leider sind sie seit langem tot. Nun ja. Andererseits ärgere ich mich ein wenig. MG Die Ehre hat in der Tat auf sich warten lassen. H Es ist schade, dass meinem Œuvre mehr Gewicht zugeschrieben wird als meiner Arbeit auf dem Gebiet der nonverbalen Kommunikation. Ich sehe mich inzwischen schon lange nicht mehr als Literaten oder überhaupt ­jemanden, der dem Reich des Geistes zugehörig ist, zumindest nicht im humanistisch geprägten Sinne dieses Wortes. Mein Reich des Geistes ist kein Wort, es ist reell und wird in kontrollierten Experimenten ergründet. Abends versteckt sich dieses Reich gelegentlich in meinem Schnapsschrank. (lacht) MG In Ihrem Schnapsschrank? Wie meinen Sie das ­genau? H Sehen Sie, wir beide liefern den Beweis für die Existenz des Phänomens, das keines ist: Gedankenfunk, das, was man gleiche Wellenlänge nennt. Entweder ist man verbunden oder nicht. MG Sie behaupten, dass der Sinn für Humor etwas mit der Telepathie zu tun haben muss? H Genau, so wie die verbale Kommunikation im Übrigen. Ohne eine mitschwingende Portion Telepathie würden Menschen wahrscheinlich aneinander vorbeireden. MG Auf diesem Gebiet forschen Sie als ehemaliger Mann des Wortes. H Die Basis meiner Forschung wurde vor rund hundert Jahren von einem britischen Biologen namens Rupert Sheldrake gelegt, der nach kurzem Ruhm sehr schnell wieder in Vergessenheit geraten ist. So wie er setze ich mich für die Anerkennung der Telepathie in der Wissenschaftsgemeinde ein und scheue nicht, trotz meines Bechterew mit meinen Thesen an die Öffentlichkeit zu treten. Leider regiert die materialistische Sicht nach wie vor auf unserem Planeten. MG Möchten Sie Ihre Botschaft nochmals für unsere Leser zusammenfassen? H Die Existenz von Telepathie zeugt davon, dass das sogenannte Bewusstsein sich nicht auf das Innere des Kopfes beschränkt, es dehnt sich aus in Zeit und Raum. Ein Umdenken unseres Weltverständnisses ist längst fällig.


30 MG Haben Sie keine Angst, dass dieses Umdenken schwere Folgen haben könnte? H Bleibt uns etwas anderes übrig? Wenn Einstein mit solchem Ansatz geforscht hätte, wären wir ganz woanders. Schlimmer ist die Ignoranz, mit der die Naturwissenschaften die zahlreichen Hinweise aus der Bevölkerung als Humbug und Illusionen abtun. Das ist höchst unwissenschaftlich. Es ergibt sich die Frage, wozu wir forschen, aus Spaß an der Freude oder weil wir es wissen wollen? Wo ist die darwinistische Volksnähe der verflossenen Jahrhunderte? Mein Urgroßvater war Jahrgang 1904. Er hat in einer Zeit gelebt, in der jede Köchin wissenschaftsbesessen war. Es war normal, fortschrittsgläubig zu sein. Der moderne Mensch weiß leider nichts von dieser beglückenden Empfindung. Ich habe sie noch als Knabe beim Raketenspiel gekannt, da habe ich mit meinen Spielkameraden mit Herzklopfen in einer Pappkiste gesessen und die erste Mondlandung nachgespielt. MG Erstaunlich, in welcher historischen Tradition Sie stehen. Halten Sie die Idee des Fortschritts immer noch für zeitgemäß? H Natürlich. Ich zweifle nicht, dass die größten Entdeckungen der Menschheit noch bevorstehen. Die Wissenschaft muss ihre Grenzen verschieben und darf sich nicht im reinen Dogmatismus erschöpfen. MG Wie läuft so ein Telepathie-Experiment in Ihrem Bunker ab? H Ich steige hinab, lege mich auf das Sofa, liege eine Weile mit geschlossenen Augen da, denke an eines meiner Tiere da oben und nehme Kontakt auf. MG Ihre Tiere befinden sich außer Sicht und Hörweite? H Wir sind durch 7 Meter Erde und Betonmauern getrennt, so liege ich in meiner Gruft und bitte, sagen wir mal, meine Ziege, sich zum Zaun zu begeben und dort auf mich zu warten. Und in der Tat, dies zeichnet mein Assistent auf, eilt sie in diesem Moment an den Zaun. Bei einem größeren Experiment bleibt die Ziege im Bunker, während ich ihr von oben signalisiere, sie soll sich nicht die Beine in den Bauch stehen, sondern es sich auf dem Sofa gemütlich machen, und zwar mit dem Gesicht zur Wand. MG Haben Sie selbst eine der Manifestationen von Telepathie jemals gespürt? H Aber ja, ich weiß noch zu genau, wie das war. Als junger Literat war ich auf die Verbreitung meiner Werke angewiesen. Damals wurden die B­­ücher gedruckt. Man hat Geld dafür bekommen. Einmal habe ich mein Romanmanuskript meinem Verlag geschickt, in der Hoffnung, er würde es annehmen. Monate sind vergangen, und dann ist ein Briefumschlag angekommen. Einen Tag davor habe ich im Bad meine Zähne geputzt, zu der Zeit wurde dies noch manuell gemacht. Da ist es mir mit einem Mal durch den Kopf geschossen: Morgen bekommst du eine Absage in einem Umschlag mit einer ungestempelten Briefmarke. So ist es auch eingetroffen – ein Beispiel für die Präkognition. Die Briefmarke habe ich übrigens wiederverwendet. MG Danach haben Sie mit dem Schreiben aufgehört? H Nein, erst 30 Jahre später. Da hatte ich eines meiner Bücher zufällig in der Hand. Es war ein Roman, der im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts erschienen war und die Geschichte eines Biologen erzählt, der von der Existenz einer universellen artenübergreifenden Ursprache überzeugt ist. Ich habe darin geblättert, mich an meine Anfänge erinnert und plötzlich gewusst, dass es völliger Quatsch ist, was ich da geschrieben hatte. Das Zwitschern der Vögel, das Miauen der Katzen und die Sprache der Menschen haben nichts, rein gar nichts miteinander zu tun. Es ist müßig, nach einer gemeinsamen Wurzel zu suchen. MG Seitdem haben Sie nichts mehr publiziert. H Ich konnte nicht schreiben. Es waren zermürbende Jahre des Zweifelns und Grübelns. Ich bin aus der Stadt aufs Land gezogen und habe begonnen, Tiere zu beobachten. Irgendwann habe ich mir zwei Pferde gekauft. Sie haben mir gezeigt, dass komplexe Inhalte in freier Wildbahn nicht durch Laute oder Körpersprache, sondern telepathisch vermittelt werden. Telepathie ist nicht nur effizient, sie ist überlebenswichtig. Mir wurde klar, wie armselig wir mit unseren verbalen Ausschweifungen doch sind und was für einen Schatz wir im Laufe der Evolution vergeudet haben, vernachlässigt, um genau zu sein, seit der Sesshaftwerdung unserer jagenden Vorfahren. Unsere Sprachen, die aus purer Langeweile entstanden sind, haben unsere Fähigkeit zur Telepathie unter sich begraben. MG Ist es denn so schlimm, dass wir uns weiterentwickelt haben? H Nicht weiter, sondern anders. Es gibt aber keinen Grund, darauf stolz zu sein. Würde man die Erkenntnisse meiner Forschung ernst nehmen, käme man zu einem erweiterten Begriff von Zeit und Raum. Dies könnte bei all unseren globalen Herausforderungen eine neue Diskussionsebene bzw. Perspektive geben. Der derzeitige Fokus auf lineare, zeitlich-historische Abläufe und Wirkungen spielt Demagogen und Populisten in die Hände. MG Herr Hennings, wir danken für das Gespräch.

globale° – Festival für ­grenz­überschreitende ­Literatur 2016 »Im Grenzenlosen sich zu finden«

Das Literaturfestival globale° versammelt alljährlich Autorinnen und Autoren, die in deutscher Sprache schreiben, obwohl ­es nicht ihre Muttersprache ist. Dieser Schwerpunkt soll künftig um Veranstaltungen erweitert werden, die verstärkt in länderübergreifende Kooperationen eingebunden sind. Damit möchten die Festivalmacher der Tatsache Rechnung tragen, dass die fortschreitende Internationalisierung, die man in der deutschsprachigen Literatur ­beobachten kann, als ein Phänomen im gesamt­europäischen bzw. globalen Kontext zu be­greifen ist. Vor diesem Hintergrund werden beispielsweise ­Autorinnen und Autoren vom größten französischen Literaturfestival »Étonnants Voyageurs« nach Bremen eingeladen, deren Texte sämtlich als Vertreter derselben frankofonen »Welt­ literatur« zu lesen sind – egal ob sie im Maghreb oder in Westafrika, in Québec, der Karibik oder in Europa entstanden. Zudem sollen die Kooperationen mit der nieder­ ländischen Stichting Literaire Activiteiten ­Groningen, einer über die L ­ andesgrenzen hinweg r­ eichenden Plattform für Literaten, ­Kultur­­schaf­f ende und Literaturinteressierte, sowie mit tschechischen Künstler/innen vertieft werden. Künstlerische Leitung: Elisabeth Arend, Libuše Černá (CZ) Autor/innen: Maria Cecillia Barbetta (DE/ AR), Artur Becker (DE/PL), Marica Bodrožić (DE/HR), Dimitré Dinev (AT/ BG), Dante Andrea Franzetti (CH), Marjana Gaponenko (UA), Arnon Grunberg (NL), Nicol Ljubić (DE/HR), José F. A. Oliver (DE/ES), Jaroslav Rudiš (CZ), Boualem Sansal (DZ), Saša Stanišić (DE/ BA), Yōko Tawada (DE/JP) u. a. Bremen, Bremerhaven, Oldenburg: 28.10.–14.11.2016 ↗ www.globale-literaturfestival.de


» I C H R E I S E auf meiner ­J I DDI SC H K E I T , wohin ich WILL…« 31


32 Frau Salzmann, Herr Czollek, Sie leben als junge Juden in Deutschland. Viele junge Israelis ziehen gerade nach Berlin. ­Umgekehrt schreiben z. B. Mirna Funk oder Yascha Mounk Bücher darüber, wie und warum sie Deutschland verlassen. Ist ­Jüdisch-Sein in Deutschland eine Belastung? Czollek: Ich fang mal ganz jüdisch mit einem Witz an, den ich Sasha geklaut habe. Frage: Warum nehmen J­uden keine Schmerztablette? Antwort: Weil die Schmerzen aufhören könnten! Jüdisch-­Sein ist immer eine Belastung. Darum ist es auch kein Problem, in Deutschland zu leben, sondern außerordentlich jüdisch. Dem individuellen Juden stellt sich dann eher die Frage, welche Konflikte er oder sie aushalten will und welche nicht.

Sasha Marianna Salzmann und Max Czollek über jüdische Identitäten in Deutschland

Salzmann: In Deutschland können die Menschen nicht mal das Wort »Jude« aussprechen, ohne das Gesicht zu verziehen, aus Angst, was das alles bedeuten könnte, eine Beschimpfung, eine Opfer-, eine Täter*innengeschichte. Das ist aber für mich keine Belastung, eher für die anderen. Mit meinem Davidstern um den Hals und dem offenen Umgang mit meiner Kultur in Unterhaltungen bin ich oft damit konfrontiert, wie lang der Weg zu einer Normalisierung noch ist. Der ist es aber wert.

Wie unterscheidet sich Ihr Selbstverständnis von dem Ihrer Eltern? Czollek: Wenn ich mich mit meiner Elterngeneration vergleiche, dann würde ich sagen, dass wir uns nicht so sehr in ­Perspektive oder Zielsetzung unterscheiden. Vielleicht habe ich weniger von jener Angst, die sich in dem mittlerweile stereotyp gewordenen Bild der gepackten Koffer oder der Schlösser an der Tür ausdrückt. Aber noch etwas anderes spielt eine zentrale Rolle: Ich bin in jüdischen Institutionen sozialisiert worden. Und zwar von der ersten Klasse bis zur dreizehnten in der Jüdischen Schule Berlin und dann noch einmal gegen Ende meines Studiums und für die gesamte Dauer meiner Promotion. Das ist eine Situation, die es in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat! Salzmann: Meine Eltern wurden als Juden entlassen, physisch angegriffen, politisch verfolgt. Sie haben sich für ihre Kinder gewünscht, dass wir nicht mit dieser Realität konfrontiert werden, und versuchten auf ihre Weise einen Spagat zwischen Assimilation und Einpuppung in das Bekannte. Sie haben sich nicht bewusst von anderen Kulturkreisen distanziert, sie haben als Juden unter Juden gelebt, das lag sozusagen in der Natur der Sache damals in der Sowjetunion. Jedenfalls haben sie mir das so erzählt und ich stand dieser Haltung sehr skeptisch gegenüber. Ich habe mir gewünscht, wir wären alle Internationalisten, Kosmopoliten, wir bräuchten keine Markierungen, keine Labels für das, was wir sind, und könnten uns als Menschen begegnen. Da hatte ich noch nicht genug Erfahrung gemacht mit struktureller Exklusion im Alltag, sie war »nur« erst mal die Erzählung meiner Eltern. Das änderte sich spätestens, als ich nach Deutschland kam.

Frau Salzmann, Sie sprechen immer wieder von den »shifting personalities«, die zeitgenössische Identitäten am treffendsten beschreiben. Gleichzeitig fühlen Sie sich als Jüdin. Ist das eine Konstante in einer sich stetig wandelnden Identität? Salzmann: Jüdin sein ist das Gegenteil einer Konstante, vielleicht gilt das für alle Identitäten, ich kann nur für meine sprechen. Es gibt ja keine jüdische Kultur, es gibt jüdische Kulturen. Ich bin Atheistin, ich habe keine Verbindung zu Israel, ich bin mit Jiddisch aufgewachsen, vor allem mit den Chochmes und jüdischer Literatur. Shabbes wurde bei uns nicht gefeiert, gleichzeitig gab es Dreidl und Mesusa zu allen möglichen Anlässen geschenkt. Beschneidungen konnten in der Sowjetunion nicht einfach so praktiziert werden, aber Klezmer schallte immer durch die Wohnung. Eine sehr eigene Kreation

des Jüdischen, die ich mir da aneignen konnte. Was ich an der jüdischen Kultur liebe, ist, dass sie kein Land hat. Sie entfaltet sich in unterschiedlichsten Gebieten, nimmt Bräuche an und vermischt sich. Das ist ein Teil des Konzeptes um shifting personalities. Letztendlich sind Identitäten ja Transportmittel und keine Zielpunkte. Ich reise auf meiner Jiddischkeit, wohin ich will. Welche Rolle spielt für Sie, Herr Czollek, Ihre jüdische Herkunft? Czollek: Ich glaube, dass sich meine »jüdische« Identität erst begreifen lässt, wenn ich sie im Kontext ihrer Erzeugung sehe. Solange ich auf einer jüdischen Schule war, hat mich die Frage nach dem Judentum ganz anders beschäftigt als danach in einer deutschen Universität, einem mehrheitlich nicht-jüdischen Raum. Ich habe diesen Unterschied zunächst vor allem als einen unterschiedlicher Familiengeschichten erlebt, später dann auch als eine Differenz im Wissen und in der Wahrnehmung: Wer kennt jüdische Festtage? Wer sieht Neubauten und denkt an Bombenlücken? Wer die kleinen GASAG-Bodenplatten mit der Aufschrift »Gas«? Diese Dinge haben nichts mit einem »Jüdisch-Sein« im Sinne einer jüdischen Essenz zu tun, sondern beziehen sich auf eine bestimmte Umwelt. Darum ist es auch kein Zufall, dass sich mein Selbstverständnis von Sashas unterscheidet. Die Juden gibt es nicht.

Das ID Festival, das im Oktober 2015 zum ersten Mal stattfand und in Deutschland lebende israelische Künstler versammelt, trug den Untertitel »Auf der Suche nach neuen Traditionen deutsch-israelischer Identität«. Wie verhält sich dieser Anspruch zum Desintegration-Kongress, wo es gerade um eine Kritik am neuen »deutsch-­jüdischen Wir« geht? Czollek: Ich denke, dass in Deutschland beides geht: die Behauptung des Bindestrichs (israelisch-deutsch) und die Kritik an einer zu großen Nähe als Juden für Deutsche. Für jüdische Israelis ist es auch vor dem Hintergrund der politischen Bedeutung, die Deutschland in Israel hat, interessant, die Möglichkeiten einer deutsch-israelischen Identität zu erkunden. Das Konzept der Desintegration wiederum ist vor dem Hintergrund einer Sozialisation als Jude in Deutschland entwickelt worden. Die »Juden« in Deutschland haben ein merkwürdiges Problem: Sie sind zu wichtig! Nicht nur ist die Vernichtung der Juden zum pars pro toto nationalsozialistischer Verbrechen geworden, diese Erinnerung hat sich auch noch als (bundes-)deutsches Erinnerungs- und Identitätsparadigma durchgesetzt. »Die Juden« sind zum zentralen Element in einer Konstruktion einer deutschen nicht-nationalsozialistischen Identität geworden. Als »Jude« für Deutsche erfülle ich bestimmte Aufgaben, wenn ich über Antisemitismus spreche, Position zu Israel beziehe oder über die Shoah/den Holocaust sinniere, indem ich zur Pogromnacht Kerzen anzünde, anlässlich einer Stolpersteinverlegung den Kaddish spreche oder Deutsche in den Arm nehme, weil sie traurig sind über ihren SS-Opa oder die Taten des deutschen Volkes. Salzmann: Sehen Sie, ich habe ja schon ein Problem mit der Gleichsetzung von Juden und Israelis. Meines Wissens nach leben in Israel nicht nur Juden, aber Juden sind gemeint bei solchen Events, wenn das Bild einer Einigkeit über bestimmte historische Prozesse erzeugt werden soll, der Schuld und Vergebung zum Beispiel, da kann ich nicht mitmachen. Zur deutsch-israelischen Identität kann ich nichts sagen, weil ich nicht mitsprechen kann, was für »neue Traditionen« diese zwei ­Länder miteinander entwickeln wollen. Der Desintegrationskongress wird das Harmoniebedürfnis der homogenen Erzählung stören, darauf freue ich mich. Bei dem Kongress geht es mir darum, die Vielfalt zu zeigen, die die Klammer JUDE mit sich bringt, die nicht beachteten Momente, die Überraschungen, die Marginalien. Ich empfinde unseren Kongress auch nicht als Kritik am »deutsch-jüdischen Wir«, ehrlich gesagt kenne ich ein solches auch nicht.


33 Bundespräsident Joachim Gauck sagte anlässlich des 50. Jahrestages der Aufnahme diploma­tischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, es gebe auch heute keine deutsche Identität ohne Auschwitz und keine israelische Identität ohne die Shoah. Gibt es eine jüdische Identität ohne die Shoah?

war. Das sind alles Wunden, über die wir nicht gerne sprechen. Aber ich würde unterstreichen: Es sind nicht einfach die russischen Juden versus Israelis oder deutsche Juden, es sind wir alle, die uns einspannen lassen in die divide et impera-Politik eines hegemonialen Diskurses.

