Magazin #22 der Kulturstiftung des Bundes

Page 1

Frühling / Sommer 2014

№ 22


2

Editorial Die gute Nachricht zuerst: Die Kulturstiftung des den kulturellen Entwicklungen auf dem afrikanischen Bundes fördert so viele Kulturprojekte mit Künstlern Kontinent gewachsen. Kann man deshalb schon von und Kulturschaffenden aus afrikanischen Ländern wie ­einem „Afrika-Hype“ sprechen? Auf diese Frage gibt noch nie zuvor. Fünf Jahre nehmen wir uns Zeit für die der aus Nigeria stammende Okwui Enwezor, Direktor Umsetzung von ca. 50 Projekten und Kooperationen des Hauses der Kunst in München, in einem Interview ­zwischen deutschen Kulturinstitutionen und Kunst­ ausführlich Antwort (S. 8). Ihm haben wir auch die Ent­ schaffenden aus afrikanischen Ländern. Trotzdem – deckung der wunderbaren Fotografien des 1975 in und das wäre dann die schlechte Nachricht: Angesichts ­Bakenberg/Südafrika geborenen, äußerst vielseitigen der Größe des afrikanischen Kontinents kann die Stif­ Künstlers Moshekwa Langa zu verdanken. Seine Sujets tung selbst mit einem mit über 6 Mio. Euro geförderten überraschen insofern, als sie sowohl Erwartungen ­an Fonds wie TURN (vgl. den Artikel „Was ist da los?“ im exotisch-folkloristische wie auch an sozialkritische ­Magazin # 21 und die Reportage von Renate Klett über ­Motive konterkarieren (vgl. dazu Okwui Enwezors ­Artikel ein TURN-Projekt in Ruanda hier S. 12) gewiss nur einen auf S. 31). Wir freuen uns auch, Ihnen einen Auszug aus kleinen Beitrag dazu leisten, dass wir in Deutschland dem neuesten Roman „Americanah“ der Schriftstelle­ mehr Impulse aus afrikanischen Ländern aufnehmen. rin Chimamanda Ngozi Adichie (S. 32), ­der Erfolgs­ Hierzulande sind die Kenntnisse von den Kultur­ autorin aus Nigeria, vorstellen zu dürfen. Wir waren szenen in afrikanischen Ländern immer noch rudimen­ begeistert, der Rezensent in der Chronic Books ­vertritt tär. Wenn man etwas genauer hinguckt, entdeckt man, da eine differenziertere Meinung. Auch das ein span­ dass in den afrikanischen Ländern eine enorme kultu­ nendes, wiederum aufschlussreiches Ergebnis! relle Dynamik herrscht, die wir gemeinhin kaum über­ blicken. Wer weiß schon zu sagen, welcher spannende Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz Roman aus Nigeria oder Kenia stammt, woher die gerade Vorstand Kulturstiftung des Bundes angesagteste Musik kommt, in welchem Land interes­ sante Ausstellungen zu sehen sind, welche gesellschaft­ lichen Themen gerade diskutiert werden? Wir haben immer noch einen undifferenzierten Blick auf „Afrika“. Das ist wohl das erste, was zu lernen wäre: dass der ­afrikanische Kontinent mitnichten eine „afrikanische Kunst“ hervorgebracht hat. Den „afrikanischen Roman“ gibt es genauso wenig wie das „europäische Gedicht“. Uns liegt daran, mit den Projekten, die wir fördern, die Überzeugungen und den Eigensinn derer, mit denen wir Kooperationen eingehen, zum Vorschein kommen zu lassen und ins Licht zu rücken. Dazu gehört auch, dass wir unser Magazin diesmal ganz den vielfältigen Facetten afrikanischer Kunstproduktion widmen und zwar so, dass wir dem Selbstverständnis von Künstler/ innen und Kulturschaffenden breiten Raum geben wol­ len. So haben wir fünf renommierte Kulturschaffende aus verschiedenen afrikanischen Ländern gebeten, uns über ihre Erfahrungen und ihre individuellen Spiel­ räume in den postkolonialen Welten ihrer Länder zu berichten (S. 14). Ein ähnliches Motiv bewog uns, Teilen dieser Aus­ gabe die panafrikanische Gazette Chimurenga Chronic in deutscher Übersetzung beizulegen. Diese einmalige Beilage versammelt Artikel aus den letzten drei Aus­ gaben der Chimurenga Chronic, die seit 2010 in eng­ lischer Sprache in Kapstadt erscheint. Uns schien das eine ideale Möglichkeit zu sein, die deutsche Öffent­ lichkeit an den aktuellen Debatten und Diskursen auf dem afrikanischen Kontinent teilnehmen zu lassen. Wir danken dem Chimurenga-Herausgeber Ntone Edjabe für die fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Die beste Nachricht zum Schluss: Wir stehen glück­ licherweise nicht allein mit unserem Interesse an den kulturellen Dynamiken auf dem afrikanischen Konti­ nent. Nachdem es in der Vergangenheit eine verstärkte Hinwendung zu Osteuropa gab und Asien, insbesondere China, eine besondere Aufmerksamkeit für sich bean­ spruchen konnte, ist in jüngster Zeit das Interesse an


3

Inhalt Afrika Chimurenga Chronic — Eine Zeitung für ganz Afrika

Neue Projekte Das leise Ausfransen des Lebens — Eine Bildstrecke von Moshekwa Langa

Was von damals übrig bleibt: Moshekwa Langas Fotografien sind ein so leiser wie eindringlicher Kommentar auf das Südafrika der NachApartheid-Zeit.

S. 20

Nicht-Ereignisse: Moshekwa Langas Bilder des Alltäglichen — Okwui Enwezor über Moshekwa Langas Bilder des Alltäglichen

Mit Chimurenga Chronic, now-now, a quarterly pan African gazette, einem Zeitungsprojekt aus Kapstadt, hat Herausgeber Ntone Edjabe ­ den ganzen afrikanischen Kontinent im Blick. Mit jeder Ausgabe gelingt es ihm, Tradition und Innovation zu etwas zeitgenössisch Neuem zu vereinen – in Inhalt und Form.

S. 4

Ich trage nicht die afrikanische Flagge!

„Langas Fotografien beschwören ein Gefühl von Trauer und Verlust herauf. Sie sind Bilder eines Exilanten, der nach Hause zurückkehrt und auf einen Mangel stößt, auf Lücken in Erinnerung und Gedächtnis.“

S. 31

AMERICANAH — Ein Auszug aus dem neuen Roman von Chimamanda Ngozi Adichie

Foto: Timo Jaakonaho / picture-alliance

— Ein Gespräch mit Okwui Enwezor

Über das Verständnis von Afrika als Einheit, den kulturellen Reichtum des Kontinents, den Hype um Afrika in Deutschlands Kulturszene und den Kampf zwischen Authentizität und Mimikry.

S. 8

Style in Africa.

S. 34–46

— Renate Klett

Die Performer der deutsch-ivorischen Tanzgruppe Gintersdorfer/Klaßen beschäftigen sich in ihrer neuen Arbeit mit verschiedenen Spielarten ­ des Pan­afrikanismus und seinen aktuellen und historischen Deutungen. Ein Werkstattbesuch in Kigali, der zweiten Station des TURN-Projekts.

S. 12

Jenseits von Geografie und Geschichte — Statements von Joyce Nyairo, Simon Njami, Jelili Atiku, Denis Ekpo und Meskerem Assegued

Wie sehr fühlen Sie sich in Ihrem Denken und Arbeiten von postkolonialen Hinterlassenschaften beeinflusst? Kann man ihnen entrinnen? Und woran könnte man erkennen, dass das gelungen ist? Fünf afrikanische Kulturschaffende geben Antworten.

S. 14

(Mis)Understanding Photography / Das bedrohte Paradies / Performing Change / Tobias Rehberger / International Village Show / Architektur der sechziger Jahre / BLOW UP / Affekte Ich fühle, also bin ich. Affekte in Politik und Kunst / Wael Shawky / Ordnungen in Bewegung / Black Mountain / Zeichen gegen den Krieg / Re-Discoveries / Glanzlichter / Scham / Pictoplasma – Not Your Avatar / TELE-Gen / Unter der Erde Auszug aus Franz Kafkas „Der Bau“ / Osthang Projekt / KlangZeit 2014 / Haushaltsmesse 2015 / Fette Beute. Reichtum zeigen / So long, Eric! / Shiva for Anne / moers festival 2014: big line-ups / Focus Boris Charmatz / Musée de la danse / Übersetzungswürfel / Yoko Tawada, Die Haarsteuer – Podatek od owłosienia / Die Speisung der 5000 / The Bed On Which I’m Sleeping / Schwestern / Orpheus in der Oberwelt / Made in Bangladesh / Japan Syndrome / Die Stunde, da wir zu viel voneinander wußten / Weltreise / 1. Bürgerbühnen­festival Wie jede andere Inszenierung auch / Sir Harry’s Song / Choreografie und Protest / The Complete Manual of Evacuation /

Die weltweit erfolgreiche und mehrfach preisge­ krönte nigerianische Schriftstellerin schreibt bewundernswert einfach, grenzenlos empathisch und mit einem scharfen Blick auf die Gesellschaft. Ihr neuer Roman erzählt eine Liebesgeschichte, die in den USA und Nigeria spielt.

S. 32

Gremien & Impressum S. 47


4

Das

Entscheidende ist die Haltung

Chimurenga Chronic ist eine Zeitung für ganz Afrika, die mit jeder Ausgabe zeigt, wie einzigartig Print­journalismus auch heute noch sein kann. Tobias Asmuth

In den vergangenen Jahren ist welt­ weit viel über den Niedergang der Zeitun­ gen gesprochen worden und genauso viel über die Zukunft des Journalismus, die nur im Internet liegen könne. Dabei ist auf Papier so vieles möglich, wenn Zei­ tungsmacher sich nur trauen würden. Das Rezept ist eigentlich ganz einfach: Zei­ tungen sollten das tun, was sie besser als das Internet können, lange gründlich re­ cherchierte Texte, eine spannende Mi­ schung aus Reportagen und Analysen, eine sinnliche Bildsprache zu einem in­ tellektuellen und ästhetischen Genuss zu verbinden. Ntone Edjabe gelingt seit Jah­ ren mit einem Team aus Redakteuren, Reportern, Fotografen, Zeichnern und Layoutern genau das, Erzähljournalimus zu einem Ereignis zu machen. Chimurenga Chronic, now-now, a quarterly pan African gazette lautet sein alle drei Monate in Kap­ stadt erscheinendes Zeitungsprojekt.­ In der Tradition panafrikanischer Maga­ zine wie Présence Africaine oder Transi­ tion hat Edjabe den ganzen Kontinent im Blick, doch gelingt es ihm dabei, Tradi­ tion und Innovation zu etwas zeitgenös­ sisch Neuem zu vereinen – in Inhalt und Form. Chimurenga Chronic erinnert an die großen britischen Sonntagszeitungen wie den Observer oder die Wochenendausga­ ben amerikanischer Zeitungen. Das liegt einmal am großzügigen Format (31 x 50 Zentimeter) – vor allem aber am Inhalt,

für den in jeder Ausgabe ein neues Dreh­ buch geschrieben wird: Es gibt keine kur­ zen Nachrichten oder bloße Berichte, sondern lange Lese-Stücke, in erster Li­ nie Reportagen, Porträts, Essays. Diese werden nicht klassisch nach Ressorts wie Politik, Wirtschaft, Kultur oder Sport ein­ geteilt, sondern ganz unkonventionell in originellen Rubriken wie „Familienban­ de“, „Posteingang“ oder „Monumental­ versagen“ zu einem Leseteppich ver­ knüpft. Die Haltung der Redaktion von Chimurenga Chronic ist dabei nicht nur eine rein ästhetische, die die Texte mög­ lichst hübsch lesefreundlich aufbereitet − wobei das Layout durch seine mal strenge Nüchternheit, mal lässige Ver­ spieltheit sehr sophisticated daherkommt und es ein ästhetisches Erlebnis ist, durch die Seiten zu blättern −, die Haltung zeichnet sich vor allem durch Neugier und Anteilnahme aus. Die Autoren schreiben oft in der ers­ ten Person, sie thematisieren ihre Sorgen, ihre Wut, ihre Bestürzung: So widmet sich Yves Mintoogue dem afrikanischen La­ dy-Syndrom und schreibt über den ein­ gefleischten Nepotismus und die politi­ sche Patronage, die Chantal „Chantou“ Biya zur zweiten Natur geworden sind. Die First Lady der Republik Kamerun wird zwar wegen ihrer philanthropischen und sozialen Aktivitäten bei der AIDS-Be­ kämpfung von vielen geschätzt, ist aber in erster Linie die publizitätshungrige

weibliche Hälfte des macht- und geldgie­ rigen Präsidentenpaares. Yemisi Ogbe hört sich die Predigten der mächtigen neuen Gottesmänner Nigerias an, zählt ihr Geld, betrachtet ihren anspruchsvol­ len Lebensstil − und wundert sich. In Form eines Tagebuchs schreibt Parselelo Kantai über die Wahlen in Kenia und er­ klärt, warum sie so friedlich abliefen, denn fast alles im Land haben Polizei und Geheimdienste fest im Griff. Die Formel von Chimurenga lautet unablässig am journalistischen Zoom zu drehen, mal bissig in einem kurzen Kom­ mentar die große Politik zu kommentie­ ren, mal liebevoll detailversessen auf vie­ len Seiten aus dem Alltag Afrikas zu berichten. Der Umgang mit der Sprache ist kreativ, lässig witzig. Überhaupt ist den Machern Humor wichtig, und das nicht nur als Stilmittel, sondern auch als ­Analyseinstrument, etwa wenn in einem ­Leitartikel der Filmemacher und Autor Jean-Pierre Bekolo Obama mit der Re­ daktion streitet und dafür eintritt, dass die Weißen besser nach Afrika zurückkeh­ ren sollten, um die vielen gewaltigen Prob­ leme zu lösen. Chimurenga spielt gekonnt mit typischen Formen des klassischen Zeitungsjournalismus: Fotos werden sparsam eingesetzt oder zu üppigen Bilderstrecken in klassischem Schwarz-­ Weiß arrangiert, Zeichnungen illustrieren eindrucksvoll Reportagen wie über den Jazz-Musiker Bra Herbie Tsoaeli oder ­erklären die ausufernde Bürokratie der ­Afrikanischen Union anhand ihres neuen Hauptquartiers in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba. Auch einem typischen For­ mat wie einer Koch- oder Rezeptkolumne gewinnt die Redaktion Unerwartetes ab, wenn sie über die Kunst des ‚Fischsuppe Kochens‘ in Nigeria schreiben lässt und en passant über die Auflösung gesell­ schaftlicher Rollenbilder berichtet. Eines aber haben alle bisher erschie­ nenen Ausgaben gemeinsam, und das ist die große Rolle, die die Kultur nicht nur auf den Zeitungsseiten spielt. So porträ­ tiert Ellionore Bellio den kongolesischen Künstler Bebson Elembas alias Bebson de la Rue und sein multidisziplinäres Le­ benswerk, in dem sich Geist und Materie mischen und das sich aus radikaler Folk­ lore und der Emanzipation von der post­ kolonialen Gegenwart speist. John Peffer untersucht die fotografischen Stile, die das Bild des schwarzen Südafrikaners prä­ gen, wenn sie den durch Apartheid ge­ steckten Rahmen aus Negation, Negati­ vität und Separation hinter sich lassen, Yemisi Ogbe schaut verwundert und fas­ ziniert hinter die Kulissen der Modemes­ se in Nigerias Hauptstadt Lagos. Jeder Ausgabe liegt zudem das Literaturmaga­ zin Chronic Books bei, das in rasanter Weise Rezensionen, Interviews und Es­ says mischt und sich ganz der afrikani­ schen Literatur widmet. Nicht zuletzt in den vielen Texten in Chronic Books wird das Versprechen Chimurengas, eine panafrikanische Chronik zu sein, einge­ löst: Ganz Afrika ist ganz selbstverständ­ lich Referenzrahmen der Zeitung. Und wie nebenbei zeigen Ntone ­Edjabe und seine Redaktion in Kapstadt alle drei Monate mit Chimurenga Chro­ nic, wie gleichförmig, konfektioniert, ­a ustauschbar und öde gewöhnlicher ­Zeitungsjournalismus geworden ist.


5


6

Gospel Christian Porn Rap Die puritanischen gesellschaftlichen Konventionen ficken, die das religiöseste Land der Welt durch­dringen, das ist die eindeutige und bewusste Absicht von Ghanas ebenso populärem wie umstrittenem Hiphop-Duo, den cleveren FOKN Bois, schreibt Nana Darkoa Sekyiamah.

Overcoming Maps

Letzte Wege

Für viele afrikanische Immigranten bedeuten Städte einen Horizont voller Hoffnungen, aber auch die Angst vor einem Tod „im Nirgendwo“. Weit von zu Hause weg zu sterben, ohne Trauerzeremonie und richtiges Begräbnis, lässt im metaphysischen Sinn viele Menschen ein ewiges Umherwandern fürchten. Aber die Rückführung und ein Begräbnis zu Hause sind ungewiss, oftmals gar unmöglich. In Johannesburg prosperiert daher das Geschäft mit dem Tod, in das viele Akteure eingebunden sind: Beerdigungs­institute, Rückführungsbüros, Freund­ schafts- und Beziehungsvermittler und Transportunter­ nehmen. Es gibt eine große Bandbreite an Nuancen kosmologischer Streitfragen, jedoch kristallisiert sich vor allem ein Motiv heraus, das über ­den ganzen Konti­ nent verteilt zu beobachten ist. Die folgenden Zeugnisse belegen das. Sie sind der ethnologischen Forschungsarbeit von Lorena Núñez und M ­ atthew Wilhelm-Solomon entnommen und zu einer Kartografie zusammengestellt, die das Dilemma der migrantischen Wanderungen über den Tod hinaus verzeichnet, sowie deren Einfluss auf Verstorbene wie Zurückgelassene.

Propaganda by

Monuments.

Oder das first lady-syndrom

Yves Mintoogue recherchiert über den eingefleischten Nepotismus und die politische Patronage, die Chantal „Chantou“ Biya zur zweiten Natur geworden sind. Die First Lady der Republik Kamerun wird zwar wegen ihrer philanthropischen, humanitären und sozialen Aktivitäten bei der AIDS-Bekämpfung von vielen geschätzt, ist aber in erster Linie die publizitätshungrige weibliche Hälfte des macht- und geldgierigen Präsidentenpaares.


7

Stealing authority Krimis schreiben in Kenia, Indien und Nigeria

Billy Kahora ist hinter talentierten Drehbuchautoren her und entdeckt, dass akademische Mantras, konservative Weltsicht und Beobachtungen aus zweiter Hand eine Huldigung des echten Mumms verhindern, der gelebt sein will, will man in einem Nairobi noir wahrgenommen werden.

Erster Teil

Monumentalversagen Dominique Malaquais berichtet über den aktiven Widerstand eines gewissen „Combat­ tant“ in Kamerun gegen die in Stein gemeißelte Ausgrenzung vieler. In einem Land, das mehr auf Zeremonien denn auf eigenen Füßen steht, erscheint seine Rebellion – die Verunglimpfung der Symbole für die ungesund­­est­­en kolonialen Heldentaten – ausgesprochen passend.

» Gestehen wir es uns ein:

Wir haben uns übernommen. Wir brauchen die Weissis wieder hier.« Der Kameruner Filmemacher und Renegat Jean-Pierre Bekolo Obama hält hinsichtlich seiner politischen Unzufriedenheit mit dem Zustand seines Heimatlandes nicht hinterm Berg. Es wird Zeit, behauptet er, die Scheinheiligkeit abzulegen und den Autopiloten auszuschalten.

Zweiter Teil

Monumentalversagen Die seelenlosen Betonhöhlen, die von Mosambik bis Malawi die Stadien-Ikonen der Unabhängigkeitsära ersetzen, sind Symbole eines mehr als freundlichen ‚Wirtschafts‘-Spiels, das überall in Afrika vor sich geht. Elliot Ross klagt über die neue Architektur.


8

Ich trage nicht die afrikanische Flagge ! Okwui Enwezor, Direktor des Hauses der Kunst München, im Gespräch mit Daniela Roth, Kunsthistorikerin, Soziologin und Kennerin der Kunstszenen in Afrika, über das Verständnis von Afrika als Einheit, den kulturellen Reichtum des Kontinents, das Engagement afrikanischer Künstler, den Hype um Afrika in Deutschlands Kulturszene und den Kampf zwischen Authentizität und Mimikry.


9 DR

Warum, glauben Sie, ist das so? Afrika ist riesig und besteht aus so vielen verschiedenen Kulturen und Regionen. Sehen Sie dieses Verständnis von Afrika als Einheit kritisch?

Das ist eine sehr wichtige Frage, aber ich sorge mich vor allem um die Folgen von guten Absichten. Gute Absichten tragen ein Machtelement in sich, das häufig zugleich verborgen und durchschaubar ist. Es gibt eine Branche von beträchtlicher Größe, die sich dem „Helfen“ und „Unterstützen“ Afrikas widmet. Als wäre diese enorme geografische und komplexe geopolitische Fläche ein Kind, ­das ewig mit Stützrädern fährt und ­ ein Heer von Experten und Wissenschaftsbürokraten benötigt, um es am Umfallen zu hindern. Diese Beziehung zwischen Afrika und Europa macht mir Sorgen, es besteht die Gefahr, dass eine sehr zerklüftete, vielschichtige Region oder Topo­­grafie abgeflacht wird. Das Ausglätten, die Folgen von Verallgemeinerungen, die Vorstellung, dass die Vielschichtigkeit des Kontinents vollkommen ausgelöscht wird. Ich nenne ­­das „Developmentalismus“ (engl. developmentalism). Man erkennt es an der Art, wie bestimmte Projekte unter der Federführung der deutschen Politik – zum Beispiel das IFA mit seiner Daniela Roth  Gibt es in Bezug auf Kunst Zeitschrift – aufgezogen werden. Die Entwicklungsorganisationen führen und Kultur einen Afrika-Hype in anstatt von Austauschprojekten Deutschland oder Europa? Patronage-Projekte durch. Patronage Okwui Enwezor  Ob es einen Afrika-Hype bedeutet etwas, was ich „Ökonomie gibt, weiß ich nicht, und falls ja, muss der Ehrung“ (engl. tribute economy) man nach dem „Warum?“ fragen. nenne. Afrikaner müssen voller Warum gibt es in Deutschland einen Dank­barkeit einzahlen. Aber wir Afrika-Hype? In Anbetracht der brauchen eine ernsthafte Debatte Tatsache, dass Afrika fast zehnmal und Befragung der Organisationen, so groß ist wie Europa, eine viel die immer wieder dem überholten größere Bevölkerung hat, und hunderParadigma des Developmentalismus te, wenn nicht tausende fortdauernverfallen. Um zu verstehen, was der Traditionen, wundert es mich, vor sich geht, müssen wir Raum für dass der Kontinent in eine monoli­ Diskurs schaffen. thische Kiste gesteckt wird. Doch mir Aber leider basieren viele scheint, falls es einen Hype gibt, h ­ at Projekte, die ich kenne, auf einer er mit der wachsenden Anerkennung bestimmten Art von Amnesie – Amneder Fähigkeiten von Afrikanern zu sie im Sinne des Vergessens der tun. Afrika hat viel zu lange als eine Vergangenheit. Zum Beispiel gab es Art Kontrastfigur hergehalten, in den Sechzigern, Siebzigern und die es vielen Kulturen und Orten in Achtzigern wirklich unglaubliche dieser Welt erlaubte, sich überlegen Momente, als afrikanische Künstler, zu fühlen, zufrieden mit sich selbst, Musiker, Performer und Schriftsteller geadelt. Wenn man über die durch ganz Deutschland reisten. Bedeutung des Hypes nachdenkt, Wo sind die Aufzeichnungen dieser muss man das unter BerücksichtiMomente? Wie könnten wir diese gung dieser Rolle tun, ­die Afrika so Aufzeichnungen heute in einem lange Zeit gespielt hat. Aber vielleicht weitgefächerten kulturellen und können die Diskussionen über einen intellektuellen Diskurs verwenden? Hype in die Erforschung und Wir vergessen auch die vielen Entwicklung eines neuen Paradigmas Afro-Deutschen. Manchmal sehe i­ch umgewandelt werden, das auf eine Art toten Winkel in der Nicht­ gegenseitigem Interesse an Ausbeachtung dieser Themen. Afrika tausch basiert, und daran, wie dieser sollte nicht nur ein neuer Hype sein. Austausch auf der Anerkennung Nicht einmal seine eigene menschlicher Qualitäten basieren kolo­niale Geschichte hat Deutschkönnte, auf den Werten und der land so aufgearbeitet, wie man Vielschichtigkeit der Afrikaner – soes sich wünschte. Deutschland hatte wohl im Hinblick auf die besonderen seine kolonialen Abenteuer in Afrika: Beiträge von Individuen als in Togo, Kamerun, Tansania und auch im Hinblick auf das Potenzial in Namibia, wo Deutsch noch aktiv Afrikas, eine wichtige Vermittlerrolle in gesprochen wird. Wie können der Welt zu übernehmen. Hier liegt Deutsche und Afrikaner diese historimein persönliches Interesse. Dennoch schen Ereignisse aufarbeiten? bin ich sehr neugierig zu erfahren, Wie können wir die Schwierigkeiten, warum Deutschland sich so für Afrika mit denen Afrikaner in der deutschen interessiert.

Gesellschaft zu tun haben, unter­ suchen? Um diese Fragen greifbar zu machen, müssen wir über die Spannung zwischen Gastlichkeit und Feindlichkeit (engl. hospitality und hostility) nachdenken. Jacques Derrida hat die etymologische Verbindung zwischen diesen beiden Begriffen untersucht. Es erscheint mir äußerst interessant, ernsthaft darüber nachzudenken.

OE

DR

OE

Entschuldigen Sie, ich würde diese Fragen auch gerne an Sie als Afrikaner stellen. Sie sind eher ein Global Player, ein Kosmopolit. Aber darf ich diese Fragen an Sie als Afrikaner, Nigerianer, Igbo stellen? Sie haben von den Bemühungen der Sechziger gesprochen. Inzwischen wird Afrika detailreicher wahr­ genommen. Vielleicht haben ­auch Künstler – und Sie als Kurator – ­dafür gekämpft, vor allem, indem Sie diese Rolle als Afrikaner nicht spielten? Das ist ein wichtiger Punkt. Ich sehe mich wirklich nicht als Outsider. Im Kontext der Kunstwelt bin ich ein Insider, und ich möchte ganz und gar nicht vorgeben, nicht in eine breitgefächerte, vielschichtige und globale Diskussion integriert zu sein. Ich bin voll und ganz integriert und weiß das sehr zu schätzen. Sie sprachen über die Rolle von Künstlern und Intellektuellen. Um zu einem weitgefassten Verständnis von Afrikanern beizutragen, ist das sehr wichtig. Letztes Jahr starb der große nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe im Alter von 83 Jahren. Neben seiner Arbeit als großer Schriftsteller ist auch sein Wirken als großer Sohn Afrikas, als Nigerianer und Igbo – als Vertreter all dieser Identitäten – wichtig für das vollständige Bild dessen, was Achebe für die Afrikaner meiner Generation bedeutet. Achebes wichtigstes Lebensthema hatte mit der narrativen und diskursiven Handlungsfähigkeit der Afrikaner zu tun, er nannte das die „Ausgewogenheit der Geschichten“ (engl. balance of stories). Damit meinte er, dass die Geschichten keine negative Bilanz für Afrika ergeben sollten. Es bedeutet auch, dass Afrikaner ihre eigenen Geschichten erzählen müssen. Afrikaner müssen neue, imaginäre Geografien erfinden. Sie müssen ethische Räume erfinden, die sowohl spezifisch afrikanischen als auch universellen Reiz haben. Und das ermöglicht Kunst – der imaginären Geografie der Afrikaner zu begegnen, auf ihr ethisches Engagement einzugehen, zu einem breitgefächerten zwischenmenschlichen Diskurs beizutragen, zu der Ausgewogenheit der Geschichten. In einem Essay bezieht Achebe sich auf ein Massai-Sprichwort. Sinngemäß besagt es: „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Geschichtsschreiber haben, wird die Geschichte der Jagd nur von den Jägern erzählt.“ Kunst, Schreiben, Kuratieren usw. repräsentiert die Techniken zur Erschaffung und Entwicklung der „Ausgewogenheit der Geschichten“.

So verstehe ich meine Arbeit, als Teil einer afrikanischen Weltläufigkeit. Mein ethischer Kompass in der Welt, das Werkzeug, das mir ermöglicht, der Welt der Anderen (Deutschen, Franzosen, Chinesen, Mexikanern etc.) mit Neugier, Verständnis, Respekt und Empathie zu begegnen, basiert auf meiner afrikanischen, nigerianischen und Weltanschauung als Igbo. Ich denke, man kann sagen, dass afrikanische Künstler, Schriftsteller und Intellek­ tuelle in den letzten dreißig Jahren die globale Sphäre auf wirklich eindrucksvolle Weise betreten haben. Das ist wunderbar und wichtig, ­ denn jedes Mal, wenn wir der Arbeit von Künstlern, Schriftstellern usw. begegnen, setzen wir uns mit den von ihnen aufgeworfenen komplexen ethischen und kulturellen Gesten auseinander. DR

OE

Reagieren afrikanische Künstler – was auch immer es bedeutet, afrikanisch zu sein und Künstler zu sein – auf das, was von ihnen erwartet wird? „Exotisch“ zu sein, oder politisch? Sich in ihren Ländern politisch zu engagieren? Das Gleiche könnte man über europäische Künstler sagen. Wenn ich einen europäischen Künstler sehe, sehe ich einen Künstler, der in einer bestimmten Tradition arbeitet. Diese europäische Tradition kann in Afrika sehr exotisch wirken, und sie ist exotisch. Das meine ich mit der Ausgewogenheit der Geschichten. Ein Europäer ist in Afrika genauso exotisch wie ein Afrikaner in Europa. Es ist eine Art Austausch von Exotismen. Ich weiß nicht, ob Afrikaner darauf reagieren, exotisch zu sein – wem gegenüber? Wichtig ist, den Kontext künstlerischer Produktion und die verschiedenen Bedingungen künstlerischer Produktion zu betonen. Sie erzeugen ein unterschiedliches Verständnis von Form und dem, was Michel de Certeau „die Grammatik des Alltags“ nennen würde. Sie erzeugen unterschiedliche Konzepte ästhetischer Sprache. Sie erzeugen unterschiedliche Artikulationen künstlerischer Absichten. Jemand, der einen afrikanischen Künstler sieht und sagt, „Oh, der macht, was von ihm erwartet wird“ oder „Der macht politische Kunst“, kann ich nicht ernst nehmen. Das ist eine reflexartige Reaktion. Anstatt sich mit der Komplexität, die sie vor Augen haben, auseinanderzusetzen, suchen die Menschen Zuflucht in albernen, unproduktiven Klischees. Mein Ziel als Kurator ist es, vorschnelle Urteile und Schlussfolgerungen zu vermeiden. Mich interessiert die Konfronta­tion mit dem Unbekannten. Ich genieße es, etwas über Künstler zu erfahren, über ihre Intentionen, ihre Entscheidungen, ihre Vorstel­lungen, und wie sie diesen Form ver­leihen. Wir gelangen an einen Punkt, an dem die Leute sich nicht länger herausnehmen, Verallge­ meiner­ungen über Afrikaner anzu­ stellen und Schlussfolgerungen zu ziehen, weil die Welt sehr groß und weit ist.


