Magazin #20 der Kulturstiftung des Bundes

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7 Editorial Alles neu? Die Idee, die Arbeit der Kulturstiftung des Bundes in einem regelmäßig erscheinenden Magazin vorzustellen, ist fast so alt wie die Stiftung selbst. Das Magazin ist, wenn Sie so wollen, unser ältestes Projekt, das wir nun nach zehn Jahren einer Verjüngungskur unterziehen. Im Laufe der Zeit ist es unser Aushängeschild geworden, und das soll es bleiben. In halbjährlichem Abstand, gemäß dem Turnus der Zusammenkunft des Stiftungsrates, der die neuen Vorhaben bewilligt, haben wir Sie über eigene Programme und geförderte Projekte informiert. Doch ging es uns immer um mehr als reine Information und Berichterstattung. Es war und ist auch künftig unser Anliegen, Ihnen vor Augen zu führen, aus welchem Geist unsere Initiativen und Förderungen entstehen. Dass alle vorgestellten Projekte von der Stiftung Geld erhalten, ist nur der kleinste gemeinsame Nenner. Mit dem Magazin begeben wir uns hingegen auf die Suche nach dem größten gemeinsamen Teiler: Aus diesem Grund bitten wir Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – vor allem Wissenschaftler/innen und Schriftsteller/innen – sich auf ihre Art mit Themen auseinanderzusetzen, die im gedanklichen Zentrum unserer Projekte stehen. Wir wollen ganz bewusst jemanden ‚von außen‘ draufgucken lassen und zu breiteren Diskussionen anregen, um die ‚Innensicht‘ von Kuratoren oder Dramaturgen auf ihre Projekte zu ergänzen und zu erweitern. Im Übrigen bleibt es aber dabei, dass alle Beiträge unserer Autorinnen und Autoren samt und sonders Erstveröffentlichungen sind, ganz gleich, ob es sich um literarische, um wissenschaftliche Beiträge, um Interviews oder Essays handelt. Wir sind überzeugt, dass die meisten Projekte, die wir fördern, in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche aus­strahlen und sind manchmal selbst überrascht, welche Querverbindungen sie eingehen, welche Cluster sie bilden. So können wir derzeit feststellen, dass offensichtlich das Interesse an Projekten mit afrikanischen Partnern (S. 13 und 35) wächst, und freuen uns, dass wir mit unserem Afrika-Programm TURN einem gestiegenen Bedarf entsprechen können (S. 15). Auch scheinen ethnologische Sammlungen und ihre Ausstellungen eine Konjunktur zu erleben (S. 24 und 29). Die Kulturstiftung des Bundes widmet sich in dieser Hinsicht insbesondere Vorarbeiten zum künftigen Humboldt-Forum im sog. Humboldt Lab Dahlem (S.23). Und natürlich freuen wir uns über Innovationen und Experimente wie z.B. das Musicalprojekt auf Kampnagel Hamburg (S.34), das ein in der Hochkultur vernachlässigtes Genre neu belebt, oder das Roma-­ Filmfestival (S.30) des Berliner Collegium Hungaricum, ein im Bereich des Filmschaffens bahnbrechender Versuch, die Kultur der Roma zu stärken. Wir wünschen Ihnen aufschlussreiche und inspirierende Lektüre! Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz (Vorstand Kulturstiftung des Bundes)


8 Gebaute Traumwelten — Eine Bildstrecke von Kader Attia

Kolonisierung? Globalisierung? Einfluss­ nahme? Die Bilder des Künstlers Kader Attia zeigen in der Architektur des Mittelmeer­ raumes die Ästhetik, Technik und kulturellen Eigenheiten der verschiedenen Völker. S. 1 / 50

Die Verwechslungen hören nicht auf — Monika Rinck

Inhalt

Das Tragische und das Komische. Was Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ mit seinem „Woyzeck“ verbindet, erklärt Monika Rinck. S. 10

Wort und Wissen BIGSAS / The Art of Being Many / ZOO 3000 – Die explodierte Universität / Dintenuniversum S. 13

Meldungen Themenschwerpunkt: Afrika / Akademie Fellowship Internationales Museum S. 15


9 Verschiedene Wörter

Auf dem Weg über die Grenze

Von der Illusion einer Umarmung

— Katja Lange-Müller

— André Jenö Raatzsch

— Barbara Behrendt

„Viele Wörter gehörten, damit sie nicht gänzlich dem Vergessen anheimfallen, in ein Wort-Museum. Aber ein solches Museum gibt es nicht – und auch keinen Wörterfriedhof, obwohl ich, und vermut­­­lich nicht nur ich, einen solchen gern besuchte, ab und an.“

Eine Premiere: Mit „Erdbeer­sonntag“ ­wagen sich die Landesbühne Niedersachsen Nord und das Teatr Polski auf das schwierige Terrain der Geschichte von Deutschen und Polen. S. 40

S. 16

Und vergib uns unsere Schulden — Thomas Macho

Die Welt in Fesseln: Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho begibt sich in seinem Essay auf die Suche nach unserer existentialen, mora­lischen und ökonomischen Schuld. S. 18

Tanz als Fremdsprache

Gedanken zur Anerkennung und Wertschätzung der Kultur der Sinti und Roma in Deutschland und Europa S. 30

Film und Neue Medien DOKU.ARTS – Second Hand Cinema / Utopien vermeiden – 20 Jahre Werkleitz S. 33

Bühne und Bewegung

„Tanz sind Gesten, die keine Bedeutung haben, wohl aber einen Sinn.“ Musik und Tanz gelten als Universalsprachen, die keiner Übersetzung bedürfen. Warum der Tanzkongress in Düsseldorf trotzdem den Titel „Bewegungen übersetzen“ trägt?

Orfeo / Relations Festival / Über.leben / Situation Rooms / AUGENBLICK MAL! – Facing Reality / Precarious Bodies / Post Musicals

Wie viel kann ein Museum fassen? — Humbold Lab Dahlem

Das Humboldt Lab Dahlem erforscht Räume zwischen Ethnologie und Kunst.

S. 34

Forget it. — Hermann Lübbe

500 Milliarden wären schön

Was denken Vorstandsvorsitzende und Vermögensberater, Broker und Börsen­makler über die Zukunft des inter­nationalen Finanzsystems? Andres Veiel führte Gespräche mit 25 ehemaligen Bankern und komponierte daraus sein Theaterstück „Das Himbeerreich“.

Impressum

Bild und Raum

S. 24

S. 42

S. 44

S. 23

Ohnmacht als Situation / Kierkegaard – Entweder / Oder / 12. Triennale Kleinplastik Fellbach / ZERO / Made in Oceania: Tapa / Nancy Graves – Retrospektive / Mensch — Raum — Maschinen / In der Strafkolonie / Door: Between Either and Or / Continental Drift / Ware und Wissen / Das geheimnisvolle Organ / Performance Electrics / Brian O’Doherty / Fast Forward – Streetart@Hellerau / MIES 1:1 – Das Golfclub Projekt

ATLAS. Inseln der Utopie / jazzwerkstatt Peitz Nr. 50 / Achtbrücken | Musik für Köln 2013 / Mediterranean Voices / Avant Avantgarde / Milchstrom, Fragebett, Gralsmaschinen

­— Interview mit Andres Veiel

— Tanzkongress 2013

S. 22

Musik und Klang

S. 48

Gremien  Rascher als die Erinnerung expandiert das Vergessen, das Friedrich Nietzsche als lebensnotwendig ansah, während er den Historismus für schädlich hielt. Der Philosoph Hermann Lübbe über das Vergessen als Medium des Glücks. S. 36

S. 49


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Die Verwechslungen hören nicht auf Das Tragische und das Komische. Was Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ mit seinem „Woyzeck“ verbindet.

S

Monika Rinck

aus der gleichen sprachlichen Wurzel: theoria. Ich lache (Demütigung und Korrektur) – über ein Laster, das mich nicht bewegt, sagt Bergson, und unterstreicht hiermit erneut, dass mangelnde Empathie eine Voraussetzung für Amüsement sein kann. Wünschte sich Büchner, dass im imaginären Publikum seines erst 1895 in München erstaufgeführten Dramas „Leonce und Lena“ eine Lachgemeinschaft entstünde, ein heiteres oder höhnisches Bündnis gegen die turtelnden adeligen Nichtstuer? Heutzutage erkennt man schon an, dass die Eliten fleißig arbeiten, aber oft in leerer Emsigkeit ausbrennen, hilflos angesichts unendlich komplexer globaler Vernetzungen des Marktes – zumindest stellt man es so dar. Das Geschehen an den Börsen als Orakel von Delphi jeweils zur vollen Stunde versendet und im GlutHier kommt die schwer leserliche, kern der symbolischen Ordnung ein komaber schier evidente Urteilskraft des Kör- plett imaginäres Verdampfen – das ist pers ins Spiel, außerdem: Angst als das nicht ohne Witz. Gegenüber von Philosophie. Sowohl das In der Komödie zeigt sich exem­pla­ Gelächter als auch der erschreckte Aufschrei gehören zu den Formen des re- risch, dass die symbolische Ordnung flexhaften Ausdrucks, die der Religions- be­­kanntermaßen durch ihr Misslingen philosoph Klaus Heinrich als Realsubstrat glückt. Die ganze Komödie spricht dafür – (einer kultischen Handlung) fasst. Es sind und lacht deswegen. Das Lachen ist diese konvulsivischen Bewegungen, die damit sowohl die Anerkennung der OrdFreilich bewegt man sich hier auf auf eigenständige Art für die psychoso- nung als auch ihr Unterlaufen, weswegen schlin­gerndem Terrain, denn der ver­ matische Wirklichkeit einstehen – sei es Baudelaire es zu den künstlerischen Phärohte Mensch kann schließlich über alles eines Kultaffekts, einer inneren Verwer- nomenen zählt, die dem Menschen seine lachen. Diese Möglichkeit soll uns nun fung oder einer ästhetischen Erfahrung – Mehrdeutigkeit offenbarten, das Vermökein Argument sein. Doch hilft es dem denn Gottesschau und Theater kommen gen, zugleich man selbst und ein anderer

ie kennen Georg Büchners berühmte Komödie „Woyzeck“? Dann kennen Sie sicherlich auch sein Trauerspiel „Leonce und Lena“. Falls Ihnen diese Fragen nicht widersinnig erscheinen, kennen Sie vermutlich weder „Woyzeck“ noch „Leonce und Lena“. Ah, das war ein Scherz. Dennoch: Bitte lassen Sie diese Brille noch einen Moment auf. Es scheint einfacher zu sein, das komödiantische Potenzial in „Woyzeck“ frei­ ­zulegen, als die tragische Grundtendenz in „Leonce und Lena“ erkennen zu wollen. Oder ist es umgekehrt? Henri Bergson schreibt in seinem Buch „Das Lachen“, dass „die Komik vor allem eine beson­dere Unfähigkeit des Menschen, sich der Gesell­ schaft anzupassen, wider­spiegele“, und dass dort, wo sich ein Mensch gegen die Integration in die Gesellschaft sträube, eine Versteifung eintrete. Diese Versteifung werde allerdings von der Gesellschaft nur sehr ungern gesehen; daher diene das Lachen als zuweilen auch demütigende Korrektur – zur Re-Kollektivierung des Versteiften. Ein eigenartig fühlloses Miteinander tut sich in dieser Theorie auf, was uns einen ersten Hinweis darauf gibt, dass das Komische nicht zu verharm­losen ist.

Unglücklichen zu wissen, dass ich nicht wegen, sondern trotz seines Unheils lache? Komik und Schauer „haben bei aller Gegensätzlichkeit der Wirkung manches miteinander gemein“, heißt es im Büchner Jahrbuch aus dem Jahr 1983, „etwa die Entgrenzung des Verstandes zugunsten der Einbildungskraft. Komik und Schauer konvergieren in einer physiologischen Wahrnehmungsästhetik. Im Schauer als präreflexiver, körperlich nervlicher Sensation der Empfindungen werden die ungelösten Fragen und abstrakten Antworten der Philosophie mit unmittelbarer, konkreter Daseinsangst beantwortet. Im Komischen hingegen, dessen Dimension vom Vorreflexiven zum Reflexiven reicht und aus der Plötzlichkeit und Unver­ mitteltheit ihres Zusammentreffens lebt, wird das Philosophieren zentral.“


11 zu sein. „Das Ich, das unter dem Einbruch der Triebladung, die das Symbo­ lische zerreißt, lacht, ist nicht das Ich, das beobachtet und erkennt“, schreibt Julia Kristeva in der „Revolution der poe­ tischen Sprache“. Aber es trägt zumindest noch die Kontur des beobachtenden Ichs, etwa nach der Art, wie Bergson das Lachen als Schaum auf den Wogen beschreibt, der an der Oberfläche den Aufruhr in der Tiefe nachbildet. Eine Art von philosophischem Slapstick

Gelächter muss allerdings zurück über­ setzt werden, wenn es seinen kritischen oder erkenntnisrelevanten Part einholen will. Vorerst flutet es die Urteilskraft, es flutet den ganzen Erkenntnisapparat. Gert Mattenklott beschreibt sehr schön diesen Ausbruch ins Alberne – und ins ganz Andere. „Dieses Lachen steigt auf aus der Körpermitte, scheinbar eine wilde, unüberlegte, reflexhafte Reaktion gegen alles Kultivierte und alle disziplinierenden Zumutungen. Der alberne Strudel macht vor Nichts halt, d.h., er hält nicht eher ein, als bis das Nichts erfahren worden ist. In den Krämpfen der Albernheit wird das Bedeutende aus dem Körper geschwemmt bis zur körperlichen Erschöpfung, eine Vernichtung alles bürgerlich Repräsentativen nicht nur, sondern – weit radikaler – der Ordnung von Repräsentation. Es gibt nur noch Zeichen, kein Bezeichnetes, nur Worte oder Gesten, keinen Sinn.“ So ausgelacht, lässt die Komödie den Zuschauer im besten Fall erschöpft und heiter untätig zurück. Die Tragödie dagegen dürfe, so die antike Rhetorik, als Vorbereitung auf kommendes Unheil gelten – und sei schon allein deswegen der Komödie überlegen, die sich etymologisch etwas unsicher entweder von komoi: „ausgelassene Umzüge mit allerlei Schabernack“ oder komai herleitet: Vororte, in denen die als ehrlos aus der Stadt vertriebenen Komödianten umherziehen, wie Rudolf Helmstetter anmerkt. Das Personal der Tragödie entstammt den höheren Klassen, Götter treffen dort auf Halb­götter, auf Könige und Königinnen, metaphysische Ordnungen kollidieren. Die Komödie rangiert unter den niedrigen Gattungen, und ihr Personal entstammt dem niedrigen Stand. Das ist in unserem Beispiel nun allerdings umgekehrt: „Woy­ zeck“ spielt im einfachen bis verelen­ deten Milieu, das Lustspiel „Leonce und Lena“ ist im Hochadel der Kleinstkönigtümer Pipi und Popo angesiedelt. Fiktion und Wahrheit