Czollek: Sehen Sie, die Shoah bezeichnet doch sehr vieles, auch Popkulturelles. Wenn ich Lyrikworkshops durchführe, mache ich manchmal eine Übung zu Primärassoziationen und sage den Teilnehmenden dann, dass sie diejenigen Begriffe, die am häufigsten genannt werden, für ihre Gedichte nicht verwenden sollen (­ z. B. für »Liebe« nicht rot, Herz, Schmerz, usw.). Auch die Shoah löst eine solche Assoziationsketten aus, denken Sie mal an Stacheldraht, ausgehungerte Menschen, Geigen und Viehwaggons. Es geht mir darum, diese Bilder in einem funktionalen Zusammenhang mit einer Erinnerungskultur zu sehen, die von Seiten einer deutschen Dominanzgesellschaft konstruiert wird. Und die hat in Deutschland nun einmal das Problem, ihre eigenen Tätererinnerungen und -positionen verarbeiten zu müssen. Denn die Shoah ist auch Trägerin einer Vielzahl privater Assoziationen, die wahrscheinlich erheblich variieren. Mit der Desintegration soll der Blick geklärt werden für die vielfältigen Bezugnahmen, die möglich sind. Wenn ich es zuspitze, dann geht es mir darum, eine Sprache für die eigene Geschichte zu finden, die nicht nur in Reaktion auf das Begehren von Täternachkommen und ihrem Ringen um ein positives Selbstbild entsteht.

Czollek: Ja, ich kann Sasha nur zustimmen und möchte noch hinzufügen, dass die narrativen und anderen Ressourcen, welche durch die beiden großen Einwanderungsbewegungen aus der ehemaligen Sowjetunion und Israel eingebracht worden sind, in der öffentlichen Positionierung jüdischer Gemeinden/Gemeinschaft in Deutschland noch gar nicht richtig aufgenommen oder eingebunden worden sind. Wenn eine sowjetisch-jüdische Perspektive sagt: Wir haben den Krieg gewonnen, dann ist das sehr interessant, weil Juden, die so etwas von sich sagen, sich plötzlich nicht mehr als Opfer ­positionieren, sondern als Sieger. Wenn Israelis eine deutsch-israelische Kultur aufbauen wollen, dann sind sie plötzlich nicht mehr die Opfer-Juden, die mit schlechtem Gewissen geblieben sind, sondern die, die sich auf Deutschland zubewegen. Jüdische Sieger, ­jüdische Rächer, Inglourious Basterds – diese Figuren sind von immensem Interesse für ein queering des deutschen Gedächtnistheaters!

Salzmann: Ich bin die Hälfte meines Lebens aufgewachsen in einer Gesellschaft, die die jüdische Identität ohne die Shoah verhandelt hat. Klingt absurd, denn »Sieger des Krieges gegen den Faschismus« zu sein, müsste ja eigentlich die Shoah mit inkludieren, tatsächlich war aber das, was den Juden angetan wurde, nicht wichtiger als das, was mit den Kommunisten im Holocaust gewesen ist. Es ist eine Perspektivverschiebung, ein anderer Fokus, man sucht sich immer die passenden Opfernarrative, um sie für den Eigenzweck zu instrumentalisieren. Es gibt viele Länder der ehemaligen Sowjetunion, in denen der Holocaust an den Juden mit Unterstützung der jeweiligen Regionsbevölkerung bis heute nicht nur nicht aufgearbeitet ist, sondern gar nicht eingehend im Geschichtsunterricht vorkommt. Ein Wissen um die jüdische Identität gibt es trotzdem, und wie.

In einem taz-Interview (Dezember 2015) erklärte sich Micha Brumlik den Rechtsruck in den jüdischen Gemeinden wie auch in Israel mit dem Zuzug russischer Einwanderer. Zwischen den jüdischen Gemeinden und den jungen Israelis in Deutschland gibt es wenige Berührungspunkte. Verläuft da eine Kluft entlang der alten Trennlinie Ost/West, oder ist das vielmehr ein Generationen­konflikt? Salzmann: Ich finde es schwer bis unmöglich, Brumliks Aussage auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Unsere Ambivalenzen gegenüber den heutigen Positionierungen der jüdischen Communities haben sicherlich eine historische Kontinuität, aber man muss sich auch die veränderten Vorzeichen anschauen: Israel ist heute etwas anderes als zur Staatsgründung, und die russischen Juden, die aus ihrem Land fliehen, kommen mit einer anderen Haltung als damals ’48. So wie es kein monolithisches Gesellschaftsbild geben kann, kann es auch kein einheitliches Bild einer Community geben. Denken Sie einmal an das Verhältnis zwischen deutschen und osteuropäischen Juden vor der Shoah, ein gegenseitiges kritisches Begutachten, ein Abschätzen. Dabei wurden Hierarchien aufgebaut, die bis heute nachwirken: die armen Jiden aus den Stetle und die großbürgerlichen Juden aus Westeuropa. Andersrum gibt es bis heute einen unterschwelligen bis offen ausgesprochenen Vorwurf der israelischen und russischen Juden an deutsche und osteuropäische Juden, warum sie überlebt haben und auf welche Weise – wer mit wem kooperiert hat, um es durch den Krieg zu schaffen, wer welche Listen erstellt hat und wer im Widerstand und Partisan*in

Bei »Desintegration« geht es ausdrücklich auch um das Verbünden mit anderen marginalisierten Gruppen wie z. B. den Muslimen. Spielt die Erfahrung der Marginalisierung für die Identität junger Juden in Deutschland eine größere Rolle als z. B. Religion oder Kultur? Salzmann: Marginalisierung kann ein Teil einer Kultur sein kann – nicht, dass ich ihr das wünsche, aber der ständige Umgang mit Exklusion schreibt sich ein in die Performance einer Kultur. Ich denke schon, dass die Erfahrung von Ausgrenzung die betroffenen Gruppen einander näher bringt in der Reflexion über strukturelle Benachteiligung und dem Kampf dagegen. Exklusion kann auf unterschiedlichsten Ebenen stattfinden, das kann ja auch wegen geschlechtlicher Identität sein oder ökonomischer. Der Desintegrationskongress ist eine große Einladung zu neuen Allianzen. Die haben nur bedingt was mit ethnischem Background zu tun, es geht um den Willen, aktiv an Selbstbildern zu arbeiten, sie umzudenken und umzuschreiben. Czollek: Wie eben erwähnt, gehe ich davon aus, dass die Juden in Deutschland nach 1945 bzw. seit den späten 1970ern eine ganz eigentümliche Position innehaben, ungewöhnlich nah an einer deutschen Identität. Es liegt eine verführerische Attraktivität in der damit verbundenen materiellen und sozialen Anerkennung als Juden für Deutsche. Ich glaube, dass wir uns mit anderen marginalisierten Gruppen darüber austauschen sollten, was für Alternativen es zu einer solchen Kooption gibt und welche Erfahrungen sie in und mit der deutschen Dominanzgesellschaft gemacht haben. Diese Frage nach Verbündeten betrifft zugleich aber nicht nur marginalisierte Gruppen, sondern auch Verbündete aus der Dominanzkultur.

Der Begriff »postmigrantisch«, so haben Sie, Frau Salzmann, es einmal ausgedrückt, beschreibt ein »Dasein in der Marginalisierung, obwohl man längst nicht mehr ‚irgendwoher kommt‘«. Die Schriftstellerin Olga Grjasnowa sagt in einem Interview, dass sie höchstens für die Generation der »jungen, überprivilegierten, weißen Menschen« sprechen könne. Margi­nalisiert und privilegiert, schließt sich das nicht mehr aus? Czollek: Ich würde sogar sagen: Das hat es noch nie! Wir sind immer ­vielfach verortet: Wir haben ja alle ein (zugewiesenes) Geschlecht, eine Hautfarbe, einen ökonomischen Status, eine Religion, ein Alter und eine Kranken­akte. Selbst, wenn ich zufällig einmal in allen diesen Punkten privilegiert sein sollte, dann wird sich das mit ziemlicher Sicherheit wieder ändern, denn ich

werde ja älter, ich habe vielleicht einen Unfall oder verliere meinen Job. Grundlage der Desintegration ist eine Anerkennung der Rolle von Vielfalt und Eigenständigkeit für eine funktionierende demokratische Ordnung. Salzmann: Shifting personalities heißt auch shifting contexts. Ich muss mir meiner Privilegien an einem Wohnort wie der Türkei sicherlich bewusst sein, wenn ich jederzeit mit meinem deutschen Pass raus und rein kann und meine Freunde mit türkischer Staatsbürgerschaft nie raus dürfen. Man darf sich der eigenen Position nie sicher sein, man muss sie immer neu verhandeln und dann selber entscheiden, aus welcher Perspektive man sprechen will, bevor das für einen entschieden wird.

Des­integration Ein Kongress zu zeitgenössischen ­jüdischen Positionen

Was ist der gemeinsame Nenner jüdischer Identität? Sind Juden eine Glaubensgemeinschaft, eine Ethnie oder eine Opfergruppe? Der Kongress im Maxim Gorki Theater in Berlin will einen Raum der Selbstreflexion schaffen, um die Frage nach einer jüdischen Identität zu verhandeln. Er führt dazu sehr unterschiedliche in Deutschland lebende Gruppen zusammen: die sowjetischen Migranten, die Einwan­derer aus Israel sowie die Juden aus der G ­ ruppe deutscher Überlebender oder Rück­­kehrer. Durch das M ­ otto »Desin­tegration« wollen sich die Organisatoren ­be­wusst von gesellschaftlichen Zu­ schrei­bungen lösen und sich gegenüber den Fremdkonstruktionen in Deutschland nach 1945 distanzieren. Der Kongress ist in seiner thematischen Zuspitzung innovativ und provokant zugleich. Schon die erste Frage der Podiumsgespräche lautet: »Exorzismus: Sind die deutsche und die jüdische Seele voneinander zu trennen?« Das Kongressformat ist vielfältig, das Programm umfasst Lesungen und Streitgespräche, Performances und Workshops, Thoradiskussionen sowie Konzerte. Die Initiatoren wenden sich ausdrücklich auch an eine nicht-jüdische Öffent­lich­keit und möchten ein möglichst breites Publikum erreichen. Diese Offenheit spie­gelt sich wider in der Wahl des Veranstaltungsortes und der politischen Positionierung des Maxim Gorki Theaters. Künstlerische Leitung: Max Czollek, Sasha Marianna Salzmann Teilnehmende: Yael Almog (IL), Idil Baydar, Ljudmilla Belkin (DE/UA), ­Yevgeniy Breyger, Leah Carola Czollek & Gudrun Perko (AU), Johannes Frank, Marina Frenk (DE/MD), Michel Friedman (DE/FR), Alexander ­Grodensky, Yuriy Gurzhy (DE/UA), Cecilia (IT) und Yair Haendler (IL), Sapir Heller (DE/IL), Tobias Herzberg, Liad Hussein (DE/US/ IL/PS), Daniel Kahn (DE/US), Ijoma Mangold, Hannah Peaceman, Mehmet Yılmaz, Deniz Utlu Studio Maxim Gorki Theater, Berlin: 6.–8.5.2016 ↗ www.gorki.de


34 Trotzdem ist es nicht so, dass das Dazugehören zu einer hegemonialen Ordnung etwas ist, was ich für mich beschließen oder ablehnen kann. Marginalisierung ist ein radikaler gesellschaftlicher Mechanismus des Ausschlusses. Ob man marginalisiert ist oder nicht, ist letztlich keine identitäre Frage, sondern eine existenzielle. Bleibt dies nicht ein Paradoxon – ist die »Thematisierung realer Marginalisierungs­erfahrungen«, um die es bei »Desintegration« dann doch auch geht, nicht ebenso eine Kon­struktion von Identität innerhalb der deutsch-­jüdischen Problematik? Kann man so der Wahrnehmung und Festlegung als Opfer ­entkommen? Salzmann: Thematisierung realer Marginalisierungserfahrungen ist notwendiger Bestandteil eines Prozesses von Selbstermächtigung. Das bedeutet noch lange nicht, dass man einen Opferdiskurs aufmacht. Für Menschen, die aktiv von Rassismus, Antisemitismus, Chauvinismus und jeglichen Formen der Menschenverachtung betroffen sind, ist ihre alltägliche Erfahrung keine intellektuelle Konstruktion, die man dechiffrieren kann. Wir entwickeln und besprechen im Kongress Strategien der Unterwanderung, Bandenbildung, queere Positionen und suchen nach neuen Narrativen. Diese Narrative sollen den gegebenen Status quo nicht ausblenden, sondern progressiv damit umgehen. Czollek: Natürlich ist der Kongress kontextbezogen in dem Maße, in dem er auf eine gegenwärtige Situation Bezug nimmt und eine Intervention sein möchte. Ich glaube, das lässt sich gar nicht vermeiden, und will das auch nicht. Ich glaube auch nicht, dass diese Gegenüberstellung richtig ist – entweder wir Juden für uns oder wir Juden für Deutsche! Der Kongress ist eine Übung, jüdisch zu sein, der Suche also nach einer Sprache und einem Vorstellungsraum für eine kritische Selbstbestimmung dessen, was jüdische Identität in Deutschland bedeuten kann. Für so eine Suche ist die Gegenüberstellung von Wir und Ihr absolut notwendig, aber diese Gegenüberstellung ist eine performative Behauptung, die letztlich eine strategische Funktion erfüllt. Es gibt uns nicht, aber wir behaupten einen Gegensatz zur Dominanzkultur und machen sie dadurch als deutsch sichtbar.

Ist die deutsche Erinnerungskultur, die sowohl das Gedenken an die Opfer des Holocaust als auch die Erinnerung an die eigene Täterschaft wachhält, inzwischen kontraproduktiv? Was würden Sie daran gern ändern? Czollek: Mir geht es nicht so sehr um eine Abschaffung des Bestehenden, als um eine Perspektivierung. Die deutsche Erinnerungskultur bildet den Reflexionsprozess einer Dominanzgesellschaft ab, die sich mit ihrer eigenen Täter*innenposition auseinandersetzt. Das bedeutet nicht, dass »die Opfer« keine Rolle spielen, ganz im Gegenteil: Sie spielen eine sehr wichtige Rolle im deutschen Gedächtnistheater. Und diese Rolle begrenzt die Möglichkeiten dessen, was ein jüdischer Zugriff auf die eigene Geschichte bedeuten könnte. Was würde ich also ändern? Ich würde die Vielfalt der Erinnerungen und Narrative in einer pluralen jüdischen Gemeinschaft stärker betonen und sie der eingespielten Interaktion bestimmter Juden/jüdischer Institutionen mit einer bestimmten deutschen Erinnerungskultur gegenüberstellen. Fluchtpunkt dieser Gegenüberstellung bleibt die öffentliche Wahrnehmbarkeit einer Vielfalt jüdischer Identitäten in Deutschland. Salzmann: Ich stehe der deutschen Erinnerungskultur sehr skeptisch gegenüber, weil sie sich für mich oft als Stellvertreterdebatte entpuppt, indem man sie als Schutzargument gegen Versuche hält, über strukturellen Rassismus in Deutschland zu sprechen. Die Rechnung, mit der ich mich immer wieder konfrontiert sehe, ist: Wir können keine Rassisten sein, weil wir den Holocaust an den Juden aufgearbeitet haben. Vereinfacht gesagt. Solche Formen von Instrumentalisierungen sind brutal

und zeigen ein Ausblenden von zwei Dingen auf: Einerseits, dass Rassismus ein strukturelles Problem ist, auf dem unsere gesamte Gesellschaft aufbaut und wovon sie profitiert. Sie würde zusammenbrechen, wenn wir an die Länder, in denen wir an Genoziden beteiligt waren, Reparationszahlungen leisten würden. Und zweitens: Dass man Antisemitismus nicht aufarbeiten kann. Er ist ein Teil des Fundaments der Gemeinschaft, in der wir leben. Ich wünsche mir eine permanente Auseinandersetzung damit. Mit einem it’s all done-Häkchen ist es nicht getan. Die Fragen stellte Friederike ­T­­appe-Hornbostel an die Künstlerischen Leiter/innen des Desintegration-­ Kongresses. Sasha Marianna Salzmann, 1985 in Wolgograd geboren, erhielt für ihr erstes Theaterstück »Weißbrotmusik« 2009 den Wiener Wortstaetten Preis. Seitdem hat sie zahlreiche Texte für das Theater geschrieben, darunter »Muttersprache Mameloschn« und »Muttermale Fenster blau«, die mit dem Mülheimer Publikumspreis und dem Kleist-Förderpreis ausgezeichnet wurden. Sie war die Mitherausgeberin des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext und leitete von 2013 bis 2015 das ­Studio des Maxim Gorki Theaters, an dem sie Haus­autorin ist. Der Lyriker Max Czollek, 1987 in Berlin geboren, gründete das Berliner Autorenkollektiv G13 und war Kurator für das Projekt »babelsprech« zur Vernetzung junger deutschsprachiger Lyriker/innen. Neben Veröffentlichungen in Zeitschriften, Anthologien und im Internet erschienen vom ihm die Gedichtbände »Druckkammern« und » ­ Jubeljahre« (2012 und 2015, beide Verlagshaus J­ . Frank, heute: Verlagshaus Berlin). Seit der Spielzeit 2013/14 ist Max Czollek Kurator der Lyrik­reihe »Gegenwartsbewältigung« für das Maxim Gorki Theater. K ­ ürzlich schloss er seine Promotion am Zentrum für Antisemi­tismus­ forschung der TU Berlin ab.


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NEUE P r o j e k t e Die interdisziplinäre Jury hat auf ihrer letzten Sitzung im Herbst 2015 30 neue Förderprojekte ausgewählt. Die Fördersumme beträgt insgesamt 4,57 Mio. Euro. Ausführlichere ­Informationen zu den einzelnen Projekten finden Sie auf unserer Webseite ­www.kulturstiftung-­ bund.de oder auf den Webseiten der Projektträger. Die aktuelle Jurysitzung findet Ende April statt. Nächster Antragsschluss für die Allgemeine Projekt­förde­ rung ist der 31.7.2016. Die Mitglieder der Jury (28. Sitzung): ­Joachim Gerstmeier Leiter des Bereichs Darstellende Kunst bei der ­Siemens Stiftung / Dr. Angelika Nollert ­Direktorin Die Neue Sammlung – The International Design Museum Munich, Pinakothek der Moderne / Dr. Andreas Rötzer Verleger und Geschäftsführer des Verlags Matthes & Seitz Berlin / Albert Schmitt ­Managing Director der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen / Gisela ­Staupe Stell­ vertretende Direktorin des D ­ eutschen Hygiene-­­Museums Dresden / K ­ arsten Wiegand Intendant des Staatstheaters Darmstadt

STADTLAND: Kirche Querdenker für Thüringen 2017

Die etwa 2000 evangelischen Kirchen in Thüringen stehen fast alle unter Denkmalschutz und werden mit großem öffentlichem Engagement bewahrt. Insbesondere seit 1990 wurden zahlreiche Kirchen gesichert, instand gesetzt und wieder einer Nutzung zugeführt. Doch wie geht es weiter, wenn die Zahl der Kirchenmitglieder schrumpft und Kirchengebäude angesichts demografischer und gesellschaftlicher Entwicklungen nicht mehr für kirchliche Zwecke genutzt werden? Wie kann man mit dem Leerstand kulturhistorisch bedeutender Gebäude umgehen? Zu diesen Fragen wird ein internationaler offener Ideenaufruf gestartet. Ein Kuratoren-Board aus Künstler/innen, Fotograf/innen und Architekt/innen unterstützt die internationale Verbreitung des Aufrufs und entscheidet über die eingereichten Beiträge. Die Ergebnisse werden in Thüringen im Lutherjahr 2017 ausgestellt und sollen auch zur Weltausstellung der Reformation in der Lutherstadt Wittenberg präsentiert werden. Ergänzend zum ­I­deenwettbewerb sollen weitere künstlerische Positionen zu dieser Fragestellung entstehen. Nach dem Abschluss des Projektes sollen herausragende Beispiele für Umbau und Umnutzung in den Jahren 2018 bis 2023 im Rahmen der IBA Thüringen umgesetzt werden.