10 Ich war neulich in Nigeria. Zwei Wochen des Urlaubs habe ich zusammen mit meiner Tochter meine Mutter besucht. Meine Tochter ­wurde in New York geboren. Sie ist Nigerianerin, Afrikanerin, Europäerin und Araberin, wegen ihrer Mutter, die polnisch und libysch ist. Aber sie ist auch Amerikanerin. Von sich sagt sie „Ich bin ein Soho-Mädchen“, weil sie dort lebt und dort aufgewachsen ist. Aber es war wunderbar für sie, in diese Welt in Nigeria einzutauchen, dieses Netzwerk von Cousins, Onkeln, Tanten und Großfamilie. Und plötzlich änderte sich ihr Selbstbild ein wenig. Das erste Mal in ihrem Leben konnte sie das Haus verlassen, und Schwarz-Sein war Normalität, Alltag, mit keinerlei Unruhe verbunden. Afrikaner leben in einem kosmopolitischen Kontext, der wohl oder übel viele verschiedene Schnittpunkte mit verschiedenen Kulturen der Welt in sich fasst. Wir möchten diese Schnittpunkte zelebrieren. Wir möchten uns zusammensetzen und über die Enge der Identitäten, die wir kennen, hinausdenken. In Nigeria, wo ich herkomme, gibt es zum Beispiel über 280 Sprachen, und ich meine nicht Dialekte. Es gibt bei uns unglaublich viele Mikro-Gemeinschaften, wir leben in einer Ökologie intensiver Koexistenz. DR

OE

Nigeria ist mächtig, Nigeria ist groß, Nigeria ist reich, es gibt viele Orte für Kunst, das CCA (Centre for Contemporary Art, Lagos) und so weiter. In kleineren Ländern wird Kultur zumeist vom Institut Français, dem British Council oder dem Goethe-Institut unterstützt. Besteht die Gefahr eines kulturellen Imperialismus? Kultureller Imperialismus macht mir eigentlich keine Sorgen, denn was mich interessiert, ist die Art und Weise, wie Künstler Beziehungsnetzwerke aufbauen. Ich finde, wir sollten das unterstützen. Die Mitwirkung des Goethe-Instituts, des Institut Français oder irgendeiner anderen Organi­ sation ist für mich nicht wirklich kultureller Imperialismus, solange sie auf gegenseitigem Austausch basiert. Das kann sehr produktiv sein. Diese Institutionen haben wirklich viel zur inter-afrikanischen und transeuropäisch-afrikanischen Zusam­ menarbeit beigetragen. Für den geringen Einsatz, den das Goethe-Institut und das Institut Français in Afrika zeigen, ist die Wirkung in Bezug auf Glaubwürdigkeit und kulturelles Kapital enorm. Der Austausch geht in beide Richtungen. In Bezug auf Austausch spielen das Goethe-Institut und das Institut Français eine wichtige Rolle in der Welt, und das ist sehr gut so, und ich sage das nicht, weil ich in Deutschland lebe. Ich bewundere das langfristige Engagement des Goethe-Instituts und des DAAD in verschiedenen lokalen kulturellen Szenen. Aber kommen wir auf Ihren Punkt über die verschie­ denen Orte in Nigeria zurück. Meiner Ansicht nach sind es nicht genug. Es sollten mehr sein. Für Afrikaner ist

es wichtig, institutionelle Systeme in lokalen Kontexten in Afrika aufzubauen. Dies muss unabhängig von der Patronage der Goethe-Institute dieser Welt geschehen. Ich finde das wichtig, obgleich das Goethe-Institut und das Institut Français, wie ich bereits sagte, eine Rolle spielen. DR

OE

Sollte es mehr Museen, Archive und Kunstgeschichte geben? In afrika­ nischen Ländern wurde nicht viel über Kunstgeschichte geschrieben. Sollte es eine Kopie des europäischen Modells sein oder sehen Sie da ­ andere Möglichkeiten? Wir befinden uns ja ewig in diesem Kampf zwischen Authentizität und Mimikry, oder? Und wegen dieser Spannung zwischen Authentizität und Mimikry wird, wenn man eine bestimmte Technik verwendet, sofort angenommen, man kopiere von Europa, anstatt das Ganze als Mitwirkung an der Entwicklung und Kultivierung eines bestimmten disziplinären Modells, einer bestimmten disziplinären Form zu sehen. Kunstgeschichte wurde nicht von Europa erfunden. Die Chinesen hatten schriftliche kunstgeschichtliche Berichte. Ich finde, Europa sollte in seinem Selbstbild ein wenig bescheidener sein. Es nimmt sich selbst zu wichtig. Schriftliche Berichte oder kunstgeschichtliche disziplinäre Methodologien sind kein Fachbereich eines bestimmten Erdteils. Kunstwerke erzählen ihre eigenen Geschichten, und die Menschen, die diese Kunstwerke nutzen, haben ihre Methoden, um die Geschichten weiterzutragen, ob sie sie nun aufschreiben und eine formalistische Analyse haben, oder eine archäologische Analyse erstellen. Eine gute Idee ist eine gute Idee, egal, woher sie kommt. In europäischen Sprachen gibt es so viele aus den unterschiedlichsten Kulturen stammende Wörter, die nichts mit Europa zu tun haben und trotzdem nicht abgelehnt werden. Europäer sind sehr gut darin, andere Einflüsse zu integrieren, zu absorbieren und sich anzueignen. Ich finde, Afrikaner und Asiaten können auch Eigenschaften absorbieren, die in der europäischen Kultur existieren, und sie sich zu eigen machen. Das ist Teil der fundamentalen Form des Austauschs von Ideen. Sollten Algebra und Algorithmen nicht benutzt werden, weil sie von einem arabischen Mathematiker erfunden wurden? Nein! Das ist der Konstruk­ tionsprozess einer Weltkultur. Sicherlich müssen afrikanische Kunsthistoriker methodologische Ansätze finden, um die Dinge zu definieren und zu beschreiben, die dort geschehen sind, aber ich schrecke vor jeder Art von disziplinärem Essenzialismus zurück, der besagt, dies ist sachgemäße afrika­ nische Kunstgeschichte und dies sachgemäße europäische Kunstgeschichte. Es ist eine Mischung vieler Dinge. Kunstwerke erzählen ­ihre eigene Geschichte. Aber kunst­ geschichtliche Produktion in Afrika

schlechtes Projekt ist. Ich finde es wichtig, verschiedene Instrumente für etwas, was ich kulturelle Diplomatie nenne, zu entwickeln. Und darum geht es hier im Grunde. Wie bei der Zeitschrift zeitgenössischer afrikanischer Kunst, die das IFA veröffentlicht. Ich weiß nicht, wie das IFA dazu kam, eine Zeitschrift über afrika­ nische Kunst zu publizieren. Manchmal lese ich die Hypothesen und großen Behauptungen, die die Leute in dieser Zeitschrift aufstellen, und bin unglaublich überrascht über das Ausmaß ihres Engagements. Aber es ist ein interessanter Versuch. Vielleicht gehe ich zu weit, bin zu kritisch.

wächst, und das kann nur geschehen, wenn wir ein Publikum haben, wenn wir mehr Teilnehmer haben in den Debatten und Diskussionen über die Rolle der Kunst in sich entwickelnden Kontexten und sich wandelnden Gesellschaften. DR

OE

TURN möchte den Austausch zwischen deutschen Institutionen und Künstlern aus afrikanischen Ländern unterstützen. So wird das Projekt vielleicht auch Künstler in sich entwickelnden Gesellschaften unterstützen, Künstler, die zum Thema Demokratie arbeiten. Obgleich das nicht der Schwerpunkt des Fonds ist, wie die Kulturstiftung ­des Bundes betont. Wäre das nicht eine Art Einflussnahme oder Selektion? Wie Sie wissen, lassen sich Künstler nicht durch Förderung einschränken, ihre konzeptionelle Architektur setzt sich nicht nur aus Förderung zusammen. Sie entsprechen den Vorgaben, die ihr Denken voranbringen. Es ist eine Art Spiel. Der Mäzen will die Validierung eines bestimmten ideologischen oder politischen Systems, und der Künstler findet einen Weg, die Schwachstelle dieses Systems auszunutzen, und entspricht den Vor­gaben. Aber sein Anliegen beschränkt sich nicht unbedingt ­auf dieses System. Damit will ich nicht sagen, dass TURN kein gutes Projekt ist. Aber, wie bereits erwähnt, müssen wir uns über die Folgen guter Absichten bewusst sein. Ich habe keine Angst vor dem Projekt. Afrikanische Künstler und Intellektuelle werden die Bücher schreiben, die sie schreiben wollen, sie werden die Kunst produzieren, die sie produzieren wollen, sie werden die Filme drehen, die sie drehen wollen – egal, was TURN macht. Übrigens sind die Gelder für Afrika ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Vergleich zur Größe des Kontinents kann man wirklich nicht behaupten, dass es sich um viel Geld handelt! Wir sprechen hier über 53 oder 54 Länder. TURN kann das nicht abdecken. TURN kann nicht einmal ein Land ordentlich abdecken. Es könnte nicht einmal nigerianische Künstler ernsthaft unterstützen. Wenn Sie nach Nigeria reisen, werden Sie sofort bemerken, dass das Land sich momentan in einer sehr dynamischen literarischen Renaissance befindet. Ich würde sagen, die Nigerianer veröffentlichen derzeit mehr global relevante Literatur als die Deutschen. Das lässt sich tatsächlich behaupten. Die Szene junger Schriftsteller von globaler Bedeutung ist sehr lebhaft und dynamisch. Sie sind in ihren Dreißigern oder frühen Vierzigern, es gibt Dutzende von ihnen, ihre Werke werden überall veröffentlicht. ­Also sollten wir uns nicht als eine Art Hebamme verstehen, als Kindergärtnerin für Afrikaner. Wenn TURN nach Nigeria ginge und sich in einen Diskurs verwickeln ließe, würde man etwas ganz anderes zu hören bekommen. Aber in Berlin sitzt man in einer Art sicherem Bereich, fern aller Komplikationen der Kontaktaufnahme. Das heißt nicht, dass TURN ein

DR

OE

Der Begriff „kulturelle Diplomatie“ gefällt mir. Auf der anderen Seite gibt es den Kunstmarkt. Die Kunstmesse 1:54 in London war beispielsweise ein großer Erfolg. Die Leute neigen dazu zu vergessen, dass es in Nigeria, Südafrika und anderen Ländern viele Künstler gibt, die von ihrer Kunst leben. Sie arbeiten ausschließlich als Künstler. Und ihre Arbeit hängt nicht vom internatio­ nalen Markt ab. Sie haben lokale Mäzene. Wir verstehen langsam, dass es in den afrikanischen Ländern eine wachsende Mittelschicht gibt, mehr Menschen reisen. Nigerianer bilden die fünftgrößte Gruppe von Menschen, die in London Luxusprodukte kaufen. Deshalb wird die britische Regierung ihren Visaanträgen vermehrt stattgeben – sie geben Geld in England aus. Letztes Jahr gab es zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert mehr Handel zwischen Uganda und Kenia als zwischen dem UK und der Region. Wir haben es hier mit einer unglaublichen wirtschaftlichen Mobilität und Transformation zu tun. Der Erfolg der Londoner Kunstmesse ist die Folge einer neuen Geschichte, die gerade geschrieben wird. Afrika ist nicht das Afrika, über das wir so oft hören. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wenn ich mir Deutschland anschaue, wundere ich mich immer wieder darüber, dass die größte Sorge der Deutschen ihre Rente ist. Es gibt eine Art wirtschaftliche Hysterie, die es den Menschen unmöglich macht, erfinderisch zu sein und Risiken einzugehen. Afrikaner haben aufgrund ihrer Erfahrung der letzten 30 bis 40 Jahre gelernt, wie man mit Risiken und Krisen umgeht, wie man überlebt. Die Diskussion dreht sich immer darum, wie der Westen Afrika wirtschaftlich helfen kann. Nigerianer, die nicht in Nigeria leben, senden jährlich fast fünfzehn Milliarden Dollar nach Nigeria. Das zeigt Ihnen, dass der Hype um westliche Hilfen eine Konstruktion ist. Afrikaner, individuell und kollektiv, helfen ihren Ländern mehr als alle G8-Länder zusammengenommen. Das Geld, das Nigerianer jedes Jahr nach Hause schicken, ist mehr als die gesamte Unterstützung des Westens für alle afrikanischen Länder. In gewisser Hinsicht ist das die Ausgewogenheit der Geschichten. Wenn also TURN dieses Geld gibt, wird das häufig


11 negiert, wie so oft, wenn Künstler Förderung bekommen – und darum sage ich, dass die Londoner Kunstmesse gut war, denn plötzlich waren dort all diese jungen Afrikaner, und westliche Banker zeigten Interesse. Der Markt existiert nur, wenn wir anfangen, seine Möglichkeiten auf holistische Weise zu betrachten. DR

DR

OE

Sie erwähnten Chinua Achebe. Ich habe seinen Essay über Joseph Conrad gelesen. Der ist ja sehr vielschichtig…

Der berüchtigte Essay! Ein sehr wichtiger Text. Achebe wollte nur zeigen, dass Afrikaner – zumindest in der Erzählung „Herz der Finsternis“ – auf Objekte vor dem Hintergrund ­ des Verfalls eines, wie er es ausdrückt, „belanglosen europäischen Verstandes“ reduziert werden. Selbst der Titel verschleiert die Unmenschlichkeit, den Völkermord, den die Belgier im Kongo begingen. Wenn also die Menschen, gegen die sich ein Völkermord richtet, auf Objekte, die keine Sprache haben, reduziert werden, empfinden wir keinerlei moralische Verantwortung für diese Menschen. Das stellt Achebe in Frage. Afrikaner sind keine Wilden. Afrikaner sind Menschen. Afrikaner haben ein Recht auf die Wahrnehmung der Brutalität, die von einem imperialistischen Piraten gegen sie losgelassen wurde. Hannah Arendt hat in „Elemente und Ursprünge Totaler Herrschaft“ darüber geschrieben. Wie eine Bevölkerung von fast fünfzehn Millionen innerhalb einer Generation auf acht Millionen reduziert werden konnte. Das ist unfassbar! Es ist nicht nur eine Kritik an „Herz der Finsternis“, sondern eine Kritik an der unfassbaren Gewalt der Belgier im Kongo. Ich weiß nicht, ob wir uns zu weit von der Kunst entfernen, aber man arbeitet ja immer mit dem historischen Verständnis, dass der heutige Afrika-Hype auch ein Versuch ist, den Teil der Geschichte zu überdecken, über den Achebe in seiner Besprechung und Kritik an Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ spricht. Aber das Potenzial junger aufstrebender Afrikaner macht mich sehr glücklich, denn in fast allen afrikanischen Ländern gibt es nun unglaublich viele junge Menschen – und sie wollen sich nicht auf einem Werbeplakat am Münchener Flughafen barfuß hinter einer Coca Cola-Flasche herlaufen sehen. Das soll nicht heißen, dass die Menschen nicht zu kämpfen haben, dass es ihnen nicht an vielem fehlt, dass nicht viele Kinder Hunger leiden. Aber wir müssen unsere Beziehung zu diesem Bild ändern, denn so etwas können wir nirgendwo auf der Welt für Kinder hinnehmen. Neulich habe ich in Bezug auf die große Menge junger Menschen gelesen, dass Kenyan Airways eine Lieferung Boeing 787, dem neuen Dreamliner, entgegennimmt. Luftverkehr ist in Afrika noch jung. Stellen Sie sich vor, wenn das wirklich abhebt! Auf dem Kontinent leben über eine Milliarde Menschen. Es ist ein riesiges Territorium. Das Potenzial ist gewaltig.

OE

DR

OE

DR

OE

Es ist ein Markt für Bildende Kunst, die Energie so vieler junger Menschen, Schriftsteller, PerformanceKünstler, Tanz, Theater …

globales Programm. Meine Arbeit hat sich nie auf Afrika beschränkt, obwohl ich immer sehr deutlich gemacht habe, dass ich Engagement und langjähriges disziplinäres und intellektuelles Interesse an Afrika als Forschungsgebiet habe. Das leugne ich nicht. Ich bin der Direktor des Hauses der Kunst, das ist meine Position. Mein Tätigkeitsfeld ist ein wenig anders. Ich arbeite als Kurator, und da kann ich mich eher auf eine Sache konzentrieren. Aber als Direktor des Hauses der Kunst habe ich die Verantwortung, ein weitgefächertes Ausstellungs- und Kunstprogramm aufzubauen, das sich mit der Vielschichtigkeit zeitgenössischer Kunst beschäftigt – auf historischer Basis und anderweitig. Eines der Dinge, wofür wir von der Kulturstiftung des Bundes unglaubliche Unterstützung bekommen, ist unser Projekt „Nachkriegszeit“, „Postkolonialismus“ und „Postkommunismus“ – drei Ausstel­ lungen, die wir mit unseren institutionellen Partnern, wie Tate Modern, über die nächsten Jahre entwickeln. Die erste wichtige Konferenz „Nachkriegskunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945-1965“ läuft vier Tage, vom 21. bis 24. Mai 2014. Wir sind sehr dankbar, dass die Kulturstiftung des Bundes dieses Projekt mit einem bedeutenden, beispiellosen Zuschuss fördert. Es ist eine Gelegenheit, Experten aus aller Welt zusammenzubringen, um die Geografie moderner und zeitgenössischer Kunst in dieser Zeit zu überdenken, denn bisher war unser Bild vom Modernismus auf die Geschehnisse in Europa und den Vereinigten Staaten begrenzt, mit dem Rest der Welt irgendwie am Rand. Nun haben wir Gelegenheit, das uns vererbte kunstgeschichtliche Modell – die NATO-Version der Kunstgeschichte – zu überdenken. Es ist ein Versuch, die NATO-Version der Kunstgeschichte zu überprüfen, zu zeigen, dass es hier ein großes Analysefeld gibt, von dem wir profi­ tieren können, wenn wir nur genauer hinsehen. Für diese Art von Programmen steht das Haus der Kunst. Unser größtes Engagement gilt den individuellen Künstlern, ihren Ideen und Visionen, aber es gibt auch Engagement für individuelle Künstler auf einer weitgefassteren, globalen Ebene von Netzwerken. Das ist etwas, was wir hier in München tun müssen, finde ich. Es ist wichtig, etwas über die historischen Bedingungen, in denen Kunstgeschichte entsteht, zu lernen, in Kontakt zu stehen mit Forschern in Indien, den Philippinen, China, Thailand, Japan, Kroatien, Kanada, Rumänien, Nigeria, dem Libanon, Katar usw.

Kino! In Nigeria gibt es einen vierundzwanzig-Stunden-Sender für Nolly­ wood. Die Leute sind nicht so sehr an Hollywood interessiert, aber dieses neue Kino interessiert sie, denn die Geschichten, der Kontext und die Charaktere passen zu ihrer sozio-kulturellen und politischen Weltanschauung. Die Nigerianer haben diese Industrie innerhalb der letzten dreißig Jahre aufgebaut, und jedes Jahr werden mehr nigerianische Filme für dieses Publikum gemacht. Sie würden das vielleicht nicht als Kino bezeichnen, aber das transnationale Publikum in der Karibik, dem Westen und Afrika ist gewaltig. Es gibt so viele verschiedene Versionen, eine nigerianische, eine kenianische usw. Es gibt auch eine französische Version und Versionen in den verschiedenen Regionalsprachen, wirklich unglaublich. Sie entwickeln dieses Kino immer weiter, es wächst und wird besser. Es wird unglaublich viel produziert. Wir müssen die Komplexität der Dinge, die die Menschen in verschiedenen afrikanischen Kontexten aufzubauen versuchen, verstehen. Natürlich ist das alles nichts im Gegensatz zu dem institutionellen Rahmen von Kunst im Westen. Aber es passieren viele spannende Dinge in Afrika. Ich finde den Afrika-Hype gut. Und ich hoffe, dass er eine nuanciertere Perspektive auf Afrika mit sich bringt. Wir betrachten Inhalte nun auf interessante Weise. Kein Tag geht vorbei, ohne dass ein neuer Roman veröffentlicht wird. Es gibt eine robuste und dynamische Musikszene, viele junge Produzenten und Musiker aller denkbaren Genres. Sie wohnen nicht in New York oder London. Sie leben in Lagos, Nairobi, Dakar, Johannesburg, Maputo, Kinshasa, Enugu usw. Also müssen wir die Kunst im Blick behalten, nicht nur die Bildende Kunst. Ich möchte nicht, dass man im Rahmen dieses Afrika-Hypes in eine zu enge Vorstellung von afrikanischer Kunst gerät.

Der Grund für TURN waren die vielen Antragstellungen auf Zusammenarbeit zwischen deutschen und afrikanischen Künstlern. Suchen sie nach neuer Energie und neuem Input? Wie jeder andere auch haben deutsche Künstler ein Recht darauf, mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten. In Berlin wird nun das Humboldt-Forum entwickelt. Deutschland muss mit dem Rest der Welt in Kontakt stehen. Es gibt zu viele ähnliche Museen. Man muss mit der Tradition brechen, dem Komfort der Einheitlichkeit entfliehen, die weiße Monokultur zurückweisen.

Vielleicht ist dieser Afrika-Hype auch zu sehr auf eine mono-geografische Perspektive Afrikas konzentriert. Sie haben hier ein globales Programm. Sie haben kein Afrikaprogramm. Im Haus der Kunst ist ein Afrikaprogramm nicht möglich. Wir haben ein

DR

OE

Sie wurden nun zum Kurator der Biennale von Venedig 2015 ernannt. Sollen wir in Venedig also nicht mit einem Afrika-Hype rechnen? Nicht unbedingt. Ich will Afrika nicht leugnen oder davor weglaufen. Wenn Sie sich die documenta 11 anschauen, sehen Sie, dass ich dort versucht habe, afrikanische Künstler auf natürliche Weise einzubringen, nicht

als Hype. Es muss innerhalb des Projek­tkonzeptes Sinn ergeben. Es gibt viele afrikanische Künstler, die ich bewundere und deren Tätigkeiten ich sehr genau verfolge, aber es gibt genauso viele europäische Künstler, für die das Gleiche gilt. Ich habe enge Beziehungen zu europäischen und amerikanischen Künstlern, ebenso wie zu Künstlern aus anderen Ländern in Afrika, Südamerika, Asien. Das ist für mich das Privileg ­ meiner Arbeit. Ich trage nicht die afrikanische Flagge. Als ich künstle­ rischer Direktor der Gwangju Biennale in Südkorea war, hatten sie mich eingeladen, weil sie der Meinung waren, dass ich zur Entwicklung ihres Diskurses beitragen könnte. Sie hatten wohl aufgrund meiner Arbeit erkannt, dass ich einen Beitrag würde leisten können. Wenn ich Einladungen bekomme, Meeting Points in Beirut, Amman, Jordanien, Damaskus, Kairo und Tunesien zu veranstalten, ist das eine Anerkennung meiner Arbeit als Teil eines weitgefassten Austauschs. Ich fühle mich sehr privilegiert, in allen Regionen dieser Welt arbeiten zu können, ohne Restriktionen ­oder Einschränkungen. Aber ich wollte sagen, dass ich mich sehr auf ­„Die Göttliche Komödie“ in Frankfurt freue. Ich denke, das wird ein wich­ tiger Beitrag. Deutschland hat allen Grund, stolz darauf zu sein, einige dieser Projekte ins Leben gerufen zu haben, wie zum Beispiel „The Short Century: Das kurze Jahrhundert der Befreiung und Unabhängigkeit in Afrika (1945–1994)”. Das wurde hier in München in der Villa Stuck (1998–2001) entwickelt und „Africa Remix” im Kunstpalast in Düsseldorf usw. Was ich sagen möchte, ist, dass das wichtige Initiativen Deutschlands sind, die Geschichte seiner Verbindung zu Afrika zu verstehen, denn wir können nicht immer wieder von vorne anfangen. Verschiedene Institutionen und Individuen sind seit einiger Zeit mit diesen Projekten beschäftigt. In Deutschland gibt es all diese Völkerkunde-Museen, aber sie bleiben irgendwie verborgen, das wundert mich. Wir müssen diese Sammlungen auf aktive und dynamische Weise aufarbeiten und überdenken.

Aus dem Englischen von Anna Petersdorf

Okwui Enwezor, geb. 1963 in Cala­ bar, Nigeria, ist seit 2011 Direktor des Münchner Hauses der Kunst. 1998 b ­ is 2002 stand er der documenta 11 in Kas­ sel vor, 2015 wird er die 56. Biennale von Venedig künstlerisch leiten. Daniela Roth ist Kunsthis­torikerin, Soziologin und Kennerin der Kunst­ ­ szenen Afrikas. Sie forscht zu Kunst-, Kulturalisierungs- und Globalisierungs­ phänomenen und publiziert in „art“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Kunst­­zeitung“ und dem nigerianischen Kunst- und Lifestyle-Magazin „Omenka“.


12

Die deutsch-ivorische Theater- und Tanzgruppe Gintersdorfer/Klaßen fragt in ihrer neuen Arbeit nach Spielarten des Panafrikanismus. Ein Bericht aus Kigali über ein TURN-Projekt.

P

Renate Klett

ersönliche Vorbemerkung: Seit zwanzig Jah­ ren fahre ich regelmäßig nach Afrika, zu Theater­ festivals, Tanzpremieren, Kunstausstellungen, und berichte darüber in deutschsprachigen Zeitungen. Inzwischen kenne ich die Menschen, Tiere, Land­ schaften, Städte, Kulturen und Probleme des Konti­ nents recht gut, und er fasziniert mich mehr denn je. In den Köpfen vieler deutscher Feuilletonredakteure jedoch herrscht ein Afrika-Bild, das peinlich anti­ quiert ist, und so muss jeder einzelne Artikel immer wieder neu erkämpft werden. Den Satz „Ach, Kul­ tur in Afrika, gibt’s das?“ habe ich mehr als einmal gehört – auch aus sehr prominentem Mund. Afrika, das ist: zerhackte Männer, vergewaltigte Frauen, verhungerte Kinder, gewürzt mit Dürre, Bürgerkrieg und Terror. Das zynische Journalistencredo „only bad news is good news“ bestimmt bis heute die Wahrnehmung von Schreibern und Lesern. Natürlich gibt es alles das, und viel zu viel davon – aber es gibt eben auch die andere Seite, und von der kommt zu wenig bei uns an. Und auf einmal tobt plötzlich dieser Afrika-­ Kultur-Hype durch Europa! Er wird wieder verge­ hen, wie alle Moden, aber wenn ein bisschen ­davon ­hängen bleibt, mehr Offenheit und Verständnis weckt, dann hat er sich gelohnt.


13 Die deutsch-ivorische Theater- und Tanzgruppe Gintersdorfer/Klaßen besteht seit 2005, und das höchst erfolgreich. Von der frühen „Logobi“-Serie über ihr be­ rühmtestes Stück „Othello, c’est qui?“ bis zum aktuel­ len TURN-Projekt „La nouvelle pensée noire“ geht es bei ihr stets um Sein und Schein von Identität, um die auftrumpfende Lust am Vergleichen,Vergegenwärtigen und Vergrößern des jeweiligen Egos und seiner vielen Facetten. Die Ivorer und die Deutschen, die sie über­ setzen und nachahmen (wobei sie den Kürzeren ziehen und dennoch glänzen), sind ein verschworenes Team. Für das dreiteilige Großprojekt über das neue schwarze Denken haben sie sich nun Kongolesen, Ruander und Holländer als Verstärkung geholt und als Widersacher. Sie orientieren sich dabei an der traditionellen afrika­ nischen Chefferie, einer Art Regionalrat, bei dem jeder Chef ist und niemand das alleinige Sagen hat. „Wir verstehen diese Gruppe auch als eine Cheffe­ rie“, sagt Monika Gintersdorfer. „Jeder Performer ist sein eigener Chef, er muss stark sein, mutig, eloquent und er muss Verantwortung tragen für sich selbst und alle anderen.“ Der Spielstil, der keine Vierte Wand kennt, sondern auf das Publikum losgeht, es auch schon mal „verhext“ oder sonstwie einschüchtert, hat nichts mit abgedroschenem Mitspieltheater zu tun, aber alles mit dem Risiko einer echten Gleichberechtigung beider Sei­ ten. Das Unerwartete, die Fremdheit und persönliche Radikalität sind Teil der kollektiven Ästhetik – gemüt­ lich ist das nicht, aufregend fast immer. Im November 2013 gab es beim Spielart Festival in München eine erste Version des TURN-Projekts, eine zweite, kleinere, hatte im Februar 2014 in Kigali, der Hauptstadt Ruandas, Premiere. Im Mai gibt es Gast­ spiele bei den deutschen Koproduzenten HAU Berlin, Kampnagel Hamburg, FFT Düsseldorf und Pumpenhaus Münster. 2015 folgt die dritte Etappe in Kinshasa (De­ mokratische Republik Kongo) und beim KVS in Brüs­ sel. Die Aufführungen werden sich bei jeder Station ver­ ändern, je nachdem, wer mitmacht, wie viel Probenzeit es gibt und welche aktuellen Themen gerade anliegen. Das ist für ein Theater, das sich der Improvisation und Spontaneität verschrieben hat, durchaus angemessen – es ist der alte Brecht-Traum von schnellem Reagieren und ständiger Veränderung, und dass es Afrikaner sind, die ihn nun verwirklichen, hätte ihm vermutlich gefallen. Die Münchner Aufführung war mit zwölf Darsteller/ innen aus fünf Ländern sicher das personenreichste und logistisch aufwendigste Unternehmen, auf das sich die Gruppe je eingelassen hat. „La nouvelle pendsée noire“ – der Titel ist anspruchsvoll und scheint eher einer inter­ nationalen Konferenz angemessen als einem internatio­ nalen Theaterstück. Aber natürlich geht es hier nicht um abstrakte Diskurse, Definitionen und Differenzierungen, sondern um sehr konkretes Tanzen, Denken, Sprechen, um Vitalität, Provokation, Witz und Wirbel. Sie formen ihre Beobachtungen und Überzeugungen zu einem sze­ nischen Mosaik, dessen Steine sie einander darbieten oder aufeinander schmeißen. Nicht alles gelingt, doch alles ist getragen vom gemeinsamen Engagement. Ob sie sich gegenseitig zu Chefs erklären („alle oben, kein unten“) oder den Studiengang „Critical Whiteness“ zer­ pflücken, über das Geheimnis panafrikanischer Spiritua­ lität sinnieren oder über den Stellenwert eines Hunger­ streiks im wohllebenden Deutschland – stets werden Gedanken in Bewegung, Gesten in Worte verwandelt und so lange vermischt, bis sie einander widersprechen.­ Da muss man unten genau so schnell und geistesgegen­ wärtig sein wie die da oben, um alles mitzukriegen. Die Arbeit in Kigali beginnt dort, wo sie in Mün­ chen aufhörte; manches, was bei der Uraufführung noch nicht ganz fertig war, wird jetzt verfeinert, ande­ res weggelassen. Die Kongolesen, die eine Art Binde­ glied zwischen den dominanten Ivorern und den eher zurückhaltenden Ruandern waren, sind diesmal nicht dabei (werden aber in Kinshasa wieder hinzustoßen). So prallen die Gegensätze nun direkt aufeinander – und sie sprühen Funken. Es gibt nur zehn Probentage, aber sie finden in Afrika statt, und das ist entscheidend. Wo­ bei alle einig sind, dass Ruanda nicht Afrika ist. Ruanda ist ein kleines, schönes Land, grün, sauber, sicher und gut organisiert. Selbst in der Hauptstadt gibt es weder

