JOYCE NYAIRO ist Pro fessorin für Literatur, Theater und Film an der Moi Univer sität in Eldoret, Kenia. Ein Fokus ihrer Arbeit liegt auf der Förderung unabhän giger ostafrikanischer Ein richtungen im Bereich Medien und Kunst. Die Kulturwissen schaftlerin ist Geschäftsführe rin von Santuri Media Limited und Mitherausgeberin der Publikation Urban Legends, Colonial Myths: East African Popular Culture and Literature (Africa Research & Publications 2007) sowie des quartalsweise erscheinenden Journal of Eastern African Studies. Sie schreibt für nationale und internationale Magazine wie etwa African Affairs in den Themenfeldern afrikanische Literatur, Popu lärmusik, Urbankultur und postkoloniale Identität. Im Rahmen des Projekts Ten Cities über Clubkultur in Europa und Afrika ist sie Forschungspartnerin des Goethe-Instituts Kenia. Aufzuwachsen und in einer „anderen“ Sprache zu träumen und zu sprechen – in einer Sprache, die, wie die Leute einen ständig erinnern, nicht die eigene ist, in einer Sprache, die die Leute fremd nennen, als verun reinige sie alles, was sie berührt – bedeutet, zwischen ungleichen Orten und ungleichen Weisheiten geformt zu werden. Es bedeutet, im epochalen oder historischen Sinne postkolonial zu sein. Postkolonial zu sein bedeu tet in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem die Koloni alisten unendlich viel zurückgelassen haben – viel
2 http://www.economist.com/news/special-report/21572377-african-lives-have-already-greatly-improved-over-past-decade-says-oliver-august; Druckausgabe, 2. März 2013.
J. N.
Durcheinander, viel Abgekoppeltes, vieles, was zu Ab koppelungen und Aneignungen neuer Dinge führt, die ebenso stimulieren wie verwirren. Mein Postkolonialis mus ist mehr als eine bloße Verteidigung „ursprüng licher“ Kulturen. Genau genommen, bestreitet er bisweilen die Relevanz dessen, was als ursprünglich angesehen wird. Er beinhaltet eine Neudefinition des Begriffs „ursprünglich“ unter Einbeziehung all der Dinge, die über den langen Zeitraum des Kontakts Afri kas mit dem Westen und dem Rest der Welt entlehnt und afrikanisiert wurden. Postkolonial zu sein ist mehr als bilingual zu sein, mehr als multikulturell zu sein, denn hier wird immer von außen eine Hierarchie zwischen den Sprachen und Kulturen vorgegeben. Wie oft musste ich erklären, wa rum ich einen englischen Namen, einen „christlichen Namen“ habe, warum keinen ethnischen? Aber in der postkolonialen Situation ist kein Name besser oder authentischer als ein anderer. Alle Namen reflektieren Momente in unserer Entstehung, sind Teil unserer Ent lehnungen und unseres Werdens. Von außen auferlegte Hierarchien erweisen sich als widerständig gegenüber Klassen, denn sie bringen unendlich viele Verflech tungen, fließende Bindungen und Brüche mit sich, die eine Dichotomie zwischen Herrscher und Beherrschtem zu einfach erscheinen lassen. Bei meiner Arbeit als Kulturwissenschaftlerin geht es um solche Erklärungen. Es geht um die Bedeutung kenianischer Texte – Romane, Lieder, Filme –, denn selbst wenn diese auf Englisch sind, stecken in ihnen unzählige Anspielungen auf unterschiedliche ethnische Kulturen und koloniale Relikte. Sie beziehen sich immer wieder auf Phasen der Moderne, die unglaublich schnell vorüberziehen und so schlecht dokumentiert sind, dass die Erinnerungsarbeit, die es braucht, um sie wiederauf zudecken, sich bisweilen umfangreicher gestaltet als die Last, neue Texte zu schreiben. Um diese Phasen zu be stimmen und verschiedene Bedeutungsebenen einer Zeit, eines Orts oder Trends aufzudecken, braucht es eine Ideologie zu Unterschiedlichkeit und ungleichen Kräften. Postkolonialismus ist der wichtigste Ansatz, um die Spannungen, die mit den „Fehl-“Repräsentationen Afrikas einhergehen, offenzulegen. Es wird immer nötig sein, sich selbst zu erklären, Realitäten zu übersetzen und Perspektiven zu korrigieren. Heute spricht die ganze Welt von „Afrikas Aufstieg“ („Africa Rising“). Aber wann ist Afrika gesunken? Viele, vor allem im Westen, sehen Afrika jetzt als Kontinent an der Schwelle zum technologischen und wirtschaftlichen Durchbruch. Manche beschreiben diesen Moment so: „Afrikaner stellen sich den Herausforderungen ihres Kontinents … voller Hoffnung und Freude.“1 Erst vor Kurzem befasste sich die vielbeachtete Zeitschrift The Economist mit dem Phänomen der Neugeburt auf dem afrikanischen Kontinent. Es wurden drei Gründe für die Aufbruchstimmung in Afrika genannt. Erstens „haben viele aufgehört zu kämpfen. Kriege und Unruhen sind maßgeblich zurück gegangen“2. Zweitens haben sich Politik und bürger liches Engagement weiterentwickelt, mehr Menschen bringen sich ein und haben Ideen zu Bürgerbeteiligung. Schließlich kam es durch den Niedergang der sozialis tischen Wirtschaftsmodelle, die viele afrikanische Län der in den 1960ern eingeführt hatten, zu einem Roh stoffboom. Wenn wir wirtschaftliches und demokratisches Wachstum – das sich zweifelsohne gut entwickelt, inso fern als Kapitalismus und freier Handel sich etablieren und westliche Grundsätze der Staatsführung bei Bürgern und Regierungen auf mehr Anerkennung stoßen – ein mal beiseite lassen, läuft dieses Gespräch über die Rich tung, die Afrika einschlagen wird, auf die Frage nach den Einstellungen der afrikanischen Völker hinaus. Es ist eine Diskussion über das soziokulturelle Kapital, das Afrika ner einsetzen, um untereinander zu handeln und mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten. Inwiefern hat sich dieses soziokulturelle Kapital bedeutsam ver ändert? Was ist neu? Sind Afrikaner plötzlich selbst sicherer? Haben sie auf bisher ungeklärte Weise die Grammatik erlernt, um besser untereinander und mit dem Rest der Welt zu kommunizieren?
1 http://www.africarising.org
16