Künstlerische Leitung: Sonja Beeck, Detlef Weitz / chezweitz Kuratoren-Board: Architektur: Barbara Holzer Landschaftsarchitektur: Marc Pouzoul Kommunikationsdesign: Tom Unverzagt Publizistik: Florian ­Heilmeyer Fotografie: Anne ­Schönharting Darstellende Kunst: Jürg Montalta Angewandte Kunst: Barbara Steiner EKM / Theologie: Christian Fuhrmann Künstler: Carsten Nicolai Kooperationspartner: IBA Thüringen, IBA Parkstadt / Niederlande, IBA Heidelberg, IBA Basel Kaufmannskirche Erfurt: 13.5.–19.11.2017; Limburg (NL) und Heidelberg: 13.5.–19.11.2017; Dorf- und Stadtkirchen Thüringen: 14.5.–22.10.2017; Kaufmannskirche ­Erfurt (drei IBA-Salons): 14.6.–18.10.2017; Wittenberg (Weltausstellung zur Reformation): 20.5.–10.9.2017 ↗ www.ekmd.de

Ellen Cantor Retrospektive

Die amerikanische Künstlerin Ellen Cantor (1963–2013) stellte in ihrem Werk Fragen nach Glaube, Identität und Liebe. Medial vielfältig erforschte Cantor die ästhetischen und politischen Grenzen von Sexualität und Liebe, von Autonomie und Widerstand. Mit Zeichnungen, Performances, Filmen, Fotografien und Texten ging sie auch immer wieder der Frage nach, wie weibliches Verlangen imaginiert und dargestellt werden kann. Die Ausstellung »Ellen Cantor«, ein gemeinsames Projekt des Künstlerhauses Stuttgart und des CCA Wattis in San Francisco, ist die erste Retrospektive von Cantors Werk. Viele Arbeiten werden zum ersten Mal öffentlich zu sehen sein. Cantors zentrale Filmarbeit »Pinochet Porn«, die der Geschichte von fünf Kindern nachgeht, die unter dem Regime des chilenischen Diktators aufwachsen, wird erstmals in voller Länge in Kinos in Stuttgart und San Francisco gezeigt. Ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm mit Lesungen, Performances, Workshops und einem Symposium begleitet die Schau und bietet die Gelegenheit, mit internationalen Theoretiker/innen und Künstler/innen zu den Themen Gender, Sexualität und Politik in Dialog zu treten. Künstlerische Leitung: Fatima Hellberg (SE) Kurator/innen: Fatima Hellberg (SE), Jamie Stevens (US) Künstler/innen / Wissenschaftler/innen: Lauren ­Berlant (US), Ellen Cantor (US), Pedro Cid Proença (PT), John Cussans (UK), Lia Gangitano (US), Joseph Grigley (US), Catherine Malabou (FR)

The Wattis Institute, San F ­ rancisco: 8.12.2015–13.2.2016; ­Künstlerhaus Stuttgart: ­2.4.–31.7.2016 ↗ www.kuenstlerhaus.de

Franz Marc – Der Turm der blauen Pferde Ein Meisterwerk wird vermisst

1913 artikulierte Franz Marc mit seinem Bild »Der Turm der blauen Pferde« eine Vorahnung vom Ersten Weltkrieg. Das Gemälde, das zu den Meisterwerken des deutschen Expressionismus zählt, befand sich seit 1919 im Besitz der Berliner Nationalgalerie und avancierte während der Weimarer Republik zum Publikumsmagneten. Obwohl als »entartete Kunst« stigmatisiert, überdauerte es den Zweiten Weltkrieg unbeschadet und wurde zuletzt 1948 in Berlin-Zehlendorf gesehen – seitdem gibt der ungewisse Verbleib des Gemäldes zu Spekulationen Anlass. Sieben Jahrzehnte danach macht das Haus am Waldsee das weitgehend un­aufgeklärte Schicksal des Gemäldes zum Gegenstand künstlerischer, wissenschaftlicher und schriftstellerischer Recherche: Zehn international renommierte Künstler/innen sind eingeladen, das Werk, seine Geschichte und sein Schicksal mit den Mitteln der Malerei (Norbert Bisky, Christian Jankowski, Katharina Grosse), der Zeichnung (Marcel van Eeden, Martin Assig), der Bildhauerei und Installation (Via Lewandowsky, Birgit Brenner), des Films ( Julian Rosefeldt), der Fotografie (Thomas Demand) und der Literatur (Julia Franck) aus heutiger Sicht und im Dialog mit führenden Kunstwissenschaftlern zu reflektieren. Allen Arbeiten gemein ist, dass sie sich mit Themen des Übergangs befassen – wie dem Verschwinden, Wiederauftauchen und Neubewerten. Die Ausstellung versteht sich als Beitrag zur internationalen wissenschaftlichen Debatte über Raubkunst. Das Publikum wird sowohl mit den Fakten als auch mit möglichen Szenarien konfrontiert. Idealerweise führt die Gesamtveranstaltung zum ­Wiederauffinden des »Turm der blauen Pferde«. Künstlerische Leitung: Katja Blomberg Künstler/innen: Marcel van Eeden (NL), Norbert Bisky, Via Lewandowsky, Birgit Brenner, Martin Assig, Christian Jankowski, Julian Rosefeldt, Julia Franck, Thomas Demand, Katharina Grosse Haus am Waldsee, Berlin: 9.12.2016–12.3.2017; Museum van Boijmans Beuningen, Rotterdam: 7.9.–27.11.2017; Symposium: Haus am Waldsee, Berlin: 3.3.–4.3.2017 ↗ www.hausamwaldsee.de

Angezettelt Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute

Bereits 1883 forderten in der Berliner Stadtbahn die ersten Klebezettel: »­ Kauf nicht bei Juden!« Und bis heute verunstalten Aufkleber – etwa mit einer durch­gestrichenen Moschee – so manchen ­öffentlichen Ort. Das Zentrum für Antisemitismusforschung thematisiert mit seiner Ausstellung »Angezettelt« die Funktionsweise, historische Entwicklung und weltweite Verbreitung eines Mediums, das nie bloß der Unterhaltung, der Marken- oder Produktwerbung diente, sondern immer auch dazu, antisemitische und rassistische Vorurteile zu festigen. Die Schau im Deutschen Historischen Museum zeigt, wie Sticker in verschiedenen politischen Kontexten vom 19. Jahrhundert bis heute genutzt wurden, um Ressentiments zu schüren, und veranschaulicht die visuelle Prägung von Stereotypen und politischer Propaganda. Um der Breite des Themas gerecht zu werden, bedient sich das Projekt der Unterstützung einer ganzen Reihe internationaler Partner, Sammler und Archive, darunter die Jüdischen Museen Berlin und Frankfurt, ein Stickermuseum in den USA, das Archiv der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem und die Wiener Library London. Die Schau präsentiert anhand des weitgehend unerforschten Mediums aktuelle Positionen und Ergebnisse der Antisemitismusund Rassismusforschung. Jedoch nicht isoliert, sondern im Kontext der provozierten Reaktionen der angegriffenen Minderheiten. Ein umfangreiches Begleitprogramm mit internationalem Symposium, Kuratorenführungen und einem Filmprogramm rahmt das Projekt, das in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Museum entsteht. Künstlerische Leitung: Isabel Enzenbach, Stefanie Schüler-­ Springorum Deutsches Historisches Museum, ­Berlin: 20.4.–31.7.2016 ↗ www.dhm.de

Heiner Goebbels. Die Provinz des Menschen Videoskulptur / Komposition

Ein Mann verlässt das Theater, tritt auf die Straße, setzt sich in ein Auto und fährt nach Hause. In der Klang- und Video-Installation »Die Provinz des Menschen« hören und beobachten wir diesen Mann über einen Zeitraum von 10 Jahren bei diesem immer gleichen Ritual in etwa


36 50 Städten in 25 Ländern. Bei seinen Fahrten durch die Städte schildert er seinen Blick auf die Gesellschaft anhand von Passagen aus Elias Canettis Buch »Die Provinz des Menschen«. Die Hauptfigur in der gleichnamigen Klang- und Video-­ Installation des Komponisten und Regisseurs Heiner Goebbels spielt der französische Schauspieler André Wilms. Das Langzeitprojekt wird nun in Dresden erstmals als multimediale Skulptur in der Kunsthalle im Lipsiusbau ausgestellt. In 54 aufeinanderfolgenden Filmsequenzen entwickelt sich eine vielstimmige Klangkomposition aus den Soundscapes der Städte. Wichtige Motive der Installation sind das Hören, das Sehen, die Wiederholung, aber auch das Altern und das Verhältnis des Einzelnen zum öffentlichen Raum. Die Stadt Dresden besitzt mit der Gemäldegalerie Alter Meister oder dem Albertinum eine bedeutende kunsthisto­ rische Tradition, es gibt jedoch wenige Ausstellungsorte für zeitgenössische Kunst. Die Ausstellung »Die Provinz des Menschen« soll dazu beitragen, den Lipsiusbau im Zentrum der Stadt als einen solchen Ort noch stärker in der Öffentlichkeit zu verankern. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden knüpfen damit an ihre William-Forsythe-Ausstellung am gleichen Ort an und öffnen sich weiter dem interdisziplinären Diskurs der Gegenwartskunst. Künstler: Heiner Goebbels Kurator: Hartwig Fischer Projektteam: Hilke Wagner, Gwendolin Kremer, Mathias Wagner Staatliche Kunstsammlungen Dresden / Kunsthalle im Lipsiusbau, Dresden: 15.1.–10.4.2016 ↗ www.skd.museum.de

Möglichkeit Mensch

wissenschaftler sowie eine Filmreihe vertiefen die Thematik. Künstlerische Leitung: Claudia ­Emmert, Jörg Scheller, Jürgen Bleibler, Karen van den Berg, Maren Lehmann Kuratorin: Friederica Ihling Künstler/ innen: AES+F Group (RU), Art Orienté Objet (FR), Tim ­Berresheim, Revital Cohen / Tuur Van Balen (GB), Mariechen Danz (IE), Heather Dewey-­Hagborg (US), Hiroshi Ishiguro (JP), Christian ­­ Jankowski, Eduardo Kac (BR), Eva Kotátková (CZ), Viktoria Modesta (LV), Marnix de Nijs (NL), Jon Rafman (CA), Sašo Sedlaček (SI), Ryan Trecartin (US) Zeppelin Museum, Friedrichshafen: 28.4.–9.10.2016 ↗ www.zeppelin-museum.de

Wir nennen es Ludwig Das Museum Ludwig wird 40!

Am 5. Februar 1976 unterzeichneten Peter und Irene Ludwig einen Schenkungsvertrag mit der Stadt Köln, mit dem das Museum Ludwig gegründet wurde. Die Eheleute stifteten 350 Werke Moderner Kunst verbunden mit der Auflage, dass der Neubau im Herzen der Stadt ihren Namen trüge. Das Museum Ludwig definiert sich durch seine Sammlung, seine Geschichte und die Menschen, die das Haus geprägt haben. ­Thema der breit angelegten Jubiläums­ ausstellung »Wir nennen es Ludwig« ist deshalb die Institution selbst. Yilmaz Dziewior, Direktor des Museum Ludwig und künstlerischer Leiter der Ausstellung, lädt rund 24 internationale Künstler/innen ein zu reflektieren, was das Museum Ludwig auszeichnet und wie

seine Zukunft aussehen könnte. Dabei geht es auch um aktuelle Überlegungen zur Rolle einer Kunstinstitution, die gesellschaftliche Fragen zu Migration, Postkolonialismus, Globalisierung und kul­ tureller Identität mit aufgreifen. Das Ausstellungsprojekt entwickelt Ideen und Strategien für ein Museum des 21. Jahrhunderts, untersucht die Sammlungstätigkeit im Kontext öffentlicher und privater Interessen und ermöglicht neue künstlerische Perspektiven auf die Institution Museum. Begleitet wird die Schau von einem vielseitigen Vermittlungsprogramm für verschiedene Zielgruppen und Altersstufen. Künstlerische Leitung: Yilmaz Dziewior Künstler/innen: Georges Adéagbo (BJ), Minerva Cuevas (MX), Maria Eichhorn, Andrea Fraser (US), Meschac Gaba (BJ), Hans Haacke, Pratchaya Phinthong (TH), Gerhard Richter, Avery Singer (US), Villa Design Group (GB) u. a. Museum Ludwig, Köln: 27.8.2016–8.1.2017 ↗ www.museum-ludwig.de

Rilke und Russland Forschungs- und Ausstellungsprojekt

Das Literaturarchiv Marbach hat sich mit avancierten Ausstellungen, die herkömmliche Literaturausstellungskonzepte hinter sich zu lassen vermochten, international hervorgetan. Nun hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein möglichst umfassendes und detailreiches Bild von Rilkes Russland-Prägung zu vermitteln, die der Dichter wesentlich zwei längeren ­Reisen nach Russland und in die Ukraine verdankte. Die Kooperation des Marba-

cher Archivs mit dem Staatlichen Literaturmuseum der Russischen Födera­tion, dem Schweizerischen Literaturarchiv Bern sowie die Berücksichtigung von ­D okumenten aus Privatsammlungen ­verspricht eine in dieser Fülle bisher ­einzigartige Zusammenstellung und un­ gewöhnliche Aufbereitung historischer Materialien: Inwiefern fungierte Rilke als Kulturvermittler und Brückenbauer zwischen den Kulturen? Das Ausstellungsprojekt übersteigt erwartungsgemäß wieder den traditionellen Rahmen einer Literaturausstellung, indem es aktuelle Fotografien von Barbara Klemm und Mirko Krizanovic einbezieht. Krizanovic begibt sich ­e benso wie die Schriftstellerin Ilma­ Rakusa und die Filmemacherin Anastasia ­Alexandrowa auf die Spuren Rilkes durch Russland und die Ukraine und entwirft ein aktuelles atmosphärisches Panorama von dem, was Rilkes Lebensgefühl stark geprägt und unübersehbar Spuren in seinem Werk hinterlassen hat. Die integrale Einbeziehung der Künstler/innen soll dazu führen, dass die literaturhistorischen Archivalien selbst als Kunstobjekte wahrgenommen werden. Das Projekt erhebt den Anspruch, einen gänzlich neuen Typ literarischer Ausstellung mit einem ungewöhnlichen Schauwert aus der Taufe zu heben. Künstlerische Leitung: Thomas Schmidt Fotograf: Mirko Krizanovic Autorin: Ilma Rakusa (CH) Regie: Anastasia ­Alexandrowa (RU) Ausstellung: Literaturmuseum der Moderne, Marbach: Januar–Mai 2017; Tagung: Deutsches Literaturarchiv, Marbach: Januar 2017; Ausstellung: Museum Strauhof, Zürich: Juni–August 2017; Tagung: Schweizerisches

In seiner Entwicklungsgeschichte ist der Mensch beim homo technicus angekommen – Technik berührt heute alle Lebensbereiche. Sind wir auf dem Weg zum »Technoself«? Ist es für den Menschen tatsächlich charakteristisch, dass er unaufhaltsam seine Umwelt und sich selbst technisiert? Und wie rezipiert und reflektiert die Kunst Technik und Technologien? Das interdisziplinäre Ausstellungsprojekt »Möglichkeit Mensch« verwebt die Sphären Kunst und Technik und untersucht das Verhältnis von Körper und Apparatur. Die Ausstellung thematisiert die Höhenforschung mit dem Ballon seit dem 19. Jahrhundert und verdeutlicht das Bestreben des Menschen, sogar lebensfeindliche Räume zu erschließen. Weiterhin beschäftigen sich 16 internationale Künstler/innen mit dem »Digital Native«, der seinen Körper als Möglichkeitsraum entdeckt: Vom DNA-Spray über die stilisierte Beinprothese bis hin zu implantierten Sensoren oder Chips. Die hier gezeigte Body-, ­Performance- und Bio-Art repräsentiert das Transformationspotenzial des mecha-ethischen, transhumanen Menschen und setzt sich kritisch damit auseinander. Vorträge internationaler Soziologen, Philosophen, Theologen und Kultur­

© AES+F / Courtesy Multimedia Art Museum, Moscow & Triumph Gallery, Moscow

Körper / Sphären / Apparaturen

AES+F Group, Last Riot 2, The Carrousel, 2007 / Digital Collage


37 Tanzszene geführt hat. Anlässlich des 2016 in Hannover stattfindenden Tanzkongresses widmet sich die Ausstellung »Körper und Bühnen« im Kunstverein ­Hannover der Schnittstelle von Tanz, Performance und Bildender Kunst. Im Mittelpunkt stehen zwei künstlerische Positionen: Alexandra Bachzetsis isoliert in ihren Arbeiten Gesten und Körpersprache aus ihren üblichen Kontexten und dekonstruiert Handlungsabläufe, die uns aus dem Alltag oder der Popkultur bekannt sind. Ihre Werke zeigen ­eindrucksvoll, wie sich der Körper von ­k ulturell geprägten Gesten löst und­ ­Autonomie verschafft. Bachzetsis wird filmische und installative Elemente ­sowie einmalig eine Performance zeigen. Der Schweizer Künstler Shahryar ­Nashat entwickelt eine Installation, die der australische Künstler, Tänzer und Choreograf Adam Linder performativ bespielen wird. Die beiden haben bereits mehrfach zusammengearbeitet. So hat Nashat Bühnenbilder und Raumsets für Linder entwickelt und Linder umgekehrt als Protagonist in den Filmen Nashats agiert. Linder und Nashat erforschen in ihren Arbeiten, wie sich Geschichten des theatralen Raumes in den Ausstellungsraum einschreiben lassen, und unter­ suchen Räume im Hinblick auf ihre ­Funktion als Repräsentationsraum. Ein Rahmenprogramm aus Vorträgen, Filmen und Performances ergänzt die Ausstellung.

Courtesy Galerie Buchholz, Köln/Berlin/New York, Foto: Sven Laurent

Künstlerische Leitung: Kathleen Rahn Künstler/innen: Alexandra Bachzetsis (CH), Shahryar Nashat (CH), Adam ­Linder (AU), Vaginal Davis (US) u. a. Kunstverein Hannover: 11.6.–28.8.2016 ↗ www.kunstverein-hannover.de

Influenza Das europäische und asiatische Figurentheater im Entdeckungsfieber

Mark Leckey, Leckey Legs, 2014 ­Literaturarchiv, Bern: Juli 2017; Ausstellung: Staatliches Literaturmuseum, Moskau: September–November 2017; Tagung: Staatliches Literaturmuseum, Moskau: Oktober 2017 ↗ www.dla-marbach.de

ICH Ausstellung in der Schirn Kunsthalle

Das Selbstporträt als exklusives P­rodukt künstlerischer Subjektivität ist heute Geschichte. Durch digitale Medien und mobile Technik ist es alltäglich geworden und jedem zugänglich. Was hat die Kunst den omnipräsenten Selbst­ darstellungen also entgegenzusetzen? Und wie reagiert sie auf die Zweifel an der Einheit und Darstellbarkeit des Subjekts, die die Philosophie im 20. Jahrhundert bereits vehement formuliert hat?