Menschen­gewimmel noch Staus, kaum Straßenhändler oder Bettler. Stattdessen jede Menge gute Straßen und gepflegte Gärten, einen gewissen Wohlstand und eine schreckliche Vergangenheit. Das Regierungsprogramm „Vision 2020“ strebt den Umbau Kigalis zur „westlichen Metropole“ an; ein Dienstleistungs-Standort soll ent­ stehen, der Investoren anlockt, mit guter Infrastruktur und riesigem Kongresszentrum nebst Luxusökohotel, vom Münchner Architekten Roland Dieterle imposant geplant und derzeit im Bau befindlich. Ob die Umwandlungsrechnung aufgeht, sei dahin­ gestellt. Ganze Stadtviertel sollen abgerissen und gen­ trifiziert werden, die Eigentümer der Häuser sollen eine Entschädigung erhalten, die Mieter nicht – die müssen dann wohl zurück in ihre Dörfer. Das Tempo der Mo­ dernisierung ist rasant, wer da nicht mithalten kann, bleibt auf der Strecke. Aber es gibt auch eindrucksvolle Fortschritte in vielen Bereichen: ein Parlament, in dem knapp 60 % der Abgeordneten Frauen sind (Weltrekord!), ein Gesetz, das Plastiktüten verbietet (und siehe da: Es geht auch ohne), die konsequente Förderung von Bil­ dungschancen für Mädchen. Es gibt eine vorbildliche Aufarbeitung des Genozids, mit Memorials im ganzen Land, die erschütternd sind und das Versprechen „Nie wieder!“ glaubhaft machen. Dass das unbegreifliche Gemetzel in einer derart friedlichen, stillen, nachgrade ­poetischen Landschaft stattfand, lässt es noch unvor­ stellbarer erscheinen. „Wir haben eine Million Tote in drei Monaten ge­ schafft“, hieß es in einer makabren Szene in München, „ihr habt für sechs Millionen vier Jahre gebraucht. Wir waren effizienter – ihr könnt von uns lernen.“ Der tief­ schwarze Humor der „Comedy Knights“ hat in Kigali Kultstatus. Zwei Mitglieder der Kabarettgruppe, Michael­ Sengazi und Hervé Kimenyi, vertreten ihr Land bei „Black Thought Now“. Die dritte im Bunde ist hier die Schauspielerin Sonja Uwimbabazi. Gemeinsam mit dem Ivorer Franck Edmond Yao entwickelt sie eine köstliche Szene über „Style in Africa“. Von wegen Panafrikanis­ mus – was in Abidjan als „malin“ gilt, hält man in Kigali für vulgär. Franck präsentiert seine coolen Klamotten, gibt mächtig an, gockelt herum. „Are you crazy?“, em­ pört sich Sonja, ihr Körper wird vor lauter Abwehr im­ mer steifer, ihre Miene verächtlich. Sie setzt auf elegan­ te Zurückhaltung und Selbstbeherrschung, er schimpft: „C’est de l’arrogance!“. In solchen kleinen Sketchen steckt viel Klischee, aber auch viel Wahrheit. Sie sind die Stärke der Auffüh­ rung und werden vom Publikum begeistert aufgenom­ men. Und für die Schauspielerin ist es eine Offenbarung, Text und Szene selbst zu erfinden. „Am Anfang tat ich mich schwer damit, weil ich es nicht gewohnt war“, sagt sie, „aber jetzt überlege ich schon, wie ich diese Methode in meine eigene Gruppe übernehmen kann. Das Schöne beim Improvisieren ist, dass es dich so bereichert. Es ist eine große Herausforderung, doch wenn du dich traust, dann macht es dich so frei und glücklich.“ Die Proben finden im Aufenthaltsraum eines kleinen Hotels statt, das für die Truppe vom Koproduzenten Goethe-Institut Kigali angemietet wurde. Die Atmos­ phäre ist locker, es wird viel gearbeitet, viel gelacht, ­diskutiert und erfunden, die Stimmung ist gut, trotz (oder wegen?) all der Gegensätze. Wenn ein neues ­Thema­ aufkommt, improvisieren alle gleich drauflos, Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen sortieren die Vorschlä­ ge, sie gewichtet, er dokumentiert. Wie im zeitgenös­ sischen Tanz üblich, stammen Choreografie und Text von den Performern selbst. Monika feilt an den Szenen. Spitzt zu, was unscharf ist und strukturiert den Ablauf. „We are chilly“, antwortet Michael, als der heißblütige Gotta Depri ihn zu mehr szenischer Aggressivität auf­ fordert. Die physische Präsenz und Vitalität der Ivorer und die intellektuelle Kühle der Ruander schaukeln sich gegenseitig hoch; für die Deutschen und die Holländer wird es schwierig, sich dagegen zu behaupten. Aber wenn sie alle miteinander tanzen, kocht der Saal – etwa bei „Supernation“. Damit ist Ruanda gemeint, erfüllt es doch die drei Kriterien dafür: ein großes berühmtes Ge­ bäude (das Genozidgefängnis in Nyanza) und ein Ereig­ nis, das die Welt bewegte – dann kommen die Superstars zu den Gedenkfeiern, von George Clooney bis leider

auch Paris Hilton. Und noch etwas kann man vom Super­ gefängnis lernen: „Die kleinen Verbrecher leiden, die großen sind auf Facebook.“ Hervé erzählt die Geschichte vom weißen NGO-Mit­ arbeiter, der zu ihm sagte: „You are so smart – did you study in the US?“ und sich sehr wunderte, als er das verneinte. Das ist Wasser auf Hauke Heumanns Mühlen der „Critical Whiteness“, und eine lange Diskussion ent­ steht. Schließlich sind sie sich einig, dass, wer zu sehr seine Gedanken filtert, um keine Fehler zu machen, gar nicht mehr kommunizieren kann. Also lieber spontan und falsch als korrekt und verkrampft? „Oder gar nicht“, sagt der Komödienritter mit breitem Grinsen. So ent­ stehen die Szenen des Stücks, wobei in diesem Fall die Zeit nicht mehr reicht, um das Problem auch in Bewe­ gung und Musik zu fassen. Aber das Material ist zu gut, um nicht später einmal irgendwo wieder aufzutauchen. Knut Klaßen: „Bei uns gehen die Stücke immer recht organisch ineinander über. Wir planen das nicht, es hängt einfach von den Umständen ab: wer zur Verfü­ gung steht, wie die finanzielle Seite aussieht, mit wem wir weitermachen wollen, welche Ausdrucksmittel wir miteinander gefunden haben. Die Proben hier sind jetzt ganz toll gelaufen, weil wir eine große Offenheit hat­ ten, in der alles möglich war, auch, dass alles explodiert und den Bach runtergeht. Das hat der Aufführung eine schöne Leichtigkeit verliehen.“ Und diese Leichtigkeit ist ansteckend, die Premiere ein Riesenerfolg. Sie fin­ det im Auditorium des Kigalu Serena Hotels statt, bei freiem Eintritt, und ist rappelvoll. Es gibt mehr weiße Gesichter als schwarze, aber alle strahlen. Dabei ist der Abend, Leichtigkeit hin, Komik her, nicht so einfach konsumierbar mit seinen vielen Themen, Schichten und Sprachen, die übereinanderpurzeln. Doch gerade das macht ihn spannend und legendentauglich, da es keine weiteren Vorstellungen gibt und jeder – das zeichnet sich schon bei den Gesprächen nach der Premiere ab – ihn anders in Erinnerung behalten wird. Ein größeres Kompliment kann es für Theater nicht geben.

Renate Klett ist Dramaturgin und Publi­ zistin mit dem Schwerpunkt internationales Theater und Tanz.


14

»Wie sehr fü in Ihrem D Arbeiten von p Strukturen Kann man ihne Und woran könn dass das gel Drei Fragen an


15

hlen Sie sich Denken und ostkolonialen beeinflusst ? en entrinnen ? te man erkennen, ungen ist ?« fünf afrikanische Kulturschaffende


JOYCE NYAIRO ist Pro­ fessorin für Literatur, Theater und Film an der Moi Univer­ sität in Eldoret, Kenia. Ein Fokus ihrer Arbeit liegt auf der Förderung unabhän­ giger ost­afrikanischer Ein­ richtungen im Bereich Medien und Kunst. Die Kulturwissen­ schaftlerin ist Geschäftsführe­ rin von Santuri Media Limited und Mitherausgeberin der Publikation Urban Legends, Colonial Myths: East ­­ African Popular Culture and ­Literature (Africa Research & ­Publications 2007) sowie des quartalsweise erscheinenden Journal of Eastern African Studies. Sie schreibt für ­nationale und internationale Magazine wie etwa African Affairs in den Themenfeldern afrikanische Literatur, Popu­ lärmusik, Urbankultur und postkoloniale Identität. Im Rahmen des Projekts ­­ Ten Cities über Clubkultur in ­Europa und Afrika ist sie ­Forschungspartnerin des Goethe-­­Instituts Kenia. Aufzuwachsen und in einer „anderen“ Sprache zu träumen und zu sprechen – in einer Sprache, die, wie die Leute einen ständig erinnern, nicht die eigene ist, in einer Sprache, die die Leute fremd nennen, als verun­ reinige sie alles, was sie berührt – bedeutet, zwischen ungleichen Orten und ungleichen Weisheiten geformt zu werden. Es bedeutet, im epochalen oder historischen Sinne postkolonial zu sein. Postkolonial zu sein bedeu­ tet in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem die Koloni­ alisten unendlich viel zurückgelassen haben – viel

2 http://www.economist.com/news/special-report/21572377-african-lives-have-already-greatly-improved-over-past-decade-says-oliver-august; Druckausgabe, 2. März 2013.

J. N.

Durcheinander, viel Abgekoppeltes, vieles, was zu Ab­ koppelungen und Aneignungen neuer Dinge führt, die ebenso stimulieren wie verwirren. Mein Postkolonialis­ mus ist mehr als eine bloße Verteidigung „ursprüng­ licher“ Kulturen. Genau genommen, bestreitet er ­bisweilen die Relevanz dessen, was als ursprünglich ­angesehen wird. Er beinhaltet eine Neudefinition des Begriffs „ursprünglich“ unter Einbeziehung all der ­Dinge, die über den langen Zeitraum des Kontakts Afri­ kas mit dem Westen und dem Rest der Welt entlehnt und afrikanisiert wurden. Postkolonial zu sein ist mehr als bilingual zu sein, mehr als multikulturell zu sein, denn hier wird immer von außen eine Hierarchie zwischen den Sprachen und Kulturen vorgegeben. Wie oft musste ich erklären, wa­ rum ich einen englischen Namen, einen „christlichen Namen“ habe, warum keinen ethnischen? Aber in der postkolonialen Situation ist kein Name besser oder ­authentischer als ein anderer. Alle Namen reflektieren Momente in unserer Entstehung, sind Teil unserer Ent­ lehnungen und unseres Werdens. Von außen auferlegte Hierarchien erweisen sich als widerständig gegenüber Klassen, denn sie bringen unendlich viele Verflech­ tungen, fließende Bindungen und Brüche mit sich, die eine Dichotomie zwischen Herrscher und Beherrschtem zu einfach erscheinen lassen. Bei meiner Arbeit als Kulturwissenschaftlerin geht es um solche Erklärungen. Es geht um die Bedeutung kenianischer Texte – Romane, Lieder, Filme –, denn selbst wenn diese auf Englisch sind, stecken in ihnen unzählige Anspielungen auf unterschiedliche ethnische Kulturen und koloniale Relikte. Sie beziehen sich immer wieder auf Phasen der Moderne, die unglaublich schnell vorüberziehen und so schlecht dokumentiert sind, dass die Erinnerungsarbeit, die es braucht, um sie wiederauf­ zudecken, sich bisweilen umfangreicher gestaltet als die Last, neue Texte zu schreiben. Um diese Phasen zu be­ stimmen und verschiedene Bedeutungsebenen einer Zeit, eines Orts oder Trends aufzudecken, braucht es eine Ideologie zu Unterschiedlichkeit und ungleichen Kräften. Postkolonialismus ist der wichtigste Ansatz, um die Spannungen, die mit den „Fehl-“Repräsentationen Afrikas einhergehen, offenzulegen. Es wird immer nötig sein, sich selbst zu erklären, Realitäten zu übersetzen und Perspektiven zu korrigieren. Heute spricht die ganze Welt von „Afrikas Aufstieg“ („Africa Rising“). Aber wann ist Afrika gesunken? Viele, vor allem im Westen, sehen Afrika jetzt als Kontinent an der Schwelle zum technologischen und wirtschaftlichen Durchbruch. Manche beschreiben diesen Moment so: „Afrikaner stellen sich den Herausforderungen ihres Kontinents … voller Hoffnung und Freude.“1 Erst vor Kurzem befasste sich die vielbeachtete Zeitschrift The Economist mit dem Phänomen der Neugeburt auf dem afrikanischen Kontinent. Es wurden drei Gründe für die Aufbruchstimmung in Afrika genannt. Erstens „haben viele aufgehört zu kämpfen. Kriege und Unruhen sind maßgeblich zurück­ gegangen“2. Zweitens haben sich Politik und bürger­ liches Engagement weiterentwickelt, mehr Menschen bringen sich ein und haben Ideen zu Bürgerbeteiligung. Schließlich kam es durch den Niedergang der sozialis­ tischen Wirtschaftsmodelle, die viele afrikanische Län­ der in den 1960ern eingeführt hatten, zu einem Roh­ stoffboom. Wenn wir wirtschaftliches und demokratisches Wachstum – das sich zweifelsohne gut entwickelt, inso­ fern als Kapitalismus und freier Handel sich etablieren und westliche Grundsätze der Staatsführung bei Bürgern und Regierungen auf mehr Anerkennung stoßen – ein­ mal beiseite lassen, läuft dieses Gespräch über die Rich­ tung, die Afrika einschlagen wird, auf die Frage nach den Einstellungen der afrikanischen Völker hinaus. Es ist eine Diskussion über das soziokulturelle Kapital, das Afrika­ ner einsetzen, um untereinander zu handeln und mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten. Inwiefern hat sich dieses soziokulturelle Kapital bedeutsam ver­ ändert? Was ist neu? Sind Afrikaner plötzlich selbst­ sicherer? Haben sie auf bisher ungeklärte Weise die Grammatik erlernt, um besser untereinander und mit dem Rest der Welt zu kommunizieren?

1 http://www.africarising.org

16


17 Ein wichtiger Punkt, der in Diskussionen über Renaissancen in allen Teilen dieser Welt häufig über­ sehen wird, ist die Genealogie der Macht, die die Iden­ tifizierung eines solchen Renaissance-Moments trägt. Mit anderen Worten geht es bei der Neugeburt vielleicht nicht so sehr darum, dass ein Volk etwas Neues beginnt, sondern dass der Rest der Welt, oder der Teil mit der lauteren Stimme, diese Aktivitäten plötzlich bemerkt, vielleicht sogar zu diesem spezifischen Zeitpunkt ­bemerken muss – aufgrund globaler Machtverhältnisse und der Notwendigkeit, diese zu eigenen Gunsten zu ändern oder auch beizubehalten. An dem Tag, an dem ich keine alternative, nativis­ tische Interpretation mehr für das habe, was woanders über Afrika gesagt wird, weiß ich, dass ich dem Post­ kolonialismus entkommen bin.

S. N. SIMON NJAMI 1962 in Lausanne geboren, ist ­Ku­rator, Dozent, Kunstkriti­ ker und Essayist mit kameru­ nischen Wurzeln. Im Zentrum seiner Ausstellungen steht zumeist zeitgenössische ­afrikanische Kunst – zum Beispiel im afrikanischen ­Pavillon der 52. Venedig Bien­ nale (2007), in den Ausstel­ lungen A Useful Dream. ­African Photography (Brüssel, 2010), A Collective Diary ­(Tel-Aviv, 2010) sowie 2008 unter seiner Kuration der ­African Art Fair in Johannes­ burg. Er war künstlerischer Leiter der Bamako Photo­ graphy Biennale, arbeitete für ­die Association française ­d’action artistique (AFAA) des französischen Außenministe­ riums und ist zudem Heraus­ geber der Revue Noire. Njami ­­wird 2014 die von der Kultur­ stiftung des Bundes geför­

derte Ausstellung Die Göttliche Komödie im Muse­ um für ­moderne Kunst in Frankfurt am Main kuratieren. Er ­lebt in Paris. Als das „Ungedachte“ bezeichne ich das, von dem u­ nsere Gedanken ausgehen und was wir daher nicht denken. Nach China zu gehen, bedeutet die Kontingenz des ei­ genen Verstandes hinter sich zu lassen, oder in seinem Verstand einen Schritt zurückzugehen, die Probe eines Gedankens von außen zu bestehen, und dieses „wir“ – nicht nur Ideologie, sondern vor allem Kategorien der Sprache und Gedanken – zu veranschaulichen, das stets implizit in diesem „Ich“ steckt, das so imposant erklärt: „Ich denke…“ (François Jullien: L’écart et l’entre, (Paris: Galilée, 2012), S. 20/21) Niemand versucht jemals, sich des „Ungedachten“ zu entledigen. Die meiste Zeit über versichern wir alle uns der Wahrheiten, mit denen wir uns wohlfühlen, und vermeiden so die echten Fragen, mit denen wir uns aus­ einandersetzen müssten. Denn wenn wir das täten, sähen wir ein, dass die Begriffe, die wir benutzen, um unsere Gegenwart zu verstehen, nicht länger gültig sind. Post­ kolonialismus ist einer dieser überbeanspruchten, miss­ brauchten Begriffe, der in jede Diskussion über die glo­ bale Realität eindringt und sie verschmutzt. Ich bilde mir ein, dass das nichts mit meinem Denken und meiner Arbeit zu tun hat. Ich wurde nach den Unabhängigkeiten geboren und neige dazu, mich meinem Freund Achille Mbembe in dem Glauben anzuschließen, dass nur das Hier und Jetzt zählt. Geschichte kann nicht mehr als ein Werkzeug sein, um gewisse Aspekte der Realität zu ent­ schlüsseln. Doch Geschichte vermag nicht alles zu er­ klären. Ich mache gerne von diesem „Ich“ Gebrauch, das so imposant erklärt: „Ich denke“. Um das mit einiger Wirksamkeit zu tun, muss ich mich auf das konzen­ trieren, was mir wirklich zu denken gibt, und nicht auf das, was mir zu denken geben sollte. Mein Hauptanliegen ist der menschliche Faktor. Ich benutzte Begriffe wie Andersheit nicht mit ihrer ererbten Last, sondern als allgemeine Schlüssel zum Verständnis dessen, was uns antreibt. In diesem Sinne ist der französische Philosoph Emmanuel Levinas mir ungleich nützlicher als jegliche Literatur, die seit den frühen 1970ern geschrieben wur­ de. Der Unterschied als solcher interessiert nicht. Wie François Jullien erklärt, interessiert mich die Lücke, das Dazwischen, das Möglichkeiten erschafft und Polysemie zulässt. Die Spannung, die durch eine Lücke hervorge­ rufen wird, erzeugt – produziert – Fruchtbarkeit, während Unterschied nichts produziert außer einer Definition. Dasselbe gilt für Kulturen, die sich in ihrer eigenen Fruchtbarkeit als Ressourcen entdecken, die nicht nur erforscht, sondern auch ausgeschöpft werden können – und zwar von allen, unabhängig ihrer ursprünglichen Herkunft und ihres Heimatortes. Denn die Lücke wird erforscht und ausgeschöpft. (F. Jullien. L’écart et l’entre (Paris: Galilée, 2012), S. 37) Die Fragen, die mir häufig nach meiner Identität, meinem Geburtsort oder nach meiner Beziehung zu ­Europa oder Afrika gestellt werden (vielleicht sollte ich die Vergangenheitsform benutzen, denn es kommt nicht mehr so oft vor), beweisen, dass meine Sicht auf die Welt die Menschen, die zuhören oder lesen, zwingt, außerhalb der klassischen modernen Grenzen zu denken. Ich ­d efiniere mich selbst weder als Afrikaner noch als ­Kameruner, sondern als Bassa. Diese Haltung mag wie ein Scherz klingen, wäre sie nicht ernst gemeint. Eher als ein Scherz ist es eine Einladung, mich außerhalb je­ des Essenzialismus zu verorten. Ich bin mehr, wir sind immer mehr, als was wir zu sein behaupten. Ich wurde in Europa geboren und bin dort aufgewachsen. Wenn ich mich also als Bassa bezeichne, möchte ich die Men­ schen ­herausfordern, den Begriff Identität nicht über die Offensichtlichkeit der Geografie sondern über etwas Subtileres zu erforschen. Das Offensichtliche festzu­

stellen, ist das „Gedachte“ festzustellen, das Jullien dem „Ungedachten“ gegenüberstellt. Hier besteht, meiner ­Meinung nach, eines der Versäumnisse postkolonialer Studien, die stets damit beschäftigt sind, Europas Schuld an allen Missständen dieser Erde nachzuweisen. Ist ­Europa schuldig? Natürlich! Aber ändert sich die Lage der Dinge, wenn wir dies endlos wiederholen? Was bringt so eine Art von Antwort den Menschen, die damit be­ schäftigt sind, in Zeiten der Globalisierung ihre eigenen Stimmen zu finden? Die Geschichte haben die „Gewin­ ner“ geschrieben. Diese Erzählung kann nicht umge­ schrieben werden. Aber man kann eine neue Erzählung erfinden. Eine, die nicht von Rache handelt, die nicht versucht zu korrigieren, sondern eine neue Perspektive auf die Art unseres Zusammenlebens eröffnet. Ntone Edjabe erzählte einmal von einem Streit, den er mit den Leuten von Wikipedia hatte. Er sollte Texte für ihre so­ genannte Enzyklopädie schreiben, und er sollte sie nach dem vorgegebenen Standard schreiben. Ntone jedoch wollte zu einer neuen Art, Sprache und Kommunikation zu denken, beitragen. Eine Art, die nicht in das von Wiki­ pedia vorgegebene Muster passte. Er wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. Er hatte nicht darum gebeten, für sie schreiben zu dürfen, und wollte nichts beweisen. Aber als sie es ihm anboten, wollte er es auf seine eigene Weise machen. Das ruft mir einen Text von James Baldwin in Erinnerung. Der Titel lautet: „Wenn afroamerikanisches Englisch keine Sprache ist, was ist dann Sprache?“ (If Black English is not a language, then tell me, what is?) Ich wurde in der französischen, oder – um in einem größeren Kontext zu sprechen – in der europäischen Denkart ausgebildet. Da gibt es nichts zu leugnen. Und als ich in den Vereinigten Staaten unterrichtete, wurde ich als französischer oder europäischer Denker ange­ sehen. Dennoch lernte ich von meiner Familie, dass man eine Situation immer aus einer Vielzahl von Blickwinkeln betrachten kann. Mein Leben lang habe ich versucht, diese verschiedenen Erzählungen zu übersetzen, und inzwischen glaube ich, dass letzten Endes alles auf Miss­ verständnisse zurückzuführen ist. Diese vielen Missver­ ständnisse zwischen den Kulturen zu entschlüsseln, ist mein Hauptanliegen.

J. A. JELILI ATIKU geboren 1968, ist nigerianischer Bildhauer sowie Video- und Perfor­ mancekünstler. Seine Arbei­ ten be­handeln soziale und politische Themen, darunter besonders den Umgang mit Menschenrechten. Derzeit macht Atiku vor allem mit körperbetonten Live Art-Per­ formances und ihren media­ len Aufarbeitung auf sich ­aufmerksam – bisherige Sta­ tionen waren etwa Tokio,


18 ­ aris, Berlin und London. Er P ist Mitglied mehrerer zivil­ gesellschaftlicher Organisa­ tionen und Gründer der ­„Advocate for Human Rights Through Arts“. Jelili Atiku wird 2014 in der von TURN geförderten Ausstellung ­Giving Contours to Shadows (24.5. – 27.7.2014) mit einer Performance im öffentlichen Raum zu sehen sein. Er ­lebt in Ejigbo nahe Lagos. Ich wurde 1968 in Lagos geboren. Nigeria befand sich in der ersten Dekade seiner postkolonialen Ära. Ich wuchs auf und erfuhr das Leben eines Landes, das sich mühte, umzudenken, umzustrukturieren und zurückzu­ erobern, was von den kulturellen, politischen und wirt­ schaftlichen Ideologien, religiösen Zeichen, Wertvor­ stellungen und Umgangsformen seiner Völker durch die fremde Einflussnahme des Kolonialismus ausgehöhlt worden war. Ich werde beständig mit den Realitäten ­eines Landes konfrontiert, in dem 60,9 % der Bürger trotz Nigerias Status als Afrikas größter Ölproduzent in extremer Armut leben und Hunger leiden. Infrastruktur, Gesundheitseinrichtungen, Bildungssystem, Respekt für Menschenrechte und Wertvorstellungen sind in jämmer­ lichem Zustand. Es herrscht ungezügelte Korruption, ethnische Dominanz, korrupte Führerschaft und Unachtsamkeit gegenüber dem Volk und seinem Wohl. Die Menschen halten am Status quo fest. Folglich wurden die Bildung meines Charakters und mein Denken be­ ständig durch die Themen und den vorherrschenden Einfluss des Neokolonialismus und Kapitalismus im Land geprägt. Ich entwickelte eine skeptische und zynische Ein­ stellung gegenüber dem Konzept des nigerianischen pseudo-föderativen Systems und der Demokratie, ge­ genüber Globalisierung, quasi-wirtschaftlicher Libera­ lisierung, Moderne und ihrer Populärkultur, Zivil­ gesellschaft, orthodoxen religiösen Konzepten und Glaubensvorstellungen. So hinterfrage und konfrontiere ich viele Ideen und Prinzipien sowie den Großteil der Regierungspolitik, die negative Auswirkungen auf unsere kollektiven Interessen als Nigerianer hat. Diese Einstel­ lung ebenso wie die innewohnende Energie und Sehn­ sucht nach Utopia werden durch meine Disposi­tion als Künstler verstärkt, für den Kunst ein unverzichtbares Instrument zur Erfüllung und zum Erhalt menschlicher Werte, Bestrebungen, Integrität sowie menschlichen Überlebens ist. Die grundlegenden Prinzipien der Wesentlichkeit von pragmatischen Maßnahmen für politischen und sozialen Wandel sind mir klar, und so schaffe ich künstlerische Werke, die darauf abzielen, die Menschen durch ihre Erscheinungsform und ihren Kontext für unsere post­ koloniale Erfahrung zu sensibilisieren. 2005 entwarf ich beispielsweise eine Installation, in der ich die verhee­ renden Bedingungen in nigerianischen Gefängnissen, vor allem in der Untersuchungshaft, analysierte. 77 % der Häftlinge Nigerias sind Untersuchungshäftlinge, die höchste Anzahl sitzt im Bundesstaat Lagos in Haft. Die Bekämpfung des widerwärtigen Gesetzesparagrafen, der den Betroffenen ein derartiges Leid verursachte, war daher eine dringende Notwendigkeit. Meine Installation bestand aus einundsechzig männ­ lichen Figuren von der Größe eines Bozzettos. Jede

e­ rzählte eine eigene Geschichte und hatte einen eigenen Titel. Alle waren von weicher, „gemüseartiger“ Beschaf­ fenheit. Die Undeutlichkeit der Körperteile, die Ver­ schwommenheit der Formen sowie der Mangel an ­Körperlichkeit deuteten auf die menschenverachtenden Bedingungen hin, denen die Gefängnisinsassen ausge­ setzt sind. Die Figuren waren in einer großen, ovalen, an einen Hühnerkäfig erinnernden Metallstruktur auf­ gestellt, die die Untersuchungszellen repräsentierte. Die Installation war in der gesetzgebenden Versamm­ lung des Bundesstaats Lagos ausgestellt und setzte sich für die Streichung des Gesetzesparagrafen aus der Ver­ fassung des Bundesstaats Lagos ein. Dieser Paragraf ­legitimiert die Festhaltung von Verdächtigen auf unbe­ stimmte Zeit und stellt so einen der gröbsten Verstöße Nigerias gegen die Menschenrechte dar. Das Werk ­inspirierte Diskussionen in der gesetzgebenden Ver­ sammlung des Bundesstaats, und eine Resolution zur Auf­h ebung des widerwärtigen Paragraphen wurde ver­ abschiedet. Dieser und andere Erfolge bestärken mich beständig darin, in künstlerischen Formen und Positio­ nen politisches und soziales Engagement zu zeigen. Der Teil der Frage, der nach der Möglichkeit forscht, sich dem Postkolonialismus in Nigeria zu entziehen, er­ innert mich an ein Zitat von Albert Einstein. In „Mein Weltbild“ schrieb Einstein: „Erst wenn die Erschaffung und Erhaltung angemessener Lebensbedingungen für alle Menschen als gemeinsame Verpflichtung aller Völker und Länder anerkannt und akzeptiert ist, erst dann wer­ den wir die Menschheit mit einem gewissen Maß an Be­ rechtigung als zivilisiert bezeichnen können.“ Es besteht kein Zweifel daran, dass die von Einstein beschriebenen Bedingungen in Nigeria nicht populär sind, auch der Weg nach Utopia und die erstrebenswerten egalitären Gesell­ schaften liegen in weiter Ferne. Dies überträgt skep­ tischen Bürger wie mir die Verantwortung, als Wächter und als Sprachrohr der öffentlichen Meinung zu fungie­ ren. Bei diesem Anliegen sind meine Kunst und ihre Formen mein wichtigstes Werkzeug.

D. E. DENIS EKPO geboren 1959, ist Professor für Französisch und Komparatistik an der University of Port Harcourt, Nigeria. Sein radikales Kon­ zept des Post-Afrikanismus, das zu einer Abkehr von Panafrikanismus und afrozen­ trischem Kulturnationalismus auffordert, sucht einen ­ neuen Zugang zum zentralen Thema seiner Veröffentlich­ ungen, dem Post-Kolo­nia­­ lismus. Publi­kationen in ­nationalen und internationalen Magazinen sind u.a. „Towards

a post Africanism: Contempo­ rary African thought and postmodernism” (Textual Practice 1995), „How Africa Misunderstood the West” (Third Text 1996) und „From Negritude to Post-Africa­ nism” (Third Text 2010). Ekpo ist mit einem Textbeitrag in dem 2011 von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Katalog zur Aus­ stellung Afropolis vertreten. Wie die meisten meiner Generation wuchs ich mit einer geistigen Grundnahrung auf, die aus anti-koloni­ alistischen Texten wie Walter Rodneys Afrika. Die ­Geschichte einer Unterentwicklung, Fanons Die Verdammten dieser Erde oder Chinweizus Der Westen und der Rest der Welt (The West and the Rest of Us) bestand. Natürlich wurde dem Menü eine üppige Portion Négritude-­Texte beigefügt. Mit anderen Worten genoss ich eine fast ausschließlich afrozentrische / antikolonialistische Ausbildung. Wäh­ rend meiner Studienaufenthalte in Europa in den acht­ ziger Jahren des letzten Jahrhunderts raubten mir dann jedoch zwei Erlebnisse mein afrozentrisches Selbstver­ trauen und rüttelten heftig an meiner antikolonialis­ tischen Subjektivität. Ersteres trug sich während eines französischen Sprachvertiefungs­programms an der Uni­ versität Grenoble in Frankreich zu. Es war ein Überset­ zungsseminar. In dem Text kam an diesem Tag das Wort Hiroshima vor. Die Studenten lasen nacheinander je einen Satz vor und übersetzen ihn dann. Am Ende der Übung hatte sich immer noch niemand zu dem seltsa­ men Eigennamen geäußert, also hob ich meine Hand und fragte den Dozenten: „Entschuldigen Sie, was ist Hiroshima?“ Die fassungslose Stille, die auf meine un­ schuldige Frage folgte, werde ich nie vergessen. Der Dozent und die Studenten, unter ihnen einige Japaner, schienen entsetzt. Als der Dozent sah, dass die Verle­ genheit der anderen mich verlegen machte, wusste er, dass ich nicht scherzte. Mir war einfach nicht bekannt, was Hiroshima bedeutet. Er wollte wissen, ob ich in der Schule Geschichte gehabt und schon einmal etwas vom Zweiten Weltkrieg gehört habe. Natürlich hatte ich Ge­ schichte gehabt, aber afrikanische Geschichte. Ich hatte von dem Krieg gehört, aber nur von der Rolle der Afri­ kaner darin und von den Grausamkeiten, die Europa Afrika während des Krieges angetan hatte. In unseren afrikanisierten Lehrbüchern galt alles andere dem Ideal einer afrozentrischen Reinterpretation der modernen Welt als nicht förderlich. Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie gedemütigt ich mich fühlte, als ich das Seminar verließ. Ich stellte den Wert und Nutzen einer Ausbildung in Frage, die mir eine Überdosis an Afrikanität, Vorfahren, kulturellen Wurzeln usw. verpasste, mich jedoch gleichzeitig von den Ereig­ nissen, Mächten und Ideen abschottete, die das moder­ ne Weltgeschehen schufen und vorantrieben. Denn es war das moderne, größtenteils eurozentrische Weltge­ schehen – und nicht meine kulturellen Wurzeln – das den Schlüssel zu meinen besten Entwicklungsmöglich­ keiten in der Hand hielt. Der zweite Vorfall ereignete sich während meines weiterführenden Studiums an der Universität Bordeaux III. Während eines Colloquiums zum Unterrichten afri­ kanischer Literatur in Frankreich zweifelte ein bekann­ ter französischer Professor für afrikanische L ­ iteratur