Freilich entsprechen der Komödie und der Tragödie unterschiedliche Menschenbilder, die sich seit der Antike immer wieder gewandelt haben. Es zeigt sich ihr je eigenes Verhältnis von Fiktion und Wahrheit, von Ich und Ich-Ideal, Subjektivierung und Objektivierung, Handlungs­ fähigkeit und fatalistischem Ablassen, von Freiheit und Vorsehung und was dergleichen Oppositionen mehr sind. Doch erlauben Sie mir, nochmals auf Bergson zurückzukommen: „Das Komische an einem Menschen ist das, was an ein Ding erinnert. Es ist das, was an einen starren Mechanismus oder Automatismus, einen seelenlosen Rhythmus denken lässt.“

Fast forward: Georg Büchners Lenz in den Bildern des jungen Berliner Illustrators Jörg Hülsmann


12 Ist es vielleicht so: Da das Ding doch noch Seele hat, entwringt sich Komik, als würde man beides gegeneinander verdrehen? Hier geistert die Idee der körperlichen Unempfindlichkeit herum, die in vielen Slapstickfilmen anschaulich wird. Der Begriff des Slapsticks leitet sich übrigens ab von der Klatsche, die der Harlekin der „Commedia dell‘Arte“ zum Einsatz kommen lässt. Sie ist laut, aber wenig schmerzhaft, heißt es. Wir kennen den Einsatz der Klatsche, genauer des Stocks, im Zusammenhang mit philosophischer und religiöser Lehre. Büchner führt an einigen Stellen in beiden Dramen eine Art von philosophischem Slapstick vor – unter dem vor allem Woyzeck zu leiden hat. Doch Büchners Hohn gilt denen, die Philosophie, Wissenschaft generell, nutzen, um Hierarchien zu befestigen, um Menschen mittels wissenschaftlichen Fort­­schritts zu demütigen. Und dieser Fortschritt nimmt zur Zeit Büchners enorm an Fahrt auf. „Der Status des Menschen im Denken der Moderne ist von Grund auf uneindeutig“, schreibt Eduardo Viveiros de Castro im Animismus-Reader „Revisionen der Moderne“. „Einerseits ist der Mensch eine Tierart unter anderen, und das Tierreich umfasst auch den Menschen; andererseits ist das Menschsein ein moralischer Zustand, der Tiere ausschließt. Im problematischen, disjunktiven Begriff „menschliche Natur“ existieren diese beiden Zustände nebeneinander.“ Büchner ist der Erste, der die revol­tie­ rende Erkenntnis vom biologischen Men­ schen künstlerisch umsetzt: seine phy­ sische Kontinuität bei metaphysischer Dis­kontinuität. Er schreibt, wie Durs Grünbein formuliert hat, „das Drama des biologischen Menschen, die Kritik der reinen Vernunft aus der Natur des Schmerzes“. Zum Beispiel da, wo der Doktor seinen Probanden Woyzeck tadelt, weil der die Auswertung seines Experiments erschwert hat, indem er sich bereits erleichtert hat, und Woyzeck sich mit den Worten verteidigt: „Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt.“ Doktor: „Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur! Hab ich nicht nachgewiesen, dass der musculus constrictor vesicae dem freien Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit.“ Nähern wir uns dem Men­ schlichen nun einmal von seinen Rändern her, dazu noch aus verschiedenen Richtungen. Betrachten wir zum einen das astronomische Pferd auf dem Jahrmarkt aus dem „Woyzeck“, Bewusstsein als Sensation!, zum anderen den Auftritt der großartigen Automaten in „Leonce und Lena“. „Leonce und Lena“ – zwei adlige Heiratsautomaten

Da preist der Jahrmarktsausrufer seine Menagerie, die aus einem Kanaillenvogel und einem hochbegabten Pferd besteht: „Alles Erziehung, haben eine vieh­ische Vernunft, oder vielmehr eine ganze vernünftige Viehischkeit, ist kei viehdummes Individuum wie viel Person, das verehrliche Publikum abgerechnet.“ An diese Art der marktschreierischen Vor­führung wird der Leser oder Zuschauer sich später erinnern, wenn Woyzeck im Hof des Professors der Studentenschaft vorgeführt wird. Doch bleiben wir noch einen Moment auf dem Jahrmarkt: „Zeig dein Talent! Zeig

dein viehische Vernünftigkeit! Bschäme die menschlich Sozietät! Sehn Sie jetzt die doppelte Räson! Das ist Viehsionomik. Ja das ist kei viehdummes Individuum, das ist ein Person! Ei Mensch, ei tierische Mensch und doch ei Vieh, ei bête. (Das Pferd führt sich ungebührlich auf.) So bschäm die Societé. Sehn Sie, das Vieh ist noch Natur, unverdorbe Natur! Lern Sie bei ihm.“ Das Pferd, so komplettiert durch viehische Vernünftigkeit, hat dem Menschen nun sogar etwas voraus: nämlich, dass es seine Natur nicht verleugnen muss. Der Mensch hingegen wird in eine neue dilemmatische Klemme genommen. Ich erinnere kurz an einen Ausspruch Heinrich Heines, der irgendwo anmerkte, dass die Affen eigentlich auch Menschen seien und nur deswegen nicht sprächen, um nicht zum Arbeiten gezwungen zu werden. Eine industrielle Utopie sah einmal vor, dass alle Arbeit von Automaten verrichtet werden sollte. Dieses Versprechen wurde allerdings insofern nur pervertiert eingelöst, als viele Menschen im Dienste des Arbeitsprozesses zu Automaten gemacht wurden – oder Arbeitslosigkeit erlitten. Auch die adligen Heiratsautomaten aus „Leonce und Lena“ gehören gewissermaßen zur Gattung von Adornos Automatenmenschen, die starr sind, weil sie sich selber als die Automaten erfahren, als die sie in der Welt verwendet werden: „Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern.“ Die Auto­maten sind auf den Glockenschlag geeicht und kulturell gebildet, in jeder Hinsicht perfektioniert. Im jüngsten Versuch, die Moderne einer Revision zu unterziehen, finden sich diverse Ansätze einer emanzipativen Objektivierung oder Selbstverdinglichung – etwa die Sehnsucht der verdinglichten Seele, ganz Ding zu werden. Auch andere nicht-westliche Konzepte von Subjektivität werden debattiert, die von den Beziehungen ausgehen, die zwischen Menschen, Tieren und beseelten Dingen bestehen. Das führt zu Konzepten von Kollek­tivität, in denen die Relationen zentral sind, so dass die Beziehungen einerseits in das Wesen Einzug halten und das Wesen gleichsam durch sie erweitert wird – eine Ausweitung der Sen­ sibilität, der vielleicht das gesteigerte ökologische Bewusstsein hierzulande entspricht. Das nur am Rande, ich möchte auf die harsche Realität der Verdinglichung durch Zwangsarbeit und Experiment zu Sprechen kommen. Wir erinnern uns: Woyzeck geht in die pharmazeutische Prostitution, er verpflichtet sich, nur noch Erbsen zu essen und wird für die Darbietung der krankhaften Phänomene honoriert, die in ihm stattfinden. Dieses Experiment, so nimmt die Büchner-For­ schung an, hatte wohl den Zweck, herauszufinden, ob man ein Heer auch mit Hülsenfrüchten allein ernähren könnte. Es geht also letztlich um Rationalisierung. Jüngst war in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: „EU will Tests an Menschen erleichtern.“ Unabhängige Ethikkommissionen sollen bei klinischen Tests nicht mehr beteiligt werden müssen – was auf einen niedrigeren Schutz­mechanismus hinausläuft, als er beim Tier­versuch Usus ist. „Die europäische Kommission behauptet, das bisher hohe Schutzniveau habe zur Behinderung der Forschung geführt, die Zahl der klinischen Prüfungen in der EU sei von 2007 bis 2011 um 25

Georg Büchner Am 17. Oktober 2013 feiert Georg Büchner seinen 200. Geburts­ tag. Vor dem Hinter­­grund seiner anhaltenden Aktualität und ungebroch­enen Bedeutung haben das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Hessische Literaturrat die „Büchner Gedenkjahre 2012 / 2013“ ausgerufen. Im Rahmen dieses Programms fördert die Kulturstiftung des Bundes die kulturhistorische Ausstellung „Georg Büchner. Re­ volutionär mit Feder und Skalpell“ (13.10.2013—16.2.2014) der Mathildenhöhe in Darmstadt sowie das Theater­festival „Büchner International“ (22.6.—30.6.2013), das das Stadt­ theater Gießen ausrichtet und namhafte Theatergruppen wie die südafrika­nische Handspring Puppet Company oder das Svoboda Zholdak Theater aus der Ukraine präsentiert. Die Kulturstiftung des Bundes hat in den vergangenen Jahren immer wieder Ge­­denktage zum Anlass genommen, sich in spe­ ziellen Projekten mit der Aktualität historisch bedeutsamer Per­ sönlichkeiten und ihren Wer­ken auseinanderzusetzen. Für die beiden Büchner-Projekte stellt sie insgesamt 650.000 Euro bereit. ↗ www.buechner-international.de ↗ www.mathildenhoehe.info

Prozent zurückgegangen. Es handelt sich freilich um den Zeitraum, in dem wegen der Wirtschaftskrise In­vestitionen weltweit eingebrochen sind.“ Kurzum: Es geht um Gewinnmaximierung. Beweist das nun Büchners Hell­sichtigkeit oder unsere Rückständigkeit? Niemals waren Arbeitssklaven so billig wie heute, niemals stellten die weltweiten Gesellschaftsverhältnisse so viele „versklavbare“ Menschen zu einem so günstigen Preis zur Verfügung. 2009 ging die ILO (Internationale Arbeitsorganisation der UNO, die sich für menschenwürdige Arbeit einsetzt) von etwa 12,3 Millionen als Sklaven arbeitenden Menschen weltweit aus. Andere Schätzungen setzen die Zahl weit höher an, bei bis zu 30 Millionen Menschen. „Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.“

Nein, das ist sicher nicht komisch. Eine erbarmungslose Formel sieht vor: Wer sich nicht hat, kann sich auch nicht verlieren. Der Genuss an der Verdinglichung entspringt einer ganz anderen Logik. Der Sprung zurück zu „Leonce und Lena“ mag willkürlich scheinen, aber so sind die Verhältnisse. Die erste Szene zeigt uns Leonce, der dem Hofmeister gegenüber behauptet, er habe alle Hände voll zu tun, da er noch keine 365 Male auf einen Stein gespuckt habe. Seinem Freund Valerio genügt es, den lieben langen Tag das Lied von Fleig an der Wand zu singen. Überhaupt weitet Leonce das Adelsprivileg Langeweile zur generellen Triebfeder des Lebens aus – ihm selbst jedoch reicht es, sie zu genießen, wenn sich zuweilen auch ein melancholisches Verlangen nach Tätigkeit regt. Die an sich handlungsmächtigen Adligen lehnen jede Anwendung dieser Macht ab. Wenn Valerio nach Wissenschaft, Heldentum, künstlerischem Genie als zweitletzte Mög­ lichkeit der Selbstverwirklich­ung gesell­ schaft­liches Engagement vorschlägt: „So wollen wir nützliche Mitglieder der mensch­lichen Gesellschaft werden“, antwortet Leonce unmissverständlich: „Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.“ Woyzeck hingegen wird

jede Handlungsfähigkeit abgesprochen, obwohl er rennt, rennt, rennt, bis er im Affekt seine Freundin ersticht, ein Geschehen, das heute noch in der deutschen Nachrichtensprache gedankenlos „Familiendrama“ genannt wird. Was passiert mit dem Lob des Müßiggangs, wenn es auf verzweifelte Armut trifft? Bertrand Russells aus der Analyse der reduzierten Kriegswirtschaft gewonnene Einsicht, dass niemand länger als vier Stunden täglich arbeiten sollte, mutet angesichts der weltweiten Realität von Zwangsarbeit beinah frivol an: „Ich möchte in vollem Ernst erklären, dass in der heutigen Welt sehr viel Unheil entsteht aus dem Glauben an den überragenden Wert der Arbeit an sich, und dass der Wert zu Glück und Wohlfahrt in einer organisierten Arbeitseinschränkung zu sehen ist. (…) Die Moral der Arbeit ist eine Sklavenmoral, und in der neuzeitlichen Welt bedarf es keiner Sklaverei mehr. Niemand auf Erden sollte länger als vier Stunden arbeiten, um in der so gewon­nenen Zeit wissenschaftlichen, freundschaftlichen und künstlerischen Neigungen nachzugehen.“ Nun ja, man muss nicht an den Wert der Arbeit glauben, um ausgebeutet zu werden. Das ist das Dilemma, das Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ mit seinem „Woyzeck“ verbindet. Die Komik nimmt kein Ende. Die Verwechslungen hören nicht auf.­

Monika Rinck, geboren 1969 in Zweibrücken, Schriftstellerin und Übersetzerin, hat sich vor allem als Lyrikerin einen Namen gemacht. Ihr jüngster, 2012 erschie­­nener Gedichtband „Ho­ nig­­ protokolle“ wurde von der Kritik hoch gelobt und erhält im April 2013 den Peter-Huchel-Preis. Im Jahr 2012 bekam sie den Großen Kunst­preis Berlin. Monika Rinck ist Mitglied der Aka­ demie der Künste. Sie lebt in Berlin.


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BIGSAS

Festival afrikanischer und afrikanischdiasporischer Literaturen Festivalleitung: Susan Arndt Künstlerische Leitung: Nadja Ofuatey-Alazard Wissenschaftliche Mitarbeiterin / Koordination: Tina Heinze Künstler/innen: Bernadine Evaristo (GB), Patrice Naiambana (SL), Qunisy Gario (NL), Mercedes & Elias Mercedes Zandwijken (SR/ NL), Gina Dorcely (HAT/US) u.a. Iwalewa-Haus Bayreuth 20.—22.6.2013

Die interdisziplinäre Jury der Kulturstiftung des Bundes hat auf ihrer letzten Sitzung im Herbst 2012 38 neue Förderprojekte ausgewählt. Die Projekte gliedern sich in die Kategorien Bild und Raum, Film und Neue Medien, Wort und Wissen, Musik und Klang sowie Bühne und Bewegung. Die Fördersumme beträgt insgesamt 4,9 Mio. Euro. Informationen zu den Projekten finden Sie auf den folgenden Seiten, auf unserer Website www.kulturstiftung-bund.de und auf den Webseiten der Projektträger. Die nächste Jurysitzung findet im Frühjahr 2013 statt. Nächster Antragsschluss für die Allgemeine Projektförderung ist der 31. Juli 2013.

↗ www.bigsas-literaturfestival.de

Wort und Wissen

Das Festival der Universität Bayreuth möchte der afrikanischen Literatur, einer in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor marginalen Erscheinung, zu mehr Beachtung verhelfen. Unter dem Motto „Intertextualitäten. Dialoge in Bewegung“ gilt es, Bezüge zwischen literarischen Texten aufzuweisen und Diskurse zwischen unterschiedlichen Literaturen zu untersuchen. Die Bayreuth International Graduate School of African Studies (BIG­ SAS) kombiniert Lesungen, Theater­in­ sze­ nierungen und Performances mit wissen­schaftlichen Formaten und einem musikalischen Rahmenprogramm. Die teilnehmenden Autor/innen, Küns­t­ler/innen und Wissenschaftler/innen aus Afrika, Amerika und Europa präsentieren ihre Vorstellungen und Lesarten von trans­ kulturellen Begegnungen. Sie zeigen auf, wie diese in und durch die Literaturen aus Afrika und seinen Diasporas miteinan­der verflochten sind. Im Zentrum stehen Fragen um Erinnerung und Aufarbeitung von Kolonialismus, Sklaverei und aktuelle Mi­grationsprozesse.