Die Ausstellung »ICH« zeigt Werke internationaler Künstler/innen, die exemplarisch für die ikonoklastischen Verfahren stehen, die das Genre des Selbstporträts in der zeitgenössischen Kunst durchläuft. Von konzeptionellen Arbeiten bis zur Fotografie verweigern die ausgestellten Werke ein repräsentatives Abbild. Die Künstler/innen versuchen dem Betrachter zu entgehen und letztlich zu entkommen: Günther Förg präsentiert sich kopflos eine Treppe hinabschreitend, Wolfgang Tillmans zeigt uns nur sein Knie, Paweł Althamer seine Kleider, Michael Sailstorfer formt seinen Namen in großen Lettern, Sarah Lucas tritt dem Betrachter beinahe ins Gesicht, während wir Florian Meisenberg in einem Live­ stream von seinem Smartphone verfolgen können. Auch in der zeitgenössischen Kunst bleibt die künstlerische Subjektivität ein Leitmotiv, die jedoch nicht mehr ausschließlich mit dem Abbild des Künstlers verbunden ist.

Künstlerische Leitung: Martina Weinhart Künstler/innen: Paweł Althamer (PL), Joseph Beuys, John Bock, Abraham Cruzvillegas (MX), Alicja Kwade (PL), Mark Leckey (GB), Sarah Lucas (UK), Jack P ­ ierson (US), Dieter Roth (CH), Wolfgang ­Tillmans, Rosemarie Trockel u. a. Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main: 11.3.–29.5.2016 ↗ www.schirn.de

Körper und Bühnen Performative Gegenwart

Seit 2006 veranstaltet die Kulturstiftung des Bundes alle drei Jahre in wechselnden deutschen Städten einen Tanzkongress, der zu einem nachhaltigen Erfolg für die Sichtbarkeit der deutschen

Die Beschäftigung mit asiatischen Kulturen bietet dem Westen nicht nur andere, fremde Symbole, die den eigenen hinzuzufügen wären. »Was wir in der Betrachtung des Orients anstreben können«, so Roland Barthes, sei »die Möglichkeit einer Differenz, einer Mutation, einer Revolution im Charakter der Symbolsysteme«. Im Fall des Figuren­ theaters ist die Begegnung mit den ­a siatischen Spielformen zudem eine Entdeckung der eigenen Wurzeln – die ältesten Zeugnisse dieser Kunst finden sich in Asien. Die Vielfalt der Ausdrucksformen reicht vom indischen Schattentheater und dem Handpuppenspiel über das ­vietnamesische Wassermarionettentheater bis zum japanischen ­Bunraku, das mit nahezu lebensgroßen Puppen gespielt wird. Die uralten Spieltraditionen treffen auf zunehmende Faszination bei europäischen Figurentheaterspielern. Gleichzeitig reisen junge Theaterakteure aus Indien und China seit einiger Zeit regelmäßig nach Europa und erforschen die Geschichte und Ästhetik des hie­sigen Puppentheaters. Dieses gegen­seitige Infizieren macht das Bochumer ­Festival »Figurentheater der Nationen« 2016 zum Thema


38 des Sonderprogramms ­»Influenza«. Es lädt sowohl Vertreter der traditionellen Spielarten als auch die vom anderen ­Kulturkreis beeinflussten Cross­overProjekte aus Europa und ­Asien ein. Ergänzend dazu verhandeln Workshops und Diskussionsrunden den Einf luss der ­europäischen und asiatischen Theater­ sprache auf das zeitgenössische Figuren­ theater. Ein Dokumentarfilmprogramm zeigt die Schönheit, aber auch das Verschwinden der mündlich überlieferten Spieltraditionen. Künstlerische Leitung: Annette Dabs Künstler/innen: Pavakathakali (IN), Tolu Bommalatta (IN), Anurupa Roy (IN), Thanglong Water Puppet Theatre (VN), Papermoon P ­ uppet Theatre (ID), Die Retrofuturisten, Ariel Doron (IL), Antje Töpfer, Karin Schäfer (AT), Yui Kawaguchi & Yoshimasa Ishibashi (J/D) Verschiedene Orte, Bochum: 4.–14.5.2016 ↗ www.fidena.de

My Truth Antony Hegarty / Anohni

Erstmals in Europa präsentiert die Kunsthalle Bielefeld 2016 das bildnerische Œuvre der britischen Künstlerin Anohni, die hierzulande ­vornehmlich als Musikerin unter dem Namen Antony Hegarty Bekanntheit e­ rlangte. H ­ egarty, die häufig an der Schnittstelle verschiedener Medien und Genres ­arbeitet, a­ vancierte im New York der ­vergangenen ­Dekade zu einer ­wichtigen Identifi­ka­tionsfigur für die Transgender-Bewegung. Als Aktivistin ­engagiert sie sich für die Rechte von Minderheiten. Auch in ihren künstle­rischen Arbeiten sind politische und gesel­l­ schaftliche Missstände zentrales ­Thema. Hegarty vertritt in ihrem Engagement zum Teil radikale ethische Grundsätze, aus denen sie den Anspruch einer Kunst entwickelt, die politische Ziele nicht bloß illustriert, sondern sich auch für deren Verwirklichung einsetzt. Diese Zweipoligkeit in Hegartys Leben – das künstlerische Schaffen hier, dort ihr politisches Engagement – spiegelt sich in der Konzeption der Schau »My Truth« wider: Anohni kuratiert eine Ausstellung, die sich dem Werk von Peter Hujar, James Elaine und Kazuo Ohno widmet. Mit der Fokussierung auf diese drei Künstler verweist sie auf die Wurzeln ihrer künstlerischen ­Tätigkeit wie auch auf die Berührungspunkte unterschiedlicher Kunstgat­tungen. Daneben sind Arbeiten von Anohni selbst zu ­sehen, mit denen sie ihr politisches E ­ ngagement artikuliert. Ein Symposium mit Tanzperformace und Konzert runden das Ausstellungs­ projekt ab, für das weitere Stationen in Europa geplant sind. Künstlerische Leitung: Friedrich ­Meschede Künstlerin: Antony Hegarty (GB) u. a. Kunsthalle Bielefeld: 23.7.–16.10.2016 ↗ www.kunsthalle-bielefeld.de

Wie viele W ­ ahrheiten ­passen ­ in einen M ­ enschen? Zum ersten Mal werden die Bilder Anohnis in Deutschland gezeigt, in der Ausstellung »My Truth« der Bielefelder Kunsthalle. Doch Anohnis Musik kennt man schon, denn sie ist der Kopf der Band »Antony and the Johnsons«. Antony Hegarty, Musikerin, und Anohni, ­Bildende Künstlerin, sind ein und dieselbe Person. Wenn man diese beiden Seelen begreifen möchte, schaut man sich am besten ihre Albumcover an, sie scheinen den Identitätswandel anzukündigen. Eine Annäherung von Friedrich Meschede. Das erste Studioalbum Antony Hegartys erscheint im Jahr 2000 und prägt den Namen der Band: »Antony and the Johnsons«. Mit der Namensgebung erinnert Hegarty an die afro-amerikanische Dragqueen Marsha P. Johnson, 1945 geboren als Malcom Michaels Jr. in Elizabeth, New Jersey. Sie war eine der führenden Aktivistinnen der Transgender-Bewegung in New York, Mitbegründerin der »Street Transvestite Action Revolutionaries« (STAR), die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, den von der Gesellschaft ausgestoßenen Dragqueens, Transvestiten und Prostituierten, aber auch einfachen Straßenkindern Nahrung und Kleidung zu geben. STAR ist eine selbstorganisierte, vom ­sozialen Engagement geprägte Bewegung, angesiedelt in der Lower East Side von Manhattan, in der die berühmte Christopher Street liegt und wo vor der Bar »Stonewall« der sogenannte »Stonewall-Aufstand« am 28. Juni 1969 begann, gegen die Polizeirazzien im Milieu von Farbigen und sexueller Minderheiten.

tinische Tänzerin Antonia Mercé y Luque, geboren 1890 in Buenos Aires, gestorben 1936 in Paris, die sich als Tänzerin »La Argentina« nannte, war wiederum ihrerseits für Kazuo Ohno die prägende Inspirationsquelle. Das Foto, das Kazuo Ohno als »La Argentina« darstellt, begründet für Anohni eine in sich logische Motivkette, die zum Beispiel in dem weiß geschminkten Gesicht erscheint, wie es Ohno im Butoh-Tanz trug und das sich Anohni bereits bei dem ersten Cover angelegt hatte. Swanlights, 2010 Für das Cover des darauf folgenden Albums »Swanlights«, das im Oktober 2010 veröffentlicht wird, verwendet Anohni nun eine von ihr selbst geschaffene Collage, Indiz für das neue Selbstvertrauen in die eigene Bildwelt. Es zeigt einen sterbenden Eisbären, der den Namen Swan­ lights trägt.

In der hier skizzierten Trilogie dreier Album-Cover wurzelt der Ausstellungstitel »My Truth« und offenbart sich zugleich ein Leitmotiv der künstlerischen Arbeit Anohnis, sowohl als Musikerin als auch als bildende Künstlerin: Krankheit und Tod, damit der Verlust von Freunden und Wegbegleitern in der Kunstszene New Yorks, derentwegen Anohni 1990 in diese Stadt gekommen war. In New York gründete sie zusammen mit ­Johanna Constantina die Performance-Gruppe »Blacklips« als ein Künstlerkollektiv und Teil der New Yorker Subkultur. In der Chronologie der Auftritte dieser Gruppe seit 1992 taucht der Name Antony Hegarty häufig in Zwei Tage vor dem bis heute ungeklärten Tod von Mar- verschiedenen Stücken auf. Ausgestattet mit einem Stisha P. Johnson (am 9. Juni 1992 fand man den Leichnam pendium der New York University wird 1996 eine erste im Hudson River) hatte sie ein umfangreiches Interview größere Produktion möglich: »The Birth of Anne Frank / über ihr Leben gegeben. Es ist Grundlage für die Film­ The Ascension of Marsha P. Johnson«, ein Stück, dokumentation »Pay it No Mind: The Life and Times­ das 1997 in dem berühmten Avantgarde-Performance-­ of ­Marsha P. Johnson« von Michael Kasino und Richard Zentrum »The Kitchen« erstmals aufgeführt wird und ­Morrison. In Berichten von Zeitzeugen wird Marsha ­P. zur Gründung der Band führt. »The Kitchen« war 1971 Johnson immer wieder als eine nahezu »heilige, charisma- als nicht kommerzieller Ort für Performance, Videotische Persönlichkeit« dargestellt, eine Charakterbeschrei- kunst und neue Musik gegründet worden, tatsächlich in bung, die uns später bei Kazuo Ohno ähnlich begegnen der Küche des Mercer Art Center in Greenwich Village. wird. Man darf das offensichtlich selbstlose, soziale En- Nach dem Umzug 1974 nach Soho befindet sich das gagement von Marsha P. Johnson soweit fassen, dass ihr Kunstzentrum seit 1985 in Chelsea. Die Aufführung des Name »Johnson« in der Szene, in der sie tätig war, generell Performance-­Stückes von Anohni führt zur Bekanntschaft als Synonym für sozialen Einsatz stand. Der Song »River mit James Elaine, der später als Kurator an das Armand of Sorrow« von Antony Hegarty aus dem Jahre 1998 ist Hammer Museum nach Los Angeles wechselt, wo 2012 Ausdruck der ­Trauer über deren Tod mit nur 46 Jahren und die erste Einzelausstellung mit Werken Bildender Kunst Grundlage für den programmatischen Bandnamen. In der von Anohni stattfindet. Trilogie der nachfolgenden Studioalben von »Antony and the ­Johnsons« kann man schrittweise und exemplarisch Anohnis bildnerische Technik geht von Fundstücken Aspekte des ­Titels der Ausstellung »My Truth« erkennen. aus, die in Kombination mit anderen Papieren als Collage oder anderen Materialien als Assemblage zu sehen sind.­ I Am a Bird Now, 2005 Die Verwendung bestimmter Fotos, Texte, Bildmotive ist Das preisgekrönte Album »I Am a Bird Now« erschien ausgelöst durch persönliche Konnotationen der Fund­sache. im Februar 2005. Auf dem Cover ist ein Foto von Peter Erlebnisse und gesellschaftliche Anliegen, wie der ­Einsatz Hujar zu sehen: »Candy Darling on her Deathbed« aus gegen den Klimawandel, der namentlich in ­»Swanlights« dem Jahre 1974. Candy Darling, 1944 als James Lawrence­ spürbar wird, verdichten sich in diesen ­Werken. Die TheSlattery in Forest Hill, New York geboren, war eine men dieser bildnerischen Werke Anohnis laufen paral­bekennende Transgender-Schauspielerin, sie trat u. a. lel zu den Anliegen, die sie mit ihrer musikalischen Arin Filmen von Andy Warhol und Werner Schroeter beit verfolgt. So hat sie im vergangenen Herbst die Single (1945–2010) auf. Sie starb am 21. März 1974 im Alter von »4 Degrees« pünktlich zum Auftakt des Weltklimagipfels in nur 29 Jahren. Das Foto von Peter Hujar mit den Blumen Paris veröffentlicht und damit eine inoffizielle Hymne des am Krankenbett, die Andy Warhol ihr hatte bringen las- Gipfels geschaffen. Auf der anderen, bisher unbekannten Seite werden Übermalungen, Ausschnitte oder mit Wachs sen, wurde eines von Hujars bekanntesten Fotos. versetzte Malerei und Plastiken zum Stilmittel einer persönlich codierten Bildsprache, die über die eigenen VerletThe Crying Light, 2009 Im Januar 2009 wurde »The Crying Light« veröffent- zungen hinaus als Metaphern für eine verantwortungsvolle, licht mit einem Foto von Naoya Ikegani auf dem Cover. politische Sicht auf unsere Welt zu lesen sind. Es zeigt den japanischen Butoh-Tänzer Kazuo Ohno 1977 in der Rolle von »La Argentina«. Kazuo Ohno, geboren Friedrich Meschede ist Direktor der 1906, gilt als einer der beiden Begründer des japanischen Kunsthalle ­Bielefeld. Butoh-Tanzes. Seine Kunst nimmt großen Einfluss auf Anohni und ihre Art der Konzertinszenierung. Die argen-


39 Drei Gedichte

von Sirka Elspaß

auf einer toilette in versailles bekomme ich meine tage begutachte das und sage in richtung unterkörper no one belongs here more than you / bloom wherever you're planted ich tropfe

das fleisch hat mich angefasst ich sehe im spiegelsaal

zu wie alles passiert reliquien der marie a. könnten sein verbrannte haare in der bürste o. ä. – ich föhne mir meine wimpern

als käme ich frisch aus dem krieg

versailles, zweiter teil das herz? ein schlachtabfall habe ich gelesen

und der gedanke nie an der fleischertheke zu stranden

gefiel mir sehr dort wo die schweine ihre beine ablegen neben die begrasten zungen des vieh gehört strom nicht mehr hin

ich habe ihn an einer anderen stelle ausgezogen wilde tiere werden ihn ausbuddeln und nicht zimperlich sein

aus der luft betrachtet sieht der garten von versailles aus wie ein integrierter schaltkreis ein mikrochip

manchmal sind sachen am leben für die ich nichts kann

zum beispiel ein mädchen das sich mit wimperntusche einen hitlerbart malt es gibt einen abfall für körperteile

zum beispiel wenn du deine hände nicht mehr haben willst manchmal passiert das

vielleicht hast du zu viele menschen angefasst dann kannst du sie loswerden unten im biomüll dort wo sich der holunder neigt

meine zehen sehen aus wie E.T.s finger

nach hause telefonieren ging damit noch nie

das bedeutet auf dem heimweg klatschen nicht mal die brennnesseln mit mir ab

2013 fand das inter­nationale »babelsprech«-Treffen junger deutschsprachiger Lyriker/ innen in Lana (Südtirol) statt. Es wurde damals von der Literaturwerkstatt Berlin / Haus für Poesie organisiert und von der Kulturstiftung des Bundes gefördert. Dieses Treffen war eine Art Initialzündung für weitere Initiativen und Zusammenkünfte, die zu einem sich stetig erweiternden grenz­überschreitenden Netzwerk von jungen Lyriker/innen geführt haben. www.babelsprech.org, auch ein babelsprech-­›Baby‹, das den Kinderschuhen rasend schnell entwachsen ist, informiert über diesen einzigartigen Zusammenschluss von ­Lyriker/innen, ihre Ideen, Aktivitäten und Arbeiten. Zur öffent­ lichen Aufmerksamkeit trägt auch der im Dezember 2015 erschienene Band »Lyrik von jetzt 3« bei, der die »babelsprech-­«Autor/innen mit einer Auswahl von Gedichten vorstellt. Wir veröffentlichen die Gedichte zweier vielversprechender Lyrikerinnen, die 2016 beide erst ihren 21. Geburtstag feiern: Christiane Heidrich und Sirka Elspaß. Wir sind gespannt, was ihr aus euch macht, was aus euch wird. Sirka Elspaß, geboren 1995 in Oberhausen, studiert ­Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim. Lebt und arbeitet ebenda. ­www.fred-erika.de Christiane Heidrich, ­geboren 1995 in Karlsruhe, lebt in Wien. Studium Bildende Kunst in Stuttgart und Sprachkunst in Wien. (Ihre Gedichte lesen Sie auf S. 45.)


40

TÄ NZER s t a t t SOLDATEN o d e r­ G E S T E N­ GEGEN DIE A N G S T


41 M Margarita Tsomou: Es ist Anfang 2016, und du probst gerade in Brüssel. Was bereitest du vor? B

Boris Charmatz: Ich arbeite an »danse de nuit«, einem Stück für sechs Tänzer, das nachts in urbanen Räumen stattfinden wird. Als wir für das Musée de la danse in Rennes nach dem richtigen Spielort suchten, kam uns der Gedanke, dass die beste Architektur gar keine wäre – dass nicht Wände, sondern die sich bewegende Stadt unsere Architektur sein sollte. So unternehmen wir eine Reihe Recherchen und beziehen uns dabei auch auf die Problematik des öffentlichen Raums in Europa. Man bedenke, dass sich auf unseren Plätzen und Bahnhöfen viel mehr bewaffnete Soldaten als Tänzer_innen aufhalten. Die will ich nicht naiv ersetzen, aber deutlich machen, dass unsere Straßen immer mehr zu Orten der Angst vor dem »Anderen« geworden sind, aber auch Orte, in denen Segregation und Privatisierung stattfindet.

M Wo und wie willst du das Stück performen?