19 am Zentrum für Afrikawissenschaften offen den Sinn daran an, dass afrikanische Studenten zum Studium der Afrikawissenschaften nach Europa kommen. „Warum sollten Sie herkommen, damit wir Ihnen helfen, über sich selbst zu sprechen?“, fragte er. Natürlich wurde Herr Hausser sofort von den anwesenden europä­ischen wie auch afrikanischen Afrikawissenschaftlern ins Kreuzfeu­ er genommen. Doch für mich war Haussers unerwarte­ te und politisch inkorrekte Frage eine letzte Schock­ therapie, die mich wachrüttelte aus der betäubenden Wirkung des intellektuellen Afrikanismus. Durch den ersten Vorfall in Grenoble war ich bereits auf die Gefah­ ren einer afrozentrischen Ausbildung, die lediglich aus fortwährender Bestätigung und Zelebrierung meiner afrikanischen Identität bestand, aufmerksam geworden. Durch den zweiten Vorfall wurde mir klar, dass mein Kommen nach Europa, auf dass der weiße Mann mir beim Verstehen meiner afrikanischen Identität helfe, Ausdruck einer neuen Art kultureller/intellektueller Neurose war, an der anscheinend in erster Linie wir mo­ dernen Afrikaner leiden. Ich hatte Grund, den Nutzen von Afrozentrismus und Antikolonialismus grundlegend in Frage zu stellen. Obgleich ich am Zentrum für Afri­ kawissenschaften blieb, wollte ich den Europäer nun, anstatt darum, mir meine afrikanische Identität zu erklä­ ren, lieber um die Erläuterung seiner Denkweise bitten, mit der er eine Moderne ins Leben gerufen hatte, die Afrika erobert und zusammen mit anderen Teilen der Welt in den eurozentrischen Orbit einer einzigen Welt­ geschichte gezwungen hatte. Ich lenkte meine For­ schung in Richtung einer vergleichenden Studie euro­ päischer Philosophie und der modernen afrikanischen Denkweise, wie sie in einer Auswahl repräsentativer Ro­ mane zum Ausdruck kommt. Den Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit dem Studium von Hegel, Nietzsche, Heidegger, ­Sartre, Derrida, Foucault und einer Unzahl anderer großer kontinentaleuropäischer Denker. Meine Schriften seit den Neunzigern können als zahlreiche Versuche a­ ngesehen werden, das unnötig gestörte Ver­ hältnis zwischen Europa und Afrika zu erhellen. Da ich der Meinung bin, dass Fanons Antiimperialismus und Senghors Kulturnationalismus für Afrika schädlicher sind als für E ­ uropa, schrieb ich Wie Afrika den Westen missverstand (How Africa mis-understood the West), um zu zeigen, was Afrika verliert, wenn es sich auf eine verschwörungs­ theo­retische und verbitterte Interpretation unseres Zu­ sammentreffens mit der Moderne durch die Koloniali­ sierung beschränkt. Dann zeigte ich, was Afrika durch das Konzept des Post-Afrikanismus gewinnen könnte, wenn es gelingen würde, einen Großteil der feindseligen antiimperialistischen Einstellungen gegenüber Europa sowie die narzisstische Obsession mit Afrikanität aufzu­ geben. Durch Post-Afrikanismus versuche ich auch, Af­ rika wieder in Kontakt mit all dem zu bringen, was von Europas Gedankengut, Weltanschauung und Wertvor­ stellungen inzwischen die universale Dynamik wirt­ schaftlichen und politischen Erfolgs in der globalisierten Welt verkörpert. Wenn ich Europa von einer im Wesentlichen anti-an­ tiimperialistischen und nicht-afrozentrischen Perspek­ tive betrachte, will ich es nicht freisprechen, sondern zeigen, welche Lektion Afrika lernen kann, um sich da­ mit abzufinden, wie die heutige Welt wirklich funktio­ niert und wie man es zu den Erfolgen bringt, die Europa und die pragmatischeren und einsichtigeren nicht-euro­ päischen Ex-Schüler Europas momentan genießen. Was bringt uns die aktuelle postkoloniale Obsession mit der Dekonstruktion des Imperialismus, mit der Aufdeckung kolonialer Gewalt und der Investition von so viel Energie in Widerstandskenntnisse und Wissensproduktion, wenn all das bisher nur dazu beigetragen hat, Afrika klein und arm zu halten? Wenn also in meiner Arbeit Hegel, Nietz­ sche und einige andere harte Europäer stete Bezugsgrö­ ßen geblieben sind, so liegt das daran, dass einige ihrer ungewöhnlichen europäischen Einsichten mir bei mei­ nen Bemühungen behilflich waren, den Imperialismus und seine Folgen ins Positive umzuinterpretieren. Von Hegel lernte ich, dass Kolonia­lismus vor allem ein Aus­ druck der „List der Vernunft in der Geschichte“ war, die Gewalt gebrauchen musste, um Afrika aus der Isolation zu reißen und in das Theater der Weltgeschichte zu brin­

gen. Von Nietzsche lernte ich, dass die beste Art, sich mit dem Geschehenen abzu­finden,­nicht darin besteht, sich ewig alte Wunden zu lecken, sondern „amor fati“ – „Liebe zum Schicksal“ – zu praktizieren. Wenn ich jedoch für eine pragmatische, Fanon-kri­ tische Wiederinbesitznahme Europas durch Afrika ­plädiere, vergesse ich nicht das andere, nicht-Hegelsche Gesicht des heutigen Europas, das für das junge, ver­ wirrte, sich noch entwickelnde Afrika wohl weniger nütz­ lich wäre. Damit meine ich das verweichlichte postmo­ derne Europa des überfressenen, gelangweilten und untätigen letzten Menschen mit weichen Gedanken und schwachen, widersprüchlichen Vorstellungen, das einem Kontinent, der starke Staaten, starke Institutionen und disziplinierte, ordnungsliebende Bürger und Gesell­ schaften hervorbringen möchte, wohl kaum nützlich sein würde. Obgleich Europa folglich eine wichtige Referenz für meine zukünftige Arbeit bleiben wird, verschiebt sich der Schwerpunkt wohl auf die eine oder andere Weise dahin zu zeigen, wie das sogenannte postmoderne ­Europa durch manche seiner postkolonialen Wohltätig­ keiten unbewusst Verzögerungen in Afrikas politischem und sozialem Reifeprozess bewirkt. Ich glaube, Hegel ist immer noch ungleich nützlicher dabei, Afrika aus dem Schlamm zu ziehen, als Derrida.

M. A. MESKEREM ASSEGUED ist Anthropologin und Kura­ torin aus Addis Abeba. Sie verantwortete eine Vielzahl an Ausstellungen in Äthiopien und im Ausland, war Mitglied der Jury der Dak’Art Biennale 2004 und veröffentlicht in diversen nationalen und ­internationalen Zeitschriften. 2002 gründete sie das auf Nachhaltigkeit und Inter­ disziplinarität ausgerichtete Zoma Contemporary Art Center in Addis Abeba ­ und Harla. Assegued wird die von TURN geförderte Aus­ stellung Kehrwert / Curvature of Events vom 17. Oktober 2014 bis 5. Januar 2015 in den staatlichen Kunstsamm­ lungen Dresden kuratieren.

Es ist schlicht unmöglich, ein in Europa erfundenes afrikanisches Bildungssystem zu durchlaufen und in ­einem von Kommunismus und Sozialismus entlehnten politischen System zu leben, und nicht von Postkoloni­ alismus beeinflusst zu sein. Es gibt in Afrika vierund­ fünfzig souveräne Staaten, deren Grenzen von Kolonia­ listen gezogen wurden. Die koloniale und postkoloniale Erfahrung ist von Land zu Land verschieden. In Äthio­ pien, dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, war die direkte Erfahrung mit Kolonialismus sehr begrenzt. Äthiopiens erster Kontakt mit Kolonialisten war Italiens gescheiterte Invasion im Jahr 1895. Infolge­ dessen veranlasste Kaiser Menelik II. die Einführung eines modernen Bildungssystems sowie moderner Tech­ nologie, um die ausländischen Eindringlinge besser ­verstehen zu können und sein Territorium vor künftigen Einfällen zu schützen. Italien fiel 1935 erneut in Äthio­ pien ein und besetzte das Land bis 1941. Italiens Kolo­ nialtruppen weiteten ihre Militäreinsätze zügig aus und schufen eine neue Infrastruktur. Die Besatzung war ­repressiv und gewaltsam, hinterließ jedoch keine tiefen Narben. Kaiser Haile Selassie ging während der Invasion ins Exil und führte dann die von seinen Vorgängern ver­ anlassten Modernisierungsbestrebungen fort. Äthiopien wurde zu einer zentralen Anlaufstelle für die Diskussion post­kolonialer Ideen, wie die des Panafrikanismus, und es wurde der Sitz der im Entstehen begriffenen Afrika­ nischen Union. In einem solchen Umfeld strotzten die Erfahrungen und Geschichten meiner frühen Kindheit sowohl zu Hause als auch in der Schule von afrikani­ schem Heroismus und Patriotismus. Im Gegensatz zu vielen anderen Kolonial­staaten erhielt sich Äthiopien seine Lingua Franca, ­Amharisch, als offiziell geschrie­ bene und gesprochene Sprache. Meine Art zu denken und zu arbeiten ist ein Diskurs zwischen den Traditionen meiner Eltern und meiner europäischen Ausbildung. Die kaiserliche Regierung wurde 1974 durch den Derg, eine kommunistisch/sozialistische Militärjunta, geführt von Mengistu Haile Mariam, gestürzt. Trotz Äthiopiens begrenzter kolonialer Erfahrung kann der Derg ohne Weiteres mit postkolonialen Regierungen der Zeit verglichen werden. Die Leidenschaft für Wandel bot keine Grundlage für kompetente Regierungsführung. Eine weitere Gemeinsamkeit mit anderen postkolonialen Regierungen während des Kalten Krieges ist das Auftre­ ten der UdSSR als Schutzmacht. Ich wuchs inmitten dieser chaotischen Umstände auf. Rückblickend waren postkoloniale Einflüsse zwar sehr präsent, wir dachten damals jedoch nicht darüber nach. 1991 wurde der Derg von der Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) gestürzt. Die EPRDF ist zur Zeit die führende politische Partei Äthiopiens. Sich postkolonialen Einflüssen zu entziehen ist nicht möglich. Es ist jedoch möglich, sich aus einem Leben voller Erfahrungen seine eigene, einzigartige Identität zusammenzustellen. Zu meinem Glück bin ich in Äthi­ opien geboren und habe schon als Kind sowohl Amha­ risch als auch Englisch gelernt. Erfolg wird auf verschie­ dene Weise gemessen, für mich jedoch bedeutet er, meine Leidenschaft zu meinem Beruf machen zu kön­ nen. Bei meiner Arbeit als Kuratorin erzähle ich zeitge­ nössische Geschichten aus meiner Perspektive. Diese Geschichten handeln von der Umwelt, von Wissen­ schaften, Fantasie oder irgendeiner Launenhaftigkeit. Ich schätze gute Ideen. Postkoloniale Themen sind für mich nur ein Teil meines Arbeitsumfelds.


20

Das leise Ausfransen des Lebens

Eine Bildstrecke von Moshekwa Langa


21


22


23




26


27


28


29


1 Njabulo Ndebele: „Rediscovery of the Ordinary: Some New Writing from South Africa“, Journal of Southern African Studies, Vol. 12, No. 2, April 1986

30


31 Nicht-Ereignisse: Moshekwa Langas Bilder des Alltäglichen Ein Text von Okwui Enwezor

I

n den Achtzigerjahren war Südafrika ein Land, durchdrungen von massiver staatlicher Gewalt: Tötungen ohne Ge­ richtsverhandlung, Internierungen, Un­ terdrückung und Menschenrechtsverlet­ zungen aller Arten gegen die afrikanische Mehrheit des Landes. Der Apartheidsund Sicherheitsapparat des Regimes von P.W. Botha führte die öffentliche Ordnung in eine Krise, die es erlaubte, nie dagewe­ sene Gewaltanwendung zum Mittel der Staatsführung zu machen. Im Jahr 1986 rief das Regime im ganzen Land den Not­ stand aus, setzte Recht und Gesetz außer Kraft und erklärte für die verwahrlosten Townships, in denen die Millionen von schwarzen Afrikanern de facto eingesperrt waren, explizit den Ausnahme­zustand. Aber schon da gab es eine l­itera­rische Strömung, die sich mit den Bedingungen sozialer Anomie beschäftigte. Bilder und Gewaltdarstellungen waren ihre heiße Ware. Die Kunst und alle Arten der Bilder­ produktion, insbesondere die Fotografie, waren eifrig beschäftigt, die Gewalttätig­ keiten und -handlungen der Apartheid bildlich widerzuspiegeln. Der Fotograf Paul Weinberg prägte für diesen Front­ kämpfer-Zugang zum Bilder­machen den Begriff Strugglism – „Kämpferismus“. Strugglism war für aktivistische Kunst und Protestliteratur das Mittel der Wahl: Man malte das Leben unter der Apartheid in plastischen, unerbittlichen Bildern und Worten. Als Reaktion darauf veröffent­ lichte Njabulo Ndebele, ein angesehener Autor und einflussreicher Intellektueller, eine Reihe aufsehenerregender Essays, die scharfe Kritik am Stil des Strugglism übten, besonders auf dem Gebiet der Wor­te, der freizügigen Darstellung von Gewalt und Spektakel. Er rief die schwar­ zen südafrikanischen Schriftsteller auf, der Literatur des Spektakels abzuschwö­ ren und filmreife Sensationshascherei in der Darstellung zu überwinden. Ndebele, in dessen tiefgehender Analyse James ­B aldwins Essay „Everybody’s Protest ­Novel“ und dessen Angriff auf Richard Wright widerklangen, bot in seiner Essay­ sammlung „Rediscovery of the Ordinary: Some New Writing from South Africa“ eine unerbittliche Kritik dessen, was er das Motiv von Spektakel und Exzess ­in der südafrikanischen Protestliteratur nannte. Er schreibt:

„Die Geschichte der schwarzen süd­ afrikanischen Literatur war im Wesent­ lichen eine Geschichte der Darstellung von Spektakel. Die sichtbaren Zeichen der erdrückend repressiven Sozialstruktur Südafrikas haben über die Jahre offenbar zur Entwicklung einer hochdramatischen, stark demonstrativen literarischen Dar­ stellungsform geführt.“ ¹ In Ndebeles Gedankenwelt verwies die gesamte südafrikanische Gesellschaft – mit ihrem Unterdrückungsapparat ­des Polizeistaats der Apartheid, der das riesige Land in einen veritablen Archipel ­Gulag für Schwarze verwandelt hatte, mit der Großtuerei und dem Luxusleben der rund­ um privilegierten Weißen, den schmalen, eingeschränkten Entfaltungsmöglichkei­ ten der schwarzen Bevölkerungsmehr­ heit,­mit dem Pomp und der Feierlichkeit, mit dem ein Parlament, das sich mit den Insignien einer aufgeklärten Bürgerge­ sellschaft schmückt, drakonische Gesetze verabschiedet – auf das Absurde des Spektakels der Apartheid; auf das, was er „die Quintessenz eines obszönen sozialen Exhibitionismus“ nannte. Diesen setzte er, Barthes folgend, mit einem Freistil­ ringkampf aller gegen alle gleich: dem ­Inbegriff eines Spektakels des Exzesses. Und „daher stellt die schamlose exhibitio­ nistische Offenheit der südafrikanischen Unterdrückung deren herausragendstes Merkmal dar. Kein Wunder also, dass der schwarze Autor, manchmal als unmittel­ bares Opfer, manchmal als Beobachter, seiner Vorstellungskraft erlaubt, sich fast gänzlich von dem Spektakel vor seinen Augen gefangen nehmen zu lassen.“ Beim Wiederlesen von Ndebeles ana­ lytischer Kritik der Literatur des Spekta­ kels musste ich an die Fotografien von Moshekwa Langa denken, besonders an seine Bilderserie, die er in den Jahren 2004 und 2005 erarbeitete, als er in Amsterdam wohnte und Bakenberg be­ suchte, eine Kleinstadt aus dem berüch­ tigten Bantustan-System des Südafrikas der Apartheid. Dort war er im Jahr 1975 geboren worden, im Vorjahr des Auf­ standes von Soweto. In Langas unaufge­ regten Bildern, in ihrer Alltäglichkeit klingt Ndebeles differenzierte Einschät­ zung der Rolle des Künstlers in Krisen­ situationen wider. Dem gedankenlosen Auge mag die fotografische Banalität ­sogar wie eine Abbildung von Nichts er­ scheinen. Zu der Bilderserie gehören so profane, unspektakuläre Motive wie ­Wäsche, die auf einem verrosteten weißen Metallgebilde trocknet, das an einer nack­ ten Betonwand lehnt; eine Schubkarre und eine Schaufel, die schräg an einer ähnlichen Wand stehen; ein einsamer ­reifender Kürbis auf dunkler Erde, an ­e inem braunen Erdwall; eine kleine schmutzige weiße Bodenmatte mit Fran­ sen auf einem rötlich-ockerfarbenen ­Boden; eine Holzkommode in der Ecke eines leeren Zimmers; eine Reihe ver­ staubter leerer Flaschen, vertikal gesta­ pelt auf einem Stapel Stühle aus Eisen­ drahtgeflecht; ein Terrakotta-Topf, in die Ecke einer Treppe eines unfertigen Hau­ ses gestellt; eine abgenutzte Holzbank, abgebildet vor einer weiteren ungestri­ chenen Betonwand und so weiter. Diese Fotografien scheinen aus einer anderen Zeit zu stammen, als wäre Langa auf der Suche nach Motiven gewesen, die frei von sozialen Bezügen sind, in ihrer solitären

Alltäglichkeit jedoch den Geist des zwan­ zig Jahre alten Essays von Ndebele ein­ fangen, wenn auch nicht unbedingt bis auf den letzten Buchstaben. Im Jahr 2005 war Südafrika nicht mehr das Land, aus dem Ndebele 1984 geschrieben hatte. Zehn Jahre, nachdem die ersten demokratischen Wahlen eine schwarze afrikanische Mehrheit an die Macht gebracht haben, gibt es noch­ ­immer Gewalt. Heute jedoch fehlt ihr d ­ ie antagonistische Gestalt des sozialen Ex­ hibitionismus, der die Ära der Apartheid geprägt hat. Doch wenn wir Langas Bilder mit ihrer Anmutung von Einsamkeit sorg­ fältig studieren, ihrer völligen Ent­ wöhnung von jeder Art dramatischer ­Tableaus in der Komposition, ihrer Suche nach demü­tigen bescheidenen Szenarien, aufgebaut nach der Bildlogik des Still­ lebens, das Nichtssagende der Fotogra­fien bis hin zur Eigenschaftslosigkeit gestei­ gert, dann ­sehen wir darin mit fast mikro­ s­kopischer Präzision das leise Ausfransen des Lebens unter den Bedingungen der Post-Apartheid abgebildet. Langas Fotografien beschwören ein Gefühl von Trauer und Verlust herauf. Sie sind Bilder eines Exilanten, der nach Hau­ se zurückkehrt und auf einen Mangel stößt, auf Lücken in Erinnerung und ­Gedächtnis. Diese Bilder der Heimat ­rücken von ihrem Aufbau her Ecken, Bruch­stücke, Häuslich­ keit, Trägheit, All­täglichkeit in den Mit­ telpunkt. Es sind Auf­nahmen von Nicht-­ Ereignissen. Die Abbildungen sind frei von plumpem Symbolismus. Aber bis zu einem gewissen Grad lassen sie sich als allegorische Essays über den gegenwärti­ gen Zustand der Bantustans, der Home­ lands verstehen, von denen viele vergessen sind. Viele sind sogar zu historischen Re­ miniszenzen geworden, obwohl sie vor gar nicht langer Zeit angeblich selbstverwal­ tete Territo­rien waren. Nachdem sie vom heu­tigen Südafrika wieder absorbiert wur­ den, ­handelt es sich bei den ehemaligen Bantustans nun um paradoxe Orte, die gerade jene Merkmale eingebüßt haben, die sie einst zum vollendeten Spektakel der Apartheid machten, zu einer Phantas­ magorie übertriebener Freiheit, einer Art menschlichem Befreiungszoo, im dem glücklose Verschwörer in einer von der Apartheid erfundenen Lüge harmonischer Nachbarschaftlichkeit gefangen waren. Ob diese bei all ihrer sanften Vor­ nehmheit stechenden, schneidenden Fo­ tografien in den Achtzigerjahren möglich gewesen wären, als der ätzende Duft des Tränengases in der Luft hing? Wäre es überhaupt einem Künstler, Schriftsteller oder Fotografen möglich gewesen, so zu arbeiten, bei allem, was sich unmittelbar vor den blumenverschleierten Fenstern mancher von Langas Interieurs abspielte? Das zu beantworten scheint mir unmög­ lich. Obwohl Langa mitten während der groteskesten Übergriffe des Apartheids­ staates geboren wurde und im Fantasie­ gebilde der Bantustans aufwuchs, wagt er sich schon allein dadurch auf ein politi­ sches Minenfeld, dass er Willens ist, ­hinzusehen und den Kontext der PostApartheid-Ära aufzuzeichnen, zu doku­ mentieren, zu fotografieren und allego­ risch Gestalt werden zu lassen. Wie kann ein Künstler heute gedanklich die gegen­ wärtige Lage Südafrikas fassen, wo die Privilegien der Weißen so abgesichert sind und exhibitionistisch ausgestellt

werden wie eh und je und die schwarze Staatsführung unfähig scheint, die Ver­ hältnisse dramatischer Ungleichheit zu mildern, in denen die meisten Schwarzen sich wiederfinden? Muss man die Entbeh­ rungen der schwarzen Afrikaner unbe­ dingt aus dem Blickfeld drängen, um das Edle einer Kunst zu betonen, die über das Alltagsleben erhaben zu sein hat? Verbirgt sich hinter der Darstellung des Alltäg­ lichen ein Mangel an Bereitschaft, sich der traurigen Pflicht zu stellen, eine ge­ spaltene Gesellschaft abzubilden, deren Geschichte in Trümmern liegt? Kraftvoll und gelassen hat Moshekwa Langa sich auf diese Fragen geworfen, ohne Abgehobenheit. Die Nicht-Ereig­ nisse, die seine Fotografien so bewusst abbilden, sind für mich Bild gewordene Gegenstücke zu den Zeitbomben, die ­darauf warten, alle vorgefassten Meinun­ gen zu unserem Verständnis von Spekta­ kel zu sprengen. Das Gewöhnliche dieser Bilder trägt die wirkmächtigen Chiffren verkannter, bastardisierter Orte in sich: Sie stellen das Spektakel von Verlust und Unsichtbarkeit dar. Dies sind Orte und Landschaften, wo nichts mehr geschieht. Sie sind Schauplätze des Ennui geworden. Und Langa mangelt es bei seinen un­spek­ takelhaften und unexhibitionistischen ­Fotografien kein bisschen an Engagement. Deutsch von Robin Detje


32

Chimamanda Ngozi Adichie

AME RICA NAH Ifemelu stellte sich vor dem Bahnhof in die Schlange für die Taxis. Sie hoffte, dass ihr Fahrer kein Nigerianer wäre, denn ein Nigerianer wäre, sobald er ihren Akzent hörte, entweder auf aggressive Weise versessen darauf, ihr zu erzählen, dass er einen Master hatte, Taxifahren nur sein Zweitjob war und seine Tochter in Rutgers zu den Besten ihres Fachs gehörte, oder er würde verbissen schweigend fahren, ihr das Wechselgeld herausgeben, ihr »danke« ignorieren und sich die ganze Zeit der Demü­ tigung hingeben, dass diese Nigerianerin, noch dazu ein kleines Mädchen, die vielleicht eine Kranken­ schwester oder eine Buchhalterin oder sogar eine Ärztin war, auf ihn herabschaute. In Amerika waren alle nigerianischen Taxifahrer davon überzeugt, dass sie nicht wirklich Taxifahrer waren. Sie war die nächste. Ihr Fahrer war schwarz und mittleren Alters. Sie öffnete die Tür und blickte auf die Rück­ seite des Fahrersitzes. Mervin Smith. Kein Nige­rianer, aber man konnte nie sicher sein. Nigerianer nah­­men hier alle möglichen Namen an. Auch sie war früher jemand anders gewesen. Wie geht’s?, fragte der Mann. Sie stellte sofort erleichtert fest, dass er aus der Karibik war.

Sehr gut. Danke. Sie nannte ihm die Adresse von Mariama African Hair Braiding. Es war das erste Mal, dass sie diesen Salon aufsuchte – der, in dem sie sich normalerweise Zöpfe flechten ließ, war geschlos­ sen, weil die Besitzerin in die Elfenbeinküste zurückgekehrt war, um zu heiraten –, doch sie war überzeugt, dass er aussehen würde wie alle anderen afrikanischen Salons: Sie befanden sich in den Stadtteilen, die mit Graffiti besprüht waren, in denen feuchte Gebäude standen und keine Weißen lebten, sie hatten grelle Schilder mit Namen wie Aisha und Fatima African Hair Braiding, die Heizkörper darin waren im Winter zu heiß, und im Som­mer küh­lten die Klimaanlagen nicht, die Flechterinnen wa­ ren frankophone westafrikanische Frauen, eine von ihnen wäre die Besitzerin und spräche das beste Eng­lisch, nähme die Anrufe entgegen und hätte das Sagen. Oft trug eine Frau ein Baby mit einem Tuch auf den Rücken gebunden. Oder ein kleines Kind schlief auf einer Decke auf einem abgewetzten Sofa. Manchmal schauten ältere Kinder vorbei. Die Gespräche wurden laut und schnell geführt, auf Französisch oder Wolof oder Malinke, und wenn sie  mit den Kundinnen Englisch sprachen, war es immer ge­brochen und kurios, als hätten sie die Sprache nicht richtig gelernt, bevor sie sich den Slang und die Amerikanismen aneigneten. Worte kamen unvoll­ ständig heraus. In Philadelphia hatte einmal eine Flech­ terin aus Guinea zu Ifemelu gesagt: »Igwa, o God, igwa sossaua.« Und es bedurfte vieler Wieder­holungen, bis Ifemelu verstand, dass die Frau »Ich war, o Gott, ich war so sauer« sagte. Mervin Smith war aufgekratzt und redselig. Während er fuhr, sprach er über die Hitze und die Stromausfälle, die es mit Sicherheit geben würde. In dieser Hitze sterben die alten Leute wie die Fliegen. Wenn sie keine Klimaanlage haben, müssen sie ins Einkaufszentrum. Dort ist die Klimaanlage umsonst. Aber manchmal haben sie niemand, der sie hinfährt. Man muss sich um die alten Leute kümmern, sagte er, seine gute Laune nicht beeinträchtigt von Ifemelus Schweigen. Da sind wir!, sagte er und blieb vor einem herunterge­ kommenen Block stehen. Der Salon befand sich in der Mitte, zwischen einem chinesischen Restaurant namens Happy Joy und einem kleinen Laden, der Lotterielose verkaufte. Im Inneren war er schäbig, die Farbe blätterte ab, die Wände waren mit großen Postern mit geflochtenen Frisuren und kleineren Zetteln mit der Aufschrift PROMPTE STEUERER­STATTUNG beklebt. Drei Frauen in T-Shirts und knielangen Hosen arbeiteten an den Haaren sitzender Kundinnen. In einer Ecke hing ein kleiner Fernseher, in dem ein nigerianischer Film lief: Ein Mann schlug seine Frau, die Frau duckte sich und schrie, die schlechte Tonqualität war zu laut und schrill. Hallo!, sagte Ifemelu. Sie drehten sich alle zu ihr um, doch nur eine, die die namengebende Mariama sein musste, sagte: Hallo. Komm rein. Ich hätte gern Zöpfe. Was für Zöpfe willst du? Ifemelu sagte, sie wolle Medium Kinky Twists, und fragte nach dem Preis. Zweihundert, sagte Mariama. Letzten Monat habe ich hundertsechzig bezahlt. Sie hatte sich vor drei Monaten zum letzten Mal Zöpfe flechten lassen. Also hundertsechzig?, fragte Ifemelu.


33 Mariama zuckte die Achseln und lächelte. Okay, aber du musst nächstes Mal wieder zu uns kommen. Setz dich. Aisha wird dich bedienen. Sie ist gleich fertig. Mariama deutete auf die kleinste Frau, die eine Haut­ krankheit hatte, rosa­weiße Wirbel auf den Armen und im Nacken, die ­bedenklich ansteckend aussahen. Hallo, Aisha, sagte Ifemelu. Aisha blickte zu Ifemelu, nickte kaum merklich, ihr Gesicht nahezu unfreundlich in seiner Ausdrucks­ losigkeit. Sie hatte etwas Merkwürdiges. Ifemelu setzte sich neben die Tür; der Ventilator auf dem angeschlagenen Tisch lief auf Hochtouren, änderte jedoch nichts an der Stickigkeit des Raums. Neben dem Ventilator lagen Kämme, Pakete mit Haarverlängerungen, Zeitschriften mit zahllosen herausgerissenen Seiten, stapelweise bunte DVDs. In einer Ecke lehnte ein Besen neben einem Bonbonbehälter und der rostigen Trockenhaube, die seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden war. Auf dem Bildschirm schlug ein Mann zwei Kinder, ungelenke Schläge, die über ihren Köpfen ins Leere gingen. Nein! Böser Vater! Schlechter Mensch!, sagte die andere Flechterin, starrte auf den Fernseher und zuckte zusammen. Bist du aus Nigeria?, fragte Mariama. Ja, sagte Ifemelu. Und du? Ich und meine Schwester Halima sind aus Mali. Aisha ist aus dem Senegal, sagte Mariama. Aisha schaute nicht auf, aber Halima lächelte Ifemelu an, ein freundliches, wissendes Lächeln, mit dem sie eine afrikanische Landsmännin willkommen hieß; eine Amerikanerin würde sie nie so anlächeln. Sie schielte heftig, die Pupillen schossen in entgegenge­ setzte Richtungen, so dass Ifemelu nicht wusste, mit welchem Auge Halima sie ansah. Ifemelu fächelte sich mit einer Zeitschrift Kühlung zu. Es ist so heiß, sagte sie. Diese Frauen würden zumin­ dest nicht erwidern: Dir ist heiß? Aber du bist doch aus Afrika! Diese Hitzewelle ist schlimm. Tut mir leid, aber die Klimaanlage ist gestern kaputtgegangen. Ifemelu wusste, dass die Klimaanlage nicht erst seit gestern kaputt war, sondern seit langem, vielleicht schon immer; trotzdem nickte sie und meinte, dass sie vielleicht überlastet gewesen sei. Das Telefon klingelte. Mariama nahm ab und sagte dann: Komm gleich vorbei. Es waren genau die Worte, die Ifemelu veranlasst hatten, mit afrikanischen Fri­ seursalons keine Termine mehr zu vereinbaren. Sie sagten regelmäßig, komm gleich vorbei, und wenn man kam, warteten immer zwei Frauen, die Micro Braids haben wollten, und die Besitzerin sagte trotzdem: Bleib da, meine Schwester ist gleich da, um uns zu helfen. Wieder klingelte das Telefon, und Mariama sprach mit lauter Stimme Französisch und hörte auf zu flechten, um zu gestikulieren, während sie ins Telefon schrie. Dann nahm sie ein gelbes Western-Union-Formular aus der Tasche und begann, Zahlen vorzulesen. Trois! Cinq! Non, non, cinq! Die Frau, deren Haar sie zu dünnen schmerzhaften Cornrows flocht, sagte aufgebracht: Jetzt mach schon! Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit! Tschuldigung, Tschuldigung, sagte Mariama. Dennoch wiederholte sie die Zahlen von Western Union, bevor sie weiterarbeitete, den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt.