Die Mitglieder der Jury: Sophie Becker, Dramaturgin Sächsische Staatsoper Dresden / Dr. Andreas Blühm, Direktor Wallraf-­R i­ch­ artz-Museum & Fondation Corboud Köln / Karl Bruckmaier, Moderator, Hörspielregisseur und -autor / Johan Holten, Direktor Staatliche Kunsthalle Baden-Baden / Dr. Lydia Jeschke, Redaktionsleitung Wort/Musik SWR 2 / Dr. Stefan Luft, Politikwissenschaftler Universität Bremen / Barbara Mundel, Intendantin Theater Freiburg / Dr. Olaf Nicolai, Bildender Künstler / Elisabeth Ruge, Verlegerin Hanser Berlin.

THE ART OF BEING MANY Kongress, Forschungsprozess, Publikation in Hamburg

Die europäische und arabische Bevölkerung erobert seit einigen Jahren die Demokratie zurück. Immer mehr Men­ schen versammeln sich unabhängig von staatlichen Struk­ turen und politischen Organisationen, um ihre Anliegen vor­ anzubringen. Der Kongress THE ART OF BEING MANY untersucht das neue Demokratieverständnis und seine Arten des Versammelns. Sechs Monate vor dem Kongress werden 49 „Delegierte“ von der demokratischen Basis – Schülervertreter, Mitglieder von Online-Spiele-Communities – mittels einer Online-Plattform vernetzt. Sie bereiten sieben Themenschwerpunkte vor und werden von den Initiatoren des Projekts sowie von Künst­ler/innen und Forscher/innen unterstützt. Für den Kongress selbst wird eine Arena für 400 Teilnehmer eingerichtet, die unterschiedliche Arten der Teilnahme er­ möglichen: Gebetsteppiche, Bürostühle, WLAN oder Effekt­ mikrofone stehen zur Verfügung. Die Teilnehmer können so Techniken und Ästhetiken, Strategien und Theorien des Ver­-

sam­­melns erproben, wohingegen die Delegierten mit Re­ enactments, Interventionen, Experimenten und Aufrufen kon­ krete Einblicke in die Dynamik, Performance und Konflikte aktueller Versamm­lungskultur geben. Auf jeder Versammlung wird entschieden, welche Methode am besten geeignet ist – die Erkenntnisse werden in einer gemeinsamen Publikation festgehalten. Künstlerische Leitung: geheimagentur Wissenschaftliche Leitung: Vassilis Tsianos Künstler/innen: Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe, Embros Theater Athen (G), Gängeviertel Hamburg, John Jordan (GB), Krööt Juurak (E), Zoe Laughlin (GB), Ligna, Voodoo Chanel u.a. Kampnagel Hamburg 25.—28.9.2014 ↗ www.geheimagentur.net


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Dintenuniversum Jean Paul und die Moderne in Berlin Anlässlich des 250. Geburtstages von Jean Paul (1763—1825) findet im Max Liebermann Haus in Berlin die erste große Einzelausstellung zum Œuvre des deutschen Dichters statt. Sie versammelt Manuskripte und Arbeitsnotizen, Briefe und Porträts. Die Ausstellung beruht auf Forschungsergebnissen der Jean Paul-­Edi­ tionsstellen, die dessen Briefwechsel und Nachlass in ihrer historisch-kritischen Ausgabe edieren. Ziel von „Dintenuniversum“ ist es, die besondere Stellung Jean Pauls als Wegbereiter der europäischen Moderne sichtbar zu machen. Ein Rahmenprogramm mit Vorträgen, Gesprächen und Lesungen befasst sich mit Jean Pauls Rezeptions­ geschichte in der Moderne. Die Staats­ bibliothek zu Berlin und die Berlin-­­

Bran­den­burgische Akademie der Wisse­n­ schaf­ten realisieren die Schau in Kooperation mit dem Max Liebermann Haus. Auszug aus dem Brief an den Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi (1743—1819): „Der nord. Wint. ist der Eisbär Deiner Südnerven ein Paradies im geographischen Sinn … Ohne das Imbreviatur der Novität vergißt man im Feuer immer das Beste, wenigstens das Älteste. Wer unter u. gleich nach einer Entbindung keinen Gott sieht und anbet., verdient keinen, sondern den Satan. Die Aussicht und Erfahrung daß jeder Tag eine neue größere Freude bringt, denn jeder liefert ein Paar neue Züge und Klänge des knospenvollen Neulings.“

Wissenschaftliche Leitung: Markus Bernauer, Jutta Weber Kuratorin: Angela Steinsiek Künstler/innen und Wissenschaftler/innen: Julia Cloot, Michele Cometa (I), Elisabeth Décultot (F), Bernhard Fischer, Jens Malte Fischer, Christian Helmreich (F), Hans-Christian von Herrmann, Uli Lechtleitner, Norbert Miller, Helmuth Mojem, Alain Montandon (F), Cornelia Ortlieb, Ernst Osterkamp, Jörg Paulus, Karl Pestalozzi (CH), Helmut Pfotenhauer, Uwe Schweikert, Ralf Simon (CH), Peter Sprengel, Michael Will, Christof Wingertszahn u.a. sowie zahlreiche Autor/innen in Lesungen und Gesprächen Max Liebermann Haus Berlin, 11.10.—30.12.2013 ↗ www.bbaw.de/forschung/jeanpaul ↗ www.staatsbibliothek-berlin.de

ZOO 3000 – Die explodierte Universität Interdisziplinäres Themenfestival Bislang haben Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften in ihren Forschungen und Theorien unsere Koexistenz mit Tieren kaum berücksichtigt. Das ändert sich derzeit: Die sog. „Zoopolitik“ bzw. „Animal Studies“ spielen in diesen Disziplinen neuerdings eine größere Rolle. Die konsequente Berücksichtigung von Tieren bei gesellschaft­ lichen Fragen erfordert neue kulturelle Sichtweisen inner­halb der Biopolitik. Zwei Wochen lang lädt Kampnagel internationale Wissen­ schaftler/innen und Künstler/innen in eine „explodierte Universität“ ein, in der in sechs Themenfeldern über unser Verhältnis zu Tieren, über Transnaturalität und Strategien einer politischen Zoologie diskutiert wird: Wie könnten Lieben, Leben und Kämpfen in einer zoo­ politischen Welt aussehen? Intendanz: Amelie Deuflhard Künstlerische Leitung: Nadine Jessen, Melanie Zimmermann Wissenschaftliche Mitarbeit: Fahim Amir (AT) Künstler/innen: God’s Enter­tainment (AT), David Weber-Krebs (BE), Antonia Baehr, Corinna Korth, Jecko Siompo (PG), BauBau (AT), Ralo Meyer (AT), Jozef Wouters (BE), Martin Nachbar, Diedrich Diederichsen Kampnagel Hamburg, 5.—16.6.2013 ↗ www.kampnagel.de

„Balthazar“ von David Weber-Krebs


Meldungen

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Veranstaltungsreihe

FELLOW me!

Akademie Fellow­ship Internationales Museum Im Rahmen des Programms Fellowship Internationales Museum findet eine fünfteilige Veranstaltungsreihe unter dem Titel „FELLOW ME! Akademieprogramm Internationales Museum“ zwischen Mai 2013 und Dezember 2014 in verschiedenen Städten Deutschlands statt. Veranstalterin ist die Kulturstiftung des Bundes, die für das gesamte Programm bis 2016 insgesamt 1,2 Millionen Euro zur Verfügung stellt. Veranstaltungsorte sind Museen der Städte München, Mönchengladbach, Herne, Dortmund, Essen, Berlin, Dresden, Dessau und Halle an der Saale. Die insgesamt 19 internationalen Fellows aus unterschiedlichen Fachgebieten sollen sich zu spezifischen museologischen Themen austauschen und die deutsche Museumslandschaft exemplarisch kennenlernen. Weitere akademische Institute und Kooperationspartner werden beteiligt sein. Übergeordnete Fragen zu einer Neuausrichtung des Museums, zur internationalen Kooperation und zur eigenen Forschungsarbeit sollen in gemischten Formaten dargestellt und diskutiert werden. Es wird eine Auftaktveranstaltung, zwei Workshops, Seminare, Science-Slams sowie ein Kolloquium zum Abschluss geben, zu denen internationale Fachreferenten eingeladen werden und auch die interessierte Öffentlichkeit willkommen ist. Genauere Informationen finden Sie auf unserer Website: ↗ www.kulturstiftung-bund.de/fellowship

Landes­mu­seum Natur und Mensch in Oldenburg Rechts: Museum für Natur­kunde in Berlin

Afrika Neuer internationaler Themenschwerpunkt der ­Kulturstiftung des Bundes Die Kulturstiftung des Bundes will in den nächsten Jahren den künstlerischen Austausch und die Kooperation zwischen deu­tschen und afrika­ni­ schen Künst­lern und Institutionen fördern. 2,09 Mio. Euro fließen zunächst in den TURN Fonds für deutsch-afrikanische Kooperationen. Nach der Öffnung des TURN Fonds im Herbst letzten Jahres haben die Juroren im April 2013 über 125 künstlerische Projektanträge und Recherchevorhaben aus allen Sparten entschieden. Weitere Informationen über die geförderten Projekte finden Sie auf ↗ www.kulturstiftung-bund.de/afrika/turn. Um auch über die geförderten Projekte hinaus hierzulande die Kenntnisse über die Kunst­ szenen und kulturellen Debatten in afrikanischen Ländern zu erweitern, kooperiert die Kulturstiftung des Bundes im Rahmen ihres neuen AfrikaProgramms erstmalig mit dem Kunst- und Kulturmagazin Chimurenga. Chimurenga, 2011 Träger

des international renommierten Prince Claus Award, erscheint schwerpunktmäßig in Südafrika, Kenia und Nigeria und gilt als eine der interessantesten panafrikanischen Publi­kationen einer neuen Generation afrikanischer Intellektueller. Simon Kuper von der Financial Times schrieb über die Zeitung: „Ich dachte immer, der Zenit des Journalismus sei der New Yorker, aber Chimurenga ist teilweise besser. Vielleicht ist Chimurenga Kunst oder in jedem Fall genauso gut.” Im April erscheint die erste von insgesamt fünf Aus­gaben der vierteljährlich erscheinenden Zeitung Chimurenga Chronic, die in Zusammen­arbeit mit der Kultur­stiftung und dem Goethe-Institut Subsahara Afrika produziert wird. Sie enthält neben einem eigenständigen Magazin mit Buchrezensionen Beiträge von Jean-Pierre Bekolo, Binyanvanga Wainaina, Patrice Nganang, Achal Prabhala, Marcela Mora y Araujo sowie weiteren renommierten Schriftsteller/innen und Künst­-­

ler/innen. Die Themen reichen von Forschungen zur Thanatolo­gie über Migrationsökonomien bis hin zu Kriminalromanen in Nigeria und Familienporträts während der Apartheid. In Deutsch­ land wird das Maga­zin durch Motto Distributors vertrieben und ist bei Pro-qm (Berlin) und anderen spezialisierten Buchläden erhältlich. Im Frühjahr 2014 erscheint eine deutsche Ausgabe von Chimurenga Chronic als Beilage zu unserem Magazin. Mehr Informationen über Chimurenga Chronic finden Sie auf ↗ www.chimurenganewsroom.org.za


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Verschiedene Wörter Von wann bis wann haben sie gelebt? Katja Lange-Müller setzt Grabsteine auf ihrem Wörterfriedhof.

Der hier abgedruckte Text von Katja Lange-Müller entstand im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Projekts

LOST WOR(L)DS Symposium, Lesungen, Publikation, interaktive Website LOST WOR(L)DS untersucht, wie sich die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungsprozesse Europas in seinen Sprachen und Literaturen manifestieren. Das Festival lädt Autor/innen aus ganz Euro­ pa ein, an einem Wörterbuch ver­lo­ rener Begriffe mitzuwirken, die von überholten Welten erzählen. Die Te­x­ te werden auf einer interaktiven, mehr­sprachigen Website eingestellt und erscheinen als Anthologie „LOST WORDS | LOST WORLDS. Ein europäisches Wörterbuch“ im Mai 2013 in der edition.fotoTAPETA, hrsg. von Kateryna Stetsevych, Katarina Tojić und Stefanie Stegmann. Künstlerische Leitung: Kateryna Stetsevych (UA/D), Katarina Tojić (SRB/D) Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Stefanie Stegmann Autor/innen: Katja Lange-Müller (D), Melinda Nadj Abonji (CH), Martin Pollack (A), Aris Fioretos (SE), Serhij Zhadan (UA), Antonio Muñoz Molina (E), Mircea Cărtărescu (RO), Barbara Honigmann (F), Olga Tokarczuk (PL), Adania Shibli (PS), Gonçalo M. Tavares (PT), Yoko Tawada (D), Goran Petrović (SRB) Literaturbüro Freiburg 7.—9.6.2013

↗ www.lost-worlds.kulturgenossenschaft.de

Viele Wörter gehörten, damit sie nicht gänzlich dem Vergessen anheimfallen, in ein Wort-Museum. Aber ein solches Museum gibt es nicht – und auch keinen Wörterfriedhof, obwohl ich, und vermutlich nicht nur ich, einen solchen gern besuchte, ab und an. – Auf den Grabsteinen stünden, wie Namen, die verschiedenen Wörter und von wann bis wann sie gelebt haben, also im Gebrauch waren. Was genau dieses oder jenes Wort einst hervorbrachte, welche Zeit, welche Mode, welche politischen Verhältnisse …, das wäre dann die Erinnerungsarbeit (noch so ein sterbendes Wort, das demnächst beerdigt werden könnte), die der Friedhofsbesucher, vielleicht ja ein Hinterbliebener, oder einfach ein Bummelant, wie ich, zu leisten hätte; Trauerarbeit würde ich meine Bemühungen, mich zu erinnern, nicht nennen wollen. Denn um die beiden Wörter, deren Grabsteine ich nun einmal kurz anheben möchte, ist es nicht wirklich schade. Und schon sehe ich mich, die womöglich letzte lebende Bummelantin, vor dem toten Bummelanten stehen:

„Hier ruht, nach einem eher kurzen und paradoxerweise ungemütlichen Leben, in rechtsstaatlichem Frieden der BUMMELANT * etwa 1960 † in den achtziger Jahren und in der DDR“ Bummeln ist nicht Bimmeln. Dennoch ist das – dem verblichenen Substantiv Bummelant eingeschriebene – Verb bummeln mit dem Bimmeln, dem hell klingenden Herumrühren eines eher zarten Klöppels in einem hektisch bewegten, blütenkelchförmigen Glöckchen aus getriebenem Blech, weitläufig verwandt. Das seit dem 18. Jahrhundert bezeugte Bummeln hat seinen Ursprung im dröhnenden Bum, Bum, das ertönt, wenn die Schläge einer großen Klöppelkeule den gusseisernen Körper einer noch größeren, bedächtig hin und her, sowie auf und ab schwingenden Glocke erschüttern. Das Dumpfe, Schwerfällige, das der Christen-

mensch mit diesem Geräusch assoziiert, hat dann wohl zunächst das Substan­­tiv Bummler – im wahrsten Sinne des Wortes – hervorgerufen. Bummler war im 19. Jahrhundert eine studentische Metapher für einen Nichtstuer, einen Faulenzer, einen bequemen, dem Müßiggang, also dem müßigen (nicht zielgerichteten) Flanier- oder Spaziergang, eben schlicht dem Bummeln, zugeneigten jungen Mann. Doch wie wurde, Anfang der 60er ­Jahre des vorigen, des 20., Jahrhunderts und unter DDR-sozialistischen Verhältnissen, aus dem vergleichsweise harm­ losen Bummler der regimefeindliche, ja staatsgefährdende Bummelant? Zunächst einmal war jegliche Trägheit suspekt, was auch auf die militärische Struktur der DDR-Gesellschaft verweist. Schon ein Kinderkrippenkind, das bei (eins, zwei) drei nicht vom (möglichst vollen!) Nachttopf aufgesprungen war, nannten die anderen begeistert Bummelletzter; ein Wort, das freilich nicht den Kleinen eingefallen, sondern ihnen beigebracht worden war, von der Erzieherin, zu der man in der Frühphase des DDR-deutschen Sozialismus schon noch Tante sagen durfte. Und wenn der kollektive Spott nichts bewirkte und es dieser Bummelletzte später, in der Polytechnischen Oberschule, beim Diktat etwa, nicht schaff­ te, sämtliche Wörter, die seine Lehrerin (männliche Lehrkräfte gab es kaum) ihm vorsagte, aufzuschreiben, und darum ein Fragment abgeben musste, bekam er, egal, ob das bis zum Pausenzeichen unvollständig zu Papier Gebrachte fehlerfrei war oder nicht, eine Bummelfünf; und wenn er dann genug Bummelfünfen zusammenhatte, wurde er wieder Bummelletzter und blieb sitzen. Für wie verwerflich Lang­ samkeit galt und für wie erstrebenswert Schnelligkeit, offenbart der Refrain eines beliebten Pionier-Liedes, das mir gerade wieder eingefallen ist. – „Kling, klingelingeling, so singt mein Drahtesel, Draht­ esel/ Wenn ich mit ihm durch die Straßen flitz, wie der Blitz/ Ja, dann sagen alle: Ei da kommt der flinke Fritz …“. Das Grabmal des Wortes Draht­esel, auch so eine putzige DDR-Kreation, mit der, obgleich es in Deutschland, Ost und West,


17 seinerzeit wohl Draht, aber keine Esel mehr gab, das Fahrrad gemeint war, würde ich sicher nicht finden, nicht einmal, wenn ich Lust hätte, es zu suchen. – Doch weil er sitzengeblieben war, kriegte unser Bummelletzter ohnehin weder einen Draht­esel noch ein Fahrrad – und nichts stand seiner Karriere zum ausgewachsenen Bummelanten mehr im Wege, auf dem er sich, so ganz lahmarschig, eh schon befand, außer womöglich der Nationalen Volksarmee, die Bürgerpflicht war und sich auf Erziehungsmaßnahmen, auch in hartnäckigen Fällen, extrem gut verstand. Vom Bummler unterschied den Bummelanten, dass er nicht nur lahmarschig, schnarchnasig und schlaff war, er brachte, was schon als echt kriminell galt, mit seiner „Bummelei in jeder Lebenslage“ seine „grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der herrschenden Arbeiterklasse“ zum Ausdruck, seine nihilistische Überzeugung, ja Ideologie: Das Prinzip Verweigerung. Der echte Bummelant war ein notori­ scher Bummelant, ein unverbesserlicher Bummelant, sozusagen ein Bummelant im Defektzustand; und ein solcher konnte nicht heranreifen zur „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“, einfach, weil er es nicht wollte; denn Arme und Beine hatte er in der Regel ja und meist auch sonst kein körperliches oder seelisches Gebrechen. So gesehen, war der Bummelant eher ein Simulant, ein „heim­tückisches, arbeitsscheues, feindliches Element“, das gar nicht daran dachte, seine „naturgegebenen Kräfte in den Dienst des Aufbaus der kommunistischen Weltordnung zu stellen“. Nun ließe sich einwenden, dass sich in der DDR schließlich kaum einer zu Tode geschuftet habe, nicht einmal die Häftlinge im Gleisbau bei der Bahn oder in den Braunkohlegruben Sachsens und Thüringens, aber ein brauchbares „Mitglied der sozialistischen Menschengemeinschaft“ hatte wenigstens die Absicht nützlich zu sein und erschien daher jeden Tag halbwegs pünktlich in seiner Schule, seinem Kombinat, seinem Büro – oder es schickte zumindest einen ordentlichen Krankenschein. Besonders viele Bummelanten ermittelten die „inneren Organe“ des Staates, speziell sein „Herz“, das MfS (Ministerium für Staatssicherheit), unter den „sogenannten“ Autoren und Dichtern, deren „Geschreibsel“ – aus vielerlei Gründen – nicht gedruckt wurde. Wohl gab es auch noch ein paar „ewig gestrige“ Sinti und Roma, die ihren „durch Herkunft bedingten Wandertrieb“ trotz „unterstützender Maßnahmen“ nicht so recht „in den Griff“ bekamen; nun ja, die konnte man, da sie normalerweise nichts verfassten und sich weitgehend ruhig verhielten, als „folkloristische Altlast“ gewähren lassen. Doch für – beziehungsweise gegen – diese Autoren und Dichter, „Pseudokünstler ohne Steuernummer und meist auch ohne festen Wohnsitz“ musste eigens ein Gesetz her, nämlich das „Zur Be­kämpfung des Vagabundismus und Asozialismus“. – Oder hieß das Asozialität? – In meinen Stasi-Akten, ich las sie bereits im Jahr 1990, war der „Bummelant“ sogar aufge-

stiegen in den Olymp der Operativen Vor­ gänge. Gleich sechs – mittlerweile leidlich arrivierte – Schriftstellerkollegen sollte OV (operative Vorgang) Bummelant ermitteln, bearbeiten und „aus dem Verkehr ziehen“, doch dass einige „überpropor­ tional entwicklungsgehemmte Feinde der Jungpionierzeitung ‚Bummi‘, unter ihnen Katja L., in Strampelanzügen, mit dicken Windelpopos und Schnullern zwischen den Milchzähnen“ zu ihrem ersten Schultag erschienen und auch gleich die „Bummilantenbande“ gründeten, das wenigstens entpuppte sich, zur Freude der „zuständigen Organe sowie der Werk­täti­ gen unseres Landes“, als bloßes Gerücht. Trotz allem, wenn es sie denn gäbe, die letzte Ruhestätte des Bummelanten, ich wäre schon einmal dort gewesen, vielleicht mit einem Blümchen in der Hand; das hätte ich niedergelegt und womöglich gar eine Träne vergossen. – Nicht so am Grabe der ENDVERSORGUNG, die auch in der DDR lebte und etwas länger als der Bummelant; doch gestorben ist sie zur selben Zeit. Endversorgung; dieser bizarre Begriff aus dem – an derlei hässlichen Substantiv-Substantiv- oder Adjektiv-Substantivoder Bindewort-Substantivmontagen ziem­ lich reichen – Sprachschatzkästlein der DDR (mancher von uns meinte ja, die ­Versalien stünden für Der Doofe Rest) hat nicht einmal den Charme einiger seinerzeit in jener Drei-Buchstaben-Region auch sehr üblichen bedrohlichen Bürokratenwörtergirlanden wie etwa: „Katja L. hat einen Hang zur Tendenz einer rückläufigen Kaderentwicklung“. Über so was kann man noch finster lächeln. Aber über die Endversorgung? Der in einem weniger oder auf andere Art verkommenen Soziotop mit unserer gemeinsamen Muttersprache vertraut gewordene deutsche, österreichische oder schweizerische Mensch mag sich fragen, was denn zu verstehen war unter der Endversorgung. Ich werde mich bemühen, mich zu erinnern und ihm Auskunft zu geben: Das offizielle Wort Endversorgung fanden die von ihm, dem Wort, und ihr, der Endversorgung, Bedrohten oder Verschonten (das kam auf die Situation an) längst nicht so unfreiwillig komisch wie das Wort wohnhaft, das in Formularen (welche durchaus das Problem der Endversorgung betreffen konnten) gern auf folgende Weise auftauchte: „Wohnhaft in?“ Und dann mindestens ebenso gern nicht einfach mit der Angabe des Wohnortes beantwortet wurde, sondern etwas umständlich aber humorvoll im ganzen Satz. Beispielsweise so: „(In) Wohnhaft bin ich noch bei meinen Eltern, in der Sonneberger Straße 112, Halle 4020.“ (Gemeint war die Stadt Halle an der Saale, Postleitzahl 4020, und nicht etwa irgendeine Halle, Sporthalle, Messehalle …, mit der Nummer 4020.) Nun hätte die – beispielsweise für die Endversorgung (oder sonst was) zuständige – Behörde dem Ulk ja einen Riegel vorschieben können, indem sie einfach gefragt hätte: Wo wohnen Sie? Die Frage, ob unsere Endversorgungsbehörde ein solches Abweichen von den amtsüblich knappen Erkundigungsfloskeln womöglich listigerweise vermied, um eine am Aufspüren der Spaßvögel interessierte Bruderbehörde zu unterstützen

oder bloß aus Gründen der Druckkosten­ ersparnis, kann und muss ich, die ich einst immerhin zu den Endversorgten gehörte, glücklicherweise auch nicht mehr beantworten, aber jetzt doch endlich mal die nach der Endversorgung. Das Wort Endversorgung, das nicht von ungefähr an die Wörter Endlösung und Endsieg erinnert, bedeutete, dass ein DDR-Bürger vom „Amt für Wohnraumlenkung“ mit so viel Wohnraum zu versorgen war, wie ihm „nach Auffassung der für ihn verantwortlichen, diesbezüglich an den Kriterien der Menschenwürde orientierten staatlichen Organe zustand“. Im Klartext meinte dieses gänsefüßige Fragment einer Hohlwörterspirale: Jeder Einwohner der DDR, ganz gleich, ob er Kind war oder erwachsen, ledig, verheiratet oder geschieden, alleinerziehend oder verwitwet, durfte eine bestimmte Mindest­quadratmetermenge überdachten Platzes für sich beanspruchen. Stimmte diese Mindestquadratmetermenge, die für kleine oder große Kinder, für kinderreiche, kinderarme, kinderlose verehelichte oder alleinstehende Erwachsene, für Verwitwete und Rentner unterschiedlich bemessen war, rein rechnerisch mit den im Mietvertrag der Familien- oder Singlewohnung angegebenen Quadratmeterzahl überein, galten die in diesem Dokument aufgeführten Personen, zumindest solange sich ihre jeweiligen Familienverhältnisse nicht durch Zuwachs, Scheidung oder Tod ändern sollten, als endversorgt. Wie viele Quadratmeter wem zu genügen hatten, weiß ich nicht mehr genau. Für eine gewöhnliche, in einem Betrieb beschäftigte, geschiedene Erwachsene samt einem leiblichen und „polizeilich bei ihr gemeldeten“ Schulkind jedenfalls erfüllte eine Zwei-Raum-Neubauwohnung den Status „Endversorgt“. Natürlich durfte diese erwachsene Person, falls das Kind sein achtzehntes Lebensjahr bereits erreicht hatte und sich somit im Alter eines eigenen vorläufigen Endversorgungsanspruchs befand, versuchen, diese Zwei-Raum-Wohnung gegen zwei Ein-Raum-Wohnungen zu tauschen, etwa mit zwei bislang alleinstehenden, nun aber ineinander verliebten und heiratswilligen Kollegen unterschiedlichen Geschlechts, deren demnächst gemeinsamen, also veränderten, Endversorgungsanspruch das Wohnungsamt anerkannte, wenn sie der zuständigen Behörde des Bezirks des Ehegatten in spe zumindest die standesamtlich bestätigte Aufgebotsbestellung, noch besser einen schriftlich beglaubigten Hochzeitstermin vorlegen konnten. – Tauschen, zweimal ein Zimmer gegen einmal zwei oder einmal drei gegen dreimal eins, das war eine feine Sache, auch für die Wohnungsämter. Die Buden waren schließ­ lich da, mussten nur neu-, also umverteilt werden; ein Raum pro Nase: Endver­­­ sorgt! – Viel schwieriger war es mit den Arbeiterfamilien, die einem Arbeiter- und Bauernstaat ja als kostbar galten; leider waren die oft „kinderreich“, bekamen eine Göre nach der anderen. Doch die erforderlichen und theoretisch auch obligatorischen Zimmer, diese viereckigen Indizien für gewahrte Menschenwürde, die konnten die Arbeiterfrauen nicht auf die Welt und „unsere fleißigen Bauschaffenden“ nicht so schnell zuwege bringen. Stattdessen erschienen die werktätigen Mütter

oder Väter jede Woche auf dem Wohnungsamt, jammerten, bettelten, drohten mit Eingaben – bis zur Endversorgung. Aber das dauerte oft Jahre, Jahrzehnte sogar. Keine Endversorgung brauchten hohe Parteifunktionäre, erfolgreiche Leistungs­ sportler, wichtige Wissenschaftler, berühmte Künstler und sonstige „verdiente Persönlichkeiten“, denn diese Spitzen­ kräfte waren „sonderberechtigt“; nicht einer von denen hat je ein Amt für Wohn­ raumlenkung auch nur betreten müssen. Wie die an ihre Villen mit Gärten, oft ver­ lassene „Westgrundstücke“, gekommen sind, das allerdings ist ein bis heute wohlbehütetes Geheimnis. Die Endversorgung galt auch nicht für normal sterbliche Genossenschaftsbau­ ern, genauer für jene unter ihnen, die das Glück hatten, von den Eltern oder Großeltern ein Haus geerbt zu haben, das sie fleißig ausbauten, nach unten, oben, links und rechts, soweit das Grundstück, das Geld und die meist schwarz organisierten Materialien reichten, um den eigenen Kindern und Kindeskindern die Familiengründung zu erleichtern – oder auch, um dem Staat ein wenig zu helfen – „bei der täglich besseren Erfüllung des Wohnungsbeschaffungsprogramms und der Lösung der stets größer werdenden Aufgaben zur Hebung des Lebensstandards der immer weiter wachsenden“, aber – trotz beträchtlicher Kapazitätserweiterungen infolge von genehmigten Ausreiseanträgen und gelungenen oder miss­­lung­enen Republikfluchten – bis zum Schluss unterendversorgten Bevölkerung der DDR. Nein, für die Endversorgung hätte ich nicht einmal einen Stängel Sauerampfer übrig; im Gegenteil, ich würde alles, was auf ihrem Grab wächst, ausreißen und das – nunmehr verwüstete – Erdreich, das ihren Leichnam bedeckt, einem obdachlosen Maulwurf zuweisen.

Katja Lange-Müller, 1951 in Berlin / Ost geboren. Schrift­setzerlehre, Literaturstudium in Leipzig. Sie lebt seit 1984 in Berlin / West. Werke u.a.: Wehleid – wie im Leben, Kasper Mauser – die Feigheit vorm Freund, Verfrühte Tierliebe, Die Letzten, Böse Schafe. Zahl­­reiche Aus­zeich­­­­n­un­ gen, u.a.: Ingeborg-­Bach­­mann-­Preis, Alfred-Döblin-Preis, Berliner­ Li­tera­­tur­ preis, W­il­helm-­Raabe-Literatur­preis, im letzten Jahr Stipen­diatin der Villa Massimo in Rom. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt) und der Akademie der Künste (Berlin)


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UND vergib UNS UNSERE SCHULDEN „Bevor wir noch einem Godfather die Hand küssen können, sind wir bereits verschuldet“: Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho beleuchtet den Zusammenhang von existentialer, moralischer und ökonomi­scher Schuld.