Boris Charmatz über neue Erfahrungsräume für den Tanz

B Ich habe an den Place de la République in Paris gedacht, an dem die Versammlungen gegen Jean-­ Marie Le Pen stattgefunden haben und der immer wieder unterschiedlich genutzt wird, unter anderem für Demonstrationen, als Open-Air-Schule für Flüchtlinge oder für die Trauerkundgebungen nach Charlie Hebdo und den Attentaten im November 2015. Aber vielleicht brauchen wir einen weniger aufgeladenen Ort ... Wir tragen keine Augenbinden, der Ort affiziert uns, aber auch wir verändern ihn durch unseren Tanz. Am Tanz gefällt mir, dass sein Ausdruck multiple Bedeutungen und Resonanzen bietet, seine Interventionen sind dadurch subtiler, er kann in bestimmte Orte sogar eintauchen – in diesen Momenten bin ich gern Tänzer. M Du nimmst demnächst am Tanzkongress 2016 in Hannover teil. Wie intervenierst du in diesen Kontext? B

nimmt es an einem Warm-up teil, wo es quasi selbst performt, dann besucht es eine Ausstellung, in der man sich ohne Anweisungen und Einschränkungen bewegen kann, und als Drittes sieht es ein Stück wie »manger«, das horizontal auf einer Ebene mit den Performern stattfindet. M Du hältst also das Publikum ständig in Bewegung, was mich an das Manifest des Musée de la danse erinnert, in dem du sagst, dass du die Beziehung zwischen Publikum und Performern transformieren oder neu denken willst ... B Als Sandra Neuveut, Martina Hochmuth und ich das Musée de la danse ins Leben gerufen haben, fanden wir, dass die einzelnen Räume für den Tanz zu sehr getrennt sind. Da sind zuerst einmal die Tanzklassen, in denen Tanz etwas ist, das man macht. Außerdem findet Tanz auf der Bühne statt, hier ist er etwas, das man sich ansieht. Aber der Tanz bietet eine viel größere Bandbreite an Erfahrungen – er kann Diskussionen und Texte auslösen, er kann auf Video betrachtet oder im Internet erfahren werden. Mit dem Musée de la danse wollten wir neue Erfahrungsräume für den Tanz öffnen. Wir versuchen, die Kluft zwischen Amateuren und Profis zu reduzieren, zwischen Pädagogik und Kunst, Recherche und Improvisation. Wie diese Haltung jeweils aktualisiert wird, ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich und hängt von den jeweiligen Teilnehmer_innen ab. Uns gefällt die ständige Standpunktverschiebung, der Übergang von einer Teilnehmer_in einer Tanzlasse zur ­Besucher_in, vom Passanten zum echten Tänzer. Was wir beim Tanzkongress machen, hängt mit diesem Gedanken zusammen. M Du wendest also durch diese drei Projekte die Logik des Musée de la danse auf Hannover an: Indem du sie – in ihrer Verschiedenheit – kombinierst, erweiterst du die Art und Weise, wie Tanz erfahren und produziert wird. Die Frage bleibt jedoch: Wie präsentierst du diese Stücke, die ja in einem anderen Kontext entstanden sind? Bei »manger« ist das nicht so schwer, weil es in einer Black Box spielt, aber wie gehst du bei »20 Dancers for the XX Century« vor?

Das ist noch in Vorbereitung. Ich arbeite seit kurzem an etwas, das ich, in Ermangelung eines besseren Begriffs, vorerst »transformative Choreografie« oder »Protokolle« nenne. Eine Art Methode, um Projekte zusammenzuführen. Nicht als Anei- B nanderreihung von Stücken, sondern als ineinandergreifendes Set, bei dem der Raum und die ­Teilnehmer_innen verschiedene Zustände durchlaufen und sich mit der Zeit verändern. Wir beginnen mit einem allgemeinen Warm-up. Man kann dabei zusehen, man kann aber auch mitmachen und selber zum Performer werden. Dann kommt das Publikum in die Oper Hannover, wo der Kongress stattfindet, und besucht die Life-­ Ausstellung »20 Dancers for the XX Century«. Das ist eine Ausstellung von Solo-Gesten aus dem 20. Jahrhundert, die wir schon an vielen Orten ­gezeigt haben, unter anderem in Berlin. Und im dritten Schritt kommen alle für das Tanzstück »manger« auf der Opernbühne zusammen. Das Publikum nimmt dann mitten auf der Bühne an der Performance teil, die Performer bewegen sich, essen und singen mitten unter den Zuschauern.

M Du zeigst also drei Projekte, aber nicht als bloße Aneinanderreihung. Das Zusammenbringen scheint mir typisch für deine Arbeit: Du experimentierst mit verschiedenen medialen Logiken, kombinierst unterschiedliche Räume und forderst damit Produktions- und Wahrnehmungsweisen von Kunst heraus. B Ja, ich will eine Struktur erschaffen, in der man sich durch drei Projekte, drei Räume und drei Er­ fahrungen hindurchbewegt, die alle miteinander ­verbunden sind. Mir gefällt die Idee, dass das ­Publikum verschiedene Positionen einnimmt, erst

Wir fangen immer mit einem Protokoll, oder anders gesagt, mit einer Struktur an: Da sind zwanzig Tänzer, die wir für jeden neuen Kontext eigens aussuchen, es gibt keine Technik, kein Licht, keine Kostüme, vielleicht eine kleine Musikanlage. Die Tänzer schlagen ihre Solos vor, zusammen ergibt das eine Ausstellung oder ein Dickicht aus Tänzern und Gesten. Aber die Struktur schreibt nicht vor, wie die Performance am Ende aussehen wird. Einige Teile sind festgelegt, andere eher ephemer, wieder andere passen wir an. In Berlin zum Beispiel fand die Performance am Sowjetischen Ehrenmal statt, einer Gedenkstätte für im Zweiten Weltkrieg gefallene russische Soldaten, ein Ort komplexer sozialer Praktiken. Wir luden deutsche Künstler wie zum Beispiel Reinhild Hoffmann ein, die einen Text von Heiner Müller vorschlug, wir haben aber auch eine Lecture über Karl Marx mit Dmitri Gutov organisiert. Wir öffnen uns also, folgen den Performern, geben aber auch selbst einige Richtungen vor. Für Hannover sind wir noch im Entwicklungsprozess. Wir suchen nach Künstlern aus Hannover, wie zum Beispiel Kurt Schwitters, den ich liebe, und sehen uns die Geschichte des Tanzes in der Stadt an. Wir würden auch gerne die Geschichte des Tanzkongresses einbeziehen, der ursprünglich in den zwanziger Jahren gegründet und später wiederbelebt wurde. Und natürlich nehmen wir Bezug auf den Raum, also auf das Opernhaus.

M Ich lese »20 Dancers for the XX Century« als eine mögliche Methode zur Historisierung von


42 Tanzbewegungen. Und in meinen Augen ist deine Mitwirkung am diesjährigen Tanzkongress kein Zufall, der sich ja mit dem Begriff des »Zeitgenössischen« auseinandersetzen will – ein Begriff, der sich auf Geschichtlichkeit und Zeit bezieht. Ich würde gerne mit dir über diesen Begriff sprechen. B

Wie würdest du ihn definieren?

M Ich versuch’s mal. Zuerst einmal wird er als eine Dimension von Zeitlichkeit verstanden, damit wird das »Neue«, das »Aktuelle«, das, was im »Jetzt« stattfindet, beschrieben. Aber wer bestimmt, was im »Jetzt« »neu« ist? Heute werden sehr bestimmte Dinge als »zeitgenössisch« bezeichnet. Wir sagen »zeitgenössischer Tanz« und meinen etwas anderes als »modernen Tanz«. In diesem Sinne also könnte man sagen, dass der Begriff »zeitgenössisch« sich auf bestimmte Kunstrichtungen bezieht. Die können in verschiedenen historischen Phasen in Erscheinung getreten sein – von den sechziger Jahren bis heute –, aber alle wenden einen »zeitgenössischen Stil« an, der an ästhetische Methoden wie Konzeptkunst, ortsspezifische Kunst, Dematerialisierung, Partizipation, Postdramatik etc. gebunden ist. Hier wäre das »Zeitgenössische« ein Genre, weniger eine Zeitkategorie. B Ja, und außerdem könnte man es noch als Raum denken. Ein horizontaler Raum von Menschen, die Geschichte oder Genres oder Praktiken teilen. M Also, lass mich mal nachdenken: Könnte es ein Raum zur Herstellung des Zeitgenössischen sein, ein permanentes »Zeitgenössisch-Machen«, durch einen Prozess des »commoning«, also der Herstellung von Gemeinsamem in gegenseitiger Auseinandersetzung? B Es ist auch meine eigene Haltung. Ich will nicht der sein, der sagt, »Das 20. Jahrhundert, this is it«, oder der definiert, was »zeitgenössisch« ist. Bei den Projekten des Musée de la danse gehen wir auch so vor, dass wir keine Antwort vorgeben, sondern ein Fragezeichen setzen und eine Plattform bieten, einen horizontalen Bereich, in dem Künstler_innen und Teilnehmer_innen gemeinsam versuchen, darüber nachzudenken, was das »Jetzt« ist. Wenn wir einander folgen, ändert sich vielleicht die Art und Weise, wie wir zum Beispiel das Zeitgenössische ansehen, berühren, denken. Aber damit das geschehen kann, muss man einen Raum öffnen, in dem man sich gemeinsam treiben lassen kann. Diese Haltung von Horizontalität ist Bestandteil des Tanzkongress-Projekts. Das Warmup findet auf der Straße statt, ohne Bühne oder Infrastruktur. Wer immer auf dem Weg zum Einkaufen, zur Arbeit oder zum Kino vorbeikommt, wird Teil dessen, was wir da machen. Und bei »20 Dancers« hat das Publikum keine feste Position, der Zuschauer kann sich frei bewegen, auf die Tänzer zugehen und nach den Soli mit ihnen reden. In »manger« wiederum verwandeln wir die Bühne in einen Tisch, weil wir vom Boden essen. Und diesen Boden teilen wir mit den Zuschauern und fragen: Können wir auf demselben Boden oder Tisch gehen und essen? Beim Tanzkongress geht es also auch um die Herstellung gemeinsamer, horizontaler Räume. M Okay, wenn wir das Zeitgenössische als etwas denken, das wir tun, als horizontalen Raum, um Gemeinschaftlichkeit zu produzieren, dann stellt sich die Frage nach der Einladungspolitik. Wer wird eingeladen, »zeitgenössisch« zu sein, Zeit miteinander zu verbringen? Wer entscheidet, welches Solo das 20. Jahrhundert repräsentiert? Ich frage mich: Wenn man Künstler_innen zusammenbringt, beteiligt man sich nicht damit automatisch an der Produktion einer Art »Kanon des Zeitgenössischen« der gegenwärtigen Tanzszene? Post-

koloniale Kritiker würden einwenden, dass wir Europäer unsere Praxis als »zeitgenössischen Tanz« universal geltend machen wollen und andere Tanzrichtungen als veraltet oder traditionell ansehen. B Ich habe überhaupt kein Interesse daran, einen Kanon herzustellen. In »20 Dancers« vermeiden wir jeden Anspruch auf Universalität, das 20. Jahrhundert wird jedes Mal von den Teilnehmer_innen neu gestaltet. Und es geht auch darum, die Position des Kurators zu teilen. Martina Hochmuth und ich laden, als die Kuratoren von »expo zéro«, beispielsweise Faustin Linyekula ein. Aber wir laden ihn dazu ein, selber Kurator zu werden, er entscheidet, wie er den Raum füllt. Ich stelle den Rahmen zur Verfügung, aber die Ausstellung selbst wird von zehn Teilnehmer_innen entwickelt und geschaffen. Was das Postkoloniale angeht: Entlang meiner langjährigen Zusammenarbeit mit Dimitri Chamblas beschäftigen wir uns mit der Archäologie unserer eigenen Praxis, anstatt »mit dem ‚Anderen’ zu arbeiten«, d. h. wir machen uns bewusst, wie wir beispielsweise von bestimmten Tanztechniken beeinflusst sind. In den Räumen, die wir schaffen, geht es gerade darum, uns zu öffnen, um unsere Horizonte zu verschieben. Dabei geht es wiederrum nicht darum, zu einem harmonischen Körper zu verschmelzen, sondern die Unterschiede zu verhandeln, die Singularitäten herauszuarbeiten, warum »Faustin nicht Boris ist«, und das Spannungsfeld zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft zu nutzen. M Ich sehe dein Bemühen, Räume zu schaffen, auch als Vorschlag für neue Institutionen – das Musée de la danse bietet viele verschiedene institutionelle Modi, um Tanz zu erfahren. Welche sind für dich die Herausforderungen beim nächsten institutionellen Akt, den du in der Volksbühne in Berlin antreten wirst? Wie können wir uns in einem Raum wie der Volksbühne eine zeitgenössische institutionelle Praxis vorstellen? B Das ist noch sehr offen. Ich kann sagen, dass ich Berlin liebe, dass ich die Volksbühne schon immer geliebt habe, und dass nicht ich für das ganze Haus verantwortlich bin, sondern Strukturen und Formate miterfinde. Am Musée de la danse ist unser Interesse an öffentlichen Räumen stetig gewachsen. Aber ich weiß noch nicht, wie sich das Musée de la danse und die Volksbühne verknüpfen werden. Ich weiß nur, dass die Volksbühne eine neue Art von Theater werden soll, wie die Bühne das Zentrum im Bauhaus war. Das Theater wird zu einem Ort, an dem es über sich selbst hinaus denken kann. Die Volksbühne ist nicht mehr bloß ein Gebäude, sondern eine Nord-Süd-Linie, die von Tempelhof über Neukölln und Mitte zum Prater führt. Also mehr ein Archipel. Bevor Tempelhof beispielsweise als Raum für Flüchtlinge designiert wurde, hatte ich geplant, dort zu arbeiten. Meine Frage ist, welche Art von Praxis und Protokollen sollten an der Volksbühne enacted werden? Damit nicht nur wir, die Kuratoren, die Frage nach den Herausforderungen der Volksbühne beantworten, sondern die Vielzahl der sozialen, kulturellen und politischen Kontexte in Berlin, dieser Stadt voller Künstler. Margarita Tsomou ist Mitherausgeberin des Missy Magazine. Sie wurde in Griechenland geboren und ­arbeitet als Autorin, Dramaturgin und Kuratorin in Berlin.

Tanzkongress 2016 Die Kulturstiftung des Bundes fördert den Tanzkongress als Kulturellen Leuchtturm. Bereits dreimal ausgerichtet, findet er regelmäßig alle drei Jahre an wechselnden Orten in Deutschland statt. Die Veranstaltung hat sich in den vergangenen Jahren als publikumswirksames Festival, internationale Leistungsschau, interdisziplinäre Forschungsstätte, als Ideenwettbewerb und Koproduktionsmarkt profiliert. Die nächste Ausgabe findet vom 16. bis 19. Juni 2016 in Hannover statt. Zur Eröffnung zeigt das Musée de la danse das Stück »20 Dancers for the XX Century«, mit dem der international renommierte Choreograf Boris Charmatz das Tanzkongress-Motto der Zeitgenossenschaft aufgreift. ↗ www.tanzkongress.de


D A S Schuld be wusst SEIN I M R AU M

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Über Ländlichkeit und Landschaft

von Kenneth Anders In Ehm Welks Roman »Die Heiden von Kummerow« geraten die Kinder eines vorpommerschen Dorfes in einen verstörenden Konflikt. Ein Müller schlägt vor dem Wirtshaus besinnungslos auf sein Pferd ein. Die Kinder werden Zeugen des grausamen Vorfalls, sie warten, dass die herumstehenden Großen etwas tun, aber nur der Kuhhirte Krischan Klammbüdel, der Letzte und Schwächste in der Hierarchie des Dorfes, wagt es, sich dem Tier­quäler entgegenzustellen. Daraufhin fallen auch die Kinder dem Müller in den Arm und erst zuletzt wachen ihre Väter auf und machen der Sache ein Ende. Das Pferd aber ist tot. Einige wollen gesehen haben, der Fuchs habe noch einmal seine Augen aufgemacht und erst den Müller, dann Krischan angesehen, und der Blick auf Krischan sei ein ganz anderer gewesen. Wie ein Mensch. Infolge dieses Vorfalls muss der Kuhhirte das Dorf verlassen, ein Opfer erwachsener Feigheit und behördlicher Ränke. Die Kinder, benommen vom erlebten Unrecht, schauen ihm nach, sein Weg aus dem Dorf verliert sich im Nebel. Zwei Fährten stecken in dieser Geschichte, die in das historische ländliche Leben führen: Die Nutzung der Natur (hier in Gestalt des Pferdes) und die persönliche Erfahrung sozialer Ungleichheit. Das Pferd ist ein Nutztier, die Legitimität seines Gebrauchs steht nicht infrage. Jeder, der von Wasser und Boden, von Tier und Pflanze lebt, weiß, dass wir uns die Natur aneignen. Es gibt keine Möglichkeit, dies nicht zu tun. Wir sind heterotroph, wir leben, indem wir uns anderes Leben gefügig machen, es manipulieren und zerstören. Dieser Umstand wird in der ländlichen Kultur grundsätzlich anerkannt. So kommt es auch, dass es der Naturschutz auf dem Land immer schwer hatte. Persönlichkeiten, die für ganz konkrete Dinge im Umgang mit der heimischen Region einstehen, für die Bäume, die Gewässer oder die Vögel, können wohl Gehör bei den Leuten finden, aber am NABU-Infostand vor dem ländlichen Supermarkt werden sich keine Schlangen bilden. Die Natur vor der Nutzung zu schützen, das ist aus der Erfahrung der Land- und Forstwirtschaft eine Form der Bigotterie. Die Nutzung ist kein regelloses Tun, sie hat ihre e­ igenen Prinzipien und diese werden in der Geschichte vom getöteten Pferd schmerzhaft bewusst. Es gibt gute und schlechte Tierhalter, die Maßstäbe dafür sind je nach ländlicher Kultur verschieden. Wer für seine Regeln im Umgang mit der Natur einsteht, kann durchaus ein stolzer Nutzer sein – aber auch ein stolzer Nutzer kennt das Bedauern. Man erfreut sich am Gedeihen seiner schönen und gesunden Tiere, man pflegt und füttert sie und weiß doch, dass man einige im Winter schlachten wird und dass man diese Tötung zu verantworten hat, was insbesondere wegen der jährlichen Auswahl­entscheidungen immer wieder neu und persönlich bewältigt werden muss. Das bedeutet die Erfahrung eines unauflösbaren Widerspruchs, der nur in aller Not und Traurigkeit zu ertragen ist, denn immerhin teilen wir mit den Kreaturen, die wir nutzen, den Umstand der Sterblichkeit. Wie dem auch sei, es gibt der Natur gegenüber keine unschuldige Position. Die Zeile im Vaterunser Vergib uns unsere Schuld hat hier ihren ersten Resonanzboden. Der zweite Aspekt bezieht sich auf die gesellschaftliche Dimension des Vorfalls in Kummerow, auf die erlebte soziale Ungleichheit. Diese ist ebenso wie die Naturaneignung ein Merkmal der menschlichen Existenz und sie bildet den zweiten Resonanzboden der Bitte um Schuldvergebung im Vaterunser. In der historischen ländlichen Welt ist die soziale Ungleichheit zuallererst eine persönliche Herausforderung – und erst in späterer Instanz ein Problem der politischen Kritik oder der staatlichen Wohlfahrt. Ländlich meint hier: dörflich und kleinstädtisch, denn beide Siedlungsformen sind zu klein, um die soziale Ungleichheit räumlich zu segregieren und die Bewältigung des Gefälles einer Institution zu überlassen.