Ifemelu schlug ihren Roman auf, Zuckerrohr von Jean Toomer, und überflog ein paar Seiten. Sie wollte das Buch schon seit einiger Zeit lesen in der Annahme, dass es ihr gefallen würde, da Blaine es nicht mochte. Ein preziöses Werk, hatte er es genannt in diesem leise nachsichtigen Tonfall, den er an­schlug, wenn sie über Literatur sprachen, als wäre er überzeugt, dass sie in einer kleinen Weile und mit ein bisschen mehr Einsicht akzeptieren würde, dass die Bücher, die er bevorzugte, die besseren waren, Bücher, geschrieben von jungen und relativ jungen Männern und voll­ gepackt mit Dingen, eine faszinierende, verwirrende Anhäufung von Markennamen, Musik, Comicheften und Symbolen, von rasch abgehandelten Gefühlen, und jeder Satz war sich stilvoll seiner eigenen Eleganz bewusst. Sie hatte viele davon gelesen, weil er sie empfohlen hatte, aber sie waren wie Zuckerwatte, die nur einen flüchtigen Eindruck auf ihrer Zunge hinterließ. Sie schlug das Buch zu, es war zu heiß, um sich zu konzentrieren. Sie aß etwas von der geschmolzenen Schokolade, schickte Dike eine SMS, dass er sie anrufen solle, sobald das Basketballtraining zu Ende wäre, und fächelte sich Kühlung zu. Sie las die Schilder an der Wand gegenüber – KEINE KORREK­ TUREN DER ZÖPFE NACH EINER WOCHE. KEINE SCHECKS. KEINE KOSTENERSTATTUNG –, doch sie achtete sorgfältig darauf, nicht in die Ecken des Raums zu schauen, weil sie wusste, dass das unter die lecken Rohre gestopfte Zeitungspapier zu Klumpen verschimmelt war und überall Schmutz und längst vergammelte Dinge herumlagen. Schließlich war Aisha mit ihrer Kundin fertig und fragte Ifemelu, was für eine Farbe sie für ihre Haarverlängerungen wollte. Farbe vier. Keine gute Farbe, sagte Aisha sofort. Die nehme ich immer. Sieht schmutzig aus. Warum nicht Farbe eins? Farbe eins ist zu schwarz, sie sieht unecht aus, sagte Ifemelu und wickelte das Tuch von ihrem Kopf. Manchmal ­nehme ich Farbe zwei, aber Farbe vier kommt meiner Haarfarbe am nächsten. Aisha zuckte die Achseln, es war ein hochmütiges Schulterzucken, als wäre es nicht ihr Problem, wenn eine K ­ undin keinen guten Geschmack hatte. Sie holte zwei Pakete Haarverlängerungen aus einem Schrank und überprüfte, ob beide die gleiche Farbe hatten. Sie berührte Ifemelus Haar. Warum nicht glätten? Ich mag mein Haar, wie Gott es geschaffen hat. Aber wie kämmen? Schwer zu kämmen, sagte Aisha. Ifemelu hatte ihren eigenen Kamm mitgebracht. Vorsichtig kämmte sie ihr Haar, das dicht, weich und sehr kraus war, bis es ihr Gesicht einrahmte wie ein Heiligenschein. Es ist nicht schwer zu kämmen, wenn man es gut anfeuchtet, sagte sie in dem geduldigen Tonfall der Missionarin, den sie benutzte, wenn sie andere schwarze Frauen von den Vorteilen von natürlich belassenem Haar überzeugen wollte. Aisha schnaubte; sie konnte nicht verstehen, warum sich jemand die Mühe machen sollte, krauses Haar zu kämmen, statt es einfach zu glätten. Sie unter­teilte Ifemelus Haar, nahm eine Strähne von dem Hau­ fen auf dem Tisch und begann, sie geschickt ein­ zuflechten. Das ist zu fest, sagte Ifemelu. Mach es nicht so fest. Weil Aisha einfach weiterflocht, glaubte Ifemelu, dass

sie sie nicht verstanden hatte, berührte den schmerz­ haften Zopf und sagte: Zu fest, zu fest. Aisha schob ihre Hand weg. Nein. Nein. Lass es. Gut so. Es ist zu fest!, sagte Ifemelu. Bitte, mach es lockerer. Mariama sah ihnen zu. Dann ließ sie einen franzö­ sischen Wortschwall vom Stapel. Aisha lockerte den Zopf. Tschuldigung, sagte Mariama. Sie versteht nicht gut. Aber Ifemelu sah Aisha am Gesicht an, dass sie sehr wohl verstand. Aisha war einfach eine gute Marktfrau, immun gegen die kosmetischen Nettigkeiten der amerikanischen Kundenbetreuung. Ifemelu konnte sich vorstellen, wie sie auf einem Markt in Dakar arbeitete, wie die Zöpfeflechterinnen in Lagos, die sich die Nase mit dem Kopftuch putzten und die Hände daran abwischten, den Kopf ihrer Kundin grob zurechtrückten, sich beschwerten, wie voll oder wie hart oder wie kurz ihr Haar war, vorbeigehenden Frauen etwas zuriefen und sich die ganze Zeit zu laut unterhielten und zu fest flochten. Du kennst sie?, fragte Aisha und blickte zum Fernseher. Was? Aisha wiederholte die Frage und deutete auf die Schauspielerin im Fernsehen. Nein, sagte Ifemelu. Aber du bist aus Nigeria. Ja, aber ich kenne sie nicht. Aisha deutete auf den DVD-Stapel auf dem Tisch. Früher zu viel Voodoo. Ganz schlecht. Jetzt ist Nigeria-Film sehr gut. Schönes großes Haus! Ifemelu hielt nichts von Nollywood-Filmen mit ihrem übertriebenen Agieren und ihren unwahrschein­lichen Plots, doch sie nickte zustimmend, denn die Worte »Nigeria« und »gut« in ein und demselben Satz zu hören war Luxus, sogar wenn er von dieser seltsamen senegalesischen Frau stammte, und sie entschied, darin ein gutes Omen für ihre Rückkehr nach Hause zu sehen. Übersetzung Anette Grube

Chimamanda Ngozi Adichie (*1977 in Enugu) ist eine weltweit erfolgreiche und mehrfach preis­ gekrönte nigerianische Schriftstellerin, die in Nigeria und in den USA lebt. Adichies Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt. Die Autorin steht auf der renommierten Liste der „20 besten Schrift­ steller unter 40“ des „New Yorker“. Bekannt wurde Ngozi Adichie im deutschen Sprachraum vor allem mit den Romanen „Blauer Hibiskus“ (Luchterhand, München 2005) und „Die Hälfte der Sonne“ (Luchterhand, München 2007). Ihr neuer Roman „Americanah“, aus dem wir einen Auszug aus dem ersten Kapitel veröffentlichen, erschien zuerst bei Fourth Estate, London 2013, und kommt, übersetzt von Anette Grube, im April 2014 im S. Fischer Verlag auf Deutsch heraus. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung des Vorabdrucks. Chimamanda Ngozi Adichie begibt sich im Mai 2014 auf Lesereise durch Deutschland. Eine Rezension zum Roman mit dem Titel Americanah und andere Definitionen geschmeidiger Staatsbürgerschaften von Yemisi Ogbe lesen Sie in der deutschsprachigen Ausgabe der Chimurenga Chronic, die als Beilage zu diesem Magazin er­ scheint.


34 tionen und experimentelle Präsentatio­ nen für die Fotosammlung entwickeln. Im zweiten Teil der Schau kommen die Künstler/innen dann in Form von Texten und Manifesten zu Wort – die Auswahl er­streckt sich von William Henry Fox Tal­ bot bis hin zu den Bloggern unserer Tage.

künstler Heinrich Kühn. Zusammen erprobten sie 1907 das Autochrom-Ver­ fahren, bei dem Farbfotos mit einer ein­ zigen Aufnahme erstellt werden. Die Ma­ gie dieser frühen Fotografien wird nun durch das Ausstellungs- und Filmprojekt „Das bedrohte Paradies“ erschlossen. Die

Fotograf: Clemens Cichocki (Intercultural Social Project) (AT) Architektin: Betina Hanel (AT) Ausstellung: Schloss Tirol, Meran: 30.4.–21.12.2014; Filmfestival Innsbruck (IFFI): 27.5.–1.6.2014; Filmvorführungen: München (ARRI Kinos u.a.): 18.6.2014 ↗ www.german-films.de

Performing Change

Neue Förder­pro­jekte Die interdisziplinäre Jury hat auf ihrer letzten Sitzung im Herbst 2013 40 neue Förderprojekte ausgewählt. Die Förder­ summe beträgt insgesamt 6,3 Mio. Euro. Ausführlichere Informationen zu den einzelnen Projekten finden Sie auf unse­ rer Website www.kulturstiftung-bund.de oder auf den Websites der Projektträger. Die nächste Jurysitzung findet im Herbst 2014 statt. Nächster Antragsschluss für die Allgemeine Projektförderung ist der 31.7.2014. Die Mitglieder der Jury: Sophie Becker, Dramaturgin Sächsische Staatsoper Dresden / Dr. Andreas Blühm, Direktor Wallraf-Richartz-­ Museum & Fondation Corboud Köln / Karl Bruckmaier, Moderator, Hörspiel­ regisseur und -autor / Johan Holten, Direktor Staatliche Kunsthalle Baden-Baden / Dr. Lydia Jeschke, Redaktionsleitung Wort/Musik SWR 2 / Dr. Stefan Luft, Politikwissenschaftler Universität Bremen / Barbara Mundel, Intendantin Theater Freiburg / Dr. Olaf Nicolai, Bildender Künstler / Elisabeth Ruge, Verlegerin Hanser Berlin

(Mis)Understanding Photography Werke und Manifeste zur Fotografie

Die Ausstellung, die das Folkwang Museum Essen in Kooperation mit dem Schweizer Fotomuseum Winterthur entwi­ ckelt, stellt die oftmals sensible, aber auch radikale und leidenschaftliche Sicht von Künstler/innen auf die Fotografie in den Mittelpunkt. Im ersten Teil der Ausstel­ lung werden Theorie und Geschich­te der künstlerischen Fotografie thematisiert. Die Arbeiten der Künstler handeln von der zu Ende gehenden analogen Form des Mediums sowie den neuen digitalen Formen der Fotografie. Viele Künstler verstehen sich heute als Bildarchäologen und tragen unorthodoxe Sammlungen zusammen – auch diese werden Teil der Schau sein. In insgesamt vierzehn Kapi­ teln wird die Bandbreite der Fotografie als Kunst dargestellt, von den konzeptu­ ellen Ansätzen der 1970er Jahre bis hin zu experimentellen zeitgenössischen Pro­ jekten unserer Tage. Es werden u.a. Ar­ beiten von Ugo Mulas, Wolfgang Tillmans, Gillian Wearing, Tacita Dean und Alfredo Jaar zu sehen sein. Einige Künstler wer­ den eigens für diese Ausstellung Installa­

Wolfgang Tillmans, Adam bleached out, 1991

Ein umfangreiches Vermittlungs- und Bildungsprogramm richtet sich ausdrück­ lich auch an das jüngere Publikum, das mit den digitalen Bildmedien groß gewor­ den ist. Ein Glossar ermöglicht den Be­ suchern, sich im Nachgang über einzelne Arbeiten zu informieren.

Identität und Geschlechterrollen sind zentrale Themen im Werk der in Deutsch­ land lebenden Künstlerin Mathilde ter Heijne. Ihre Arbeiten, die sich mit der medialen Darstellung von weiblichen Ge­ waltopfern beschäftigen, wurden weltweit ausgestellt. Das Museum für Neue Kunst Freiburg plant eine Einzelausstellung zu Mathilde ter Heijne, deren Thema die Konstruktion, Performativität und Ver­ handelbarkeit von Geschlechterrollen sein wird: Wie werden Geschlechterrollen kulturell und geschichtlich geprägt? Welche Diskurse beeinflussen die Ge­ schlechtsidentität und welche Spiel­räume gibt es für diese? Die Ausstellung zeigt neben bestehenden Arbeiten der Künst­ lerin auch neue, für diese Ausstellung ­entwickelte Arbeiten. Ter Heijne wird eine Performance zum Umgang mit Ge­ schlechterrollen erarbeiten, in der Rol­len variiert und erweitert werden können. Die Besucher/innen können Handlungen und Szenarien erproben, die in der Rea­ lität Widerstände hervorrufen oder die sie sich nicht zutrauen würden. Das Be­ obachten, Ausprobieren und die Arbeit mit und am eigenen Körper stehen dabei im Zentrum. Das Museum für Neue Kunst Freiburg kooperiert für die Aus­ stellung mit zahlreichen Institutionen i­ n Freiburg und bietet zur Ausstellung ein umfangreiches und interdisziplinäres Be­ gleitprogramm an: Das Archäologische Museum Freiburg widmet sich in einer eigenen, parallel gezeigten Ausstellung ebenfalls dem Thema Geschlechterrol­ len. Unter dem Titel „Ich Mann, du Frau. Feste R ­ ollen seit Urzeiten?“ erarbeitet das Museum eine Sonderausstellung zu männ­lichen und weiblichen Rollen in der Vorgeschichte und deren Übertragung auf die Gegenwart. Mathilde ter Heijne wird eine neue Arbeit mit Bezug auf die im Archäologischen Museum ausgestellten Exponate entwickeln. In einer weiteren Kooperation mit Tänzerinnen und Tän­ zern werden idealisierte Geschlechter-­ bilder hinterfragt und transformiert. ­Da­zu wird es sowohl Vorstellungen als auch Workshops geben. Weitere Kooperations­ partner sind der Fachbereich Gender ­Studies der U ­ niversität Freiburg und das Institut für Grenzgebiete der Psycholo­ gie und Psychohygiene in Freiburg.

Autochrom-Fotos von Heinrich Kühn, die sein Hauptwerk darstellen, lagerten bisher in Archiven und werden nun erst­ mals als originalgetreue Glasprints aus­ gestellt. Parallel zur Schau informiert e­ in Dokumentarfilm, der in einer Videoin­ stallation gezeigt wird, über Leben und Werk Heinrich Kühns und die frühe Künstlerische Leitung: Florian Ebner, Kunstfotografie. Zu Beginn des 20. Jahr­ Kathrin Schönegg hunderts erlebte die Kultur in Deutsch­ Künstler/innen: Sarah Charlesworth land eine innovative Phase, vielfältige (US), Tacita Dean (GB), Isa Genzken, neue gesellschaftliche und kulturelle Be­ John Hilliard (GB), Alfredo Jaar (CL), wegungen entwickelten sich parallel und Erik Kessels (NL), Santu Mofokeng (ZA), beeinflussten sich gegenseitig. Kühns Bil­ der spiegeln die Aufbruchstimmung die­ Ugo Mulas (IT), Barbara Probst (US), ser Zeit und sind auch Ikonen der Sehn­ Timm Rautert, Clare Strand (GB), sucht des Bürgertums nach Harmonie Wolfgang Tillmans, Jeff Wall (CA), und Natürlichkeit. In dem Dokumentar­ Gillian Wearing (GB) film berichten die ­Enkel Kühns von ihren Kindheitserinnerungen an den Fotogra­ Museum Folkwang, Essen: fen. Weiterhin kommen u.a. Ulrich Pohl­ 14.6.–16.8.2014 ↗ www.museum-folkwang.de mann vom Stadtmuseum München, Peter Weibel vom ZKM Karlsruhe und der Fil­ memacher Alexander Kluge zu Wort, die Kühns Werk kulturhistorisch einordnen. Ausstellung und Videoinstallation ge­ hen nach der ersten Station im Schloss Tirol in Meran/Südtirol auf Tour, der Do­ kumentarfilm soll außerdem auf Festivals Direktorin: Christine Litz Der Fotograf Heinrich Kühn und in Programmkinos in Deutschland Kuratorin: Sophia Trollmann Die Farbfotografie erlebte bereits vor und Österreich gezeigt werden. Künstlerin: Mathilde ter Heijne (NL) dem Ersten Weltkrieg eine erste Blüte­ zeit. Zu den Pionieren der Fotografie Künstlerische Leitung, Regie: Museum für Neue Kunst, Freiburg: in Deutschland gehörte neben Alfred Markus Heltschl 7.11.2014 –22.2.2015 ↗ www.museen.freiburg.de Stieglitz und Edward Steichen der Foto­ Künstler: Heinrich Kühn

Das bedrohte Paradies

Courtesy Galerie Buchholz, Berlin, Köln

Mathilde ter Heijne


35 Tobias Rehberger

Der in Frankfurt am Main lebende Tobias Rehberger gilt als einer der einfluss­ reichsten Künstler seiner Generation. Er hatte Einzelausstellungen in Europa, ­Asien und den USA und erhielt weltweit Auszeichnungen. Als Professor der Frank­ furter Städelschule spielt er im künstleri­ schen Leben der Stadt eine wichtige Rol­ le, dennoch gab es in Frankfurt bisher noch keine umfassende Einzelausstellung. Die Schirn Kunsthalle plant nun in enger ­Zusammenarbeit mit dem Künstler eine Werkschau mit annähernd 100 Arbeiten, Ausgangspunkt ist die Fragestellung ­Rehbergers nach der Funktion von Kunst. Im Jahr 2009 hat Tobias Rehberger die Cafeteria des zentralen Ausstellungs­ pavillons der Biennale in Venedig reno­ viert und schuf damit ein ebenso funktio­ nales wie skulpturales Gesamtkunstwerk, wofür er den Goldenen Löwen erhielt. Ausgehend von dieser Arbeit entwickelt Rehberger eine neue Rauminstallation für die Ausstellung in der Schirn, bei der die Überflutung der Sinne zum Leitmo­ tiv wird. Außerdem wird eine repräsenta­ tive Auswahl an Werken der letzten Jahre vorgestellt, unter anderem diejenigen seiner Werke, die die Grenze zwischen Kunst und Design unterlaufen. Für die Rotunde der Schirn schafft Rehberger eine auf der gläsernen Architektur verlau­ fende Installation, die auch im öffentli­ chen Raum außerhalb des Museums wahrnehmbar sein wird.

Courtesy the artist and Pilar Corrias, London

© Arthur Evans

Auseinandersetzung mit der Funktion von Kunst, deren Gebrauch und der Rolle des Betrachters

Raum. Die Betrachtung der Provinz als Kulturraum ist allerdings noch immer selten, denn die klassischen Kulturpro­ duzenten sind in der Regel in den Städ­ ten angesiedelt. Die Künstlergruppe myvillages.org richtet ihr Interesse in „International Village Show“ auf die kul­ turellen Produktionen im dörflichen Kontext. Für dieses Projekt bringen die drei Künstlerinnen Menschen aus zehn Dörfern weltweit zusammen. In einer über drei Jahre andauernden Tour wer­ den an den verschiedenen Orten neue kollektive Produktionsräume und For­ mate entwickelt. Es entstehen Filme und Objekte mit Gruppen und Gemeinschaf­ ten, Laien und Fachleuten, die die jewei­ ligen ortsspezifischen Themen aufneh­ men. Die Dörfer befinden sich in Hes­sen, Zentralrussland, Friesland, Colorado, Ghana, Nordengland, Andalusien, Si­ chuan, Nordrumänien und in Nordirland. Präsentiert werden die Ergebnisse in städtischen Ausstellungsräumen in Lon­ don, Birmingham, Paris, Chongqing, Se­ villa und Leeuwarden. Der Stand des Projektes wird über den gesamten Projektzeitraum in einem Dorfkiosk zusammengeführt und in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leip­ zig (GfZK) zu sehen sein. Im „Interna­ tional Village Show Book“ werden die Prozesse und Ergebnisse anschließend dokumentiert. Künstlerische Leitung: myvillages.org Künstlerinnen: Kathrin Böhm, Wapke Feenstra (NL), Antje Schiffers Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig: Mai 2014 bis Ende 2016; Architecture Foundation, London: 3.12. bis 20.12.2013; Trade Show/Eastside Projects, Birmingham: 6.12.2013 bis 22.2.2014; Ekumfi-Ekrawfo und Goethe-Institut Accra (GH): Februar 2014; Im Dorf: Village Fair Ballykinlar, Nordirland: Mai 2014; CAAC Sevilla (ES): Juni bis August 2014; Im Dorf: Dorfladen Zvizzchi, Oblast Kaluga (RU): Juli 2014 und Februar 2015; Fries Museum/MELK, Leeuwarden (NL): Sommer/Herbst 2014 ↗ www.myvillages.org

Architektur der sechziger Jahre Untitled (Stay), 2012

Planen und Bauen im geteilten Berlin

Berliner Philharmonie, Neue Natio­ nalgalerie, Märkisches Viertel, Centrum Künstlerische Leitung: Matthias Ulrich Warenhaus – Berliner Bauten, die das Künstler: Tobias Rehberger Stadtbild bis heute prägen. Die Berlini­ Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main: sche Galerie wird sich in ihrer multime­ dialen Ausstellung mit diesen Architek­ 21.2.–11.5.2014 ↗ www.schirn.de turen der 1960er Jahre in Ost- und Westberlin auseinandersetzen. Die Schau untersucht Gemeinsamkeiten und Unter-­ schiede architektonischer Positionen im Vergleich zum übrigen Baugeschehen in BRD und DDR sowie das jeweilige Ver­ ständnis von Moderne. Alle Dörfer an einem Ort Am Beispiel wichtiger Berliner Bauten Es gibt auf unserer Erde mehr Dörfer und Entwürfe u.a. von Ludwig Mies van der als Städte. Die Hälfte der Weltbevölke­ Rohe, Walter Gropius, Josef Kaiser, Her­ rung lebt nach wie vor im ländlichen mann Henselmann und Hans Scharoun

International Village Show

werden Entstehungsgeschichte, Formen­ sprache und architekturhistorische Be­ deutung der Gebäude herausgearbeitet. Den Ideenreichtum jener Jahre veran­ schaulichen Gegenüberstellungen von ausgeführten und nicht realisierten Pro­ jekten. Daneben sollen historische Mate­ rialien wie Fotografien und Modelle sowie aktuelle, diese Bauphase interpretierende Positionen aus Kunst und Fotografie ei­ nen Beitrag zur Debatte um das zum Teil bedrohte Bauerbe leisten.

Leibovitz oder Peter Lindbergh hat es sich zu einem der erfolgreichsten Ausstel­ lungshäuser Berlins mit hoher öffentli­ cher Aufmerksamkeit entwickelt. C/O Berlin musste Anfang 2013 seinen etablierten Ausstellungsort Postfuhramt im Berliner Szene- und Touristenviertel Mitte verlassen und ins Amerikahaus im Berliner Westen umziehen. Die geplante Schau ist eine der ersten großen Fotogra­ fie-Ausstellungen, mit denen das Team von C/O Berlin die umgebauten Räume

Filmstill aus Blow Up

Der Projektkatalog illustriert die Ber­ liner Architekturen der 1960er Jahre und enthält Texte von Architekturhistorikern und Zeitzeugen, die über Aufbruch und Rebellion, über Utopie und Wirklichkeit sprechen. Architekten- und Künstlerge­ spräche, Filmprogramme und ein inter­ nationales Symposium vertiefen die Aus­ stellungsthematik. Kuratorin: Ursula Müller Architekt/innen: Candilis Josic Woods (FR), Werner Düttmann, Fehling + Gogel, Walter Gropius, Hermann ­Henselmann, Georg Heinrichs, ­Josef Kaiser, Ludwig Leo, Ludwig Mies van der Rohe, Ulrich Müther, Hans ­Scharoun, Oswald Maria Ungers, Manfred Zumpe Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Berlin: 21.11.2014 –9.3.2015

des Amerikahauses eröffnen wird. Sie wird anhand von Fotografien, Filmen und Videoinstallationen charakteristische As­ pekte von Antonionis wegweisendem Film „Blow Up“ aufgreifen. Das Themen­ spektrum reicht von der Ästhetik der Werbe- und Modefotografie über Voyeu­ rismus bis zum Verhältnis von beweg­tem Bild zu statischer Fotografie. Die Werke stammen von ganz unterschiedlichen Fotografen wie Eve Arnold und Ron ­Gallella sowie von bildenden Künstlern wie Sophie Calle und Hiroshi Sugimoto. Sie­zeigen einen Querschnitt durch un­ terschiedliche künstlerische Strömungen der 1950er und 1960er Jahre und lassen zugleich die Zeitlosigkeit und Modernität von Antonionis Bildersprache erkennen. Die Ausstellung wird von C/O Berlin, der Albertina Wien und dem Fotomuseum Winterthur gemeinsam entwickelt.

Künstlerische Leitung: Felix Hoffmann ↗ www.berlinischegalerie.de Kuratoren: Walter Moser (AT), Thomas Seelig (CH) Künstler/innen: Michelangelo Antonioni (IT), Eve Arnold (US), David Bailey (GB), Sophie Calle (FR), Brian Duffy (GB), Arthur Evans (GB), Ron Galella (US), John Hilliard (GB), Antonioni und die Frage nach der Philip Jones Griffiths (GB), Christian fotografischen Wirklichkeit Marclay (US), Don McCullin (GB), Das Ausstellungshaus für Fotografie Liddy Scheffknecht (AT), John C/O Berlin wurde im Jahr 2000 mit pri­ Stezaker (GB), Hiroshi Sugimoto (JP) vaten Mitteln gegründet und präsentiert u.a. seither ein lebendiges kulturelles Pro­ gramm von internationalem Rang. Dazu Albertina, Wien: 21.5.–24.8.2014; gehören 89 Fotoausstellungen in 13 Jah­ Fotomuseum, Winterthur: ren, ein vielseitiges Bildungsangebot und 13.9.–30.11.2014; intensive Vermittlungsarbeit vor Ort so­ wie enge Kooperationen mit Institutio­ C/O Berlin Foundation nen und Museen weltweit. Durch Werk­ (Amerika Haus): 13.12.2014 –5.4.2015 schauen von Fotograf/innen wie Annie ↗ www.co-berlin.org

BLOW UP


Soldier, Fotografien 2006–2010, © Suzanne Opton

36 Affekte Integration von aktueller Kunst in den gesellschaftlichen Diskurs

Das Kunstpalais Erlangen hat die Ini­ tiative für eine internationale Gruppen­ ausstellung ergriffen, die es zusammen mit dem niederländischen Gemeente­ museum Helmond und dem belgischen Cultuurcentrum Mechelen realisieren und an allen drei Standorten zeigen will. Das Thema der Ausstellung ist aktuell und bri­sant: Welche Affekte prägen un­ sere politische Öffentlichkeit, in der die rationale Analyse als hoher Wert gilt? Wie steuern sie unsere Mediengesellschaft bzw. wie werden sie von ihr geschürt? Wütende und entrüstete Bürger/innen setzen sich in Ländern des Arabischen Frühlings, in Istanbul, Brasilien oder Spanien gegen gesellschaftliche und po­ litische Miss­stände zur Wehr. Aber auch in Deutschland (Stuttgart 21, Occupy-Be­ wegung) lässt sich beobachten, wie sehr Affekte, zumal wenn sie durch Medien und Internet verstärkt werden, zum Mo­ tor für gesellschaftliche Veränderungs­ prozesse werden. Die Ausstellung, für die das Kunstpalais elf Künstler/innen von Weltniveau gewinnen konnte, interpre­ tiert Affekte als starke, spontane Gefühle mit realen Folgen im politischen Gefüge und fragt, wann und wie sich solche Af­ fekte in der zeitgenössischen Kunst wi­ derspiegeln. Außerdem untersucht sie, inwiefern sich solche Affekte auf den Betrachter übertragen. Ein Begleitpro­ gramm mit Vorträgen, Podiumsdiskus­ sionen und Lesungen rundet die Ausstel­ lung ab. Künstlerische Leitung: Claudia Emmert, Marianne Splint (NL), Koen Leemans (BE) Kurator/innen: Claudia Emmert, Frank Hoenjet (NL), Anne van de Voorde (BE) Künstler/innen: Halil Altındere (TR), Omer Fast (IL), Cyprien Gaillard (FR), Meiro Koizumi (JP), Aernout Mik (NL), Suzanne Opton (US), Santiago Sierra (ES), Mathilde ter Heijne (NL), Ryan Trecartin (US), Bill Viola (US) Kunstpalais, Erlangen: 4.4.–8.6.2014; Gemeentemuseum, Helmond: 15.10.2014 –11.1.2015; Cultuurcentrum, Mechelen: 12.2.–25.5.2015 ↗ www.kunstpalais.de

Ich fühle, also bin ich Affekte in Politik und Kunst

Tobias Asmuth im Gespräch mit Claudia Emmert, der Künstlerischen Leiterin und Kuratorin der Ausstellung. Liebe Frau Emmert, in Ihrer Ausstellung interpretieren Künstler wie Aernout Mik, Santiago Sierra oder Meiro Koizumi Affekte als spontane Gefühle mit Folgen im politischen Gefüge. Welche Affekte spiegeln sich in der zeitgenössischen Kunst wider? Der Begriff der „Affekte“ ist in unserer Gesellschaft unterschiedlich konnotiert. Er steht zunächst ganz allgemein für einen starken emotionalen Impuls, der unmittelbar in eine Handlung mündet. Affekte erzeugen dadurch ein Spannungsverhältnis zwischen Handlung und Legitimation. Sie bilden sich außerdem, so die These der Kulturwissenschaftlerin Sarah Ahmed, in aktiven und reaktiven Prozessen aus, entstehen also zirkulär. Diese Aspekte spiegeln sich in den Exponaten unserer Ausstellung wider. Die Spannbreite reicht von der Einbettung in gesellschaftliche Rituale bis hin zum zerstörerischen Potenzial affektgeladener Massen. Es geht aber auch um das „Affected Seeing“, also um die Affekte, die im Betrachter erzeugt werden. Welche Affekte prägen denn unsere politische Öffentlichkeit, in der doch eigentlich eine rationale Analyse als hohes Gut gilt? René Descartes’ „Cogito ergo sum“ gilt heute als überholt. Kognition wird überwiegend im Verbund mit Emotion betrachtet, was der US-amerikanische Neurologe António Damásio sehr pointiert mit „Ich fühle, also bin ich“ beschrieben hat. Die Philosophin Michaela Ott stellt außerdem fest, dass seit dem 11. September 2001 eine größere Affektzugewandtheit zu beobachten sei, eine „sich selbst speisende Angstproduktion im politischen und wissenschaftlichen Diskurs“. Sie wertet diesen Wunsch nach affektiver Entlastung als Reaktion auf die Leistungsgesellschaft, die den Affekt zu unterdrücken suchte. Unsere Ausstellung setzt sich daher unter anderem mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen Affekte auf den öffentlichen politischen Diskurs haben. Was bedeutet dieses „Thinking through Affect“ für unsere Gesellschaft? Wie steuern Affekte unsere Mediengesellschaft? Schauen Sie sich eine politische Talkshow im Fernsehen an. Finden Sie dort qualifizierte Diskussionen, die an Problemlösungen interessiert sind? Kaum. Stattdessen wird dort vor allem mit einer emotionalen Gemengelage jongliert. Denn in dem Maße, in dem die Affekte die Mediengesellschaft steuern, steuert die Mediengesellschaft auch die Affekte, die immer stärker zur eigentlichen Währung, zum Inhalt der Medien werden. Noch einmal anders gefragt: Welche Affekte produziert unsere Mediengesellschaft? Welche Affekte werden ­beispielsweise durch das Internet erst als solche überhaupt wahrgenommen und spielen plötzlich eine größere Rolle? Das Internet – und dazu muss man heute auch die mobile Nutzung zählen – ist das erste Medium, das eine

direkte Reaktion ohne Medienbruch möglich macht. Davor musste man zum Telefonhörer greifen, wenn man auf eine Fernseh- oder Radiosendung reagieren wollte, oder einen Brief schreiben. Gleichzeitig verbindet das Internet die Menschen direkt miteinander. Menschen, die sich nicht kennen, schließen sich zu Meinungsgesellschaften zusammen. Das Phänomen des Shitstorms ist so entstanden, aber auch die wachsende Zahl der Online-Petitionen. Hier kann man sofort seinem Ärger Luft machen und – wenn richtig eingesetzt – unmittelbar gesellschaftspolitische Macht entfalten, die früher sehr viel langsamer und nur mit viel Aufwand zu erreichen war. In Ländern wie Ägypten, Syrien, der Türkei etc. verabreden sich Menschen über soziale Plattformen, um ihre Wut im öffentlichen Raum zu artikulieren. Hier fungieren soziale Medien als Infrastruktur für den Aufstand eines ganzen Volkes, sie sind so etwas wie die Logistik der Rebellion. Was macht Affekte für einen künstlerischen Diskurs ­interessant? Die Kunstgeschichte ist voll von Affekten. Egal, wo Sie hinschauen – von der Antike bis heute, selbst dann, wenn es um die dezidierte Vermeidung alles Affektiven geht. Doch längst haben die Medien die bildhafte Inszenierung von Affekten übernommen. Und diese Bilder sind mächtig. Sie prägen unser kollektives Gedächtnis. Für uns war daher interessant zu untersuchen, wie Affekte heute in der Kunst reflektiert werden, welche neuen Formen des Erzählens sich in der Kunst finden lassen. Das reicht vom Social Media-Zitat bis hin zur Nähe zu Spiel- oder Dokumentarfilmen. Dies alles wird – und da wird es dann auch spannend – von einer Metaebene durchzogen, mit selbstreferenziellen Überlagerungen und Verfremdungen, in der Vermischung von Realität und Fiktion. Die thematisierten Affekte können dabei sehr unterschiedlich sein: betrachterbezogen, egozentrisch, aktivistisch, politisch motiviert. Wie nimmt der Betrachter solche künstlerisch interpretierten Affekte auf — schon als Kunst oder noch als Aktion und Anliegen? Artur Żmijewski hat – u.a. mit der Konzeption seiner Berlin Biennale – gefordert, dass Kunst endlich politisch aktiv werden und Veränderungsprozesse herbeiführen soll. Das wurde sehr kontrovers besprochen. Zumeist wurde Żmijewski kritisiert, weil er gerade auf die Metaebene keinen Wert gelegt hat. Doch schauen Sie sich Ausstellungen wie „Global Activism“ im ZKM oder „Macht der Machtlosen“ in der Kunsthalle Baden-Baden an. Zwei ganz hervorragende Ausstellungen, die zeigen, dass, übrigens im Sinne von Żmijewski, die Grenzen zwischen Kunst und Aktion gerade neu verhandelt werden. Peter Weibel spricht schon von „Artivism“ und prognostiziert, dass der globale Aktivismus die erste neue Kunstform des 21. Jahrhunderts sei.­ Ich finde diesen Diskurs, an dem wir uns mit unseren ­Ausstellungen beteiligen, sehr wichtig und sehr aufschlussreich.