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or mehr als hundert Jahren besuchte ein junger russischer Aristokrat namens Sergei Panke­jeff die Praxis Sigmund Freuds in der Wiener Berggasse, um eine psychoanalytische Behand­lung zu absolvieren. Im Laufe dieser Talking Cure erzählte er einen Traum: Er sei als Kind im Bett gelegen, es war Winter und Nacht; plötzlich ging das Fenster wie von selbst auf, und im Nussbaum vor dem Fenster saßen sechs bis sieben weiße Wölfe. Später assoziierte der junge Mann – der am 24. Dezember 1886 geboren wurde – den Baum mit dem Weihnachtsbaum; und Freud interpretierte die Wölfe als Symbole für die erwarteten Weihnachts- und Geburts­tagsgeschenke: „Es war also schon Weihnacht im Traume, der Inhalt des Traumes zeigte ihm seine Bescherung, am Baume hingen die für ihn bestimmten Geschenke. Aber anstatt der Geschenke waren es – Wölfe geworden“; und die Wölfe schienen ihn auffressen zu wollen. Wie und wann können Gaben zu Raubtieren mutieren? Es wäre leicht, mit einer weiteren Er­innerung zu antworten. In Vergils Aeneis warnt der trojanische Priester Laokoon vor einem hölzernen Ross, einem Geschenk, das bereits Tiergestalt angenommen hat: „Equo ne credite, Teucri. Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes“, in deutscher Übersetzung: „Traut nicht dem Pferde, Trojaner! Was immer es ist, ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Ge­schenke bringen“ (II, 48—49).

stets nach Entgelt“, heißt es in einem Vers aus dem Hávamál, einer Spruchdichtung der skandinavischen Edda, der Marcel Mauss das Motto für seinen be­rühmten Essai sur le don von 1950 entnommen hat. Gaben verlangen Vertrauen; sie erzeu­gen Bindungen, und sie wirken als temporäre Fesseln, als Verpflichtungen, die rasch in Dro­hungen verwandelt werden können. „I’m gonna make him an offer he can’t refuse“, erläu­tert Don Vito Corleone – gespielt von Marlon Brando – seine Techniken der Machtausübung. Er ist der Godfather, der Pate, der Gönner, der gleich zu Beginn des ersten Teils der Trilogie dem Bittsteller Bonasera das Entgeld für dessen Vergeltungswunsch diktiert: „Some day, and that day may never come, I’ll call upon you to do a service for me. But until that day – accept this justice as a gift on my daughter’s wedding day.“ Gaben werden ausgehandelt; sie fungieren als Zukunftsaussichten, die auf dem Hochzeitsfest der Tochter Don Vitos mit Verbeugung, Handkuss und der Anrede als Pate besiegelt werden. Gaben werden gleichsam in Schulden übersetzt. Begleitet werden diese Über­­ setzungen von Beschuldigungen, Schuldgefühlen und schlech­­tem Gewissen, Rechthaberei und heftigem Streit auf dem Markt der Vorwürfe und Be­hauptungen. Wer ist schuld? Wer trägt Verantwortung und wird schuldig, beispielsweise durch Gier, Respektlosigkeit, Rachsucht, Dummheit oder Trägheit? Wer erzeugt die Schul­den, die sich zu Krisen steigern können?

Heute hätten die Nachfahren der Danaer selbst gute Gründe, manchen Gaben zu misstrauen. Denn die meisten Gaben sind eigentlich Anleihen; sie müssen erwidert In deutschen Wörterbüchern – vom Grimm bis zum werden, durch Gegengaben in der Zukunft. „Gabe schielt Duden – finden wir zumeist drei Schuld­begriffe. Der


19 erste Schuldbegriff bezieht sich auf Kausalität, auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung: Ich bin schuld; ich habe etwas ausgelöst und verursacht. Ein zweiter Schuldbe­griff bezieht sich auf die Moral: Ich bin schuldig; ich habe falsch oder schlecht gehandelt, mein Handeln kann nicht gerechtfertigt werden. Ein dritter Schuldbegriff bezieht sich auf Geld und Finanzen: Ich schulde, ich bin ein Schuldner; ich habe geliehen, was ich zurückge­ben muss (und womöglich nicht zurückgeben kann). Ursache und Wirkung, Gut und Böse, Geben und Nehmen, Soll und Haben: Sind diese Beziehungen nicht zu verschieden, um auf­einander abgebildet werden zu können? Gelegentlich wird argumentiert, die deutsche Spra­che könne nicht wie das Englische oder Französische zwischen guilt / faute und debt / dette differenzieren; daher seien die Deutschen geneigt, ökonomische Krisen rasch zu moralisieren und etwa einen Konkurs von vornherein als Schande und Verbrechen wahrzunehmen. Fesseln der Zeit

Freilich verfehlt dieser Einwand die simple Evidenz verbreiteter Transformationspraktiken, die auch in angelsächsischen oder romanischen Ländern ausgeübt werden: Manche Straf­taten können durch Geldzahlungen gesühnt werden, also durch Verwandlung einer morali­schen in eine finanzielle Schuld. Und umgekehrt: Versäumte Geldzahlungen – zum Beispiel Steuerhinterziehungen – können moralisch bewertet und durch Haftstrafen geahndet wer­den; die finanzielle Schuld wird dann in eine moralische Schuld verwandelt. Nicht umsonst behauptet Tomáš Sedláček in seinem Buch Die Ökonomie von Gut und Böse: „Letztlich geht es bei der gesamten Ökonomie um das Gute und das Böse“; wirtschaftliche Entscheidungen sind viel öfter, als uns lieb ist, moralische Ent­scheidungen. Und diese moralischen Entscheidungen werden ebenfalls viel öfter, als uns lieb ist, auf Pflichten bezogen, die wir selbst von Anfang an einem Anderen schulden oder schul­dig zu sein glauben: den Eltern, Göttern oder Nationen, den Regeln einer Verwandtschafts­ordnung, den Geboten einer Religion, den staatlichen Gesetzen und Verfassungen. Bevor wir noch einem Godfather die Hand küssen können, sind wir bereits verschuldet. Im Sinne des ersten Schuldbegriffs schulden wir das eigene Leben einer Instanz, die uns gleich­sam „verursacht“ hat. Schuld verweist – nicht nur in Freuds Erzählungen vom Wolfsmann – auf eine „Urszene“. Die ursprüngliche Schuld, die „primordial debts“, hat David Graeber in seiner fünftausend Jahre umfassenden Geschichte der Schulden als Wurzel der Ökonomie und des Tauschs, aber auch der Sklaverei bezeichnet, als eine Wurzel, die älter ist als Edel­metalle und geprägte Münzen. Sie kann als genealogische, soziale oder existentiale Schuld verstanden werden, als eine Schuld, die nach Kriterien der Zugehörigkeit zu einer Familie, einem Clan, einer sprachlich, religiös oder politisch definierten Gemeinschaft verhandelt werden kann. Graeber zitiert in seinem Buch aus den Veden: „Durch die Geburt wird jedes Wesen als eine Schuld gegenüber den Göttern, den Heiligen, den Vätern und den Menschen geboren. Wenn man ein Opfer bringt, dann weil man den Göttern von Geburt an etwas schuldet“. Das Opfer ist die Gabe, die eine vorausliegende Gabe – die Gabe des eigenen Lebens: „dass es uns überhaupt gibt“ – erwidert. Graeber hätte auch manchen Satz aus den prophetischen Büchern Israels, aus den griechischen Tragödien oder schlicht den berühmten Spruch Anaximanders anführen können: „Das Vergehen der seienden Dinge erfolge in die Elemente, aus denen sie entstanden seien, gemäß der Notwendigkeit: Denn sie zahlten einander Strafe und Buße für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“ Dieser Satz ist übrigens rund tausend Jahre älter als die Theologie der „Erbschuld“, die der Bischof und Kirchenvater Augustinus im Streit mit dem britischen Mönch Pelagius entwickelte; der grie­chische Naturphilosoph artikulierte bereits sechs Jahrhunderte vor dem Christentum die Fes­seln der Zeit, die – als Ordnungen

der Genealogie, Moral und Ökonomie – den Lebenden unter dem Titel ihrer ursprünglichen „Schuldigkeit“ angelegt werden. Die heillose Dreifaltigkeit der Schuldbegriffe – der existentialen, moralischen und ökonomi­ schen Schuld – bildet in gewisser Hinsicht den Ausgangspunkt für die erneute Öffnung und Begehung diskursiver Räume, in denen nicht nur verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, sondern auch die Medien, Religionen, Therapien oder Künste beheimatet sind. In diesen Räumen sollten freilich nicht allein die kom­ plexen Bedeutungen von Schuld und Schulden verfolgt werden, sondern auch und vor allem die Bedeutungsverschiebungen, die Transfor­mationsprozesse der Schuld, die sich etwa aus der Analyse von sozialen Zugehörig­ keitsord­nungen, religiösen, rechtlichen oder ökono­ mischen Praktiken ableiten lassen. Gefragt wer­den müsste – noch einmal unter Bezug auf Max Webers Studie über die Geschichte der pro­testantischen Ethik –, wie es zur folgenreichen Verschränkung von Zeit, Geld und Moral ge­kommen ist; erfragt werden müsste der Zusammenhang zwischen genealogischer und öko­no­ mischer Schuld, der schon in der Antike zum Verlust der Bürgerrechte und zu generatio­nenübergreifender Sklaverei führen konnte. Wie können überhaupt historische Schuldtrans­formationsprozesse beschrieben werden: beispielsweise die Entfaltung des – abermals be­reits von Max Weber vermuteten – Zusammenhangs zwischen Erfahrungen der Schuld­skla­verei und nahöstlicher Erlösungsreligiosität, oder die Plausibilität der These Nietzsches aus der Abhandlung Zur Genealogie der Moral (1887), das Gefühl der Schuld habe seine Wurzeln im „ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis“, im Verhältnis nämlich „zwischen Gläubiger und Schuldner“. Wer aber repräsentiert den ersten Gläubiger? Und mit welchen Mitteln können dessen Forderungen erhoben und entgolten werden? Die Ersetzung der Kin­ deropfer durch Tieropfer, wie sie exemplarisch in den mythischen Erzählungen von Abraham und Isaak oder Agamemnon und Iphigenie erzählt wird, lässt sich als Substitution genealogi­scher Schuld durch moralische Schuld deuten. An die Stelle der eigenen Nachkommen treten „Sündenböcke“ oder Stiere, die bei den athenischen „Buphonien“ vom verbotenen Opfer­getreide auf dem Altar gefressen hatten; später werden die Tieropfer durch Geldspenden – als Transformation der Sünden in finanzielle Schulden – abgelöst. Andere Beispiele könnten der Rechts- und Verfassungsgeschichte entnommen werden, gewiss auch der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Die Freiheit der Sklaven

Allerdings darf eine sequenzielle Historisierung der Schuldbegriffe – von der genealogischen zur mora­­­­­ lischen und zur ökonomischen Schuld – nicht als Fortschrittsgeschichte gelesen wer­den; die genealogische Schuld verschwindet ebenso wenig wie die moralische Schuld, auch wenn sie durch ökonomische Verpflichtungen wie Alimente oder Reparationszahlungen für Kriegsverbrechen kompensiert wird. Gefährlicher noch als die vorschnelle Hoffnung auf pro­gressive Transformation und Befreiung von Schuld ist wohl deren regressive Transformation: Die Möglichkeit einer regressiven Schuld­ transformation lässt sich nicht nur am Erbrecht stu­­ dieren, in dem genealogische und ökonomische Zwänge zumeist eng verschränkt werden, sondern auch an den aktu­ellen Debatten um die Schuldenkrise. Die ökonomische Schulden­krise wurde in den vergangenen Jahren häufig moralisch analysiert und kommentiert: Einer­seits wurde gegen die Entscheidungsschwäche der Politik oder die Geldgier der Banken und Finanzmärkte polemisiert, andererseits gegen Korruption, Steuerflucht und mangelnde Arbeitsmoral. Danach standen Fragen nach Zugehörigkeit und Identität auf der Tagesord­nung: In welchen Traditionen wurzelt Europa? Wer soll künftig zu uns gehören, zur Wäh­rungsunion, zum gemeinsamen Markt? Mit wem sind wir verwandt, wer ist uns fremd? Wem darf vertraut werden, wem nicht? Mit wem müssen wir uns solidarisch zeigen, mit wem nicht? Kurzum, erst geht es um Geld (um ökonomische Schuld), danach um

Korruption und Gier (um moralische Schuld), danach um Zugehörigkeit und – oft genug – um die schlichte Existenz (also um genealogische, existentiale Schuld). Die Analyse progressiver und regressiver Schuld­trans­ formationsprozesse im­pliziert im Zen­trum auch die schwierige Frage nach deren möglicher Unter­brechung und Aufhebung. Worin könnte wirkliche Emanzipation bestehen, im Sinne des lateinischen Verbs emancipare, das die Entlassung eines Sklaven oder eines erwachsenen Sohns aus dem manicipium, dem feier­lichen Eigentumserwerb durch Handauflegung, bezeichnete? Worin Verzeihung? Oder die Erlassung ökono­mischer Schulden? Schon nach Maßgabe der Etymologie hängen ›verzei­hen‹ und ›verzichten‹ aufs engste zusammen: Ich zeihe dich keiner Schuldigkeit mehr, ich bezich­tige dich nicht. Also verzeihe ich dir, ich verzichte auf Vorwurf und An­klageerhebung. Jede Verzeihung ist ursprünglich ein Verzicht: als Unterlassung der Vergeltung und jenes Schuld­­ausgleichs, den die Rachsucht – die bösartige jus­ tice, die Bonasera erwirken will – anstrebt. Verzeihung heißt die Handlung, die einen Verzicht auf Handlungen zum Ausdruck bringt. Wenige Monate vor ihrem frühen Tod am 24. August 1943 schrieb Simone Weil in den Be­trachtungen über das Vaterunser: „Wir glauben Schuldforderungen an alle Dinge zu haben. Und bei all diesen Schuldforderungen, die wir zu besitzen glauben, handelt es sich immer um eine imaginäre Schuldforderung der Vergangenheit an die Zukunft. Und auf diese sollen wir Verzicht leisten. Seinen Schuldigern erlassen haben, heißt auf die ganze Vergangenheit ins­gesamt verzichtet haben. Heißt hinnehmen, daß die Zukunft noch rein und unberührt sei, streng gebunden an die Vergangenheit durch Bande, die wir nicht kennen, aber gänzlich frei von den Banden, die unsere Einbildungskraft ihr aufzuerlegen glaubt.“ Ich weiß nicht, ob und wie diese Hoffnung eines Verzichts auf die Vergangenheit, zugunsten einer wirklich offe­nen und freien Zukunft, erfüllt werden kann; aber ich weiß, dass wir unbeirrt fragen müssen: Wie können die Fesseln der Zeit tatsächlich gesprengt werden? Wie können Bindungen so aufgehoben werden, dass sie zu Entbindungen führen, pathetisch gesagt: zu Erneuerungen, zu einer Wiedergeburt, zu einer Renaissance?