44 Arm und Reich leben in direkter Nachbarschaft, gehen oft sogar in dieselbe Schule, sind in Arbeitsprozessen unmittelbar aufeinander bezogen. Jedes echte Dorf hat mindestens eine krass unterprivilegierte Figur und die persönliche Erfahrung scheint zu beweisen, dass deren soziale Stellung nicht ohne Grund so niedrig ausgefallen ist. Zwar könnte man nach den Ursachen des Verhaltens dieser Menschen fragen, doch durch die ständige Interaktion – und also auch Reproduktion der Muster sozialer Ungleichheit – erscheint diese Frage akademisch. Auch hier bedeutet die faktische Anerkennung eines Dilemmas nicht, dass sich keine Regeln daraus ergäben. Im Gegenteil, die unterprivilegierten Landbewohner haben ein Recht auf die Teilhabe an der Gemeinschaft, mag man auch manches an ihnen als rätselhaft oder störend empfinden. Ihr Geruch oder ihr Trinkverhalten legitimiert nicht ihre völlige Ausgrenzung. Gerade dort, wo andere gegen das Gebot verstoßen, diese Menschen anständig zu behandeln, bilden sich ein ausgeprägtes moralisches Bewusstsein und die Fähigkeit heraus, praktisch mit sozialer Ungleichheit umzugehen. Es wird dennoch immer etwas offen bleiben. Das soziale Gefälle setzt bei aller erworbenen Souveränität den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Ungleichen enge Grenzen. Wo jemand hingehört, darüber wird man nicht im Zweifel gelassen. Die Authentizität des privilegierten Menschen wird auch immer daran gemessen, dass er sich nicht mit den anderen gemein macht. Geschichten wie jene vom getöteten Pferd und vom verjagten Kuhhirten entstehen dort, wo Menschen in relativ kleinen Gemeinschaften miteinander leben und direkt natürliche Ressourcen bewirtschaften, kurz: wo sie in einem elementaren, subsistenzwirtschaftlichen Sinn sesshaft sind. Diese Formen der Sesshaftigkeit erodieren seit Jahrhunderten, immer mehr Menschen leben in großen Ballungsräumen, wo ihr Selbsterhalt durch Versorgungssysteme gesichert wird. Oft ist das auf die gewaltsame Zerstörung subsistenter Lebensformen durch Krieg, Energiewirtschaft und Landraub zurückzuführen. Aber dennoch sollte man die auf dem Land selbst gedeihende Sehnsucht nach der großen Stadt als Triebkraft der Landflucht nicht unterschätzen. Sie hat ihre Quelle in einem Leidensdruck. Naturaneignung und soziale Ungleichheit fordern auf dem Land zwar das individuelle Verhalten und Urteilsvermögen heraus, sie kultivieren die Fähigkeit, im Widerspruch zu agieren. Aber die Regeln, nach denen über die menschliche Praxis geurteilt wird, sind doch ein Korsett, das aus eigener Kraft kaum veränderlich ist. Der Raum selbst, der Zusammenhang von Haus, Ort und Landschaft, kann zum Gefängnis werden. Wer unter dem natürlich-sozialen Dilemma des Landes leidet, erlangt seine Freiheit nicht durch Auseinandersetzung am Ort, sondern durch Verlassen des Ortes; indem er sich buchstäblich vom Acker macht. Landflucht ist in einer historischen Phase geradezu ein Synonym für Emanzipation. Mit der räumlichen Bindung verliert auch der ­beschriebene individuelle Schuldzusammenhang seine Zwangsläufigkeit. Die Landnutzung wird zu einer Funktion weitab liegender Systeme, der Umgang mit den Armen wird institutionalisiert. Naturaneignung und Elends­ produktion sind globalisiert, aus der persönlichen Last wird ein universaler Schuldzusammenhang. Die Menschheit als Ganzes erscheint vielen nun als Fehlentwicklung oder es sind andere Menschen an all den Dingen schuld, die auf der Welt nicht in Ordnung sind. Für die Heranwachsenden in den modernen Großstädten ergibt sich folglich ein anderes Dilemma als für die Kinder im Dörfchen Kummerow. Ob das Verhalten ihrer Eltern Achtung und Respekt verdient oder als moralisches Versagen gewertet werden muss, können sie durch eigene Erfahrung kaum ermessen. Die Einsicht, dass ihre ganze Lebensführung mit den Tierfabriken und den Hungerkatastrophen zusammenhängt, wird von vielen Heranwachsenden als Schock erlebt

und lässt das Bedürfnis nach einer grundsätzlich unbefleckten Praxis wachsen, nach dem radikalen Austritt aus den Widersprüchen des Lebens. Korrekter Konsum und vor allem richtige Ernährung erlangen einen enormen Stellenwert und die Einrichtung von neuen Wildnisgebieten wird zum Ablasshandel des gesellschaftlichen Naturverbrauchs. Der emanzipatorische Impuls, der aus der Wahrnehmung sozialer Ungleichheit erwächst, schlägt unterdessen immer öfter in eine Haltung um, nach der Ungleichheit schlechthin ein Skandal ist. Für die eigene Entwicklung aber ist die Sehnsucht nach Unschuld ebenso schwer fruchtbar zu machen wie für die Entwicklung unserer Lebensverhältnisse. Was wird aus dem Land, wenn es aus der Stadt betrachtet wird? Es wird zur Landschaft, zum angeschauten Raum, den man malen, fotografieren, bereisen, an dem man sich erfreuen kann. Seine Funktionalität tritt zurück, die Landnutzung wird als Störung empfunden, vor allem dann, wenn sie dem gesellschaftlichen Stand der Technologie entspricht. Dass dort »draußen« noch Menschen wohnen, erscheint als Residuum der Vormoderne, da doch die Angebotskonzentrationen und also auch die Wahlmöglichkeiten auf dem Land, gemessen an der Großstadt, lächerlich gering sind. Die Landschaft ist nett, aber bedeutungslos. Ist sie hässlich, lehnen wir das ab, obwohl es Teil unserer Wahrheit ist. So entstehen geliebte und geschmähte Räume. Die Ausdifferenzierung der Landschaft nach Zwecken führt zu ihrer immer stärkeren Segregation: Hier setzt sich der Tourismus durch, dort die Agrarwirtschaft, hier der Naturschutz, dort die Logistik. Für den Einzelnen ergibt das, was wir in der Welt anrichten, keinen Zusammenhang. Das ist vor allem eine Schwierigkeit für die Demokratie, denn das kulturelle Subjekt braucht den Raum als Erkenntnis- und Erfahrungsgegenstand. Stattdessen werden die Möglichkeiten der geregelten, aber grundsätzlich freien individuellen Aneignung durch Zäune und Eigentumsgrenzen untergraben, das ersehnte freie Leben wird in Teilräume gezwängt oder diffundiert in die Virtualität. Allerdings stellt die urbane Umdeutung des Landes in Landschaft auch einen großen Gewinn dar. Sie führt uns den ganzen Raum als offene und zu gestaltende Welt vor Augen, wodurch seine Nutzung, Ordnung und Ästhetik kommunizierbar – und damit veränderbar – werden. Wir können die Landschaft ohne Eintrittskarte betreten, dürfen uns frei in ihr bewegen, ohne irgendjemandem darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, können Fragen stellen und Antwort verlangen. Dieses staatsbürgerliche Recht ist bei uns bis in das Waldgesetz hinein verankert. Die Bewegung querfeldein gewährleistet nicht nur die elementaren Freiheitsrechte des Einzelnen, sie ermöglicht auch die öffentliche Kontrolle des Raumes und seiner Nutzung. Es lohnt sich, dafür einzustehen, es lohnt sich, zu Fuß in der Welt umherzugehen. Und eben hier liegt die Chance auf ein unserem tatsächlichen Naturverhältnis adäquates Raumverhältnis. Wenn wir die Landschaft als Folge unserer Naturaneignung und als physische Struktur unserer sozialen Verhältnisse lesen lernen, können wir unsere Erfahrung wieder mit unserem Verhalten rückkoppeln. Wir begreifen, wie sich das Leben, das wir führen, in die Landschaft einschreibt. Aus Schuld wird Verantwortung für einen kulturellen Gestaltungszusammenhang, aus dem es zwar kein Entrinnen gibt, der aber auch kein Gefängnis ist, sondern die Möglichkeit gelingenden Lebens im geteilten und angeeigneten Raum. Damit das greifbar wird, müssen wir die Landschaft besser verstehen lernen. Zugegeben: das persönliche Erschrecken nach einer solchen Landschaftslektüre ist immens. Die heterotrophe Gewalt menschlicher Naturaneignung lässt sich nicht verklären, sie ist total, die Verluste sind schwindelerregend. Gerade deshalb ist es ein großer Vorteil, dass wir Menschen in unserer Gesellschaft haben, die noch heute in der Landschaft eigene Ressourcen bewirt-

schaften – also im historischen Sinne Leute vom Land. Es sind wenige geworden, umso interessanter ist es, was sie zu berichten haben. Sie sind Träger einer neuen ländlichen Kultur, in der seit Jahren, weitgehend unbemerkt, die Erfahrung der ländlichen Sesshaftigkeit und jene der modernen Freiheit integriert werden. Diese Menschen können einem helfen, den universalen Zusammenhang zwischen individuellem Leben, gesellschaftlicher Naturaneignung und persönlichem Sozialverhalten in der Landschaft zu begreifen und zu beschreiben. Ob sich darin eine Gesellschaft andeutet, in der das Individuum ganz und gar an der Gesellschaft teilhat, wie es der marxistische Ästhetiker Lothar Kühne noch gesehen hat, kann man gegenwärtig nicht sagen. Aber die Gewalt und das Unrecht, das an dem Pferd und dem Kuhhirten geübt wurden, sollten sich weder im Nebel verlieren noch mit wohlfeilen Konsumversprechen beiseite gewischt werden. Landschaft ermöglicht beides: Gestaltung, also Freiheit, und Anerkennung dessen, was wir sind und tun. Das wäre ein Anfang. Kenneth Anders, 1968 in Naumburg geboren, ist Kultur­ wissenschaftler und lebt im Oderbruch. Hier b ­ etreibt er mit ­Partnern ein Büro für Landschaftskommunikation sowie den Aufland-­Verlag. Die Landschaft als Habitat des Menschen ist ­sein liebstes Thema. Im Rahmen des TRAFO-Programms hat er für das Museum Altranft eine Neukonzeption als »Werkstatt für ländliche Kultur« entwickelt.

TRAFO Modelle für Kultur im Wandel Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes

Mit dem Programm »TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel« fördert die Kulturstiftung des Bundes die Weiterentwicklung und Neukonzeption von Kultureinrichtungen im ländlichen Raum. In zunächst vier Modellregionen haben die Institutionen gemeinsam mit der Bevölkerung Konzepte für eine Transformation ihrer Kultureinrichtungen entwickelt, die in den kommenden fünf Jahren umgesetzt werden. Modellhafte Projekte im Oderbruch, in Südniedersachsen, in der Saarpfalz und auf der Schwäbischen Alb sollen Perspektiven auf zukunftsfähige Nutzungskonzepte aufzeigen. Dabei geht es nicht in erster Linie um den Erhalt der Einrichtungen, sondern vielmehr um ihre künftige Rolle: Wer soll erreicht werden? Wie soll ein attraktives Kulturangebot für die Region in Zukunft aussehen? Wie kann es anders organisiert werden? Die »TRAFO-Akademie« und ein internationaler Ideen-­Kongress sollen die Erfahrungen der Modellregionen weitergeben und eine weiterführende Debatte anstoßen. Für das zunächst auf fünf Jahre angelegte Programm stellt die Kulturstiftung des Bundes insgesamt 13,5 Mio. Euro bereit.


45 Vier Gedichte

von Christiane Heidrich

Ein Pool, eine Lässigkeit. Von hier aus überall auftauchen können.

Jede Datei ist an sich schon genial. Herrlich allein mit dem eigenen Wissen. Dass es Vögel gab anfangs, eine Gischt, die sich aussprechen ließe. Noch einmal vor 10 Jahren schwimmen. Ein Abend in Schuhgröße 28. Das zu sagen, ist zu nah an der Welt. Diverse globale Moves. Wie wir Angst haben. Wie wir abgehen.

Ich beging zu viele Ideen. Ein See ist pathetisch, wenn das Meer gar nicht fern liegt. 0,0283. Fantastische Winzigkeit, sodass es fast wieder ins Große geht. Eine Party am Strand. Gebrechlichkeit als etwas Behutsames feiern. Unter gesprächigen Palmen Bedeutung verschieben auf Morgen. Handlung. Thumbnails. Schöner Zufall.

Außer zum Schlafen nirgendwo aufliegen. Jugend auf Wiesen heißt Jugend auf austauschbarem Gebiet.

Fläche heißt also auch See. So entsprechen wir uns auf Tankern, deren Ladung sich erst unterwegs definiert. Müd ist mein Tweet. Raum anzureichern. Leere. Hawaii. Der Wecker geht hoffentlich früher an als die hilflose Seite der Bilder.

Kopfsache. Lycra. Dass es kalt ist, wissen wir nicht.

Aber irgendwo hier liegt eine Schule mit freundlichen, hellblauen Sälen. Es gibt Texte darüber, Geschrei. Am Boden des Pools ähneln sich unsere Knochen. Ich sehe Kontakt als Berührung. Ich sehe die Anstrengung wirklicher Bilder. Schwimmen als allererste Idee. Vom Denken kommend ans Meer zu fahren. Und Wind wäre völlig in Ordnung. Auch zu sagen: Faserland © 1995.


46

N e u e PROJEKTE Freispiel 2016 – still Eine Musik- / Tanz-Performance

Im Mittelpunkt von Freispiel 2016 steht das Violinkonzert »Still« der zeitgenössischen britischen Komponistin Rebecca Saunders. Für die Aufführung entwickeln Rebecca Saunders, die Geigerin Carolin Widmann, Tänzer/innen von Sasha Waltz & Guests und die Musiker/innen der Jungen Deutschen Philharmonie eine gemeinsame Performance. Saunders komponiert hierfür neue Passagen, die innerhalb der bestehenden Komposition Freiräume für die Interaktion der Künstler schaffen: Solisten des Orchesters werden zu Tänzern, die Tänzer wiederum nehmen Bewegungen der Musiker auf und interpretieren sie. Ungewöhnliche Zugänge zur Musik ermöglicht auch die Präsentation der beiden weiteren Stücke, beispielsweise durch eine Umkehrung der Hörperspektive, für die das Publikum auf der Bühne Platz nimmt. Gespielt wird zunächst die »Lulu-Suite« des österreichischen Komponisten Alban Berg, die 1934 entstanden ist. Die Suite führt das Publikum an die Tonsprache Bergs heran, die Einflüsse von Schönbergs Atonalität, der Zwölftontechnik, aber auch der Spätromantik vereint. Abgerundet wird das Konzert mit dem Vorspiel zu »Tristan und Isolde« von Richard Wagner. Das Format »Freispiel« – konzipiert von den Musiker/innen der Jungen Deutschen Philharmonie – ist eine Carte ­blanche für die Entwicklung unkonventioneller Ideen und Erprobung experimenteller Aufführungspraktiken. Freispiel 2016 wird das Kunstfest Weimar 2016 ­eröffnen und später im Radialsystem V in Berlin aufgeführt. Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling (FR) Komponistin: Rebecca Saunders (GB) Solistinnen: Carolin Widmann, Ana Durlovski (MK) Szenische Einrichtung: Jochen Sandig Compagnie / Ensemble / Orchester: Sasha Waltz & Guests, Junge Deutsche Philharmonie Radialsystem V, Berlin: 16.–17.8.2016; Weimarhalle, Weimar: 19.–20.8.2016 ↗ www.jdph.de

Bang on a Can @ Villa Musica 10 Konzerte American Music

Die Bang on a Can All-Stars haben sich seit ihrer Gründung vor knapp drei Jahrzehnten in New York als eine der weltweit renommiertesten Gruppen im Bereich der zeitgenössischen Musik etabliert. Virtuos bewegen sie sich zwischen den Grenzen von Klassik und Jazz, von

Rock-, Welt- und experimenteller Musik. Durch energiegeladene Live-Auftritte und zahlreiche eigens für ihren spezifischen Stil geschriebene Werke haben sie gleichsam ein eigenes Genre begründet. Zu den vielen Musiker/innen und Komponist/innen, mit denen die Gruppe bereits zusammengearbeitet hat, gehören u. a. Steve Reich, Meredith Monk, Philip Glass, Don Byron, Ornette Coleman sowie die Sonic-Youth-Musiker Thurston Moore und Lee Ranaldo. Für »Bang on a Can @ Villa Musica« kooperieren die All-Stars mit der Stiftung Villa Musica, die sich der Nachwuchsförderung besonders im Bereich der Kammermusik verschrieben hat. Im Rahmen eines einwöchigen Festivals trifft das New Yorker Ensemble auf eine Gruppe junger klassischer Musiker/innen und Solist/innen aus Deutschland. Im Frankfurter Hof in Mainz und im Barockschloss Engers in Neuwied werden zwölf Konzerte mit allen Festival-Teilnehmer/innen in unterschiedlichen Besetzungen stattfinden. Eigens für das Festival werden zwei Kompositionen in Auftrag gegeben und zur Aufführung gebracht, den Abschluss bildet ein mehrstündiger Konzert-Marathon. Künstlerische Leitung: Alexander Hülshoff Musiker/innen: Ashley Bathgate (US), Robert Black (US), Vicky Chow (US), David Cossin (US), Mark Stewart (US), Ken Thomson (US), Kai Schumacher, Jonathan Shapiro, Nora Krahl Komponist: Michael Gordon (US) Frankfurter Hof, Mainz: 20. und 26.11.2016; Schloss Engers, Neuwied: 21.–25.11.2016 ↗ www.villamusica.de

Happy Hunting Ground Ein thailändisch-deutscher ­Theatertanzabend über Träume, Vorurteile und Liebeskonzepte

Das Tanztheater »Happy Hunting Ground« thematisiert die Vorurteile und Stereotype des Sextourismus und untersucht Beziehungen, deren Ausgangspunkt und Bedingung ein enormes ­interkulturelles Macht- und Wohlstandsgefälle ist. Zugleich fragt es nach Liebe und romantischen Gefühlen in den Zwängen einer kapitalistischen Logik, die alles zur Ware werden lässt: Wovon träumen junge Frauen in Thailand, die sich auf eine Beziehung zu einem Ausländer einlassen? Was macht die Mischung aus bezahlter Liebe und Zuneigung so attraktiv für westliche Männer? Die Produktion entsteht aus Recherchematerial und Interviews, die in Deutschland und Thailand mit Männern und Frauen geführt werden. Im Fokus

stehen die Stimmen und die Perspektiven von thailändischen Frauen, die »mit Ausländern arbeiten«. Der Theater­ leiter, Choreograf und Tänzer Thanapol Virulhakul wird das Stück auf der Basis dieser Recherchen mit deutschen und thailändischen Tänzer/innen und Schau­ spieler/innen inszenieren. Virulhakul ist mit seinen Arbeiten über Thailand hinaus bekannt geworden. Sein Theater, das Democrazy Theatre Studio in Bangkok, gilt als eines der avanciertesten zeitgenössischen Theaterhäuser in Thailand. Die Premiere findet in Bangkok, die deutsche Erstaufführung in Karlsruhe statt. Gastspiele in Thailand, Deutschland, Österreich und der Schweiz sind geplant. Künstlerische Gesamtleitung: Jan Linders Regie & Choreografie: Thanapol ­Virulhakul (TH) Autor: Jürgen Berger Dramaturgie: Sarah Israel Schauspieler/innen & Tänzer/innen: Jarunun Phantachat (TH), Sawanee Utoomma (TH), Vidura Amranand (TH) u. a. Chulalongkorn University, Bangkok: 2.–4.9.2016; Bulapa University, ­Chonburi: 6.–8.9.2016; Badisches Staatstheater, Karlsruhe: Ende September 2016; Theater Bern und Theater Graz: September–November 2016 ↗ www.staatstheater.karlsruhe.de