37 Künstlerische Leitung: Dietmar Rübel Künstler/innen, Kurator/innen, Autor/ innen: Mark Dion (US), Hartwig Fischer, Der ägyptische Künstler Wael Shawky Matthias Flügge, Susanne Greinke,­ schildert in seinem dreiteiligen Video­ Petra Lange-Berndt, Ivo Mohrmann, projekt „Cabaret Crusades”, welche Spu­ Dirk Syndram ren die mittelalterlichen Kreuzzüge des christlichen Abendlandes in der arabi­ Oktogon, Grünes Gewölbe, Albertinum, schen Welt hinterlassen haben. Hand­ Dresden: gefertigte Puppen spielen darin die Er­ 24.10.2014 –25.1.2015; eignisse des 11. und 12. Jahrhunderts Tagung Hochschule für Bildende nach – ein hochbrisantes Thema ange­ Künste, Dresden: 26.11.–28.11.2014; sichts andauernder Konflikte im Nahen Tagung Staatliche Kunstsammlungen / Osten. Shawky betrachtet aus arabischer Schloss, Dresden: 23.1.–24.1.2015 Sicht die Kulturgeschichte einer Region, ↗ www.hfbk-dresden.de deren Zukunft aktuell neu verhandelt wird. Jenseits ideologischer Einengung zielt er auf den Dialog zwischen Europa und Nahem Osten. Die Kunstsammlung Nordrhein-West­ falen präsentiert erstmals in Europa die Lehren & Lernen als Aufführungskünste komplette „Cabaret Crusades“-Trilogie, Im Bestand der Nationalgalerie im deren letzten Teil Shawky derzeit produ­ ziert. Gerahmt von einem breit gefächer­ Hamburger Bahnhof in Berlin befinden ten Begleitprogramm zur aktuellen Situ­ sich zwei Werke von Robert Rauschen­ ation Ägyptens, zeigt die Schau eine berg und Cy Twombly, die beide 1951/52 Auswahl der in den Filmen eingesetzten am Black Mountain College entstanden Marionetten und Requisiten. Mit ihrem sind. Diese Werke bilden den Ausgangs­ Projekt möchte Marion Ackermann den punkt einer Ausstellung über das legen­ westlichen Blick auf Ägypten aus seiner däre Black Mountain College (BMC), das eurozentristischen Perspektive lösen und von 1933 bis 1956 im US-Bundesstaat nach neuen Formen musealer Praxis su­ North Carolina bestand. Das BMC wurde chen, wie man angemessen auf Globali­ 1933 von John Rice als eine lernende Ge­ sierung und Internationalisierung reagie­ meinschaft gegründet. Die revolutionäre ren kann. Idee von Rice bestand in der Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaften Künstlerische Leitung: mit den unterschiedlichen künstleri­ Marion Ackermann schen Disziplinen. Das Black Mountain Kuratorin: Doris Krystof College war der Ort, an dem avantgardis­ Künstler: Wael Shawky (EG) tische Konzepte, die erst in den 1960er Jahren ins Blickfeld der Öffentlichkeit ge­ Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, rieten, erstmals experimentell entwickelt wurden. Als Lehrende und Vortragende K21 Ständehaus, Düsseldorf: wählte Rice radikal denkende Persönlich­ 6.9.2014 – 4.1.2015 ↗ www.kunstsammlung.de keiten, die in ihren Disziplinen über die damaligen Grenzen weit hinausgingen. Erster Direktor des BMC wurde 1933 der gerade aus Nazi-Deutschland emigrierte Bauhauskünstler Josef Albers. Die Frage nach dem Einfluss des Bauhauses auf das BMC wird einen Schwerpunkt der Aus­ stellung bilden. Außerdem sollen drei in Von Kunst-Objekten & Wissens-Dingen den 1960er und 1970er Jahren in Europa Anlässlich ihres 250-jährigen Beste­ entstandene Künstlerinitiativen präsen­ hens rückt die Dresdner Hochschule für tiert werden, die in ihrer experimentellen Bildende Künste (Hf BK) mit ihrem Aus­ und disziplinenübergreifenden Ausrich­ stellungsprojekt „Ordnungen in Bewe­ tung mit dem Black Mountain College gung“ die fast in Vergessenheit geratenen vergleichbar sind: die Eks-Skolen in Ko­ Objekte der hochschuleigenen, vor al­ penhagen, die Free International Univer­ lem anatomischen Sammlungen in ein sity von Joseph Beuys sowie das von John neues Licht. Tradierte museale Ordnun­ Cage und anderen entwickelte Konzept gen sollen kritisch hinterfragt und Kon­ „Lehren und Lernen als Aufführungsküns­ zepte für alternative Präsentationsfor­ te“. Die Ausstellung strebt keine histori­ men entwickelt werden, die jenseits einer sche Rückschau, sondern eine diskursive bloßen Rekonstruktion der ursprüngli­ Wiederbelebung an und will unmittelbar chen barocken Ordnung angesiedelt sind. auf aktuelle Debatten um Fragen der Bil­ Der international renommierte US-­ dung und Ausbildung Bezug nehmen. amerikanische Künstler Mark Dion ist eingeladen, die Depots der Sammlungen Künstlerische Leitung: Eugen Blume, zu durchforschen und ihre Objekte an Gabriele Knapstein neuen Orten in Dresden zu inszenieren. Künstler/innen: Anni Albers (US), Josef Gemeinsam mit Dietmar Rübel, Profes­ Albers, Joseph Beuys, John Cage (US), sor für Kunstgeschichte an der Hf BK, Harry Callahan (US), Robert Filliou (FR), richtet er eine exemplarische Laborsitu­ Richard Buckminster Fuller (US), Charles ation mit zwei internationalen Symposi­ Olson (US), Robert Rauschenberg (US), en ein. Ausgehend von den Artefakten Cy Twombly (US) u.a. soll sich ein Dialog zwischen Künstlern und Zoologen, Restauratoren und Medi­ Nationalgalerie im Hamburger zinern, Wissenschaftlern und Kuratoren Bahnhof – Museum für Gegenwart, sowie Kunst- und Wissenschaftshistori­ Berlin: 29.05.–27.9.2015 ↗ www.smb.museum kern entwickeln.

Wael Shawky

Black Mountain

Int. Zentrum für Glasmalerei, Chartres. Quelle: Bildarchiv der Vereinigten Domstifter

Ordnungen in Bewegung

Zeichen gegen den Krieg Lehmbrucks „Gestürzter“ im Kontext der zeitgenössischen Kunst

Anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren fragt das Duisburger Lehmbruck Museum nach dem Bild, das zeitgenössische Künstler/ innen von Menschen entwerfen, die welt­ weit militärischen Bedrohungen ausge­ setzt sind. Ausgangspunkt für die Ausstel­ lung ist Wilhelm Lehmbrucks Skulptur „Gestürzter“ – ein Schlüsselwerk jener Zeit um 1914, das in Reaktion auf den Krieg entstand und ein radikales Gegen­ bild zum heldenhaften Soldaten entwirft. Entlang der Arbeiten von etwa 15 in­ ternationalen Künstler/innen – unter ih­ nen Marina Abramović, Harun Farocki und Danica Dakić – zeigt die Schau, wie sich die zeitgenössische Kunst in Skulp­ tur und Wandarbeit, Fotografie und In­ stallation, in Film und Video mit dem Thema Krieg auseinandersetzt: Wie äu­ ßert sich das Gefühl nationaler und kul­ tureller Zugehörigkeit im Werk von Künstler/innen, die in ihren Heimatlän­ dern Krieg erlebt haben? Wie reflektieren sie kriegerische Konflikte, die sie aus der geografischen Distanz bei gleichzeitiger medialer Nähe verfolgen? Und was hat dies für Auswirkungen auf das Individu­ um und unsere Vorstellung von Individu­ alität? In Kooperation mit dem Filmfo­ rum Duisburg entsteht ein begleitendes Filmprogramm. Künstlerische Leitung: Marion Bornscheuer Künstler/innen: Mona Hatoum (LB), Harun Farocki (CZ), Gregor Schneider, Danica Dakić (BA), Marina Abramović (CS), Rabih Mroué (LB), Tony Oursler (US), Rachel Whiteread (GB), Danh Vô (VN), Duane Hanson (US), Iván Navarro (CL), Bruce Nauman (US), Gil Shachar (IL), Lynn Hershman Leeson (US) Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg: 11.9.–7.12.2014 ↗ www.lehmbruckmuseum.de

Re-Discoveries Ausstellung und Lecture-Reihe Summer Academy 2015

Räume für den künstlerischen Austau­sch und die Produktion neuer Kontexte. „Re-Discoveries“ folgt damit der Leitidee des Autocenters, nicht-hierarchische und dialogische Plattformen für internationa­ le Künstler/innen verschiedener Genera­ tionen bereitzustellen. Die Einbindung der Gastkurator/innen Inke Arns, Martin Germann, Ulrich Loock, Francesca Gavin und Janneke de Vries macht zudem die Pluralität künstlerischer und kuratori­ scher Ansätze deutlich. Neben den Ausstellungen ist eine Lecture-Reihe mit Künstler/innen und Kurator/innen des Projekts im Rahmen der Autocenter Summer Academy 2015 geplant. Eine Website und eine Publika­ tion sollen die Künstler/innen und deren Werke einer möglichst breiten Öffent­ lichkeit nahebringen. Künstlerische Leitung: Maik Schierloh, Joep van Liefland Kurator/innen: Inke Arns, Martin Germann, Ulrich Loock, Francesca Gavin, Janneke de Vries Künstler/innen: David Hammons (US), Ivan Kožarić (HR), Sture Johannesson (SE), Peter Rose (US), Marianne Wex, Karla Black (GB), Jeremy Shaw (CA) u.a. Autocenter – Space for Contemporary Art, Berlin: 15.6.–15.7.2015 ↗ www.autocenterart.de

Glanzlichter Meisterwerke der zeitgenössischen Glaskunst im Naumburger Dom

Seitdem sich international bedeuten­ de Gegenwartskünstler wie Gerhard Rich­ ter, Sigmar Polke, Markus Lüpertz oder Neo Rauch der Gestaltung von Kirchen­ fenstern zugewandt haben, wächst das Interesse an zeitgenössischer Glasmalerei. Die Naumburger Ausstellung „Glanzlich­ ter“ vermittelt erstmals in Deutschland einen Gesamtüberblick über die Entwick­ lung der Glaskunst im sakralen Raum der letzten drei Jahrzehnte. Sie ist das Produkt einer engen deutsch-französi­ schen Kooperation und möchte die große Bandbreite und hohe Qualität zeitgenös­ sischer Glasmalerei im Sakralraum veran­ schaulichen und die wichtigsten Entwick­ lungslinien sowie aktuelle Tendenzen aufzeigen.

In dem Ausstellungsprojekt des Auto­ center – Space for Contemporary Art treffen Werke von Künstlern einer älteren Generation auf Arbeiten junger Künstler. Die in Deutschland bisher wenig bekann­ ten Positionen von David Hammons, Ivan Kožarić, Sture Johannesson, Peter Rose und Marianne Wex (geboren zwischen 1921 und 1948) sollen im Sinne einer Wie­ derentdeckung präsentiert werden und darüber hinaus in einen Dialog mit Wer­ ken junger Künstler/innen wie der Bild­ hauerin Karla Black oder des Medien­ künstlers Jeremy Shaw treten. Welche ästhetischen, thematischen und theore­ tischen Kontinuitäten und Brüche exis­ tieren? Warum sind die älteren Positionen für die heutige Generation aktuell? Die Detail aus einem Fenster von David Schnell. insgesamt fünf Ausstellungen schaffen „Zeitgenössische Glasmalerei in Deutschland“


38

Künstlerische Leitung: Holger Brülls Kuratoren: Holger Kunde, Jean-François Lagier (FR) Künstler/innen: Thierry Boissel (FR), Kim En Joong (KP/FR), Xenia Hausner (AT), Wilhelm Buschulte, Günter Grohs, Karl-Martin Hartmann, Thomas Kuzio, Markus Lüpertz, Gerhard Richter, ­David Schnell u.a. Ausstellung: Dom, Marienkirche, Klausur, Naumburg: 1.6.–2.11.2014; Vortragsreihe: Ägidienkurie, Naumburg: 1.6.–2.11.2014; Symposium: Ägidienkurie, Naumburg: 25.–27.9.2014 ↗ www.vereinigtedomstifter.de

Scham Die heimliche Macht

Scham, Verschämtheit, Beschämung, Unverschämtheit oder auch das Fremd­ schämen sind uns geläufige Begriffe. Das Hygiene-Museum Dresden, das für dieses Projekt mit dem Schweizer Vögele Kultur Zentrum kooperiert, setzt sich mit dem Phänomen der Scham auseinander. Dabei wird die Scham nicht als Relikt längst vergangener Zeiten aufgefasst, das inzwi­ schen ab- oder aufgelöst ist. Im Gegen­ teil. Die Schau postuliert, dass die Scham bis heute eine wirkmächtige Konstante im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur mit wichtigen Funktionen für das menschliche Zusammenleben darstellt. Sie ist im „Prozess der Zivilisation“ nicht verschwunden, sondern hat sich vielmehr in ein komplexes Regelwerk mit zahlrei­ chen Kodifizierungen und kulturellen Ausprägungen gewandelt. Die Scham beeinflusst als „heimliche Macht“ viele scheinbar rationale Entscheidungen und gesellschaftliche Prozesse – nicht zuletzt den Umgang mit anderen Kulturen und Traditionen in einer globalisierten Welt. Scham als soziales und moralisches Ge­ fühl ruft Werte wie Achtung, Respekt, Mitgefühl und soziale Verantwortung ­hervor. Sie fungiert zudem als Schlüssel individueller und kollektiver Identität, ­jedoch immer auch als Strukturelement der Macht- und Statusverteilung in mo­ dernen Gesellschaften. Die große Bandbreite der Exponate in Form, Datierung, Kulturgattung und Themenfeld ermöglicht einen umfassen­ den Blick auf den gesellschaftlichen Um­ gang mit Scham. Die so präsentierten „Ikonen der Scham“ stellen Ur- und Ide­ albilder dieses Gefühls infrage. Kult­­urund wissenschaftshistorische Objekte, internationale Arbeiten als auch zeitge­ nössische mediale Produktionen be­ leuchten den stetigen Wandel im Umgang mit dem Gegenstand. In diesem Kontext zeigt sich, wie stark die Bilder und das

Gefühl der Scham direkt oder indirekt handlungsleitend sein können, und es stellt sich heraus, wie scheinbar unver­ ständliche Verhaltensmuster auf kultu­ relle Unterschiede in der Wahrnehmung von Scham zurückgehen. Sich selbst als „sozialen Raum der Kommunikation“ verstehend, setzt ­­das Hygiene-Museum betont auf vielfältige Angebote der kulturellen Bildung. D­ie Ausstellung wird darüber hinaus von ei­ ner Vielzahl an Veranstaltungen – etwa Vortragsreihen, literarischen Lesungen, einer internationalen Tagung – inhalt­ lich begleitet. Künstlerische Leitung: ­­ Daniel Tyradellis Künstler/innen: Adel Abdessemed (DZ), Katarzyna Kozyra (PL), Erik ­van Lieshout (NL), Jonathan Meese, Santiago Sierra (ES), Taryn Simon (US), Gillian Wearing (GB), Charlie White (US) Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Dresden: 8.4.–28.10.2016; Vögele Kultur Zentrum, Pfäffikon SZ: 1.–30.11.2016

Künstlerische Leitung: Lars Denicke, Peter Thaler Künstler/innen: Nina Braun, Yeka Haski (RU), Hyein Lee (HK/CA), Akinori Oishi (JP), Julia Pott (GB/US), Ryan Quincy (US), Sauerkids (NL), Ori Tor (IS), Amandine Urruty (FR), Dante Zaballa (AR) u.a. Ausstellung: St. Elisabeth Kirche, Berlin: 1.–18.5.2014; Tonbildschau/Performance ab Oktober 2014: ZKM Karlsruhe; Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Hartware MedienKunstVerein, Dortmund; La Gaîté lyrique, Paris; La Casa Encendida, Madrid; Parsons The New School for Design, New York; Arnolfini, Bristol ↗ www.pictoplasma.com

TELE-Gen Die Sprache des Fernsehens im Spiegel der Kunst 1964–2015

Das Fernsehen gehört zweifellos­ ↗ www.dhmd.de zu den wichtigsten Erfindungen des ver­gangenen Jahrhunderts. Sein früher Sie­geszug durch die europäischen und nordamerikanischen Wohnzimmer ist unbestritten. Das Fernsehen hat welt­weit eine ganz eigene Bildästhetik und neue Kommunikationsstrukturen geprägt. Ur­ sprünglich mit einem einzigen Programm als „Kanal zur Welt“ entwickelt, ist das Zur Genealogie virtueller Welten TV inzwischen zu einem interaktiven und und ihrer Bewohner ­viralen Medium geworden, bei dem der Etwa ab der Jahrtausendwende ver­ Zuschauer immer mehr von seiner ur­ breiteten sich im Internet Figuren, die sprünglichen Rolle als passiv Zusehender grafisch auf wenige wesentliche Merkma­ in die Position des aktiven Mitgestalters le reduziert waren. Durch diese semanti­ wechselt. sche Vereinfachung vermögen sie – als Wegweiser, Pfadfinder etc. – bis heute, verhältnismäßig spontan die Empathie der Nutzer zu wecken und ihnen dabei zu helfen, sich in den virtuellen Welten zu orientieren und mit deren Inhalten zu kommunizieren. Zur Archivierung und Analyse dieses ästhetischen Phänomens wurde seiner­ zeit das Projekt Pictoplasma gegründet, das mit einem Online-Archiv, Publikati­ onen, Konferenzen und Ausstellungen international bekannt geworden ist. Sein aktuelles Vorhaben „Not Your Avatar“ lenkt den Blick auf die imaginierten Be­ wohner virtueller Welten. Aus seinem ­umfassenden Archiv von 20.000 Figuren konstruiert Pictoplasma genealogische Stammbäume; hundert internationale ­Illustratoren erstellen Portraits ihrer bekanntesten Figur für eine Ahnengale­ rie. Auf diese Weise werden die einzelnen Figuren von ihren jeweiligen Produzen­ Caroline Hake, MONITOR VI, 1998-2003 ten, Inhalten und Kontexten entkoppelt Die Ausstellung im Kunstmuseum und darauf hin befragt, was sie uns – nun­ mehr als eigenständige Charaktere – über Bonn fragt, wie das Fernsehen die Kunst sich und die digitale Welt erzählen kön­ beeinflusst. Sie wird die künstlerischen nen, der sie entstammen. Strategien der Aneignung und Bearbei­ Die Ausstellung begreift sich als Bei­ tung des Themas Fernsehen, die spezifi­ trag zum aktuellen Diskurs über digitale sche Sprache und Bildlichkeit des Fern­ Kultur und Postdigitalität. In ihrem sehens in Video, Film, Malerei, Skulptur, ­Rahmen entstehen eine viersprachige Performance sowie Bezüge zu Literatur ­interdisziplinäre Publikation wie auch und Musik zeigen. eine Tonbildschau, die durch Frankreich, Es werden Werke von einschlägigen, ­Spanien, England und die Vereinigten in diesem Feld arbeitenden Künstlern wie Nam June Paik oder Wolf Vostell gezeigt, Staaten tourt.

Pictoplasma – Not Your Avatar

da­rüber hinaus sind Arbeiten von Künst­ lern der jüngeren Generation wie Pierre Huyghe, Tobias Rehberger, Thomas ­Demand oder Rosa Menkman zu sehen, die zum Teil eigens für diese Schau ent­ wickelt werden. Die Ausstellung erfährt durch eine internationale Tagung eine wesentliche Ergänzung. Hier werden Zusammenhän­ ge thematisiert, die das kulturelle, poli­ tische und ökonomische Spannungsver­ hältnis von Kunst und TV überdenken. Eine Buchpublikation wird die Inhalte von Ausstellung und Tagung dokumen­ tieren und damit langfristig zugänglich machen. Künstlerische Leitung: Dieter Daniels, Stephan Berg Kuratorische Mitarbeit und Projektkoordination: Sarah Waldschmitt Künstler/innen: Nam June Paik (KP), Wolf Vostell, Andy Warhol (US), Tom Wesselman (US), Paul Thek (US), Lawrence Weiner (US), Karl Otto Götz, Fabio Mauri (IT), Günther Uecker, César (FR), Edward Kienholz (US), Isidore Isou (RO), Karl Gerstner (CH), Denis Hopper (US), Lee Friedlander (US), Bruce Conner (US), Edgar Reitz, Allan Kaprow (US), Gerhard Richter, Konrad Lueg, John Cage (US), Uwe Johnson, Shaina Anand (IN), Yvon Chabrowski, Mel Chin & The GALA Committee (US), Thomas Demand, Simon Denny (NZ), Tom Fabritius, Harun Farocki (CZ), Caroline Hake, Christian Jankowski, Bernd Krauß, Mark Leckey (GB), Matthieu Laurette (FR), Marc Weis, Martin De Mattia, Bjørn Melhus, Rosa Menk­ man (NL), Hein-Godehart Petschulat, Christoph Schlingensief,

© Caroline Hake

Neben einigen Glasobjekten werden insbesondere originale Entwurfszeich­ nungen und damit in Zusammenhang stehende Modelle von über 30 internati­ onalen Künstler/innen gezeigt. Ein Sym­ posium und eine Vortragsreihe namhafter Experten rahmen die Ausstellung, die mittels einer Begleitpublikation und einer Internet-Präsentation für eine breite ­Öf­f entlichkeit dokumentiert wird.

Sean Snyder (US), Gillian Wearing (GB), Angel Vergara (ES), Joseph Zehrer, Omer Fast (IL), Christian Boltanski (FR), Pierre Huyghe (FR), Raimundas Malašauskas (LV), Ursula Rogg, Dorit Margreiter (AT), Tobias Rehberger, Philippe Parreno (DZ/FR) Kunstmuseum Bonn: 1.10.2015–10.1.2016 ↗ www.kunstmuseum-bonn.de


39

Franz Kafka. Die großen Erzählungen (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2004)

Unter der Erde Von Kafka bis Kippenberger

Was unter der Erde ist, ist geheim­ nisvoll, unheimlich und ambivalent: Mal a­ ssoziieren wir damit Bedrohliches, mal Geborgenheit und Schutz. Mit den Mitteln der Kunst − Literatur, Malerei, ­Fotografie, Video und Installation – stellt die Ausstellung facettenreich das Leben unter der Erde dar. Sinnfälligerweise ­erhält sie ihren Ort im Keller des K21 Ständehaus in Düsseldorf. Ganz konkret geht es um Höhlen, Tunnel, Grotten, ­Erdlöcher, Bunker, Gänge, Bergwerksund U-Bahnschächte wie auch deren­ Ein-, Aus- und Übergänge als Motive in­ ternationalen künstlerischen Schaffens (Jeff Wall, Bruce Nauman, Fischli/Weiss, Gregor Schneider u.a.).  Der literaturhistorische Ausgangs­ punkt der Ausstellung ist Franz Kafkas Erzählfragment „Der Bau“ (1923/1924): Aus der Perspektive eines Tieres be­ schreibt Kafka, wie ein unterirdisches Gängesystem, ein Hochsicherheitstrakt,

entste­ht – mit allen Ambivalenzen eines Rückzugsortes, der selbst bedrohlich wird. Einige künstlerische Arbeiten der Ausstellung beziehen sich direkt auf Kaf­ kas Erzählung, die aus diesem Anlass den Besucher/innen in einer Sonderauflage des Fischer Verlages mit Illustrationen der US-­amerikanischen Künstlerin Roni Horn zur Verfügung gestellt wird. Über diese konkrete Ebene hinaus ­figuriert das Unterirdische auch als Me­ tapher für das Unbewusste, Triebhafte und Sinnliche, das wiederum im Ausdruck des Unheimlichen und Beklemmenden kulminiert. Werke von Max Ernst, Martin Kippenberger oder Mike Kelley beleuch­ ten vor allem diese Aspekte. Die unter­ schiedlichen Auffassungen der Künstler/ innen stellen den Untergrund sowohl als konkreten wie auch als imaginären Ort dar und untersuchen die mit ihm verbun­ denen Utopien und Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts. Zwei jüngere Künstler, der in der Schweiz geborene und in Island lebende Christoph Büchel sowie der Belgier Kris Martin, entwickeln eigens für diese Aus­

stellung neue Werke, die die unmittelbare Umgebung von K21, den Ständehaus-­ park und das historische Düsseldorf ein­ be­ziehen. Ein Stadtplan, auf dem das „unterirdische“ Düsseldorf als begeh­barer Untergrund dargestellt wird, gehört­ neben Filmen und Lesungen zu den viel-­­ fältigen Begleitprojekten der Ausstellung. Künstlerische Leitung: Marion Ackermann Kuratorinnen: Florence Thurmes (LU), Kathrin Beßen Künstler/innen: Christoph Büchel (CH), Thomas Demand, Max Ernst, Peter Fischli & David Weiss (CH), Roni Horn (US), Mike Kelley (US), Martin Kippenberger, Kris Martin (BE), Henry Moore (GB), Matt Mullican (US), Bruce Nauman (US), Gregor Schneider, Thomas Schütte, Jeff Wall (CA) Stiftung Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21 Ständehaus, Düsseldorf: 4.4.2014 –10.8.2014 ↗ www.kunstsammlung.de


40 Internationale Summer-School und Festival für zukünftige Formen des Zusammenlebens

Geopolitische, sozialökonomische und ökologische Transformationsprozes­ se stellen uns vor die Frage: Wie wollen wir in Zukunft unser Zusammenleben – lokal wie global – gestalten und verbes­ sern? Das „Osthang Projekt“ wird als temporäre Künstlerkolonie und Denkla­ bor für Themen des Zusammenlebens den brachliegenden Osthang der Darm­ städter Mathildenhöhe aktivieren. Sechs Wochen lang treffen hier internationale Architektenkollektive, Künstler, Theore­ tiker und Aktivisten auf die regionale Kul­ tur- und Kreativszene. Die Mathildenhö­ he, zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Künstlerkolonie gegründet, verwandelt sich in einen Campus, auf dem experi­ mentelle Installationen, offene Ateliers und Veranstaltungsräume entstehen. Das „Osthang Projekt“ führt verschie­ dene Positionen zusammen, die sich mit Modellen des Zusammenlebens beschäf­ tigen. Eingeladen sind künstlerische und aktivistische Kollektive wie z.B. Köbber­ ling/Kaltwasser (Berlin), atelier le balto (Paris) und Atelier Bow-Wow (Tokio) so­ wie Philosophen und Theoretiker wie Walter D. Mignolo und Christophe ­Meierhans, die die Veränderbarkeit unse­ rer neoliberal und bio-politisch geprägten Gesellschaft untersuchen. Das Modul „building.together“, kura­ tiert von Jan Liesegang (raumlabor berlin), gibt sozialen, architektonischen und pla­ nerischen Experimenten einen Raum. Das zweite Modul, „thinking.together“, kuratiert von dem österreichischen Dra­ maturgen und Kurator Berno Odo Polzer, ist als öffentliches Diskursformat ange­ legt. Performances, Tanz, Musik und Filmprogramme begleiten das Camp. Künstlerische Leitung: Kerstin Schulz Kuratoren: Jan Liesegang, Berno Odo Polzer (AT) Künstler/innen, Architekt/innen: atelier le balto, Atelier Bow-Wow (JP), Collectif Etc (FR), constructLab (FR, GB), Fantastic Norway (NO), Köbberling/Kaltwasser, M7red (AR), Christophe Meierhans (BE), Ruth Sacks (ZA), TkH (Walking Theory) (SR) u.a. Osthang der Mathildenhöhe, Darmstadt: 7.7.–15.8.2014 ↗ www.darmstaedter-architektursommer.de

KlangZeit 2014 Krieg und Frieden

War in Zeiten konventioneller Kriegs­ führung Marschmusik ein Mittel zur Syn­ chronisation und zum Vorwärtstreiben der Truppen, so ertönt heute Heavy Me­ tal aus MP3-Playern – der Soundtrack aktueller Kriege, der die Soldaten auf­ putscht und in eine kämpferische Stim­ mung versetzt. Das KlangZeit Festival 2014 nähert sich dem Thema Krieg und Frieden an und untersucht anhand von Auftragswerken und bekannten zeitge­

Theater, Musikhochschule, Kirchen, Neue Musik Festival, Münster: 18.1.–2.2.2014 ↗ www.klangzeit-muenster.de

und lokale Akteure Haushaltspraktiken demonstrieren und debattieren. Ein um­ fassender Sammelkatalog dokumentiert die verschiedenen Formate und Ergeb­ nisse der Messe.

Künstlerische Leitung: Elke Krasny (AT), Regina Bittner, Philipp Oswalt Künstler/innen, Architekt/innen: ­Ursula Achternkamp, Andrés Jaque Haushalten in den Meisterhäusern: Architects (ES), Basurama (ES), Casco wie leben wir morgen gesund und Projects (NL), Center for Urban wirtschaftlich? Pedagogy CUP (US), Ton Matton (NL), Die Meisterhäuser der Bauhauskünst­ Francesca Miazza, CITIES (NL), M7red ler sind nicht nur bauliche Meilensteine (AR), Recetas Urbanas (ES), Andreas der Moderne – sie galten bereits in den Siekmann, Otto von Busch (SE) 1920er Jahren als Schaufenster modernen Wohnens und Haushaltens. Im Zusam­ Meisterhaus-Ensemble, menhang mit der Eröffnung des komplet­ ­Dessau-Roßlau: Juni – Aug. 2015 tierten Meisterhausensembles veran­ ↗ www.bauhaus-dessau.de staltet die Stiftung Bauhaus Dessau eine Messe zum Haushalten im 21. Jahr­ hundert.

Haushaltsmesse 2015

Fette Beute. Reichtum zeigen

Gruppenausstellung. Internationale Positionen zeitgenössischer und historischer Fotografie und neuer Medien

Inneneinrichtung Meisterhaus

tions- und Rebellionsbewegungen zu ei­ nem Kulminationspunkt gesellschaftli­ cher Umbrüche geworden ist. Neben zeitgenössischer Musik wird auch traditi­ onelle Musik u.a. aus der Türkei, dem­ Irak und Palästina sowie europäische Musik aus der Zeit des Westfälischen Frie­ dens zu hören sein. In einem Improvisati­ onsworkshop während des Festivals begeg­ nen sich zehn Musiker/innen aus Israel, dem Libanon, der Türkei und Deutschland. Ihre Arbeitsergebnisse werden sie in einem Abschlusskonzert präsentieren.