Thomas Macho, geboren 1952 in Wien, ist Professor für Kulturgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität und Mit-­ ­­be­­gründer des „Hermann von Helmholtz-­ Zentrum für Kulturtechnik“. Zuletzt erschien von ihm die umfangreiche Studie „Vorbilder“, Wilhelm Fink Verlag, München 2011. Die Schuldenkrise ist noch lange nicht Schnee von gestern. Im Dezember leitete der Kulturwissenschaftler und Philosoph Thomas Macho im Berliner Haus der Kul­ turen der Welt eine von der Kulturstiftung des Bundes geförderte internationale Konferenz, die den systematischen Zusam­ men­hang von existentialer, moralischer und ökonomischer Schuld thematisierte. Dieser Artikel gibt die Quintessenz von Machos Überlegungen zu „Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten“, so der Titel der Konferenz, wieder. Ausführliche Informationen zum Projekt finden Sie unter: ↗ www.bondsconference.de


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Russische Kriegsanleihe, 1944

Schuld und Schein Schulden scheint es schon immer gegeben zu haben, ebenso unterschiedliche Verfahren, damit umzugehen. Das Verbriefen einer Schuld, und damit verbunden die Möglichkeit ihrer Weitergabe, führte zur Herausbildung einer Vielzahl von höchst unterschiedlichen Schuldtiteln. Doch egal, ob italienische Bankleute im 12. Jahrhundert Papiere für den Orienthandel erfanden, die k. u. k. Staatsschulden 1867 in einem „Fonds“ der österreichisch-ungarischen Monarchie zusammengefasst und verbrieft wurden, die Stadtverwaltung von New York Scheine für die Infrastruktur­ projekte erfand oder Stalin mit Obligationen die Zwangskollektivierung und technolo­ gische Aufrüstung der Landwirtschaft finanzierte – sie alle folgen einem verwandten visuellen Programm, sprechen eine ähnliche Bildsprache.

So verzieren edle Schriften und verspielte Signaturen Anleihen durch die Jahrhunderte hindurch, bewerben königliche Wappen und florale Ornamen­ tik Schuldscheine in der ganzen Welt, versprechen schöne Frauen und gestählte Männerkörper den Inhabern der Titel, eine so patriotische wie sichere Anlage getätigt zu haben. Die Filme­ macherin Sasha Pirker und die Autorin und Künstlerin Irini Athanassakis haben historische Schuldscheine aus der „Wertpapierwelt“ gesammelt und zusammengestellt. Sie laden ein auf einen Streifzug durch die Welt des Scheins.


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Kreditbrief, Cedola del Banco giro di Venezia, 1798

Anleihe des Deutschen Reichs, 1899

Grundentlastungs-Schuldverschreibung, Ă–sterreich, 1851

Schuldbekenntnis, Niederlande, 1917/18


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Tanz als Fremdsprache Nach Berlin und Hamburg findet in Düsseldorf der dritte Tanzkongress statt. Der Tanz, so sagt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, ist die Intensivierung jener Bewegungen des Körpers, die keiner unbedingten Nützlichkeit gehorchen. Es sind Gesten, die keine Bedeutung haben, wohl aber einen Sinn. Mit dem Anspruch, diesem Sinn in seiner ganzen Vielfalt – philosophisch, soziologisch, politisch, wissenschaftlich – nachzuspüren, geht der Tanzkongress vom 6. bis 9. Juni 2013 an den Start. Bewegungen überset­ zen lautet das Thema des diesjährigen internationalen Branchentreffens für Tänzer, Choreografen, Tanzkritiker, Pädagogen, Tanzwissenschaftler und Tanzveranstalter, das nun schon zum dritten Mal von der Kulturstiftung des Bundes ausgerichtet wird. Nach Berlin (2006) und Hamburg (2009) findet der Tanzkongress diesmal in Düsseldorf statt. Es ist tatsächlich eigenartig: Während niemand daran zweifelt, dass man verbale Sprachen übersetzen muss, dass es also „Fremdsprachen“ gibt, deren Bedeutung wir ohne Übersetzung in die eigene Sprache nicht verstehen, scheint das bei Musik und Tanz anders zu sein. Diese Künste halten wir für Universalsprachen, die keiner Übersetzung bedürfen. Das Programm des Tanzkongresses meldet genau an dieser Auffassung Zweifel an. Es gibt Bewegungskulturen, die sich uns nicht ohne weiteres erschließen. Kulturelle Übersetzungsprozesse sind sogar nicht nur zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen erforderlich, sondern auch innerhalb derselben Kultur. So erörtert der Philosoph Nancy auf dem Kongress beispielsweise die Frage, wie sich Tanz und Bild zueinander verhalten. Wie nehmen die Welt des Bildes und die Welt des Tanzes aufeinander Bezug? Eine andere Frage, die die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter beschäftigt, ist, wie sich die Bewegungen von Tieren in das Wissen um den Tanz einspeisen lassen. Wie viel „Menschlichkeit“ kommt uns in ihren Bewegungen entgegen? Auch das ist eine Frage, wie man „übersetzt“. Es liegt auf der Hand, dass dem zeitgenössischen Tanz, der sich durch eine in anderen Künsten selten erreichte Internationalität auszeichnet und sich längst „globalisiert“ hat – interkulturelle Tanzcompagnien, internationale Festivals, internationale Koproduktionen, eine migrierende Tänzerschaft – die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten interkulturellen Dialogs unter den Nägeln brennt. In diesem Sinn ist die Wahl des Eröffnungsstückes nur konsequent: In „La Création du Monde 1923/2012“ des kongolesi-

schen Choreografen Faustin Linyekula geht es um die konkreten Nachwirkungen des Kolonialismus auf unsere heutigen Körperbilder und Bewegungsspielräume. Wie kann es dem Tanz gelingen, die Verhältnisse des Jahres 1923, dem Uraufführungsjahr dieses ersten „Ballets nègre“, heute ohne historisierende Attitude zur Darstellung zu bringen. Wie kann man dabei die Wunden des kolonisierten Afrika zeigen, ohne dem westlichen Blick aufzusitzen, der bis heute vorherrscht: „Ich habe mich entschlossen, mit der Frage zu arbeiten, wie sicht- oder unsichtbar Afrika oder wir Afrikaner heute sind. Was hat sich daran wirklich grundlegend geändert? Wir haben gelernt, mit dem Blick des Westens auf uns selbst zu schauen.“ (Linyekula in einem Interview mit dem Deutschlandfunk). Wie bereits in den vorangegangenen Ausgaben des Tanzkongresses fehlt auch diesmal nicht die politische Dimension des Tanzes. Im Vordergrund stehen dabei Fragen nach der Darstellbarkeit von Protest- und Befreiungsbewegungen besonders in der arabischen Welt und in der islamischen Kultur. (Wie) Lässt sich Protest choreografieren? Brandaktuell sind auch die Diskussionen, die auf dem Kongress über das Urheberrecht geführt werden. Laut deutschem Urheberrecht sind auch Werke der Tanzkunst geschützt. Allerdings gibt es in Deutschland keine der GEMA vergleichbare Verwertungsgesellschaft für den Tanz, so dass das Urheberrecht in der Praxis kaum zur Anwendung kommt. Auch Fragen nach geeigneten Verfahren zur Archivierung und Digitalisierung, mithin zum Umgang mit dem kulturhistorischen Erbe des Tanzes und der Repertoirebildung, spielen in der Tanzszene nach wie vor eine prominente Rolle und werden auf dem Kongress ausgiebig behandelt. Diese Übersicht kann nur einen kursorischen Überblick über das reichhaltige Programm des 3. Tanzkongresses geben. Insgesamt 110 Veranstaltungen mit über 215 Referenten stehen auf dem viertägigen Programm, gerechnet wird mit 3.000 Besuchern aus dem In- und Ausland. Detaillierte Informationen unter www.tanzkongress.de. Der Tanzkongress wird mit 800.000 Euro von der Kulturstiftung des Bundes als „kultureller Leuchtturm“ finanziert und alle drei Jahre in einer anderen Stadt in Deutschland ausgerichtet. Mit der Planung und Durchführung wurden Sabine Gehm und Katharina von Wilcke beauftragt.

Weitere Veranstaltungen zum Tanz 2013

tanz!

Wie wir uns und die Welt bewegen Erstmalig befasst sich eine große Sonderausstellung sowohl mit den ästhetischen als auch mit den kulturellen und sozialen Facetten des Tanzes und des Tanzens. Das Projekt des Deutschen Hygiene-Museums nimmt den Tanz gleichzeitig als eigenständige Kunstgattung wie als Bestandteil der Alltagskultur in den Blick – vor allem aber zeigt es die Zwischenräume, in denen sich diese beiden Aspekte begegnen und beeinflussen. Die Ausstellung thematisiert u.a. auch die politische Indienstnahme des Tanzes und hinterfragt Mythologisierungen, Ideologisierungen und Missverständnisse. Ein weiterer Schwerpunkt ist die elementare Dimension von Rausch, Ritual und Ekstase, die im Tanz seit alters her im Zu­sam­ menhang mit religiösen Praktiken zu be­­ o­ bachten ist und die in modernen Phäno­menen wie Rave und Techno nach wie vor eine zentrale Rolle spielt. 12.10.2013—20.7.2014, Deutsches Hygiene-Museum Dresden ↗ www.dhmd.de

Le Sacre du Printemps 100 Jahre nach der Uraufführung von Vaslav Nijinskys Choreografie im Pariser Théâtre des Champs-Elysées lädt die Kulturstiftung des Bundes zusammen mit der Freien Universität Berlin zu einer internationalen Konferenz zum Phänomen „Le Sacre du Printemps“ ein. Vor dem Hintergrund des zeit­lichen Kontextes des Stückes, 1913, am äußersten Ende des Fin de Siècle und am Vorabend des Ersten Weltkrieges, erscheint „Le Sacre du Printemps“ (dt.: „Das Frühlingsopfer“) als eine künst­lerische Antizipation der Kriegs­ opfer des 20. Jahrhunderts und stellt die radikale Frage nach der heutigen Gültigkeit des Opferbegriffs. Als Geburtsstunde der Moderne gefeiert, stellt „Le Sacre du Printemps“ einen bewussten Bruch mit der Körpersprache des klassischen Balletts dar und betont das Rhythmische und abstrakt Ornamentale. Seit der Uraufführung 1913 in Paris durch die „Balletts Russes“ regte das Stück weltweit immer wieder Künstler/ innen zu eigenen Arbeiten mit Thema und Stoff an. In einer interdisziplinären Konferenz, Workshops u.a. mit Sasha Waltz und einem Open Call sollen sich vor allem junge Künstler/innen mit dem einfluss- und traditionsreichen Material auseinandersetzen. 14.—17.11.2013, Radialsystem V, Berlin ↗ www.kulturstiftung-bund.de/sacre


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Humboldt Lab Dahlem, Projekt „Museum der Gefäße“. Filminstallation „Innenraum_Leere“, Filmstill

Wie viel kann ein MUSEUM fassen? Das Humboldt Lab Dahlem erforscht Räume zwischen Ethnologie und Kunst. Das Humboldt Lab Dahlem, 2012 eingerichtet und bis 2015 mit 4,1 Mio. Euro gefördert, ist ein Projekt der Kulturstiftung des Bundes in Zusammenarbeit mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Im Sinne einer experimentellen Probebühne dient es zur Vorbereitung insbesondere der Museumsausstellungen im zukünftigen Humboldt-Forum. Dabei ergänzt und bereichert das Humboldt Lab Dahlem die Planungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst durch spezifische Fragestellungen und ungewöhnliche Methoden. Es geht darum, die großen Chancen, die sich durch die Neueinrichtung der beiden Dahlemer Museen im Berliner Schloss ergeben, auch wirklich zu nutzen. Ermöglicht wird eine enge Zusammenarbeit von Museumskura­tor/innen, Gestalter/innen, Künstler/innen und Wissenschaftler/innen, die in konzentrierten, raschen Projekten spielerisch und doch praxisorientiert neue Erfahrungen sammeln und sie mit der Fachwelt, aber auch mit der Öffentlichkeit teilen. Die Ergebnisse der ersten Projekte werden ab März 2013 in Dahlem präsentiert. Sie sollen verdeutlichen, welchen substanziellen Herausforderungen sich eine aktuelle Präsentation von Sammlungen zwischen Ethnologie und Kunst zu stellen hat. So entwickelt beispielsweise das „Museum der Gefäße“, kuratiert von Nicola

Lepp (Berlin), kulturen- und sammlungsübergreifende Präsentationsformen und bricht chronologische und regionale Ordnungsprinzipien auf. Zugleich wird das Medium Film auf programmatische Weise einbezogen. In „Bedeutungen schichten“ versucht Andreas Heller (Hamburg), sich auf die komplexe und mehrschichtige Bedeutungswelt ausgewählter Exponate einzulassen und sie zu veranschaulichen. Oder „Musik sehen“: Hier steht im Vordergrund, in welcher Bildhaftigkeit eine Ausstellung, die sich auf die Instrumente der musikethnologischen Sammlung und die Tondokumente des Phonogramm-Archivs bezieht, auftreten kann. Weitere Partner der Projekte sind – neben den Mitar­ beiter/innen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asia­ tische Kunst – Andreas Pinkow (München/Berlin), Holzer Kobler Architekturen (Zürich/ Berlin), Filmgestalten (Berlin) und Serotonin (Berlin). Leitung: Martin Heller, Prof. Viola König (Direktorin Ethnologisches Museum Berlin), Prof. Klaas Ruitenbeek (Direktor Museum für Asiatische Kunst Berlin), Agnes Wegner (Leitung der Geschäftsstelle Humboldt Lab Dahlem)

Humboldt Lab Dahlem 14.3.—12.5.2013 Pre-Show 14.3.—14.4.2013 Gedankenscherz 14.3.—12.5.2013 Museum der Gefäße 14.3.—26.5.2013 Musik sehen 14.3.—12.5.2013 Springer 14.3.—12.5.2013 Bedeutungen schichten Museen Dahlem, Lansstraße 8, Berlin Öffnungszeiten: Montags geschlossen Dienstag bis Freitag 10:00 Uhr—18:00 Uhr Samstag und Sonntag 11:00 Uhr—18:00 Uhr Genauere Informationen finden Sie unter: ↗ www.humboldt-lab.de


24 und gestalten. Künstler fordern ihren Platz in Gesellschaft und Kunst ein und versuchen, den öffentlichen Raum zu demokratisieren. Auch die Protagonisten des Arabischen Frühlings oder der Occupy-Bewegung haben die Straße als Handlungs- und Kunstraum erobert. „FAST FORWARD – Streetart@Hellerau“ stellt die Kultur und die Akteure der Street Interdisziplinäres Art in den Mittelpunkt eines FesThemen­festival tivals, zu dem 90 nationale und internationale Künstler/innen einStreet Art, Hip-Hop und Urban geladen sind. Darunter Pioniere Art sind Kunstformen, die seit ih- der Street Art und bildende Künst­ ren Anfängen in den 1970er Jahren ler/innen wie Futura, Delta, Jay­ die Straßen, Untergrundbahnen One und Toxicómano, Choreo­ und öffentlichen Orte besetzen graf/innen wie Kadir Memis alias

Amigo und Bruno Beltrão sowie Musiker/innen wie Beelow und Sly the Mic Buddah. Das Festival zeigt, wie Street Art öffentliche Räume verändert und wie sich innerhalb dieser Kunstströmung Tanz, Musik, Graffiti, Neue Medien und Bildende Kunst beeinflussen. Im Fokus steht die künstlerische Auseinandersetzung mit Bewegung, Tanz und Körper. Performances, Konzerte, eine Aus­stellung, Workshops und Aktionen verwandeln das Kunstzentrum Hellerau, das Festspielhaus und den Stadtraum Dresden für zwei Wochen in eine Kunst- und Experimentiermeile.