Projeto Brasil Kunst, Performance und Widerstand in Brasilien

Brasilien ist eines der wichtigsten Schwellenländer der Welt, die bedeutendste Volkswirtschaft Südamerikas und einer der größten Rohstoff-Lieferanten der Erde. Die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro werden die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit noch einmal verstärkt auf Brasilien lenken. In den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro gehen Künstler, Kreative, Aktivisten, Intellektuelle und NGO-Angehörige wechselhafte Allianzen ein, um kulturelle und künstlerische Widerstandsformen gegen ein nicht zuletzt unter touristischen Marketinggesichtspunkten propagiertes Bild des Landes zu erproben. Diese Strömungen sollen durch das Projekt eine wesentlich erhöhte Aufmerksamkeit erfahren. Fünf der wichtigsten Produktionshäuser für zeitgenössische Performing Arts in Deutschland schließen sich erstmals zu einem Verbund zusammen, um ein in dieser Dimension einmaliges Großprojekt mit enormen Synergieeffekten zu realisieren. Es können dadurch Koproduktionen ermöglicht werden, die die Kapazitäten der einzelnen Häuser übersteigen würden. Auf diese Weise soll ein möglichst umfassendes und facettenreiches Bild der brasilianischen Metro-

polen-Kultur fernab touristischer ­ lischees entwickelt werden, das die DiK versität künstlerischer Gegenentwürfe oder Protestformen sowie das kreative zivilgesellschaftliche Engagement in Ausstellungen, koproduzierten Ur- und Erstaufführungen, Konzerten, inter­ disziplinären Projekten, Workshops, ­Activists’ Labs und öffentlichen Gesprächen abbildet. Geplant sind außerdem Residenzen von brasilianischen Künstlern in Deutschland und von deutschen Künstlern in Brasilien. Dem Gedanken eines intensiven kulturellen Austausches entsprechend, werden die Arbeiten nicht nur an den fünf deutschen Produktionshäusern in Berlin, Düsseldorf, Dresden, Frankfurt/M. und Hamburg gezeigt, sondern auch in Rio de Janeiro, São Paulo und Salvador de Bahia. Kurator/innen: Paula Borghi (BR), Suely Rolnik (BR), Ricardo Muniz ­Fernandes (BR) Tanz: Lia Rodrigues (BR), Eduardo Fukushima (BR), Marcelo Evelin (BR), Alice Ripoll (BR), Michelle Moura (BR), Cena 11 (BR), Christian Duarte (BR) Theater: Leonardo ­Moreira (BR), Christiane Jatahy (BR) Bildende Kunst: Daniel Lie (BR), ­Opavivará (BR), Paulo Nazareth (BR) Fotoausstellung: Pedro Lobo & ­Severino Silva (BR) Musik: Metá Metá HELLERAU, Dresden: 19.5.–7.6.2016; HAU Hebbel am Ufer, Berlin; Tanzhaus NRW, Düsseldorf; Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt/Main; Kampnagel, Hamburg: Mai–Juli 2016 ↗ www.hellerau.org

Walls – Iphigenia ­ in Exile Seoul-Berlin-Cooperation

Goethes Drama »Iphigenie auf Tauris« zeigt die Menschen in ihrer historischen, religiösen und sozialen Determiniertheit und in dem Versuch, sich daraus zu befreien – innere wie äußere Grenzen zu überschreiten. Mit »Walls – ­Iphigenia in Exile« erfährt das Stück eine zeitgenössische Wiederauflage aus deutsch-koreanischer Perspektive. Die Neufassung ist die F ­ ortführung eines seit mehreren Jahren laufenden Austauschs deutscher und koreanischer Theatermacher, den das Goethe-Institut angeregt hatte. Vier koreanische und ein deutscher Regisseur interpretieren je einen Akt, zwei Autor/ innen aus Deutschland und Südkorea ­bearbeiten und ergänzen das Stück um neue Texte. »Walls« fragt anhand von Goethes klassischem Drama nach neuen und alten, nach verordneten und selbst gewählten Grenzen. Iphigenie ist auf dem politisch und geografisch ab­ geschotteten Tauris im Exil gefangen. Die Industrienationen Südkorea und


47 durch ein Symposium in Berlin und Athen, eine Interview-­Reihe mit Experten verschiedener Disziplinen sowie einen probenbegleitenden Making-­­of-Film. Künstlerische Leitung: Laurent Chétouane (FR) Dramaturgie: Marten Weise Tänzer/ innen: Varinia Canto Vila (CL), Roberta Mosca (IT), Mikael Marklund (SE), ­Tilman O’Donnell (US) Musiker: Mathias Susaas Halvorsen (NO), ­ Tilman Kanitz, Artiom Shishkov (RU) Bühne & Lichtdesign: Jan Maertens (BE) HAU Hebbel am Ufer, Berlin: 29.10.–14.11.2016; weitere ­Stationen: Wien, Brüssel, ­Hamburg, Paris, ­Poitiers, Athen u. a. ↗ www.laurentchetouane.com

Borderlines

Foto: Simona Boccedi

Theater und Performance und die Kultur der Gewalt in Mexiko

Hofesh Shechter: Barbarians Deutschland haben beide Erfahrung mit Teilung und Mauern. Trotz Wohlstands gibt es Tendenzen der Abschottung gegenüber Z ­ uwanderern: Wen sperren wir aus, und wen sperren wir ein? Zugleich geht es um die zeitlosen Fragen nach Neigung und Pflicht, Wahrheit oder Lüge. Das Stück wird durch ein deutsch-koreanisches Ensemble zweisprachig gespielt und in Seoul Premiere haben. Danach wird es am Deutschen Theater Berlin im Repertoire zu sehen sein. Künstlerische Leitung: Sonja Anders, Jungung Yang (KR) Regie: Kon Yi (KR), Jungung Yang (KR), Kyungsung Lee (KR), ZinA Choi (KR), Tilmann Köhler Bühne: Karoly Risz ­Autor: Mario Salazar Dramaturgie: Ulrich Beck, Danbi Yi (KR) Produktionsleitung: HeeJin Lee (KR) Schauspieler/­ innen: Franziska Machens, Helmut Mooshammer, Kotti Yun (KR), Alexander Khuon u. a. SPAF Festival, Seoul: 14.–16.10.2016; Kammerspiele des Deutschen Theaters, Berlin: 23.10.2016–30.6.2017 ↗ www.deutschestheater.de

Tanz und Theater Internationales Festival Freiburg

Mittlerweile in die Jahre gekommen, wurde das Freiburger Festival »Tanz und Theater« 2014 neu konzipiert. Im Zuge dessen öffnete sich das E-Werk als Träger den Kooperationen mit dem Theater im Marienbad und dem Theater Freiburg, um künftig ein spartenübergreifendes

Programm anzubieten. Im Rahmen der Neukonzeption soll nun das Festival in vielerlei Hinsicht weiter ausgebaut werden. Neue Räume öffentlicher wie auch privater Einrichtungen werden bespielt, um das Festival stärker im Stadtraum zu verankern, ein internationales hochkarätiges Gastspielprogramm mit Künstlern wie Hofesh Shechter, Sasha Waltz & Guests, Needcompany, Ultima Vez und Peeping Tom setzt Akzente und spricht neue ­Publikumsschichten an. Als zusätzlicher Schwerpunkt sind ortsspezifische Arbeiten von Gruppen wie Rimini Protokoll oder dem Zentrum für Politische Schönheit in Planung, die die Frage nach einer zeitgemäßen, spartenübergreifenden Darstellung von Bewegung in Tanz, Theater und Performance leitet. Zudem werden Tanzakteure im Rahmen eines Symposiums Ziele und erste Schritte­ für einen Freiburger »Tanzplan« entwickeln, um die Rolle des Tanzes zu stärken. Mit diesem Maßnahmenbündel soll das im äußersten Südwesten Deutschlands gelegene Freiburg mittelfristig als wichtiger Begegnungsort für die freie Szene etabliert und in internationale künstlerische Entwicklungen eingebunden werden. Programm: Wolfgang Graf, Sonja ­Karadza, Laila Koller, Josef Mackert Künstler/innen: Fabuleus (BE), ­Gintersdorfer/Klaßen, Het Laagland (NL), Hillel Kogan (IL), Hofesh ­Shechter (GB), Koen Augustijnen ­tanzmainz, Needcompany (BE), Ultima Vez (BE), Sasha Waltz & Guests E-Werk, Theater Freiburg, Theater im Marienbad, Freiburg: 28.4.–14.5.2016 ↗ www.ewerk-freiburg.de

Khaos Eine Begegnung mit dem Chaos für Tänzer und Musiker auf Basis der Chaconne von J. S. Bach

Wie kann eine Tanztechnik gefunden werden, die den Tänzer von jeder Form befreit, von jeglicher Festlegung im ­Augenblick und jeglichem erkennbaren Muster? In seiner neuen Produktion »Khaos« greift Laurent Chétouane diese Frage, die bereits bei einigen seiner früheren Produktionen eine Rolle spielte, mit neuer Intensität auf. Für dieses Tanzprojekt arbeitet der Choreograf mit fünf Tänzern und drei Musikern. Musikalische Grundlage bilden die Chaconne von J. S. Bach und darin insbesondere die Übergänge der einzelnen Stücke, die die Musiker ­zugleich mit dem Beginnen und dem ­Aufhören konfrontieren. Durch ein klug durchdachtes akustisches Konzept und ein speziell eingerichtetes Lautsprechersystem entstehen instabile Räume, die dazu führen, dass Tänzer und Zuschauer gleichermaßen dem »musikalischen Chaos« ausgesetzt sind. Dem künstlerischen Experiment Chétouanes liegt der Gedanke zugrunde, dass das Chaos ein unvermeidbares »Modell für die Zukunft« darstellt und wir gezwungen sein werden, die Instabilität und das Krisenhafte anzunehmen. Ziel des Experimentes wäre es, das Chaos fruchtbar zu machen, so dass es von Künstlern und Zuschauern in neuer und produktiver Weise erlebt werden kann. Die Premiere des Tanzstückes findet in Berlin statt, weitere Stationen sind in Belgien, Österreich, Griechenland und Frankreich geplant. Die Aufführungen werden ergänzt

Ab Mai 2016 wird sich Deutschland ein Jahr lang mit einer Vielzahl von künstlerischen Projekten in Mexiko präsentieren und Mexiko umgekehrt in Deutschland. In diesem Rahmen findet das Festival »Borderlines« an den Münchner Kammerspielen statt und setzt seinen Schwerpunkt im Bereich der Darstellenden Künste. Die Kammerspiele laden aktuelle mexikanische Produktionen des Freien Theaters ein, darunter zahlreiche europäische Erstaufführungen. Neben Gastspielen etablierter Gruppen liegt der Fokus vor allem auf jungen Regisseur/ innen und Performer/innen, die ihre ersten eigenen Produktionen realisieren. Das Festival wendet sich mit Mexiko ­einer Region zu, die geprägt ist durch das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd und in der die Themen Flucht und Migration eine zentrale Rolle spielen. Im Mittelpunkt des Festivals steht eine ­Inszenierung des mexikanischen Regisseurs Ángel Hernández, die sich des ­Themas Flucht und Migration im europäischen Kontext annimmt. In Mexiko stehen seine Arbeiten für eine neue Form des politischen Theaters: Er versucht, Räume und Schauplätze, die sich in der Hand des organisierten Verbrechens befanden, beschädigt oder sogar zerstört wurden, mit den Mitteln und für die Zwecke der Kunst zurückzugewinnen und zu revitalisieren. Mit seiner Intervention im Rahmen von »Borderlines« setzt er seine langjährige künstlerische Arbeit mit Arbeitsmigrant/innen in Güterzügen fort und stellt damit auch die Frage nach der Vergleichbarkeit der Situation an den Grenzen Europas und denen der Vereinigten Staaten. Kurator/innen: Christoph Gurk, Matthias Lilienthal, Anne Schulz Künstler/innen: Ángel Hernández Arreola (MX), Lagartijas Tiradas al Sol (MX), Gabino Rodriguez (MX), ­Marianna Villegas (MX), Pollyester u. a. Münchner Kammerspiele: 1.–15.11.2016 ↗ www.muenchner-kammerspiele.de


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»It’s all about food.« ­Wirklich? Eine Recherche­reise für das T ­ heaterprojekt »Human Trade N ­ etwork« von ­Regisseur ­Clemens Bechtel Draußen vor dem Gebäude eine riesige Bronzekuh, drinnen ein Poster. Eine Landschaft mit Berg, der aus einem Stück Fleisch besteht. Wir gehen eine Treppe hoch und betreten einen leeren Raum. Lederstühle, ein großer halbrunder Tisch, drei Männer kommen herein. Der betagte Manager setzt sich ans Kopfende des Tisches, in seinem 80er-Jahre-Anzug sieht er seltsam aus. Trägt er ein Toupet? Färbt er sich die Haare? Eine Figur wie aus einem Bollywood-Film. Hinter ihm hängt eine Deutschlandkarte, kleine rote Fahnen markieren die Standorte der Filialen, viele im Südwesten des Landes, keine im Norden, ein paar im Osten. »Im Osten schlachten wir für den Export«, sagt er und zeigt auf die Karte, »aber nicht hier in dieser Gegend.« Und: »Insgesamt werden in Deutschland jedes Jahr 60 Millionen Schweine geschlachtet. Acht Millionen im Norden, eine Million in Bayern, der Rest hier. Unsere Firma steht für hohe Qualität und kurze Transportwege. Wir beliefern nicht die Supermärkte, die Billigfleisch verkaufen, sondern Fleischer, Krankenhäuser … Wir produzieren erstklassiges Fleisch.« Immer, wenn er einen Scherz macht, lacht der junge Mann neben ihm, der der Chemiker der Firma ist. Später erzählt er mir, dass seine Freunde seinen Job furchtbar finden. »Wir im Schlachtgeschäft sind die Bösen, das wird sich nicht ändern.« Am Anfang war C. eine kleine Firma, die mit Vieh handelte, erst seit dreißig Jahren ist sie ein Schlachtbetrieb. In den letzten Jahren hat sich die Situation verschlechtert, nicht nur wegen der Konkurrenz im ­Norden, auch weil Arbeiter immer schwieriger zu finden sind. »Kein junger Mann in Deutschland will noch diese Arbeit machen.« (Gefällt Rumänen das »Ausbeinen« und »Zerlegen«? Bleibt ihnen eine Wahl?) Aber: »Es wird immer Arme auf der Welt geben«, sagt der Manager, »die bereit sind, diese Arbeit zu erledigen.« »In diesem Geschäft herrscht enormer Preisdruck«, fährt er fort, »und die großen Supermärkte geben den Preis vor. Letzten Endes verdienen sie am Fleisch nichts, das verkaufen sie unter E ­ inkaufspreis, den Profit machen sie im Non-­Food-Bereich. Unsere Firma kann mit den großen Schlachthäusern in Norddeutschland preislich nicht mithalten, aber wir sind dicht am Kunden. Wenn Sie heute 600 Schnitzel brauchen, liefern wir noch am selben Tag.« Ein dringender Anruf (600 Schnitzel?), er verlässt den Raum und übergibt das G ­ espräch an den Personalmanager: Ein Mann Ende f­ ünfzig, Brille, konservativ, alles andere als ein Managertyp. Er hat Grundrisse der Wohnungen dabei, in denen die rumänischen, polnischen, ungarischen Arbeiter u ­ ntergebracht sind. Immer zwei Personen in einem 20m2-Raum. »Manche osteuropäischen Partner verstehen nicht, warum sich nur zwei Personen einen so großen Raum teilen, für sie ist das Platzverschwendung. Insgesamt sind bei uns nur etwa dreißig ausländische Arbeiter beschäftigt«, erklärt er, »einige bleiben länger, andere nicht.« Jede Woche bekommt er mehrere Angebote von osteuropäischen Agenturen, die ihm Arbeiter vermitteln wollen, aber der Preis ist zu niedrig – er weiß, dass da etwas nicht stimmt. Er ist sogar selber nach Polen gefahren, um vor Ort zu recherchieren. Einige der Vermittlungsagenturen ­bestanden aus nichts als einem Briefkasten. Er erklärt den Unterschied zwischen Leiharbeit und Werkvertrag: Wenn er beispielsweise mit einer ungarischen Firma einen Werkvertrag abschließt, dann gibt er damit dieser Firma einen festen Auftrag; die Ungarn schicken dann Arbeiter, die immer als Team zusammenbleiben, sie dürfen sich nicht unter ein deutsches Team mischen. Sie erledigen die Arbeit, die abgesprochen wurde, und fahren

wieder nach Hause. Bei der Leiharbeit läuft es anders, die Arbeiter werden für einen bestimmten Zeitraum geschickt, arbeiten gemeinsam mit Deutschen und müssen den gleichen Lohn wie ihre deutschen Kollegen bekommen, wenn auch ein Teil davon an die Agentur geht. C. beschäftigt nur qualifizierte Arbeitskräfte. Nur einmal hatten sie Arbeiter eingestellt, die nichts vom Schlachten verstanden und die Arbeit nicht ausführen konnten. Sie wurden nach zwei Tagen wieder nach Hause geschickt. In jeder Filiale arbeiten andere Nationalitäten, in Emmendingen die Ungarn, in Freiburg die Rumänen. Er, wie auch sein Kollege, isst immer noch mit Genuss Fleisch. Beim Abschied bekommen wir Geschenke überreicht. Einen Marketingfilm, ein Set Spielkarten, einen Notizblockwürfel, eine kleine Box zum Aufbewahren eines Steaks, darauf der Name des Unternehmens, Broschüren mit Informationen über die Firma. Darin Fotos mit rotem Fleisch, das wie Landschaften aussieht ... Frau D. verspätet sich leicht, sie hat bei der Berliner Polizei zehn Jahre lang die Abteilung für Organisierte Kriminalität geleitet. Sie rät uns, das Thema Kinderhandel zu recherchieren, dann spricht sie über ihren alten Job ... Bei der Frage nach Freiern, die Zuhältern die Prostituierten abkaufen wollen, lacht sie. »Das sind die schlimmsten Freier. Sie zahlen und erwarten als Gegenleistung wahre Liebe. Aber was, wenn die Mädchen am Ende nicht glücklich sind? Wenn sie ihre Kolleginnen, ihre Arbeit vermissen? Selbst die Beziehung zu den Zuhältern ist oft anders, als man denkt. Wir denken, Zuhälter beuten die Mädchen aus, drohen ihnen mit Gewalt, verkaufen sie, die Mädchen sehen ihren Zuhälter oft als Freund, als Unterstützer, als persönliches Reisebüro.« Frau D. erzählt auch von Frauen, die selber als Zuhälterinnen arbeiten oder die großen Bosse unterstützen. »Diese Frauen sind oft brutaler als die Männer; sie wissen, wie man die Mädchen verletzt und bedroht, weil sie selber vor Jahren Opfer von Menschenhandel waren.« Von Alice Schwarzers Forderung (sie will Prostitution verbieten) hält Frau D. wenig, bestätigt aber, dass sich durch das neue Gesetz und die EU-Erweiterung vieles dramatisch geändert hat. Die Preise sind gesunken, die Mädchen wissen nicht, was sie für welche Dienstleistung verlangen können. »Manche Freier erwarten heutzutage für dreißig Euro eine Hochzeitsnacht.« Oder: »Wenn Sie es nicht glauben, werden Sie es nicht sehen.« Anders formuliert: Man sieht es nicht, wenn man nichts davon weiß. Wir stehen vor einem Schlachthof in einer ent­ legenen Ecke Niedersachsens, es ist Schichtwechsel, auf dem Parkplatz viele Autos aus Rumänien, Ungarn, Polen, daneben die Lkw mit der Aufschrift: »It’s all about food«. Männer und Frauen, von jung bis um die fünfzig, verlassen das riesige Gelände, auf dem überall Kameras installiert sind. Alle tragen einen blauen Plastikkorb bei sich, darin Werkzeug oder ähnliches. Einige haben auch Fleisch dabei, in weiße Schachteln eingepackt, vielleicht für den Grillabend bestimmt. Manche der Arbeiter werden in Bussen transportiert, sie sitzen vor dem Eingang und warten, dass sie abgeholt werden. An­ dere gehen zu ihren Wagen, mit Nummernschildern aus ­Temeswar oder Maramureş. Die meisten Männer tragen Turnschuhe, aber auch viele Frauen in engen Jeans und T-Shirts verlassen das Gelände. Gianina spricht mit einer Frau mittleren Alters aus Sibiu. Sie hat vor ein paar