Eine heutige Kultur des Haushaltens kommt angesichts schwindender Res­ sourcen nicht umhin, die Interdependen­ zen zwischen Mensch und Natur verstärkt in Augenschein zu nehmen. Die „Haushaltsmesse 2015“ wird auf dem Areal der Meisterhäuser internatio­ nale künstlerische Positionen von u.a. Ur­ sula Achternkamp, dem Center for Urban Pedagogy (USA) und Recetas Urbanas (Spanien) präsentieren. Sie ist eine Schau von Modellen des haushalterischen ­H an ­­d elns: des Produzierens, Teilens, Spei­cherns, Pflegens und Budgetierens. Kuratoren: Reinbert Evers, Die Beiträge gehen dabei aus einem Stephan Froleyks, Erhard Hirt mehrstufigen Arbeitsprozess hervor. Ne­ Komponisten: Cecilia Kim (KP), Hassan ben einem internationalen Wettbewerb Khan (EG), Chatschatur Kanajan (AM), sind Residencies und Kooperationen mit Kunstakademien und Hochschulen geplant. Yannis Kyriakides (CY), Manos Charalabopoulos (GR), Bassem Alkhouri Die Ateliers der Meisterhäuser ­dienen als Produktionsorte, die übrigen Zimmer als (SY), Taner Akyol (TR), Josef Bardanashvili (GE/IL), Jörg Birkenkötter, Messestände. Zu Beginn der Messe findet der Kongress „Kulturen des Haushaltens“ Michael Jarrell (CH) und zum Abschluss der internationale Ensembles: Hezarfen Ensemble (TR), Haushaltsgipfel „The Earth – How can 9­ Ensemble Ayangil (TR), Ensemble Billion people run ONE Household?“ mit Sidare (IQ ), Kamilya Jubran (PS), Expert/innen aus Kunst, Wissenschaft Sinfonieorchester Münster, und Praxis statt. Bei einem Messestamm­ Improvisier-Ensemble (Musiker aus tisch werden internationale Fachleute Israel, Libanon, Türkei & NRW)

Während sich die Schere zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft immer weiter öffnet, wird in jüngerer Zeit Reichtum immer exzessiver vorge­ führt. Mit den neuen medialen Verbrei­ tungsmöglichkeiten kann jeder zum Re­ porter seiner eigenen Lebensumstände werden; Printmedien, Internet und Fern­ sehen präsentieren uns die Insignien einer n ­ euen ultrareichen Gesellschafts­ schicht. ­Wie werden die Protagonisten inszeniert? Geht es um die Darstellung von Reichtum oder um die von Status? Welche ­Rolle nimmt dabei der Fotograf oder ­Regisseur ein und was ist die Rolle des ­Rezipienten? Die Hamburger Gruppenausstellung widmet sich erstmals umfassend der Dar­ stellung von Reichtum mit internationa­ len Künstler/innen wie Tina Barney, ­Lisette Model oder Martin Parr. Sie zeigt Positionen zeitgenössischer Reportage­ fotografie und des Dokumentarfilms, im Kunstkontext entstandene Fotografien und Videoarbeiten ebenso wie Amateur­ aufnahmen aus Fotosharing-Portalen und den Zusammenschnitt von Reality TV-­ Formaten. Ergebnisse einer projektbe­ gleitenden Kooperation mit der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg fließen in Katalog und Ausstellung ein, die mit einer bildkritischen Perspektive darauf abzielt, den Besuchern eine Anleitung zum Lesen der täglichen Bilderflut aus Presse, Internet und Kunst zu geben. Künstlerische Leitung: Esther Ruelfs Künstler/innen: Tina Barney (US), Lauren Greenfield (US), Jacques-Henri Lartigue (FR), Lisette Model (US), Martin Parr (GB), Julika Rudelius (NL), Otto Snoek (NL), Amateurfotografen der Posting Site „Richkidsoninstagram” u.a. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg: 10.10.2014 –11.1.2015 ↗ www.mkg-hamburg.de

Foto: Lucia Moholy-Nagy, VG Bild-Kunst Bonn

Osthang Projekt

nössischen Stücken, aber auch im Rück­ blick auf Musik vergangener Epochen die Bedeutung von Musik als Spiegel von Krieg und Frieden. Das Programmfeld „Music of Displa­ cement“ fragt beispielsweise nach den Folgen des Krieges wie z.B. Vertreibung und Elend. Künstler wie Hassan Khan (Ägypten), Bassem Alkhouri (Syrien) und Chatschatur Kanajan (Armenien) setzen sich in Auftragskompositionen mit die-­ ser Frage auseinander. Im Programmteil „Friedensmusik“ werden herausragende Werke des 20. und 21. Jahrhunderts u.a. von Steve Reich („Different Trains“), Igor Stravinsky („Geschichte vom Soldaten“) und Luca Lombardi („Warum“) aufgeführt. Außerdem erklingt zum Thema Frieden ein sinfonisches Auftragswerk des­Schwei­ zer Komponisten Michael Jarrell. Im Fokus des Festivals steht der öst­ liche Mittelmeer-Raum von Kairo bis Istanbul, der durch die aktuellen Revolu­


41 wahl an Kompositionen aus Dolphys Ge­ samtwerk sowie einige Uraufführungen aus bisher unveröffentlichtem Material. Erinnerungen an den Tod des Neben den beiden großen öffentlichen musikalischen Schwergewichts Konzerten wird es eine Gesprächsrunde Eric Dolphy sowie eine öffentliche Probe geben, die besonders Berliner Musikern und Stu­ Der US-amerikanische Musiker Eric denten die Gelegenheit bietet, die Ar­ Dolphy zählt zu den Legenden des Jazz. beitsweise der Künstler kennenzulernen. Als Multiinstrumentalist beherrschte er Ergänzend zum Festival findet eine Ver­ nahezu alle Holzblasinstrumente und anstaltung der Bundeszentrale für poli­ spielte Alt-Saxophon, Flöte und Basskla­ tische Bildung statt, die sich mit der rinette mit höchster Virtuosität. Der 1964 Rassis­musdebatte der 1960er Jahre be­ in Berlin verstorbene Musiker hinterließ schäftigt. zahlreiche Tonträgeraufnahmen, auf de­ nen er u.a. gemeinsam mit Charles Min­ Künstlerische Leitung: gus oder John Coltrane zu hören ist, so­ Alexander von Schlippenbach wie ein kompositorisches Werk, in dem Musikalische Leitung: Aki Takase (JP) sich auf beispielhafte Weise die Genese Musiker/innen: Karl Berger (US), Han des Avantgarde-Jazz in den 50er und 60er Bennink (NL), Wilbert de Joode (NL), Jahren des vergangenen Jahrhunderts wi­ Antonio Borghini (IT), Tobias Delius derspiegelt. (GB), Axel Dörner, Rudolf Mahall, Fünfzig Jahre nach seinem Tod soll in Heinrich Köbberling, Henrik Walsdorff, Berlin ein Festival stattfinden, das Dol­ Nils Wogram phys kompositorischen Werken gewidmet ist. Um die Kompositionen Dolphys zu Konzerte, Workshops: RBB Sendesaal, würdigen, kommen Musiker zusammen, Berlin: 20.–22.6.2014 die ihrerseits als herausragende Vertre­ ↗ www.avschlippenbach.com ter des zeitgenössischen Jazz gelten. Das Ensemble besteht aus Berliner Musikern und vier Gastmusikern, darunter Han Bennink und Karl Berger, die selbst noch die Gelegenheit hatten, mit Eric Dolphy auf der Bühne zu stehen. Die künstleri­ Jenseitstrilogie, Teil III sche Leitung liegt bei Alexander von Im Judentum heißt es: Drei Tage wei­ Schlippenbach und Aki Takase, die auch die Arrangements schreiben werden. Ale­ nen, sieben Tage klagen, dreißig Tage xander von Schlippenbach zählt zu den trauern. Ein wichtiges Element der jüdi­ Mitbegründern und wichtigsten Vertre­ schen Trauerrituale und zentral für die

So long, Eric!

tausch von Erinnerungen. „Shiva for Anne“, der dritte Teil der Jenseitstrilogie zu Totenklagen und Trauerritualen im Christentum, Islam und Judentum, wid­ met sich jüdischen Trauerritualen und insbesondere der Schiwa. Im Zentrum des Werkes der Schweizer Komponistin Mela Meierhans steht die Erinnerung an die britische Lyrikerin Anne Blonstein, die ursprünglich das Libretto verfassen sollte, 2011 jedoch starb. Mit Blonstein verband Meierhans eine langjährige Zu­ sammenarbeit – das zentrale Motiv des Gedenkens hat also auch einen persönli­ chen Hintergrund. Den Grundstein des Librettos bilden nun Gedichte von Anne Blonstein, wei­ terhin hat Meierhans persönliche Erinne­ rungen an die Dichterin eingearbeitet. Komposition und Aufführung orientieren sich an den sieben Tagen und sechs Näch­ ten der Schiwa, außerdem folgt das Werk szenisch und musikalisch dem psychody­ namischen Prozess von Verzweiflung hin zur Befreiung. Da in der jüdischen Kul­ tur- und Musiktradition die Mündlichkeit ­einen hohen Stellenwert hat, spielt die Stimme (Gesang und Sprechen) in der Komposition eine wichtige Rolle. Die Uraufführung von „Shiva for Anne“ findet im Rahmen der MaerzMusik 2014 in Berlin statt, danach sind Aufführungen in Luzern, Antwerpen, Chur und Basel geplant.

Künstlerische Leitung: Reiner Michalke Big Bands: Fred Frith Gravity (US), Ricky-Tick Big Band (FI), David Kwek­ silber Big Band (NL), Avi Lebovich Orchestra (IL), Orkestra Rumpilezz (BR), Orchestre National de Jazz (FR) Festival für aktuelle Musik, Festivalhalle Moers: 6.–9.6.2014 ↗ www.moers-festival.de

Focus Boris Charmatz / Musée de la danse Fünf Entwürfe für ein Museum des Tanzes

Als der französische Choreograf Boris Charmatz seinerzeit die Leitung des na­ tionalen choreografischen Zentrums in Rennes übernahm, machte er daraus das Musée de la danse. Hier und andernorts erarbeitet er im Dialog mit Philosophen und Soziologen seine Choreografien, die Künstlerische Leitung / sich mit den Bedingungen und Grenzen des Mediums Tanz und dessen Bezug zur Komposition: Mela Meierhans Gesellschaft befassen. Charmatz ist heu­ Musikalische Leitung: te wichtiger Impulsgeber für die inter­ Raphael Immoos (CH) nationale Tanzszene der Gegenwart, sein Regie: Fritz Hauser (CH) künstlerischer Schwerpunkt liegt auf in­ Licht: Brigitte Dubach (CH) terdisziplinären Formen und Formaten. Lyrik: Anne Blonstein (GB) Sänger/innen: Basler Madrigalisten und Foreign Affairs, ein internationales Festival für zeitgenössische performa­ ensemble dialogue u.a. tive Künste im Haus der Berliner Fest­ spiele, fokussiert in seiner Auflage 2014­ Berliner Festspiele/MaerzMusik, Boris Charmatz’ Arbeiten an der Grenze Berlin: 16.–18.3.2014; ­zwischen performativer und Bildender Lucerne Festival: 16.8.2014 ↗ www.kulturist.ch Kunst. Von seinen ersten Stücken, die er für Berlin wieder aufnimmt, bis zu sei­ nen jüngsten Arbeiten beziehen Char­ matz’ Choreografien die Bereiche Tanz und Museum in eigensinniger Weise auf­ einander. Für Foreign Affairs produziert er ak­ tuell ein szenisches Ausstellungsformat Big Bands aus aller Welt beim moers zur Erweiterung der choreografischen festival 2014 Praxis sowie eine große ortsspezifische Das „moers festival“ hat sich seit sei­ Arbeit, die 20 Performer am Sowje­ ner Gründung 1972 zu einem der weltweit tischen Ehrenmal in Berlin zur Auffüh­ wichtigsten Festivals für zeitgenössische rung bringen werden. Erstmals ist hier Musik entwickelt, dessen inhaltliches das Werk des Musée de la danse in einer Profil darin besteht, denjenigen Musikern Breite zu sehen, die seine große Bedeu­ und Musikgruppen aus aller Welt eine tung für die zeitgenössischen performa­ Bühne zu bieten, die abseits des musika­ tiven Künste vor Augen zu führen vermag. lischen Mainstreams in den grenzüber­ schreitenden Bereichen von Jazz, Impro­ Künstlerische Leitung: Boris Charmatz visierter Musik und Weltmusik auf der (FR), Martina Hochmuth (Musée de la Suche nach neuen Ausdrucksformen sind. danse), Matthias von Hartz, Carolin Im Bereich der Großbesetzungen sind Hochleichter (Foreign Affairs) vor allem in den letzten Jahren sehr viele Künstler/innen: Or Avishay (IL), interessante Formationen entstanden, die Eleanor Bauer (US), Magali Caillet-­Gajan den Begriff „Big Band“ vollkommen neu (FR), Sonia Darbois (FR), Olga definieren. Die Ausgabe 2014 legt daher Dukhovnaya (UA), Lenio Kaklea (GR), ihren Schwerpunkt auf solche Großfor­ Jurij Konjar (SI), Maud Le Pladec (FR), mationen des Jazz. Mit Bands wie dem Avi Andreas Albert Müller, Eric Dolphy, 1961 Lebovich Orchestra aus Israel, dem fran­ Mani A. Mungai (CG) u.a. tern des europäischen Free Jazz; Aki Ta­ jüdische Kultur ist dabei die Erinnerung. zösichen Orchestre National de Jazz, der kase gilt als eine der kreativsten und viel­ Die siebentägige Schiwa, während der die finnischen Ricky-Tick Big Band, der Fred Haus der Berliner Festspiele, Berlin: fältigsten Musikerinnen des europäischen Angehörigen der/des Toten Freunde und Friths Gravity Band aus den USA oder der 26.6.–13.7.2014 Jazz. Zur Aufführung kommt eine Aus­ Verwandte empfangen, dient dem Aus­ David Kweksilber Big Band aus den Nie­ ↗ www.berlinerfestspiele.de

Shiva for Anne

moers festival 2014: big line-ups

© Charles Stewart / Archiv Jazzinstitut Darmstadt

derlanden präsentiert sie einen vielfälti­ gen Querschnitt durch den zeitgenössi­ schen Big Band-Sound. Als erste Ausgabe in der dann frisch umgebauten Festival­ halle Moers soll „big line-ups“ den neuen Ort einweihen.


42

Yoko Tawada Die Haarsteuer Podatek od owłosienia

Übersetzungswürfel Sechs Seiten europäischer Literatur und Übersetzung – Literaturfestival

Das literarische Übersetzen als offene und dynamische Kunst sichtbar zu ma­ chen ist Ziel des internationalen Projek­ tes „Übersetzungswürfel. Sechs Seiten europäischer Literatur und Übersetzung“. Der „Übersetzungswürfel“ mit seinen­ sechs unterschiedlichen Formaten und sechs beteiligten Sprachen macht das Entstehen von Übersetzungen als künst­ lerischen Prozess erfahrbar und führt vor, wie individuell Übersetzerinnen und Übersetzer mit ihren je eigenen biografi­ schen Hintergründen und kulturellen Kontexten diesen Schaffensprozess durchlaufen. Das Projekt beteiligt Autorinnen, Au­ toren, Übersetzerinnen, Übersetzer, Ex­ pertinnen und Experten aus Deutschland, Polen, Tschechien, Slowenien, Ö ­ sterreich, Kroatien, der Schweiz und der Ukraine und hebt damit die Vielgestaltigkeit eu­ ropäischer Literatur, ihre Räume und Verflechtungen hervor. Eine besondere Beachtung erfährt hierbei die junge ­Generation der literarischen Überset­ze­­ rinnen und Übersetzer mit ihren trans­ kulturellen Biografien im heutigen Europa. In den Veranstaltungen treten hoch­ rangige Künstlerinnen und Künstler aus dem Bereich Literatur, Performance und Übersetzung auf, etwa Yoko Tawada, ­Miljenko Jergović und Ilma Rakusa. Es kommen innovative junge Stimmen zu Wort wie Nora Gomringer, Pawlo Korobt­ schuk und Ulrike Almut Sandig, und es nehmen zahlreiche junge Übersetzerin­ nen und Übersetzer aus dem EU-Projekt „TransStar“ teil. Künstlerische Leitung: Claudia Dathe Autor/innen: Yoko Tawada, Amalija Maček (SI), Ulrike Almut Sandig, Dževad Karahasan (BA), Miljenko Jergović (BA), Ilma Rakusa (CH), Pawlo Korobtschuk (UA) Musiker: Serhij Zhadan (UA) Performance: Nora Gomringer, Kateryna Babkina (UA) Literarische Übersetzer/innen: Esther Kinsky, Andrzej Kopacki (PL), Frank Günther Villa Decius, Krakau: 16.–19.1.2014; Literaturbüro Freiburg: 26.–27.9.2014; Universität Tübingen: 17.–18.4.2015; Universität Ljubljana: 18.–19.4.2015; Universität Prag: 4.–7.6.2015; Literarisches Colloquium, Berlin: 2.–4.7.2015 ↗ www.uni-tuebingen.de

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

25 26 27 28 29 30

35

40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

Die Haarsteuer, die lange umstritten gewesen war, wurde schließlich doch eingeführt. Man sagte, der Verein der Hamsterliebhaber hätte diese Reform veranlaßt. Die Hamsterliebhaber fanden es nämlich schon immer ungerecht, daß man für einen Hamster genausoviel Säuge­ tiersteuer zahlen mußte wie für einen Schä­ ferhund. Deshalb schlugen sie vor, die Höhe der Säugetiersteuer nach der Größe der Körperoberfläche der Tiere zu bestimmen. Das Finanzamt akzeptierte den Vorschlag, mußte aber den Begriff der Körperoberfläche vermei­ den, da es sonst wegen der Diskriminierung fetter Menschen Ärger gegeben hätte. Einem, der von der Größe der Körperoberfläche spricht, fehlt es an politischer Sensibili­ tät. So entstand die Idee, den Begriff der “behaarten Oberfläche” einzuführen. Mit diesem Ausdruck wurde deutlich, daß nicht Menschen, sondern andere Säugetiere gemeint waren. Dabei vergaß man aber zu berücksich­ tigen, daß inzwischen auch Gegenstände behaart sein konnten. Durch die Gentechnolo­ gie war es zum Beispiel möglich geworden, auf der Oberfläche eines Schreibtisches, eines Stuhles oder eines Bettes Haare wach­ sen zu lassen. Unter jungen Karrieremenschen entstand daher rasch eine neue Möbelkultur. Sie bekamen endlich etwas zum Streicheln und zum Umarmen, das aber pflegeleicht und nicht liebessüchtig war. Auf jeden Fall war die Steuerreform nachteilig für Liebhaber der behaarten Möbel, denn nach der neuen Steuer­ regelung mußte man jede behaarte Fläche versteuern. Sie waren aber nicht die einzi­ gen, die wesentlich mehr Steuer zahlen mußten als vorher. Eines Tages behauptete eine Gruppe von Beamten, daß Frauen dem Gesetz nach ihre Beine versteuern müssen, falls sie behaart sind. Einige pensionierte Beamte führten sogar ehrenamtlich Kontrollen an Badeorten durch. Studentinnen, die wenig Geld besaßen, rasierten ihre Arme und Beine, um keine Steuer für behaarte Oberflächen bezahlen zu müssen. Die Haare auf dem Kopf ließen sie jedoch weiter wachsen, denn der Kopf war steuerfrei. Auch die meisten männ­ lichen Studierenden rasierten ihren Körper. Männer wurden zwar selten kontrolliert, aber sie wollten kein Risiko eingehen. Das Studi­ um war schon riskant genug, in allen anderen Lebensbereichen wollten sie deshalb lieber Sicherheit. Nur große Geschäftsleute, Poli­ tiker und ihre Ehefrauen lagen unrasiert wie Bären an den Stränden. Der behaarte Körper wurde zum Statussymbol. Die Armut war dage­ gen nackt, glatt und weich. Unter Managern herrschte die Mode, auch aus Armbanduhren, Taschenrechnern und Scheckkarten Haare von der gleichen Farbe wie ihre Körperhaare wachsen zu lassen. Die teuren Hormonsprit­ zen, die man dafür brauchte, konnte man von der Steuer absetzen.

Podatek od owłosienia, będący przedmiotem długotrwałych debat, został ostatecznie wprowadzony. Reformę tę podobno zarządziło Towarzystwo Miłośników Chomików. Miłośnicy chomików zawsze uważali za niesprawiedliwość, że za chomika trzeba płacić równie duży podatek od ssaków jak za owczarka niemieckiego. Dlatego zaproponowali, żeby wysokość tego podatku ustalać na podstawie powierzchni ciała zwierzęcia. Urząd skarbowy zaakceptował tę propozycję, musiał jednak zrezygnować ze sformułowania „powierzchnia ciała” – w przeciwnym razie bowiem ze strony otyłych ludzi mogłyby pojawić się oskarżenia o dyskryminację. Komuś, kto mówi o „powierzchni ciała”, najwyraźniej brak politycznej wrażliwości. W ten oto sposób zrodził się pomysł, żeby wprowadzić pojęcie „owłosiona powierzchnia”. Wyrażenie to nie pozostawiało wątpliwości, że nie chodzi o ludzi, lecz o inne ssaki. Zapomniano jednak uwzględnić faktu, że tymczasem, wraz z rozwojem inżynierii genetycznej, również przedmioty mogły być owłosione. Inżynieria genetyczna pozwalała wyhodować włosy na przykład na powierzchni biurka, krzesła czy łóżka. Wśród młodych karierowiczów szybko pojawiła się nowa kultura meblowa. Nareszcie mieli coś, co mogli głaskać i przytulać, a co jednocześnie nie było skomplikowane w utrzymaniu i nie wymagało miłości. Niestety reforma podatkowa okazała się niekorzystna dla wielbicieli owłosionych mebli, gdyż zgodnie z nowymi regulacjami opodatkowaniu podlegała każda owłosiona powierzchnia. Nie oni jedyni musieli płacić znacznie wyższe podatki niż dotychczas. Pewnego dnia grupa urzędników stwierdziła, że zgodnie z ustawą kobiety muszą odprowadzać podatek od nóg – jeśli tylko są one owłosione. Kilku emerytowanych urzędników zaczęło nawet nieodpłatnie przeprowadzać kontrole na pływalniach. Studentki dysponujące niewielką ilością pieniędzy goliły regularnie ramiona i nogi, żeby uniknąć płacenia podatku. Zapuszczały za to włosy na głowie, jako że głowa była wolna od podatku. Również większość studentów płci męskiej goliła swoje ciała. Mimo że mężczyźni byli rzadziej kontrolowani, nie chcieli ryzykować. Już same studia były wystarczająco ryzykowne, w pozostałych dziedzinach życia woleli więc raczej mieć poczucie stabilności. Tylko wielcy biznesmeni, politycy i ich żony wylegiwali się na plażach owłosieni niczym niedźwiedzie. Owłosione ciało stało się symbolem statusu. Bieda za to była naga, gładka i miękka. Wśród menadżerów zapanowała moda na zegarki na rękę, kalkulatory i karty czekowe, z których wyrastały włosy takiego samego koloru jak włosy na ciele. Koszt nieodzownych w tym celu zastrzyków hormonalnych można było odciągnąć sobie od podatku.

64 6

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

25 26 27 28 29 30

35

40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Yoko Tawada stellte diesen Text dem Projekt „Übersetzungswürfel“ zur Verfügung. Usprünglich erschienen in: Opium für Ovid, Tübingen, Konkursbuch Verlag, 2000. – Auf der rechten Seite die polnische Übersetzung von Magdalena Lewandowska.


43 Die Speisung der 5000

Foto: Sebastian Bolesch

Eine barockfuturistische Kantate mit Jan Plewka und dem Ensemble Resonanz

Fünf Brote und zwei Fische brauchte Jesus vor zweitausend Jahren, um den Hunger von 5.000 Menschen zu stillen. Die biblische Legende um die Brotver­ mehrung ist einer der Ausgangspunkte für die neue Produktion „Die Speisung der 5000“ auf Kampnagel in Hamburg. Geschrieben, komponiert und inszeniert wird dieses neue Musiktheaterstück von der Künstlergruppe Kommando Himmel­ fahrt für einen Chor, ein Streichorches­ ter und drei Sänger. Die Gruppe Kommando Himmelfahrt wurde 2008 von dem Komponisten Jan Dvořák und dem Regisseur Thomas Fied­ ler gegründet. In ihrem großformatigen Popmusiktheater verbinden sie Musikthe­ ater, Performance und Konzert. Avant­ gardistische Kompositionen treffen auf Songs und Showelemente, Lecture Per­ formance trifft auf stummfilmhaft choreo­ grafiertes Theater. Als Orchester haben sie das Ensemble Resonanz verpflichtet, ein Ensemble, das auf höchstem musika­ lischen Niveau nicht nur mit zeitgenös­ sischen Komponisten, sondern auch mit bildenden Künstlern, Medienkünstlern und Regisseuren zusammenarbeitet. Inhaltlich ist das Musiktheater von Kommando Himmelfahrt häufig von his­ torischen Utopien und Texten der Phi­ losophiegeschichte inspiriert. In die ak­ tuelle Produktion fließen die Gedanken des russischen Philosophen Nikolaj F. Fedorov ein, der im 19. Jahrhundert ein ewiges Leben und die Verbrüderung der Menschheit imaginierte. Und so lädt Kommando Himmelfahrt zu einem gro­ ßen brüderlichen Gastmahl, bei dem sich Klänge, Gesänge, Texte und Bilder in barocker Fülle vereinen und der Zu­ schauer zugleich zum Beobachter und Teilnehmer einer Gemeinschaft wird. Künstlerische Leitung: Kommando Himmelfahrt (Jan Dvořák / Thomas Fiedler) Sänger/Darsteller: Jan Plewka Streichensemble: Ensemble Resonanz Chor: Kommando Himmelfahrt Chor Video: niedervolthoudini Produktionsleitung/Dramaturgie: Julia Warnemünde Kampnagel, Hamburg: 12.–17. & 20./21. Dezember 2014 ↗ www.kommando-himmelfahrt.com

The Bed On Which I’m Sleeping An den „Nahsinnen“ orientierte Aufführungen & Dokumentation

Welche Sinne außer den Fernsinnen Hören und Sehen sind beteiligt, wenn wir Musik und Bewegung körperlich wahr­ nehmen? Sabrina Hölzer, die für ihre in­ novativen Musiktheaterprojekte mit dem Belmont Preis 2013 ausgezeichnet wurde, nimmt sich dieser Frage an und stellt in

ihrer aktuellen Produktion „The Bed On Which I’m Sleeping“ das sensorische Er­ fassen von Musik durch Nahsinne wie Tast- und Geruchssinn in den Mittelpunkt. Gemeinsam mit zehn Musiker/innen des Solistenensembles Kaleidoskop erprobt sie eine neue Art der Interaktion zwi­ schen Performern und Publikum mit dem Anliegen, neben Oper und Konzert ein neues Format für musikalisches Erleben zu entwickeln. Im Zentrum der Inszenierung stehen sechs Auftragskompositionen. Die Ar­ beit des Komponisten Dieter Schnebel wird sich mit dem Atem als Bindeglied zwischen Performern und Besuchern be­ schäftigen. Der Cellist und Komponist Michael Rauter untersucht in verschiede­ nen Auftragskompositionen, wie Musik rhythmisch und sensuell auf die Nahsinne

Schwestern Musik- / Tanztheater nach Tschechow

Auf der Folie von Tschechows Drama „Drei Schwestern“ entwickelt das Projekt persönliche Motive aus dem Leben von Nele Winkler, Juliana Götze und Rita Seredsuß – drei Schauspielerinnen mit Down-Syndrom, die in der Inszenierung von Frank Krug die Rollen der Schwes­ tern übernehmen: Es geht um ihre Sehn­ süchte und Ziele, ihr Verhältnis zu ande­ ren Menschen und ihrem eigenen Körper. Dazu hat Krug im Vorfeld gemeinsam mit dem italienischen Choreografen und Tänzer Davide Camplani die drei Schau­ spielerinnen ein Jahr lang regelmäßig zu­ hause besucht und interviewt.

Orpheus in der Oberwelt Eine Schlepperoper

Der Fluss Evros, der durch Griechen­ land, Bulgarien und die Türkei fließt, bil­ det die südöstliche EU-Außengrenze. Da es für Flüchtlinge immer schwerer wird, über das Mittelmeer nach Europa zu ge­ langen, nehmen inzwischen 80 Prozent von ihnen den Landweg über Griechen­ land. Dabei erlangte der Evros eine trau­ rige Berühmtheit, da beim Überqueren dieses mit Zäunen und Minenfeldern hochgerüsteten Grenzgebietes bereits viele Menschen ihr Leben verloren. Zu­ gleich ist dieses Niemandsland ein Natur­ paradies und Mekka von Ornithologen. Es handelt sich um das antike Thrakien, das schon in den griechischen Mythen als archaischer Ort galt. Im Fluss Evros trieb laut singend Orpheus’ Kopf, nachdem jener von den Erinnyen zerrissen wurde. Das internationale Künstlerkollektiv andcompany&Co. konfrontiert in dem Musiktheaterstück „Orpheus in der Oberwelt“ die mythische Bedeutung der ­Gegend mit der aktuellen Realität des Grenzgebietes. Vorlage ist der Orpheus-­ Mythos, hinzu kommen Interviews ­mit Zeugen und Texte der Regisseure ­Alexander Karschnia und Nicola Nord. Der Komponist Sascha Sulimma wird Monteverdis „L’Orfeo“ bearbeiten und die­Texte in die musikalische Struktur­­ der Oper integrieren. Ergänzt wird das Stück durch elektronische Klänge und vor Ort eingefangene dokumentarische Ge­ räusche, z.B. von Vögeln, Schiffsmotoren und Schritten. Als Vorarbeit ist die Ent­ wicklung eines Live-Hörspiels geplant. Nele Winkler und Juliana Götze im Stück »Schwestern« Zudem organisiert das Künstlerkollektiv einwirkt. Er arbeitet z.B. mit perkus­ Mit „Schwestern“ möchte er die spe­ gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stif­ siven Rhythmen, die kontrastierend oder zifische Situation von Menschen mit tung und der Onassis-Stiftung Begeg­ ­harmonisierend auf den körpereigenen Down-Syndrom in seiner literarischen nungen und öffentliche Diskussionen. Rhythmus wirken. Die physischen Vorlage spiegeln und nach dem Wert des ­Auswirkungen musikalischer elektrischer Lebens fragen, nach dem Recht auf Künstlerische Leitung: Nicola Nord, Felder auf den Körper erkundet ­d er Zukunft und Selbstbestimmung. Ange­ Alexander Karschnia, Sascha Sulimma ­spanische Komponist José María Sánchez-­ sichts der aktuellen Debatte um die um­ Bühne: Jan Brokof, Joăo Loureiro (BR) ­Verdú. strittene pränatale Früherkennung von Korrepetitor/Spinett: Reinier van Die Eindrücke des Publikums werden Behinderungen spricht das Stück Men­ Houdt (NL) an den Aufführungsorten Berlin, Oslo schen mit und ohne körperliche Behin­ Musiker/Performer/Sänger: Bora Balci und Gent durch Befragungen erfasst und derungen an, deren gegenseitige Berüh­ (TR), Knut Berger, Simon Lenski (B) u.a. fließen in eine Dokumentation ein, die rungsängste es abbauen und auf beiden einen künstlerisch-empirischen Beitrag Seiten die Aufmerksamkeit für das bri­ HAU Hebbel am Ufer, Berlin: zur wissenschaftlichen Forschung im Be­ sante Thema schärfen möchte: Wer hat Oktober 2014; Steirischer Herbst, Graz: reich Neuropsychologie und Musik leis­ darüber zu entscheiden, ob jemand eine Oktober 2014; weitere Termine 2014/15: ten möchte. Chance bekommt, ein Leben mit Behin­ Ringlokschuppen, Mülheim an der Ruhr; Eine Produktion von Intothedark in derung zu leben? Nach Aufführungen in Onassis Cultural Centre, Athen; Koproduktion mit dem Gent Festival van Berlin tourt das Projekt durch Luxem­ Mousonturm, Frankfurt am Main; Theater Vlaanderen, Matvik Crew Forening Oslo burg und Liechtenstein. im Pumpenhaus, Münster; Forum und den Berliner Festspielen. Freies Theater, Düsseldorf; Frascati, Regie: Frank Krug Amsterdam; Hippodrome, Douai ↗ www.andco.de Künstlerische Leitung: Sabrina Hölzer Choreografie: Davide Camplani (IT) Musikalische Leitung: Michael Rauter Komponist: Ketan Bhatti (IN) Komponist/innen: Dieter Schnebel, Bühnenbildnerin: Irina Schicketanz José María Sánchez-Verdú (ES), Schauspieler/innen: Juliana Götze, Michael Rauter, Samuel Barber, Gustav Rita Seredsuß, Nele Winkler, Mahler, Richard Wagner Angela Winkler, Tammo Winkler Künstler/innen: Emmanuelle Bernard Musiker/innen: Milan Vogel, Ein Sweatshop des Tanzes (FR), Rebecca Beyer, Dea Szücs (HU) Boram Lee (KP), Matthias Engler, Nach den verheerenden Unfällen in u.a. Christian Weidner, Ketan Bhatti (IN) Textilfabriken in Bangladesch, die das Bewusstsein für die dortigen katastro­ Haus der Berliner Festspiele, Berlin: Sophiensaele, Berlin: phalen Arbeitsverhältnisse international 11.12.2014 –18.1.2015; 20.–25.11.2014; geschärft haben, gerät das Label „Made Kanonhallen, Oslo: 7.–8.2.2015; Théâtres de la Ville de Luxembourg: in Bangladesh“ immer mehr zu einem Sy­ Handelsbeurs Concertzaal, Gent: 11.–12.2.2015; nonym für Ausbeutung und Unmensch­ 19.–20.9.2015 TAK Liechtenstein: 10.–11.4.2015 ↗ www.intothedark.de ↗ www.telekult.de lichkeit. Die Choreografin Helena Wald­

Made in Bangladesh


44

Künstlerische Leitung: Helena Waldmann Musikalische Leitung: Daniel Dorsch, Hans Narva Video: Anna Saup Compagnie / Ensemble / Orchester: Lubna Marium, Warda Rihab, Tahmina Binte Rahman, Sabbir Ahmed Khan (alle BD) u.a. Sängerin: Anusheh Anadil (BD) Shilpakala Academy, Dhaka: 31.10.– 1.11.2014; Theater im Pfalzbau, Ludwigshafen: 26.11.2014; tanzhaus nrw, Düsseldorf: 29.–30.11.2014; Tollhaus, Karlsruhe: 3.12.2014; Les Théâtres de la Ville, Luxemburg: 6.12.2014; Burghof, Lörrach: 9.12.2014; Kurtheater, Baden: 11.12.2014 ↗ www.ecotopiadance.com

Japan Syndrome Festival zur Kunst und Politik nach Fukushima

Japan hat nicht nur mit den ökologi­ schen, sondern auch mit den psychischen und politischen Auswirkungen der Kata­ strophe von Fukushima zu kämpfen. Wie die Wahlerfolge der Atomlobby zeigen, ist der Wunsch nach Verdrängung der Ereig­ nisse immens. Andererseits wächst bei vielen Künstlern das Bewußtsein, dass Fukushima einige bislang verborgene Ris­ se in der japanischen Gesellschaft freige­ legt hat. Sie beschäftigen sich in ihren Arbeiten mit der nach dem Desaster ein­ setzenden Agonie und Sprachlosigkeit, aber auch mit den Mythen der Nach­ kriegszeit wie dem Glauben an unbe­ grenztes Wirtschaftswachstum durch bil­ lige Energie. Unter dem Titel „Japan

Syndrome“ veranstaltet des HAU Hebbel am Ufer ein spartenübergreifendes Festi­ val, das der Frage nachgeht, wie sich die japanische Gesellschaft und Kultur seit Fukushima verändert haben. Zu den eingeladenen Stücken zählt eine Produktion des jungen Regisseurs Takuya Murakawa, die sich mit grundle­ genden Problemen menschlicher Kom­ munikation auseinandersetzt, und ein be­ klemmendes Konversationsstück von Toshiki Okada, das eine direkte Reaktion auf die Katastrophe darstellt. Für einen begrenzten Zeitraum erhält das HAU Hebbel am Ufer mit der Produktion von Akira Takayama „HAU 4“ einen mobilen Außenposten bzw. eine vierte Spielstätte. Takayama entwickelt meist performative Installationen oder Exkursionen im öf­ fentlichen Raum und zählt mit dieser Ar­ beitsweise zu den interessantesten Regis­ seuren Japans. Er greift häufig Themen auf, die von der japanischen Gesellschaft tabuisiert werden, wie eben die Katastro­ phe von Fukushima. Mit dem „HAU 4“ soll ein Ort der Begegnung entstehen, an dem auch die Perspektive der Berliner auf Japan thematisiert wird. Die Besucher können dort an verschiedenen Veranstal­ tungen wie gemeinsamen Essen, Debat­ ten, DJ-Konzerten, Märkten oder Sprach­ kursen teilnehmen. Künstlerische Leitung: Annemie Vanackere, Christoph Gurk Künstler/innen: Akira Takayama, Toshiki Okada, Takuya Murakawa, Tadasu Takamine, Tori Kudo, Sangatsu, Otomo Yoshihide, Hikaru Fujii (alle JP) u.a. HAU Hebbel am Ufer, Berlin (HAU 1–3): 20.–31.5.2014 ↗ www.hebbel-am-ufer.de

Die Stunde, da wir zu viel voneinander wußten

Entwicklung eines neuen szenisch-musi­ kalischen Stückes: „Die Stunde, da wir zu viel voneinander wußten“ widmet sich dem Kommunikationsverhalten in unse­ rer digitalisierten Gesellschaft. Gleichzei­ tig fragt es nach den Bezugspunkten von Handkes Stück und der international wirksamen Bühnensprache der Künstler. So wie in ihren erfolgreichen Musikthea­ ter-Produktionen der letzten Jahre wer­ den auch bei dieser Produktion Musik

­ üste Alaskas. Mit den dort lebenden K Küstenbewohnerinnen und -bewohnern kommt Ulrike Ottinger zu einem Zeit­ punkt ins Gespräch, an dem ihre Region ins Zentrum globaler wirtschaftsstrategi­ scher Interessen rückt: In den nördlichen Pazifikregionen winken nicht allein Roh­ stoffreserven, sondern auch die Aussicht auf die klimawandelbedingte Öffnung ei­ ner arktischen Direktroute von Europa nach Asien.