Made in Oceania: Tapa – Kunst und Lebenswelten Eine Sonderausstellung im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum ‚Tapa‘ ist der polynesische Begriff für Stoffe, die aus der Rinde bestimmter Baumarten hergestellt, bemalt und für verschiedene Zwecke verwendet werden können. Insbesondere in Ozeanien hat sich eine vielfältige Kultur von Tapa entwickelt, die das Rautenstrauch-Joest-Museum nun in einer ersten großangelegten Ausstellung in Deutschland präsentiert. Die Schau stellt internationalen Leihgaben aus Neuseeland und Australien sowie Exponaten aus der eigenen Sammlung zeitgenössische Arbeiten aus Tapa gegenüber. Aspekte wie Gender, Religion und Identität, Migration und Diaspora werden fokussiert und in den Künstlergesprächen und Workshops diskutiert. Film- und Hörstationen erzählen von den Menschen hinter den 250 Objekten. Hinzu kommen eine Begleitpublikation mit aktuellen Forschungsbeiträgen und ein Gestaltungswettbewerb für Kölner Mode- und Produktdesignstudenten. Die Ausstellung spannt einen Bogen von den Entdeckungsreisen des 18. Jahrhunderts bis zur zeitgenössischen Kunst und stellt so die Bedeutung von Tapa für

Ozeanien heraus. Sie möchte damit die Debatte um Präsentation und Repräsentation außereuropäischer Objekte anregen und Fragen nach deren europäischer Aneignung erörtern.

Künstlerische Leitung: Dieter Jaenicke, Carmen Mehnert, Anna Bründl Kuratoren: Mode2, Superblast, Jonathan Fischer Künstler/innen: Bruno ­Beltrão (BR), Beelow, Boy Blue ­Entertainment (GB), Futura (USA), Martha Cooper (USA), Delta (NL), Niels Robitzky aka Storm, Kadir Memis alias Amigo (TR), Sébastien Ramirez (FR), Sly the Mic Buddah, Hyun-Jung Wang (KR) u.a. HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste, ­Festspielhaus, Stadtraum ­Dresden 20.6.—6.7.2013 ↗ www.hellerau.org

Bild und Raum

FAST FORWARD ­ — Streetart @Hellerau

Kierkegaard – Entweder / Oder 200 Jahre Søren Kierkegaard im Spiegel zeit­genössischer Kunst Den 200. Geburtstag Søren Kierkegaards im Jahr 2013 nimmt das Berliner Haus am Waldsee zum Anlass für eine Ausstellung, die die existentialis­ tischen Positionen des dänischen Philosophen und Theologen im Medium der zeitgenössischen bildenden Kunst anschaulich macht. In seinem in Berlin entstandenen Hauptwerk „Entweder / Oder“ (1843) unterscheidet Kierkegaard die Positionen eines „Ästheten“ und die eines „Ethikers“, die je­ weils verschiedene Wertesysteme repräsentieren. Der Ästhet ist ein Hedonist, lässt sich von Gefüh­ len leiten, ist verspielt und nimmt das Leben leicht. Der Ethiker hingegen ist ein Vernunftmensch, folgt Moralvorstellungen, ist politisch interessiert und bemüht sich, ein nützliches Mitglied der Gemein­ schaft zu sein. Die Ausstellung ist diesen beiden Positionen entsprechend zweigeteilt. Im Erdgeschoss des Hauses am Waldsee sind internationale zeitge­ nössische Künstler versammelt, deren Werke Qua­ litäten aufweisen, die die Position des Ästheten widerspiegeln: intuitiv, spirituell, ironisch, eska­ pistisch, erotisch. Im Obergeschoss werden „Ethi­ ker“ gezeigt, also Künstler, die in ihren Werken ethi­ sche, politische, moralische oder philosophische Themen behandeln. Die eigene Lebensgestaltung und die individu­ elle Ausprägung der Persönlichkeit, so führt es die Ausstellung im Licht künstlerischer Ausdrucksfor­ men vor Augen, verdanken sich bis heute der Wahl bestimmter Geisteshaltungen, die Kierkegaard in einer bis heute gültigen Weise beschrieben hat. ↗ www.hausamwaldsee.de

G‘nang G‘near. Customised Levis by Rosanna Raymond

Künstlerische Leitung: Oliver Lueb, Peter Mesenhöller Kuratorischer Beirat: Nicholas Thomas (GB), Sean Mallon (NZ) Künstler/innen: Fatu Akelei Feu’u (WS), John Pule (NZ/NU), Shigeyuki Kihara (NZ), Nelson Salesi (FJ), Cecil King Wungi (PG), David Lasisi (PG), Jessie Bujava (PG) Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln, 11.10.2013—27.4.2014 ↗ www.museenkoeln.de/ rautenstrauch-joest-museum

Künstlerische Leitung: Katja Blomberg Kuratorin: Solvej Helweg Ovesen Künstler/innen: Lee Yongbaek (KR), TAL R (IL), Tom Hillewaere (BE), Iepe Rubingh (NL), Birgit Brenner, Kirstine Roepstorff (DK), Hayv Kahraman (IQ), Kerry Tribe (US), Ahmad Ghossein (LB), Renzo Martens (NL) u.a. Haus am Waldsee, Berlin, 22.6.—22.9.2013 Nikolas Kunsthal, Kopenhagen, 15.3.—19.5.2013


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ZERO Die deutsche ZERO-Gruppe im internationalen Kontext ZERO nannte sich eine inter­natio­nale Gruppe von Künstlern der Nach­kriegs­ zeit, die 1958 von Heinz Mack und Otto Piene in Düsseldorf ge­gründet wurde und bis 1966 exist­ierte. Neben der Gruppe um Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker entstand ein weiterer Kreis von internationalen Künstlern aus Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien, Japan, Südamerika und der Schweiz. ZERO kehrte bewusst Strategien der jüngsten Vergangenheitsbewältigung den Rücken, wollte ästhetisch und ideologisch „bei Null“ beginnen und mit einer optimistischen und idealistischen Haltung Veränder­ungen in Richtung einer neuen ästhetischen Sensibilisierung bewirken. ZERO pro­ pagierte eine puristische Ästhetik und orientierte sich an den monochromen Bildern von Yves Klein, Piero Manzoni und Lucio Fontana. Klang, Licht und Bewegung sollten mit räumlicher

und farblicher Gestaltung in Verbindung treten. Die ZERO-Gruppe experimentierte mit Malerei, Installatio­ nen, Performances und Happenings. Die neue Ausstellung, die in New York, Berlin und Amsterdam gezeigt wird und einen Überblick über das Schaffen und die Aktivitäten der Grup­ ­pe gibt, vereinigt insgesamt 26 Künstler, davon 12 deutsche. Zum ersten Mal überhaupt werden Werke der interna-

tionalen ZERO-Bewegung in diesem Umfang zusammengetragen. Ein vielfältiges Begleitprogramm mit Künstlergesprächen, Konzerten, einem Vermittlungsprogramm für Kinder und einem großen Symposium ergänzt die Ausstellung in Berlin. Der Projektträger, die in Düsseldorf ansässige ZERO Foundation, beabsichtigt mit dieser Ausstellung, einer der größten und wichtigsten globalen Künstler­

bewegungen der Nachkriegszeit auch in Deutschland, wo sie ihren Anfang nahm, gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Künstlerische Leitung: Daniel Birnbaum (SE) Kuratoren: Stefan Schneider, Valerie Hillings (US), Margriet Schavemaker (NL), Mattijs Visser Künstler/innen: Hermann Bartels, ­Gianni Colombo (I), Hans Haacke, Oskar Holweck, Hermann Goepfert, Gotthard Graubner, Walter Leblanc, Adolf Luther, Uli Pohl, Hans Salentin, Nanda Vigo (I) Solomon R. Guggenheim Museum New York, 1.9.2014—25.1.2015 Martin-Gropius-Bau Berlin, 19.3.—31.5.2015 Stedelijk Museum Amsterdam, 5.7.—4.10.2015 ↗ www.zerofoundation.de

Otto Piene, Günther Uecker und Heinz Mack

12. Triennale Kleinplastik Fellbach Ausstellung über das utopische Potenzial der kleinen Form In ihrer aktuellen Ausgabe präsentiert die Fellbacher Triennale zeitgenössische Arbeiten von rund 40 internationalen, insbesondere jüngeren Künstler/innen aus Osteuropa, Lateinamerika und Asien. Schwerpunkt ist das utopische Potenzial, das der Kleinplastik innewohnt: „Utopie beginnt im Kleinen“ streicht den Widerspruch hervor, dass ein Entwurf – auch ohne die Intention einer späteren Realisierung – für sich gesehen als Kunstwerk zwar autonom ist, er aber zugleich das gedankliche Potenzial für Veränderung in sich tragen kann: der kleine Maßstab als Nukleus für soziale Umbrüche und politische Veränderungen. Eine besondere Rolle spielen aktuelle künstlerische Positionen an den Schnittstellen von Architektur, Design und Theater. Die Triennale wird flan­ kie­rt von einem breiten museumspädagogischen Angebot und einer Publikation. ↗ www.triennale.de

Künstlerische Leitung: Yilmaz Dziewior, Angelika Nollert Künstler/innen: Neil Beloufa (FR), Luis Camnitzer (US), Nathan Coley (GB), Thea Djordjadze (GE), Yona Friedman (HU), Günter Haese, Cildo Meireles (BR), Pratchaya Phinthong (TH), Eckhard Schulze-Fielitz (PL), Cathy Wilkes (GB) u. a. Alte Kelter, Fellbach 22.6.—29.9.2013

Luis Camnitzer, Landscape as an Attitude, 1979


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In der Strafkolonie

Eine Ausstellung im Berliner Literaturhaus über Warlam Schalamow

Nancy Graves Retrospektive Die amerikanische Künstlerin im Ludwig Forum in Aachen Im Zentrum des internationalen Ausstellungs- und Buchprojektes, das das Ludwig Forum in Zusammenarbeit mit der Nancy Graves Foundation, New York, erarbeitet, steht Nancy Graves’ Œuvre, dessen kunst­ historische Bedeutung bis heute wenig be­ kannt ist. Fotos aus Schalamows Akte, 1937

Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen, 13.10.2013­—16.2.2014 Künstlerische Leitung: Brigitte Franzen, Annette Lagler Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Benjamin Dodenhoff Künstler/innen: Nancy Graves (US), Robert Smtihson (US), Yvonne Rainer (US), Richard Serra (US), Nikolaus Lang, Trisha Brown (US) ↗ www.ludwigforum.de

Die US-amerikanische Künstlerin trug in den 1960er Jahren wesentlich zur Erweiterung des Kunstbegriffes bei. In ihren Arbeiten verband sie Conceptual Art mit Land Art und Neuer Figuration. Sie befasste sich intensiv mit naturwissenschaftlichen Themen, wodurch sie Impulse für die Recherche-Künste lieferte und einen wichtigen Beitrag zur Genderforschung leistete. Die Retrospektive wird gerahmt von einer Auswahl zeitgenössischer künstlerischer Positionen aus Conceptual Art, Arte Povera, Land Art, Neuer Figuration, künstlerischem Film und Recherchekunst. Ein reichhaltiges Veranstaltungsprogramm mit Vorträgen und Lesungen, Workshops und Werkstätten, Diskussionsrunden und Film­ vorführungen ergänzen die erste umfassende Einzelausstellung Graves’ in Europa, die ihr Œuvre in seiner kunstgeschicht­ lichen Relevanz neu bewerten möchte.

Nancy Graves, Ausstellungsansicht Nie wieder störungsfrei, 2011

Der russische Schriftsteller Warlam Schalamow (1907—1982) hat sein gesamtes literarisches Schaffen den Lebensumständen im sowjetischen Gulag gewidmet, die er selbst durch jahrelange Inhaftierung in den Arbeitslagern am eigenen Leib erfahren hat. In autobiografischen Schriften, in Gedichten und Erzählungen hat Schalamow über die Torturen im Gulag, die Strategien der Vernichtung durch Arbeit, das Gefühl der Ausweg­ losigkeit bei den Gefangen und die unmenschlichen Bedingungen eines Systems aus Ausbeutung, Hunger, Angst, Grausamkeit und Ver­nichtung zum Thema gemacht. Hierzulande ist das umfangreiche Werk Schalamows weitaus weniger bekannt als z.B. Alexander Solschenizyns Roman „Der Archipel Gulag“. Umso verdienstvoller erscheint das bereits begonnene Vorhaben des Matthes & Seitz-Verlags, eine Werkausgabe in neuer Übersetzung herauszugeben. Die Ausstellung im Berliner Literaturhaus begibt sich auf die Spuren Schalamows anhand seiner literarischen Zeugnisse und zeigt die sowjetische Lagerwelt aus dem Blickwinkel des Häftlings. Das Memorial Moskau sowie zahlreiche russische Archive und Museen stellen Originaldokumente aus Schalamows Nachlass sowie Fotos und Objekte aus den Gulags zur Verfügung.

Die in Berlin von den Kuratoren Christina Links und Wilfried F. Schoeller erarbeitete Ausstellung, die durch ein umfangreiches Begleitprogramm ergänzt wird, ist später auch in Bremen, Heidel­ berg, St. Petersburg und Moskau zu sehen. Außerdem wird ein Konzept für eine Wander­aus­ stellung entwickelt, die vor allem durch osteuropäische Städte (Warschau, Budapest, Riga, Prag u.a.) tourt. ↗ www.literaturhaus-berlin.de Künstlerische Leitung: Christina Links, Wilfried F. Schoeller Künstler/innen: Viktor Alexandrowitsch Schmyrow (RU), Valeri Wassiljewitsch Jessipow (RU), Irina Lasarewna Scherbakowa (RU), Sergej Michailowitsch Solowjow (RU), Franziska Thun-Hohenstein, Gabriele Leupold, Wladislaw Hedeler

Literaturhaus Berlin, 26.9.­— 8.12.2013 Klementinum/Nationalbibliothek und Slawische Bibliothek Prag 3.—27.10.2013 Sándor Márai Museum Kosice 1.11.—15.12.2013 Friedrich-Ebert-Gedenkstätte Heidelberg 15.1.—16.3.2014


Bild und Raum

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Mensch — Raum — Maschinen Die Bühnenexperimente am Bauhaus in Dessau Der Einzug der Technik in die alltägliche Lebenswelt weckte Anfang des 20. Jahrhunderts Hoffnungen und Utopien. Gleichzeitig offenbarte nicht zuletzt der Erste Weltkrieg die verheerenden Potenziale technischer Errungenschaften. Das Projekt „Mensch — Raum — Ma­ schinen“ diskutiert diese Ambivalenz, die sich auch in den künstlerischen Arbeiten der Bauhaus-Bühnenexperimente widerspiegelt. Erstmals präsentiert eine Einzelausstellung explizit die Bühnenwerkstatt des Bauhauses mit historischen Originalexponaten: Projekte, Entwürfe und Konzepte. Sie vermittelt die Bühne am Bauhaus als Ort einer radikalen Arbeit an Bildern und Vorstellungen, als

interdisziplinäres Zentrum einer künstlerischen Suche nach einer Neudefinition des modernen Menschen. Das Bild des Bauhauses – in der heutigen Wahrnehmung über-

Alexander Schawinsky: Figurinenentwurf zu „Die drei Veroneser“ („Die edlen Veroneser“) von William Shakespeare, 1925

Gruppenausstellung und Publikation im Kunstverein München

↗ www.kunstverein-muenchen.de Künstlerische Leitung: Bart van der Heide, Judith Hopf, Marlie Mul (NL) Akademisch-wissenschaftliche Beratung: Kerstin Stakemeier Beteiligte Künstler/innen: Judith Hopf, Marlie Mul (NL) u.a.; Kunstverein München, 12.7.—13.9.2013; Internationale Co-Herausgeber der Publikation: Showroom (GB), Elaine MGK (CH) u.a.