Wochen hier angefangen, findet die Arbeitsbedingungen okay, teilt sich ein Zimmer mit einer anderen Frau, sie sind nur zu zweit. Macht ihr die Arbeit wirklich nichts aus? »Nein.« Aber in ihrer Stimme und ihren Augen liegt ein »Doch« oder »Was bleibt mir denn übrig?«. Welche Wahl hat sie? Wieder geht es um Wahlmöglichkeiten. Das eindrücklichste Bild ist in meinen Augen das eines jungen Paares, das aus dem Schlachthof kommt und jeweils in einer Hand den blauen Korb, in der anderen die des anderen hält. Hand in Hand gehen sie zu ihrem Auto, eine Art Hochzeitsfahrt in den Schlachthof? Ein paar Stunden später. Ein ehemaliges Militärgelände, Häuser hinter Maschendrahtzaun. Grüne Umgebung, neben den Häusern Holztische, an denen Menschen sitzen und Bergen-Bier trinken und rumänische Speisen essen. Weiter hinten viele rote Container, keine Fenster, keine Wände, nur diese Metallcontainer. Eine Tür steht offen, ich sehe zwei Betten. Hier wohnen diejenigen, die auf den Feldern Erdbeeren ernten. Außerdem ein Supermarkt, der Waren aus Rumänien anbietet, sogar die Kassiererin ist Rumänin. Gegenüber von diesem Gebäude liegen die Sanitäranlagen, Duschen, Waschraum und so weiter. Irgendwie erinnert die Atmosphäre an ein russisches Ferienlager am Meer. Es ist Sommer, alles wirkt so organisiert, die Menschen sehen zufrieden aus, alles scheint in Ordnung zu sein. Nur wir fallen aus dem Rahmen. Wir sind hier Fremde, passen nicht in diese Welt der Arbeiter, die außer dem Schlacht­ hof und diesem Gelände kaum etwas von Deutschland zu sehen bekommen. Ein bisschen wie Vieh, das auf ­einem Hof aufgezogen wird und dann zum Schlachten gebracht wird. Ein Bus kommt an und bringt die letzte Schicht. Diese Art der Arbeitsmigration stört den deutschen Frieden nicht. Die Arbeiter bleiben ein paar Monate und fahren dann wieder nach Hause, froh, etwas Geld verdient zu haben. Sie müssen sich in Deutschland nicht inte­grieren, Deutschland muss sie nicht integrieren. Solange man funktioniert, ist alles gut. Aber wenn ein Arbeiter verunfallt, wenn er die Erwartungen nicht erfüllt, wenn er das Arbeitstempo nicht halten kann, wenn er über die Arbeitsbedingungen spricht oder sie filmt, bekommt er große Schwierigkeiten ... Die Menschen im Lager starren uns an, wie wir sie anstarren. »Was wollt ihr hier?«, scheinen sie zu fragen. Vielleicht halten sie uns für Aktivisten, die gegen ihre Arbeitsbedingungen protestieren wollen. Vielleicht gehören wir zu jenen, die das System stürzen, es in Verruf bringen wollen. Das könnte sie am Ende ihren Job kosten, ihren All-inclusive-Schlachthof-Aufenthalt, ihr Geld. »Lasst uns in Ruhe«, scheinen sie uns wortlos zu verstehen zu geben. Was wurde im 19. Jahrhundert nach der Abschaffung der Sklaverei aus den Sklaven, die Sklaven bleiben wollten? Welche Folgen hatte das für sie? Verloren sie ihre Jobs, ihre Unterkunft, mussten sie verhungern? Ist die Freiheit diesen Preis wert? Wer entscheidet, was gerecht ist und was frei?

Clemens Bechtel, geboren 1964 in Heidelberg, studierte Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-­ Universität Gießen und war danach unter anderem als Regie­ assistent am TAT Frankfurt, am Nationaltheater Mannheim und am Schauspielhaus Hamburg tätig. Seit 1995 arbeitet er als freier Regisseur und ist vor allem für seine dokumentarischen Arbeiten bekannt. Er inszenierte in Deutschland, der Schweiz, Ungarn, Rumänien, Dänemark sowie in Mali und ­Malawi.


49 Human Trade Network Multinationale Recherche über Menschenhandel

Arbeitsmigration gehört im 21. Jahrhundert zu den größten Herausfor­ derungen für die Weltgesellschaft. Im ­globalen Preiskampf werden Menschen verkauft oder zumindest gewinnbringend gehandelt. Das Projekt »Human Trade Network« nimmt sich dieses Themas im internationalen Kontext an und etabliert dazu einen Versuchsaufbau für ein globales Theater und ein temporäres Recherchenetzwerk über drei Kontinente: Vier Theaterhäuser in Indien, Rumänien, Burkina Faso und Deutschland ­beschäftigen sich mit den Ursachen, Strukturen und Folgen des Menschenhandels und der Arbeitsausbeutung. Sie entwickeln vier eigenständige Produktionen, die sich wechselseitig aufeinander beziehen. Dabei unterstützen sich die Partner jeweils mit Interviews und dokumentarischem Material. Die Themen sind vielfältig und die vier Länder sind in den Geschichten miteinander verbunden. Sie erzählen von rumänischen Arbeitern in Deutschlands preiseffizienten Fleischfabriken, osteuropäischen Sex­ arbeiterinnen, die von Bukarest ins Breisgau kommen, Leihmutterschaft, ­internationalen Adoptionen oder dem Markt für Fußballertalente. Die Stücke werden jeweils für ihren Entstehungsort produziert, zusätzlich sind Gastspiele an den Partnertheatern geplant. Während eines mehrtägigen Festivals sollen alle Produktionen in Freiburg zu sehen sein, ergänzt durch einen theatralen Kongress, Vorträge und Diskussionsrunden. Künstlerische Leitung: Clemens Bechtel Regie: Gianina Carbunariu (RO), ­Ildevert Meda & Luca Fusi (BF), Abhishek M ­ ajumdar (IN) Theater Freiburg: 24.3.–30.7.2016; ­Teatrul Mic, Bukarest: ­15.–18.4.2016; Theater ­Freiburg, Werkraum & Kleines Haus: 19.–26.2.2017 ↗ www.theater.freiburg.de

Asyl des müden Europäers Sonderprojekt der Wiesbaden Biennale 2016

Europa befindet sich in der Dauerkrise, einer Krise der Institutionen und Narrationen. Es ist auch eine Identitätskrise: Wer wollen wir sein, wie wollen wir leben, wer gehört zu uns? Wer angesichts der Lage nicht in Depressionen verfallen möchte, braucht eine Zuflucht – einen offenen, schöpferischen Raum des Übergangs zwischen Zweifel und Neubeginn. Die Wiesbaden Biennale 2016 gewährt dem »müden Europäer« eben dies: ein Asyl. Acht internationale Künstler/innen entwerfen hierfür exemplarisch Institutionen und Konzepte einer utopischen Gemeinschaft. Sie besetzen und transformieren zentrale Orte in der Stadt und hinterfragen Rituale und Narrative. Der niederländische Performancekünst-

ler Dries Verhoeven entwickelt z. B. in der St. Augustine's Church zehn Beerdigungs-Zeremonien: Täglich trägt er Ideen und Vorstellungen (Wohlfahrtsstaat, Ewige Treue etc.) zu Grabe, von denen sich die Gesellschaft möglicherweise verabschieden muss. Der belgische Regisseur Thomas Bellinck bezieht das leerstehende Gerichtsgebäude und baut ein Museum der Zukunft, das auf den Zerfall Europas zurückblickt. Das Theater­studio verwandelt der libanesische Künstler ­Rabih Mroué in eine kritische Kunst-­ Schule, die die Medienmaschine des ­islamistischen Terrors analysiert. Zuschauer und Passanten sind eingeladen, Teil der Gemeinschaft zu werden und die Erzählung Europa mit fortzuschreiben. Die Wiesbaden Biennale ist das Nachfolgefestival von »Neue Stücke aus Europa«. Gegründet 1992 aus dem Geist des europäischen Aufbruchs, analysiert das Festival – 24 Jahre später – kritisch die europäische Identität. Künstlerische Leitung: Maria ­Magdalena Ludewig, Martin Hammer Künstler/innen: Dries Verhoeven (NL), Thomas Bellinck (BE), Rabih Mroué (LB), Tiago Rodrigues (PT), Georgia Sagri (GR), Ingo Niermann, Margarita Tsomou (GR/DE) u. a. Verschiedene Orte, Wiesbaden: 25.8.–4.9.2016 ↗ www.staatstheater-wiesbaden.de ↗ www.wiesbaden-biennale.de

LiteraTurm 2016 Der entgrenzte Text

Wie können filmische Schnitt­ver­ fahren die Literatur beeinflussen? Wie musikalische Techniken auf die Literatur angewandt werden? Was passiert, wenn Text und Tanz aufeinandertreffen? 2016 steht das alle zwei Jahre stattfindende Festival LiteraTurm unter dem Motto »Der entgrenzte Text«. Gemeint sind zum einen Grenzüberschreitungen durch Verschränkung und Wechselwirkung von Literatur und anderen Künsten. Zum anderen ästhetische Ent­ grenzungen, in denen die Möglichkeiten des Texts im Mittelpunkt stehen: Experimente mit Klang, digitalen Medien und Poesie schaffen neue hybride Formen. Renommierte Schriftsteller/innen, Dichter/innen und Musiker/innen werden in Lesungen, Konzerten und Diskussionen textliche Spielräume ausloten. Auch die Transformation der Literatur in andere Künste ist ein zentrales Thema des Festivals, wie z. B. die von Literatur in Film oder von Literatur in Tanz. Zum ersten Mal kooperiert LiteraTurm auch mit dem Birmingham Literature Festival: Beide teilen nicht nur die ­ ­inhaltliche Ausrichtung, sondern tauschen auch ­Veranstaltungsformate aus, wie in d ­ iesem Jahr die Poetry-Filmreihe. Die ­Ver­­­an­staltungen finden in Frankfurt, Darmstadt, Wiesbaden und anderen Orten der Region statt. Künstlerische Leitung: Sonja Vandenrath Künstler/innen: Literatur / Film: Oskar Roehler Literatur / Drama / Hörspiel: Frank Witzel, Armin Petras,

Leonhard Koppelmann Literatur / Tanz: Martina Hefter, The James Cousins Company (GB) Performance: Ant Hampton und Tim Etchell (GB) Musik / Literatur: Ensemble Modern Lautpoesie: Michael Lentz, Jaap Blonk (NL), Nora Gomringer Literatur / Bildende Kunst: Martin ­Mosebach Literatur / Popmusik: ­Thomas Meinecke, Ulrich Peltzer, Stefan Twardoch (PL), Jakob Hein Verschiedene Veranstaltungsorte: Frankfurt, Darmstadt und Rhein-Main-Region: 1.–11.6.2016 ↗ www.kultur-frankfurt.de

Our Common Futures Theater und Performances aus Tokio, Seoul, Bangkok und Singapur beim Festival Theaterformen

Das Festival Theaterformen ist eines der größten Festivals für internationales Theater in Deutschland. Zum nächsten Festival im Juni 2016 sind sechs Künstler aus den ostasiatischen Metropolen Tokio, Seoul, Bangkok und Singapur mit jeweils einer Produktion eingeladen. Die Künstler beziehen sich auf ganz ­unterschiedliche ästhetische Traditionen, wobei ihre künstlerischen Ansätze zu den kritischsten und progressivsten in ihren jeweiligen Regionen gehören. Der gemeinsame Nenner ihrer Arbeiten ist die Beschleunigung in diversen Bereichen: Medien, Wirtschaft, Politik und Technologie. Tokio, Bangkok, Seoul und Singapur haben in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung durchlaufen. Phänomene wie Überbevölkerung, ex­ treme klimatische Bedingungen, Vernetzung und Vereinzelung prägen den Alltag und zeigen, wie die Zukunft in Europa aussehen könnte. Eingeladen zum Festival ist beispielsweise die japanische Theater­macherin Toko Nikaido, in deren Arbeiten die japanische Teeniekultur zum Schlachtfeld gesellschaftlicher Prozesse wird. Der aus Singapur stammende Künstler Tzu Nyen Ho wird seine Bühneninstallation Ten Thousand Tigers präsentieren: ein halluzinatorisches Panoptikum über die malaiische Halbinsel, in dem sich Magie und komplexe Technologie, Geist und Elektrizität verbinden. Festivalbegleitend findet eine Tagung in Kooperation mit der Universität Hildesheim und der FU Berlin statt sowie mehrere Master­classes, ein Filmprogramm und eine Ausstellung gemeinsam mit dem Kunstverein Braunschweig. KünStlerische Leitung: ­ Martine Dennewald Künstler/innen: Ho Tzu Nyen (SG), Kyunsung Lee (KR), Creative VaQi (KR), Toko Nikaido / Miss Revolutionary Idol Berserker (JP), Toshiki Okada / ­chelfitsch (JP), Minhee Park (KR), Thanapol Virulhakul / Democrazy Theatre (TH) u. a. Staatstheater Braunschweig: 9.–19.6.2016 ↗ www.theaterformen.de

Sisters in African Cinema Filmemacherinnen, Frauen­ bewegung und Feminismus im afri­kanischen Kino

Frauen aus afrikanischen Ländern haben in den letzten Jahren zahlreiche Filminitiativen, Produktionsfirmen oder Casting-Agenturen gegründet und Filmfestivals organisiert – von der Elfenbeinküste über Nigeria bis nach Zimbabwe. Damit handeln sie ganz im Sinne der französischen Regisseurin und Grande Dame des afrikanischen Kinos, Sarah Maldoror, deren Forderung bis heute nachwirkt: »Die Frauen müssen ihre Probleme selbst thematisieren.« Tatsächlich stehen immer mehr Frauen aus afrikanischen Ländern und der afrikanischen Diaspora vor und hinter der Kamera. Ihre Filme beleuchten die Rolle der Frauen im Widerstand gegen herrschende Ungerechtigkeit und Gewalt, sie zeigen ihr Engagement für Politik, Kunst und Kultur und begleiten sie im Alltag. Das Filmprojekt »Sisters in African ­Cinema« möchte diesen künstlerischen Aufbruch einem breiten Publikum in Deutschland vorstellen. Dafür wird in Zusammenarbeit mit Künstlerinnen wie Nadia El Fani, Dyana Gaye und Beti ­Ellerson eine Filmreihe mit etwa 20 ­Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmen zu­sammengestellt, die erstmals auf dem­ ­Festival »Jenseits von Europa XIV – Neue ­Filme aus Afrika« in Köln gezeigt ­wird. Anschließend tourt die Filmreihe durch Deutschland. Um die Visionen und ­Perspektiven afrikanischer Frauen zu vermitteln, initiiert das Projekt zudem Begegnungen und Workshops mit Filmemacherinnen, Filmtheoretikerinnen, Schauspielerinnen und Aktivistinnen. Künstlerische Leitung: Christa Aretz Kuratorinnen / Board: Beti Ellerson (US), Dyana Gaye (FR), Nadia El Fani (TN), Judy Nini Kibinge (KE), Djamila Sahraoui (DZ), Zevia Desai Keiper (ZA) Festival »Jenseits von Europa XIV – Neue Filme aus Afrika«: Filmforum im Museum Ludwig, Filmhauskino, ­Zen­tralbibliothek, Köln: 15.–25.9.2016 ↗ www.filme-aus-afrika.de


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Das Magazin Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen ­möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter: ↗ www.kulturstiftung-bund.de/­ magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, ­erreichen ­Sie uns auch telefonisch unter ­ +49 (0) 345 2997 131. ­ Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf! Das Magazin #26 können Sie auch als E-Magazin in englischer Sprache abrufen unter ↗ www.kulturstiftung-bund.de/magazine.

Die Website Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine ­umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der Stiftung, ­die Förderanträge und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns auf: ↗ www.kulturstiftung-bund.de ↗ facebook.com/kulturstiftung ↗ twitter.com/kulturstiftung

Impressum Herausgeber Kulturstiftung des Bundes

Kulturstiftung des Bundes Stiftungsrat Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Vorsitzende des Stiftungsrates Prof. Monika Grütters Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien für das Auswärtige Amt Prof. Dr. Maria Böhmer Staatsministerin für das Bundesministerium der Finanzen Jens Spahn Parlamentarischer Staatssekretär für den Deutschen Bundestag Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident Dr. h.c. Wolfgang Thierse Bundestagspräsident a.D. Dr. h.c. Hans-Joachim Otto Parlamentarischer Staatssekretär a.D. als Vertreter der Länder Boris Rhein Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst Stephan Dorgerloh Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt

Vorstand Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz (verantwortlich für den Inhalt)

als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Beigeordneter, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund

Redaktionelle Beratung Tobias Asmuth Schlussredaktion Therese Teutsch Gestaltung Neue Gestaltung, Berlin Bildnachweis Delaine Le Bas (courtesy of the artist)

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kompensiert Id-Nr. 1654788 www.bvdm-online.de

Druck BUD, Potsdam Redaktionsschluss 31.1.2016 Auflage 26.000 Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes – alle Rechte vor­behalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes. Die Kulturstiftung des Bundes wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.

Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Dr. Volker Rodekamp Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig

Franckeplatz 2 06110 Halle an der Saale T +49 (0)345 2997 0 F +49 (0)345 2997 333 info@kulturstiftung-bund.de ↗ www.kulturstiftung-bund.de

Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel

Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats

als Vorsitzender des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder Dr. Carsten Sieling Präsident des Senats und Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Durs Grünbein Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

Stiftungsbeirat Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungs­ tätigkeit. I­ n ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten. Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vorsitzender des Stiftungsbeirates Dr. Dorothea Rüland Generalsekretärin des DAAD, stellv. Vorsitzende des Stiftungsbeirates Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Vorstands der Deutsche Bank Stiftung Jens Cording Beauftragter der Gesellschaft für Neue Musik

Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft Johano Strasser P.E.N. Deutschland Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di Prof. Klaus Zehelein Ehemaliger Präsident des Deutschen Bühnenvereins Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats

Jurys und ­Kuratorien Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themen­ spezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter ↗ www.kulturstiftung-­ bund.de bei den entsprechenden Projekten.

Die Stiftung Vorstand Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor Sekretariate Beatrix Kluge / Beate Ollesch (Büro Berlin) / Christine Werner Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche Justitiariat / Vertragsabteilung Christian Plodeck ( Justitiar) / Kristin Duda / Stefanie Jage / Anja Petzold Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung) / Tinatin Eppmann / Juliane Köber / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier / Therese Teutsch Förderung und Programme Kirsten Haß (Leitung) / Torsten Maß (Leitung Allgemeine Projektförderung) / Teresa Darian / ­ Anke Engemann / Anne Fleckstein / Dr. Marie Cathleen Haff / Markus Huber / Antonia Lahmé / Anne Maase / Carl Philipp Nies / Uta Schnell / Karoline Weber Programm-Management und Evaluation Ursula Bongaerts (Leitung) / Marius Bunk / Kristin Dögel / Marcel Gärtner / Katrin Gayda / Bärbel Hejkal / Steffi Khazhueva / Dörte Mocbeichel / Anne-Kathrin Szabó Projektprüfung Steffen Schille (Leitung) / Franziska Gollub / Frank Lehmann / Fabian Märtin / Saskia Seidel / Antje Wagner Verwaltung Andreas Heimann (Leitung) / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe


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