© Ulrike Ottinger 2013

mann hat Parallelen zwischen den Ar­beitsbedingungen und Lebensverhältnis­ sen von Textilarbeiterinnen, meist Frau­ en zwischen 16 und 28 Jahren, und der Situation von Tänzerinnen in den hoch ambitionierten Tanzschulen des Landes entdeckt. Beide leben prekär, was Lohn, Sicherheit, Gesundheit, Arbeitsverträge und Kündigungsschutz angeht. Die Fol­ gen sind einerseits Erschöpfung, ande­ rerseits aber auch Erhöhung der Produk­ tivität. Der Unterwerfung unter strenge Arbeitsabläufe und große Selbstdisziplin steht bei beiden das Versprechen auf re­ lative Unabhängigkeit und Emanzipation durch ein eigenes, wenn auch noch so bescheidenes Einkommen gegenüber. Auch das Tanzprojekt „Made in Bangla­ desh“ kann unter den gegebenen Bedin­ gungen kostengünstig für den globalen Markt produzieren. Helena Waldmann gründet dafür eine Corporation mit zwölf Tänzerinnen aus Bangladesch, die aller­ dings den Prinzipien von Nachhaltigkeit, Qualitätssicherung, Verantwortung und Kontrolle nach westlichen Maßstäben genügen soll. Sie bedient sich dabei hyb­ rider Tanzstile zwischen Tradition und Moderne, die zeigen sollen, wie die Opti­ mierungsstrategien in der industriellen Textilproduktion funktionieren. Als do­ kumentarische Tanzinszenierung wird das Projekt zu einem Lehrstück über eine globalisierte Tanzkunst, deren ökonomi­ schen Bedingungen denen von Arbeite­ rinnen immer mehr gleichen.

Abbildungen aus dem Dreh- und Arbeitsbuch von Ulrike Ottinger

und Klang eine wichtige Rolle spielen. Geräusche, Gesang und, anders als bei Handke, auch Sprache werden aus den Improvisationen und der Körperlichkeit jedes einzelnen Performers heraus ent­ wickelt. Die Produktion wird jedem Spie­ lort neu angepasst, indem lokale Statis­ ten einbezogen werden. Künstlerische Leitung: Nicola Hümpel Bühne: Oliver Proske Nico and the Navigators: Philipp Caspari, Adrian Gillott (GB), Annerose Hummel, Yui Kawaguchi (JP), Annedore Kleist, Julla von Landsberg, Michael Rapke, Anna-Luise Recke, Ted Schmitz (US), Patric Schott u.a.

Radialsystem V, Berlin: Februar 2015; Théâtre de Nîmes, Nîmes: März 2015; Festival Automne en Normandie, Mit „Die Stunde, da wir nichts von­ Rouen: November 2015 einander wußten“ schrieb Peter Handke ↗ www.navigators.de 1992 ein Theaterstück ohne gesproche­ nen Text. In mehr als 60 Seiten Regiean­ weisung beschreibt er ein Stück ohne Worte, das am Wiener Burgtheater unter Claus Peymann seine Uraufführung er­ lebte und seither von vielen Theatern Film und Ausstellung aufgegriffen wurde. Der Verzicht auf ge­ Ulrike Ottinger, die weltweit in Re­ sprochene Sprache, der an Handkes wortlosem Stück als Provokation des trospektiven geehrte deutsche Autoren­ deutschsprachigen Theaterpublikums filmerin („Unter Schnee“ 2011; „Taiga“ verstanden werden konnte, ist für Nico 1992; „Freak Orlando“ 1981), begibt sich and the ­Navigators seit jeher ein wichti­ im ersten Teil des Projekts auf die Spuren ges Arbeitsprinzip: In ihren Situations­ des forschungsreisenden Literaten Adel­ collagen steht nicht die gesprochene bert von Chamisso. Chamisso – Erfinder Sprache im Vordergrund, vielmehr ent­ des märchenhaften Peter Schlemihl, der wickelt sich jeglicher Ausdruck aus dem seinen Schatten an den Teufel verkaufte – Körper ­heraus. Die Gruppe hat in den 15 war von 1815 bis 1818 als Wissenschaftler Jahren ihres Bestehens ein sehr speziel­ selbst an einer jahrelangen Expedition les Bildertheater geschaffen und ihren ins pazifische Nordmeer beteiligt. Ulrike besonderen künstlerischen Stil auch in Ottinger folgt seinen Spuren als Filme­ angrenzende Genres wie das Musikthe­ macherin. Der nördliche Teil ihrer „Welt­ ater erfolgreich übertragen. reise“ umfasst die Gebiete Kamtchatka, Nico and the Navigators planen ge­ die Aleutischen Inseln, die Beringstraße, meinsam mit einem Klangkünstler die die Tschuktschen-Halbinsel und die Im Geiste einer Anordnung von Peter Handke

Weltreise

Das im Rahmen der Expedition ent­ stehende Filmwerk geht im zweiten Teil des Projekts in eine historische Ausstel­ lung ein, die in der Staatsbibliothek zu Berlin eine bislang einmalige Konstella­ tion von Reisetagebüchern, Notizsamm­ lungen und Artefakten europäischer ­Forschungsreisen des 18. und 19. Jahr­ hunderts präsentiert. Neben Dokumen­ ten aus dem Erbe Chamissos präsentiert die Ausstellung bislang nie gezeigte Au­ tografen von Alexander von Humboldt, ferner Georg Wilhelm Steller sowie ­Reinhold und Georg Forster. Leihgaben ­kommen zudem aus der Akademie der ­Wissenschaften in St. Petersburg. Die künstlerische Leitung für die Ausstellung liegt bei Ulrike Ottinger. An den hierfür neu entstehenden Tondokumenten wir­ ken als Schauspieler unter anderem Hanns Zischler, Irm Herrmann und So­ phie Rois mit. Die Ausstellung soll an­ schließend in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen in Zusammenarbeit mit der Nicolaj-Kunsthal gezeigt werden. Weitere geplante Ausstellungsorte sollen Hafenstädte entlang der historischen Rei­ seroute von Chamisso sein; hierzu zählen unter anderem Porto Alegre (BRA), Van­ couver (CAN) sowie zudem Boston (USA). Künstlerische Leitung: Ulrike Ottinger Film (Regie, Buch, Kamera): Ulrike Ottinger Sprecher/in: Hanns Zischler, Sophie Rois Ausstellung (Konzept, Aufbau und Gestaltung): Ulrike Ottinger Ausstellung (Kuratorin): Jutta Weber Stimmen der Erzähler: Irm Hermann, Friedhelm Ptok, Udo Samel Textbeiträge: Erich Kasten, Marie-Theres Federhofer, Graham Jefcoate (GB), Matthias Glaubrecht und Harry Liebersohn (US) Staatsbibliothek, Berlin: 1.6.–1.9.2015 ↗ www.staatsbibliothek-berlin.de


45 1. Bürgerbühnen­ festival Ein deutsch-europäisches Theater­treffen

Angesichts der zunehmenden Etablie­ rung partizipativer Theaterformen in den letzten Jahren erscheint eine Debatte über deren ästhetische Qualitätsmerkma­ le immer wichtiger, wird es doch vor allem von ihnen abhängen, ob die Arbeit dieser neu gegründeten Bürgerbühnen und Volkstheater auf Dauer als relevante Kunstform wahrgenommen wird. Gemeinsam mit der Mannheimer Bür­ gerbühne plant die Bürgerbühne Dresden ein zunächst auf zwei Jahre angelegtes Festival, mit dem sie ein zentrales Forum für die Präsentation und Diskussion pro­ fessioneller Theaterarbeit mit nicht pro­ fessionellen Darsteller/innen etablieren möchte. Das künstlerische Programm der ersten Ausgabe zeigt zwölf einschlägige Produktionen und wird flankiert von ei­ nem breit angelegten Symposium mit Theaterschaffenden und Wissenschaftler/ innen, Politiker/innen und Journalist/in­ nen. Das Festival ist als Leistungsschau konzipiert, die in Zukunft alljährlich an einem anderen europäischen Theater durchgeführt werden soll. Ihr Anspruch ist es, die Vernetzung der Bürgerbühnen voranzubringen und die Entwicklung der professionellen partizipativen Theaterar­ beit kritisch zu reflektieren. Künstlerische Leitung: Miriam Tscholl, Burkhard Kosminski Kurator/innen: David Benjamin Brückel, Stefanie Bub, Jan Linders, Jens Christian Lauenstein Led, Birgit ­Lengers, Miriam Tscholl Künstler/innen: Bürgerbühne Dresden (Staatsschauspiel Dresden) – Ich armer Tor nach Goethes „Faust“ mit Dresdner Männern in der Midlife-Crisis – Regie: Miriam Tscholl; Mannheimer Bürger­bühne (Nationaltheater Mann­ heim) – Nichts. Was im Leben wichtig ist (von Janne Teller) – Regie: Kristo Šagor; Volkstheater (Badisches Staatstheater Karlsruhe) – Eine (mikro) ökonomische Weltgeschichte, getanzt (von Pascal Rambert (FR) und Éric Méchoulan (CA)) – Regie, Choreografie, Bühne, Licht: Pascal Rambert; Borgerscenen (Aalborg Teater) (DK) – Romeo og Julie lever! – Regie: Minna Johannesson (DK); Junges DT Berlin – Tod.Sünde.7 (Eine Stückentwicklung des Jungen DT) – Regie: Wojtek Klemm Staatsschauspiel Dresden: 16.–23.05.2014 ↗ www.staatsschauspiel-dresden.de

Wie jede andere Inszenierung auch Die Bürgerbühne – Betrachtung eines Modells Die Bürgerbühne Dresden ist seit der Spielzeit 2009/10 eine Sparte des Staatsschauspiels Dresden, in der ­Bürger aus Dresden und der Region auf der Bühne stehen. Miriam Tscholl, die Leiterin der Bürgerbühne, über neue Formen partizipativer Theaterarbeit. Was ist das eigentlich, eine Bürgerbühne? Vielleicht helfen Zahlen bei einer Erklärung: Die Bürgerbühne bringt in jeder Spielzeit fünf Inszenierungen heraus, die fest im regulären Spielplan verankert sind. Insgesamt standen in den vergangenen vier Jahren über 1.500 Dresdner auf der Bühne, in der vergangenen Spielzeit 2012/13 wurden 142 Aufführungen der insgesamt 860 Vorstellungen des gesamten Staatsschauspiels von der Bürgerbühne gegeben. Von den 247.000 Zuschauern entfielen dabei 17.500 Zuschauer auf Vorstellungen der Bürgerbühne. Oder vielleicht erklären die Strukturen die Idee: Die Bürgerbühne hat ein eigenes Team, bestehend aus einer leitenden Regisseurin, einem Dramaturgen und Produktionsleiter und zwei Theaterpädagogen, sowie eigene Probebühnen. Sie nutzt die Ressourcen des Hauses: Eine enge Anbindung an die Dramaturgie, die Öffentlichkeitsarbeit, die Technik, die Werkstätten, Requisite, Maske; reguläre Endprobenzeiten auf der Bühne. Die Regel, die der Intendant Wilfried Schulz von Anfang an ausgegeben hat, ist einfach und besteht aus fünf Worten: „Wie jede andere Inszenierung auch.” Oder vielleicht einfach: Die Bürgerbühne, das sind Stücke wie „Die Nase“ von Nikolai Gogol, „Die Odyssee“ nach Homer, „Weiße Flecken“, ein Theaterabend über Demenz, „Expedition Freischütz“, ein Musiktheaterprojekt nach Carl Maria von Weber und und und... Für jede Inszenierung werden ein Thema und eine Regie gesucht, zudem Bühnen- und Kostümbildner und – je nach Konzeption – zusätzlich Autoren, Musiker, Videokünstler oder Choreografen. Ziel dabei ist, inhaltlich und ästhetisch zu experimentieren und möglichst viele unterschiedliche Dresdner einzubeziehen. Einzelne Projekte richten sich an alle zwischen neun und 99 Jahren, andere gezielt an Gruppen wie zum Beispiel „Männer zwischen 40 und 60 in der Midlife-Crisis”, „Verheiratete, und solche, die es mal waren” oder „Dresdner, die Erfahrungen mit Stasi-Akten haben”. Die Möglichkeit, ein sehr spezifisches Ensemble zusammenzustellen, birgt für die Inszenierungen ein großes ästhetisches und inhaltliches Potenzial. Die Regisseure suchen nach Spielweisen und Methoden, die sich nicht einfach aus dem Profitheater übertragen lassen, Autoren experimentieren mit der Bearbeitung von Stücken und Interviewmaterial und für Dramaturgen stellen sich neue Herausforderungen bei der Entwicklung der Handlungen. Die Fragen lauten stets: Warum soll dieser Stoff mit Laien auf die Bühne gebracht werden? Was können Dresdner Darsteller an Habitus, Inhalten und Geschichten mitbringen, von denen das Theater profitiert? Welche Fähigkeiten stehen nicht vorrangig im Konkurrenzverhältnis mit den professionellen Schauspielern unseres Ensembles?

Aber nicht nur auf der Bühne, auch in den Spielclubs wirken Bürger mit. Die Clubs finden wöchentlich statt und am Ende der Spielzeit stehen eine Werkstattpräsentation sowie ein Festivalwochenende. Theaterpä­ dagogen, Schauspieler und Regieassistenten bestreiten mittlerweile elf Spielclubs pro Spielzeit: etwa den Club der anders begabten Bürger (Dresdner mit geistiger Behinderung) oder den Club der wütenden Bürger. Die Clubs haben mittlerweile eine sehr lebendige Kultur entwickelt, Aufführungen und Festival sind beliebt. Außerdem gibt es das Bürgerdinner. Es existiert nun in der fünften Spielzeit und lädt an eine moderierte Dinner-Tafel jeweils zwei Dresdner Gruppen, von denen wir glauben, dass sie einmal miteinander essen sollten – Punks und Banker, Hebammen und Bestatter, laute und leise Dresdner, Vertreter aus Kirche und Erotik oder Laien und Profis. Denn Essen macht Spaß und zwingt zu ungezwungenen Gesprächen. Das Publikum darf mitessen. In vielen Projekten entsteht ein spezielles Mischungsverhältnis zwischen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher ethnischer oder sozialer Herkunft. Durch die Ansprache in den Ausschreibungstexten versuchen wir häufig, eine Zuschreibung zu vermeiden und bilden neue Gruppen, die sich einer gängigen Einordnung entziehen. So schreiben wir kein Projekt für „Arbeitslose” aus, sondern für „Dresdner mit zu viel Freizeit, gegen den Stress des Nichtstuns”. Das führt dazu, dass Arbeitslose sich zwar angesprochen fühlen und erscheinen, aber nicht unter sich bleiben, sondern mit unterbeschäftigten Kindern, Rentnern, gelangweilten Lehrern und anderen eine ganz eigene „Randgruppe“ bilden. So ist der Blick des Betrachters, der mit seiner Zuordnung „innerhalb oder außerhalb einer Gesellschaft stehend” immer auch gesellschaftliche Ordnungen reproduziert, auf dem Prüfstand, und es beginnt ein vielfältiges Spiel mit Identitäten und Realitäten, welches sich nicht auf Milieu und Klasse reduzieren lässt. Laut einer Umfrage waren 50 Prozent der beteiligten Darsteller vor ihrer Teilnahme an einem Projekt in den letzten zehn Jahren nie im Theater. Wenn wir Theater als Instrument der Auseinandersetzung für diese Gesellschaft denken, ist es keineswegs ein Widerspruch, Theaterprojekte für Laien anzubieten, damit das Theater voller wird, sondern es ist die Pflicht der Theaterschaffenden, möglichst viele Menschen für Theater zu interessieren. Die Darsteller der Bürgerbühne gehen durchschnittlich mehr als sechsmal so häufig ins Theater wie zuvor und sie bringen durchschnittlich 25 Bekannte mit in ihre eigene Vorstellung. Nicht zu messen sind das Gefühl von Zugehörigkeit zum eigenen Theater und der Wert, den Theater für die Darsteller bekommt.


46 Sir Harry’s Song Harrison Birtwistle 80, Porträt des Komponisten

Sir Harrison Birtwistle zählt zu den bekanntesten zeitgenössischen Kompo­ nisten Englands. Er erhielt Kompositi­ onsaufträge zahlreicher internationaler Institutionen und seine Werke stehen auf den Programmen großer Musikfestivals wie der Salzburger Festspiele oder der BBC Proms. Im Jahr 2014 feiert er seinen 80. Geburtstag. Das Festival „Sir Harry’s Song“ nimmt dieses Jubiläum zum Anlass, den Komponisten zu würdigen und vor allem sein Vokalschaffen in Hannover vor­ zustellen. Zum Auftakt des Konzertwo­ chenendes in Herrenhausen wird es ein öffentliches Gespräch mit dem Kompo­ nisten geben. Die Konzerte selbst bieten einen Einblick in die Bandbreite seines Schaffens, von Kompositionen für Sopran und Ensemble bis zu Kompositionen für Kinderchor oder Puppentheater. Die musikalische Leitung hat der englische Dirigent Stefan Asbury, einer der führen­ den Dirigenten zeitgenössischer Musik. Als Orchester ist das Neue Ensemble aus Hannover verpflichtet, das sich der­ Neuen Musik verschrieben hat und diese ­seit 20 Jahren in außergewöhnlichen Auf­führungen zugänglich macht. Die Hochschule für Musik in Hannover ist Kooperationspartner des Festivals und wird einen Semesterschwerpunkt zu Birt­ wistle anbieten. Künstlerische Leitung: Stephan Meier Komponist: Sir Harrison Birtwistle (GB) Musikalische Leitung: Stefan Asbury (GB) Sänger/innen, Musiker/innen: Allison Cook (GB), Das Neue Ensemble, Studiengänge Kammermusik und Lied, Institut Incontri der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (MTMH), Jan Philipp Schulze Einführungen, Workshops: Hochschule für Musik und Theater, Hannover: 15.3.–24.10.2014; Konzerte: Hannover (Herrenhausen): 25.–26.10.2014 ↗ www.dasneueensemble.de

Choreografie und Protest Tanztraining für den Aufstand; Trainingscamp & partizipative Aufführungsformate

Massenproteste auf dem Istanbuler Taksim-Platz, Occupy-Bewegung, Auf­ stände in Tunesien und Ägypten – diese Ereignisse nimmt Kampnagel zum Anlass, Verbindungslinien von Choreografie und Protest herauszuarbeiten. Ausgangspunkt hierfür ist die Beobachtung, dass ver­ schiedene Gruppen choreografische und tänzerische Elemente in ihren Protest in­ tegrieren, wie die europäische Rebel Clown Army, die „je danserai malgré tout“Bewegung aus Tunesien oder der „Stan­ ding Man“ vom Taksim-Platz. In acht Trainingscamps, die ohne tänzerische Vorkenntnisse besucht werden können,

wird das Potenzial, das choreografische Strategien für die Protestbewegung ha­ ben, untersucht und trainiert. Realität und Inszenierung sollen dabei bewusst vermischt und die reale Protestbewe­ gung in den theatralen Raum einbezo­ gen ­werden. Trainer/innen sind u.a. der Queer-­Aktivist Keith Hennessy, Künstler und Mitglied der englischen Rebel Clown Army, John Jordan, der „Standing Man“ aus Istanbul, Erdem Gündüz, der Tänzer Bahri Ben Yahmed und die Dramaturgin Mariem Guellouz, die an der „je danserai malgré tout“-Be­wegung beteiligt sind, so­ wie die Theoreti­kerin Ana Vujanovic. Ne­ ben dem Trai­nings­programm werden zwei Neu­insze­nierungen von Keith Hen­ nessy bzw. Saša Asentić und das Stück „9x9“ von Christine De Smedt aufgeführt, in dem die Regisseurin mit 81 Laien­ künstlern arbeitet. „Choreografie und Protest“ ist eine Plattform für hochkarätige Choreografen, Tänzer, Theoretiker und politische Akti­ visten und ermöglicht Künstlern und Pu­ blikum, gemeinsam nach den „sozialen Choreografien“ (Andrew Hewitt) von heu­ te zu suchen. Künstlerische Leitung: Melanie Zimmermann, Caroline Spellenberg Choreografie: Keith Hennessy (US), Saša Asentić (CS), Christine De Smedt (BE), Erdem Gündüz (TR), John Jordan (GB), Bahri Ben Yahmed (TN), Mariem Guellouz (TN), Margarita Tsomou u.a. Kampnagel, Hamburg: 1.–14.6.2015 ↗ www.kampnagel.de

The Complete Manual of Evacuation Ein Orientierungsplan für die Rhein-Main-Region

Das Frankfurter Künstlerhaus Mou­ son­turm veranstaltet in Koproduk­tion mit dem Festival/Tokyo ein drei­wöchiges Städteraumprojekt: Künstlerische Instal­ lationen und Interventionen werden im Umfeld von etwa 30 S-Bahn-Stati­onen des Rhein-Main Verkehrsverbundes ­insze­­niert, der u.a. die Städte Mainz, ­Wiesbaden, Darmstadt, Offenbach und ­Frankfurt am Main vernetzt. Zahl­reiche regionale Institutionen wie die Staatsthe­ ater in Darmstadt und Mainz oder die Hessische Theaterakademie sind Koope­ rationspartner. Die künstlerischen Arbei­ ten entstehen in einer Region, für die an­ sonsten hohe Funktionalität und die an Arbeit und Effizienz ausgerichteten Transport- und Pendlerbewegungen be­ stimmend sind. Charakteristisch für die Arbeitsweise der beteiligten Künstler und Künstlerkollektive ist die Neu-­Definition öffentlichen Raumes: Das Kollektiv ­OPOVOEMPÈ aus São Paulo entwickelt choreografische Arbeiten, die etwa in Nahverkehrszügen oder Shoppingzentren der brasilianischen Millionenstadt zu ­sehen waren. Die mit internationalen Preisen ausgezeichnete Gruppe LIGNA entwickelt Shows, performative Interven­ tionen und Installationen im öffentlichen

Raum. Kurator und künstlerischer Leiter ist der japanische Regisseur Akira Takayama, einer der innovativsten jungen Regisseure Japans. Mit seinem Evakuierungsplan f­ ür Tokyo im Rahmen des Festival/Tokyo 2010 ist es ihm gelungen, Knotenpunkte der alltäglichen Transitexistenz neu zu besetzen. Damals hatte er künstlerische Interventionen und B ­ egegnungen an den Bahnhöfen einer S-Bahn-Linie der japa­ nischen Hauptstadt inszeniert. Der Besucher kann die einzelnen Sta­ tionen zunächst allein besuchen. Je mehr Stationen er besucht, je mehr er sich auf die Evakuierung einlässt, desto mehr wird er zum Eingeweihten, der Zutritt zu be­ sonderen Orten und Treffen erhält. Künstlerische Leitung: ­ Akira Takayama (JP) Künstler/innen: Chris Kondek, LIGNA, Leonardo Moreira (BR), Carlos Motta (US), OPOVOEMPÈ/Cristiane Zuan Esteves (BR), Mariano Pensotti (AR), Hendrik Quast und Maika Knoblich, Nuno Ramos (BR), Rhizomatiks (JP), Daito Manabe (JP) und Motoi Ishibashi (JP) Städteraumprojekt Rhein-Main-Gebiet: 12.–28.9.2014 ↗ www.mousonturm.de


47 Öko-Management

Die Gremien der Kulturstiftung des Bundes Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwer­ punkte der Förderung und die Struktur der Kultur­ stiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maß­ge­ benden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. (Die Markierung * in folgender Übersicht entspricht der Zusammensetzung des Stiftungsrates bei seiner 25. Sitzung am 4. Dezember 2013.)

Stiftungsrat Vorsitzende des Stiftungsrates Prof. Monika Grütters Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien für das Auswärtige Amt* Cornelia Pieper Staatsministerin a.D. für das Bundesministerium der Finanzen Steffen Kampeter Parlamentarischer Staatssekretär für den Deutschen Bundestag* Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident Dr. h.c. Wolfgang Thierse Bundestagspräsident a.D. Hans-Joachim Otto Parlamentarischer Staatssekretär a.D. als Vertreterinnen der Länder* Eva Kühne-Hörmann Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst Prof. Barbara Kisseler Kultursenatorin im Hamburger Senat als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund als Vorsitzender des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder Winfried Kretschmann Ministerpräsident von Baden-Württemberg als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Durs Grünbein Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

Stiftungsbeirat Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten. Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vorsitzender des Stiftungsbeirates Dr. Dorothea Rüland Generalsekretärin des DAAD, stellv. Vorsitzende des Stiftungsbeirates Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Vorstands der Deutsche Bank Stiftung Jens Cording Beauftragter der Gesellschaft für Neue Musik e.V. Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats

Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Dr. Volker Rodekamp Präsident des Deutschen Museumsbundes e.V. Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. Johano Strasser P.E.N. Deutschland Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di e.V. Prof. Klaus Zehelein Präsident des Deutschen Bühnenvereins e.V. Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats e.V. Jurys und Kuratorien Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter www.kulturstiftung-­ bund.de bei den entsprechenden Projekten.

Die Stiftung Vorstand Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor Sekretariate Beatrix Kluge / Beate Ollesch (Büro Berlin) / Christine Werner Team Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche Justitiariat / Vertragsabteilung Christian Plodeck ( Justitiar) / Susanne Dressler / Katrin Gayda / Doris Heise / Anja Petzold Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung) / Tinatin Eppmann / Bosse Klama / Juliane Köber / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier Förderung und Programme Kirsten Haß (Leitung) / Ursula Bongaerts / Marius Bunk / Kristin Dögel / Marcel Gärtner / Dr. Marie Cathleen Haff / Teresa Jahn / Dr. Alexander Klose / Antonia Lahmé / Christiane Lötsch / Anne Maase / Uta Schnell / Karoline Weber Allgemeine Projektförderung Torsten Maß (Leitung) / Bärbel Hejkal / Hanna Saur Projektprüfung Steffen Schille (Leitung) / Antonia Engelhardt / Franziska Gollub / Berit Koch / Fabian Märtin / Antje Wagner / Barbara Weiß Verwaltung Andreas Heimann (Leitung) / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe

Die Kulturstiftung des Bundes hat sich mit EMAS (Abk. für: Eco-Management and Audit Scheme) einer Umweltpolitik verschrieben, die sie zur fortwährenden Verbesserung ihres Umweltverhaltens anhält. Dank ihrer Anstrengungen wurde der Stiftung 2012 das EMAS-Zertifikat für ressourcenfreundliches Wirtschaften verliehen – eine von der Europä­ ischen Union entwickelte Auszeichnung für Organisationen, die freiwillig die strengen Voraussetzungen ­der EG-Öko-Audit-Verordnung erfüllen. Im Rahmen ihrer Zertifizierung bemüht sich die Kulturstiftung, die von ihr verursachten Belastungen für die Umwelt kontinuierlich zu reduzieren. So steht etwa ihr Neubau für eine ökologische Bauweise und setzt in besonderer Weise auf energie­ effiziente Technologien. In unmittelbarer Nachbarschaft bezieht in diesem Jahr zudem ein Bienenvolk sein neues Domizil, für das die Kulturstiftung eine Patenschaft übernommen hat: Zwei unserer Mitarbeiter werden von einem Imker angelernt und betreuen dann die Bienen – unser Beitrag zum Über­ leben der bedrohten Bienenvölker. Darüber hinaus möchte die Stiftung auch ihre Kooperationspartner, Projektträger und andere interessierte Institutionen motivieren, ihre Aktivitäten an den Prinzipien der Nachhaltigkeit auszurichten. Dafür hält sie umfangreiches Informationsmaterial bereit und veranstaltet 2014 drei internationale Workshops zum Thema „Nachhaltigkeit trainieren“. Mit ihrem Schwerpunkt Nachhaltigkeit & Zukunft hat die Stiftung zudem eine Reihe eigener Projekte – zum Beispiel die Initiative „Über Lebenkunst“ (2010–2012) – ins Leben gerufen und fördert weiterhin Projekte, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen. Weitere Informationen zum Umweltmanagement der Kulturstiftung und zum ökologisch-nachhaltigen Wirtschaften finden Sie auf unserer Website.

Impressum Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 2 06110 Halle an der Saale T 0345 2997 0, F 0345 2997 333 info@kulturstiftung-bund.de ↗ www.kulturstiftung-bund.de Vorstand Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz (verantwortlich für den Inhalt) Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Beratung Tobias Asmuth Schlussredaktion Christoph Sauerbrey Gestaltung Neue Gestaltung, Berlin Druck BUD, Potsdam

Redaktionsschluss 28.2.2014 Auflage 26.000 Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes – alle Rechte vor­behalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes.

Das Magazin Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen ­möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter: ↗ www.kulturstiftung-bund.de/­magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, erreichen ­ Sie uns auch telefonisch unter +49 (0) 345 2997 131. ­ Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf! Die Website Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine ­umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der Stiftung, ­die Förderanträge und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns auf: ↗ www.kulturstiftung-bund.de ↗ facebook.com/kulturstiftung ↗ twitter.com/kulturstiftung Bildstrecke Fotos: Moshekwa Langa (courtesy by the artist)



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.