↗ www.bauhaus-dessau.de

Künstlerische Leitung: Torsten Blume, Christian Hiller Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Anne Levy Ko-Kurator/innen: Milena Hoegsberg (NOR), Lars Finborud (NOR), Jienne Liu (KR) Künstler/innen: Hannah Hurtzig, LIGNA, Daria Martin (GB), Noemi Lafrance (USA), Mikav Tajima (USA), Ahn Sangsoo (KR), Kyungwoo Han (KR) Stiftung Bauhaus Dessau, 5.12.2013—4.5.2014; Henie Onstad Kunstsenter Høvikodden (NOR), Sommer 2014; National Museum of Contemporary Art Korea Seoul, Winter 2014/15; Witte de With Contemporary Art Rotterdam

Door: Between Either and Or

Die Gruppenausstellung „Door: Between Either and Or“ hat das Ziel, eine zeitgemäße Alternati­­ve zu etablierten Formen der Institutionskritik zu entwickeln. Ihr Ansatz richtet sich gegen die feministischen und queeren Vorgehensweisen der 1970er Jahre, die ihre Kritik von außen auf Kunst­insti­ tutionen und Kunstmarkt richteten, als auch gegen die Strategie der 1990er Jahre, als Künstlerinnen selbst Teil der Institutionen werden und Ver­än­ derungen „von innen heraus“ einleiten wollten. Die zur Ausstellung eingeladenen Künstlerinnen wie Judith Hopf und Marlie Mul verweigern sich eindeutigen Positionen, stellen aber weiterhin die Frage nach den Bedingungen für künstlerische Produktion und den Mechanismen der Bewertung durch den Kunstmarkt. Internet und soziale Medien erlauben ihnen einen stetigen Wechsel von Identitäten, Interessen und Verbündeten: Es entsteht eine Unabhängigkeit, die neue Ansätze der Institutionskritik ermöglicht. Um den Austausch zwischen den meist individuell arbeitenden Künstlerinnen zu initiieren und sie erstmalig als Gruppe zu bestimmen, wird zur Ausstellungseröffnung ein Seminar durchgeführt. Außerdem suchen Veranstaltungen in Kunsträumen in London, Zürich, Basel und Beirut nach neuen Erkenntnissen zur Institutionskritik, die in die geplante Publikation zur Ausstellung einfließen sollen.

wiegend von seiner Architektur und seinem Design geprägt – soll korrigiert und damit neue Interpretationen des Arbeitens der Bau­ hausbühne formuliert werden. Begleitend werden internationale Künstler/innen eingeladen, sich kritisch mit aktuellen Fragen zur Bauhausbühne zu befassen und ihre Positionen diskursiv und performativ zu präsentieren. Eine DVD-Publikation und ein Symposium, ein Filmprogramm mit Workshops und Performances runden die Schau ab. Die geplanten Folgeausstellungen in Norwegen und Korea werden vor Ort jeweils spezifisch modifiziert.

Ohnmacht als Situation – Democracia, Revolutie & Polizey Ein Ausstellungsprojekt mit Diskurslabor im Frankfurter Kunstverein Wirtschafts- und Schuldenkrisen, Flüchtlingsströme, Klimawandel, Terrorismus: Täglich berichten die Medien von Krisen, Katastrophen und globalen Risiken. Angesichts der medialen und realen Bedrohungsszenarien schwindet das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Staaten. Die Folge ist ein Gefühl der Ohnmacht. Die Ohnmacht einer Gesellschaft kann zur Ursache für Diktaturen werden, den Einzelnen führt sie in die innere Emigration oder Radikalisierung. Unter dem Titel „Ohnmacht als Situation“ plant der Frankfurter Kunstverein ein experimentelles Projekt, das aus zwei korrespondierenden Ausstel↗ www.fkv.de Künstlerische Leitung: Holger Kube Ventura Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Felix Trautmann Künstler/innen: Pablo Espana (ES), Iván López (ES), Florin Tudor (RO), Mona Vatamanu (RO) Frankfurter Kunstverein, Frankfurt am Main 14.6.—4.8.2013

lungen „Democracia“ und „Revolutie“ und einem begleitenden Diskurslabor „Polizey“ mit zehn Veranstaltungen besteht. Die Arbeiten und künstler­ ischen Experimente suchen nach einem neuen Umgang mit gesellschaftlichen Verhältnissen und Missständen, der aus dem Gefühl der Ohnmacht herausführen kann. Kooperationspartner sind u.a. die Hessische Landeszentrale für politische Bildung und das Ex­zellenzcluster ‚Die Herausbildung normativer Ordnungen‘ der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Eine zweite Station des Projekts in Barcelona oder Basel ist in Planung.


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Bild und Raum

MIES 1:1 Das Golfclub Projekt Architekturaus­stellung und ­Symposien in ­Krefeld

Ludwig Mies van der Rohe (1886—1969) gehört zu den bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Aus seiner europä­ ischen Schaffensphase sind nur wenige Bauten erhalten, drei davon in Krefeld. Für die Krefelder Seidenfabrikanten Her­ mann Lange und Josef Esters schuf er ein Villenensemble (1927—1930) und ein Fa­ brikgebäude. Im Mittelpunkt der Ausstel­ lung „MIES 1:1 – Das Golfclub Projekt“ steht Mies van der Rohes nie realisierte Planung für das Clubhaus des Krefelder Golfclubs von 1930. Der belgische Archi­ Modell des 1:1 Modells tekt Paul Robbrecht setzt den Entwurf am originalen Standort nun als begehbares Architekturmodell im Maßstab 1:1 um. Das Modell ist keine (Re-)Konstruktion, son­ dern eine Inszenierung zentraler Elemen­ te der Formensprache des Architekten. Es wird als temporäre Plattform für Sympo­ sien und Workshops dienen. Das Sympo­ sium Touching Mies (2.6.2013) beschäf­ tigt sich mit den Themen Rekonstruktion und Transformation. Ein zweiter Schwer­ punkt Erinnerung und Identität (14.7.2013) fragt nach der Bedeutung von Erinnerung für die Entstehung urbaner und kulturel­ ler Identität. Das Modell (15.9.2013) setzt sich mit dem Modell als künstlerische Strategie auseinander. Die Symposien finden in Kooperation Künstlerische Leitung: Anja Casser, Barbara Fischer (CA) mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschich­ Assoziierte Kurator/innen: Grant Arnold, Catherine Crowston, Vincent te in München statt. Parallel sind Führun­ Bonin, Michèle Thériault, Jayne Wark (alle CA) gen, Filme und Workshops für Schüler/ Projektleitung und kuratorische Assistenz: Roos Gortzak Künstler/innen: David Askevold, US/CA, John Baldessari, US; Daniel innen geplant. Die Auftaktveranstaltung Buren, FR; Ian Carr-Harris, CA; Carole Condé / Karl Beveridge, CA; fand im März 2013 in Chicago, dem Jan Dibbets, NL; GENERAL IDEA, CA; Dan Graham, US; letzten Wohnort Mies van der Rohes, in Rodney Graham, CA; Hans Haacke, IMAGE BANK, GB/CA; On Kawara, JP/US; Suzy Lake, US/CA; Les Levine, IE/US; Sol Le Witt, US; Kooperation mit dem Goethe-Institut, der Lee Lozano, US; Ken Lum, CA; Ian Murray, CA; N.E. Thing Co., GB/CA; Chicago Architecture Foundation und der Yvonne Rainer, US; Robert Smithson, US; Michael Snow, CA; Mies van der Rohe Society statt. Lisa Steele, CA; Françoise Sullivan, CA; Bill Vazan, CA; Jeff Wall, CA; Ian

Das geheimnisvolle Organ – Hirn, Geist, Seele Internationale Positionen der Gegenwartskunst – Zum 200. Todestag von Johann Christian Reil Der Mediziner Johann Christian Reil (1759—1813), der in Halle an der Saale tätig war, gehört zu den Wegbereitern der modernen Hirnforschung und Psychiatrie. Reil reflektierte das Verhältnis von physischen und psychischen Vorgängen. Das Hirn bezeichnete er als „geheimnisvolles Organ“, dem er eine entscheidende Rolle im Zusammenspiel von Körper und Seele zuschrieb. In seinem Leib-SeeleAnsatz näherte sich Reil der Frage nach der Be­ wusstseins- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen an. Auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen und ethischen Theorien hat die Stiftung Moritzburg die Ausstellung „Das geheimnisvolle Organ – Hirn, Geist, Seele“ entwickelt, die sich mit der Komplexi­ tät von Wahrnehmung und Bewusstsein sowie der Kunst als Erkenntnismöglichkeit auseinandersetzt.

Continental Drift

Konzeptkunst aus Kanada im Badischen Kunstverein

Wallace, GB/CA; Lawrence Weiner, US; Joyce Wieland, CA u.a.

Künstlerische Leitung: Paul Robbrecht (BE) Inhaltliche Konzeption und wissen­schaftliche Leitung: Christiane Lange Künstler/innen: Paul Robbrecht (BE), Alexander Schwarz (Büro David Chipperfield), Dirk Lohan (USA), Julian Heynen, Wolf Tegethoff Chicago Architecture Foundation, Crown Hall, IIT 27.3.13; Krefeld, Egelsberg 26.5.—27.10.2013

↗ www.projektmik.com

Badischer Kunstverein Karlsruhe, 19.4.—8.9.2013 ↗ www.badischer-kunstverein.de

Der Badische Kunstverein zeigt mit „Continental Drift“ ein umfangreiches Projekt zur Konzeptkunst in Kanada, insbesondere über die kunsthistorisch bedeutenden Jahre zwischen 1965 und 1980. Die Ausstellung präsentiert über 100 Künstler/innen und entsteht in enger Zusammenarbeit mit der Justina M. Barnicke Gallery der Universität Toronto. Das Projekt widmet sich einem der wichtigsten kunsthistorischen Phänomene des 20. Jahrhunderts – der globalen Ausprägung der Konzeptkunst mit ihren bis dahin noch nie da gewesenen internationalen Verflechtungen und rhizomartigen Netz­werken. Die Schau ist in fünf Themenkomplexe unterteilt: Sprache und Kommunikation, Körperpolitik, Territorium: Mapping und Landschaft, Netzwerke sowie Pädagogik. Ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm mit Künstlergesprächen, Seminaren, Performances und Filmscreenings begleitet und vertieft die einzelnen Themenbereiche. Zur Ausstellung erscheint eine Publikation.

Copyright: Hannes Kater

Ausschnitt aus der Raumzeichnung „A Sence of Where You Are“ von Hannes Kater

Die Schau versammelt Positionen zeitgenössischer Kunst und zeigt künstlerisches Denken und Han­ deln als Grenzgang zwischen kognitiver und intu­ itiver Reflexion. Die Ausstellung findet anlässlich des 200. To­ destages von Reil statt und korrespondiert mit dem medizin- und kulturhistorischen Projekt „Das geheimnisvolle Organ. Die Vorstellung über Hirn und Seele von Johann Christian Reil bis heute“ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

↗ www.stiftung-moritzburg.de Künstlerische Leitung: Cornelia Wieg Künstler/innen: Horst Ademeit, Nina Canell (S), Douglas Gorden (GB), Anish Kapoor (IND), Nanne Meyer, Bruce Nauman (USA), Alexander Roob, Dagmar Varady, Sandra Vasquez de la Horra (RCH) Stiftung Moritzburg, Halle an der Saale, 2015


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Performance Electrics

Aus Kunst wird Strom: Forschungsprojekt, Ausstellung, Performance, Symposium

Power Station, 2012

„Performance Electrics“ verfolgt das Ziel, durch Kunstaktionen Strom zu erzeugen. Seinen ‚Kunststrom‘, den es ins öffentliche Stromnetz einspeist, gewinnt es durch künstlerisch gestaltete Solaranlagen, Windradskulpturen und performative Interventionen im öffentlichen Raum. Mit seiner neuartigen Verknüpfung der sonst einander fremden Sphären Kunst und Energie bezweckt das Projekt, das öffentliche Bewusstsein für die Thematik zu schärfen und neue Impulse durch vielfältige interdiszi­pli­ näre Kooperationen zu setzen. Eine neu errichtete skulpturale ‚Power Station‘ dient als Stromeinspeisungsanlage, Forschungs- und Entwicklungszentrum sowie als Schnittstelle zur Öffentlichkeit,

für Gespräche und für Workshops. Im Projektverlauf sind vielfältige künstler­ ische Maßnahmen an unterschiedlichen Standorten geplant – temporäre strom­ erzeugende Aktionen ebenso wie dauer­ hafte energiegewinnende Installationen. ↗ www.performance-electrics.de Künstlerische Leitung: Pablo Wendel Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Birgit Gebhard, Katharina Ritter Künstler/innen: Frabian Brenne, Katharina Ritter, Kestius Svirinas (LT), Samuel Treindl, Helen Turner (GB), Vladislav Novicki (LT), Karl Wruck (CH) Stadtgalerie Saarbrücken 30.11.2012—3.2.2013, Städtische Galerie Villingen-Schwenningen 17.2.—21.4.2013, London u.a.

Brian O’Doherty Patrick Ireland und die Amerikanische Kunst nach 1945: Ausstellung und Symposium in Bayreuth Entgegen dem „Event-Charakter“ des Kunst­betriebes und dem wirtschaftlichen Druck auf Museen, öffentlichkeitswirksam und kostendeckend zu arbeiten, versteht der Künstler Brian O’Doherty Kunst als ein wichtiges Argument in der gesellschaftlichen Debatte. Sein Werk spannt einen Bogen von Skulptur und Installation über Inszenierung bis zur Konzeptkunst. Auch seine Sammlung „Post-War American Art“, die Werke von Sol LeWitt, Robert Rauschenberg, Mark Rothko, Edward Hopper beinhaltet und die er zusammen mit seiner Frau, der Kunsthistorikerin Barbara Novak, anlegte, zeugt vom kontroversen Potenzial der Kunst. Das Kunstmuseum Bayreuth nutzt die künstlerische Sprengkraft der Sammlung Novak/O’Doherty und hinterfragt mit einer Auswahl an Werken die Inhalte und Präsentation der eigenen Sammlung. Die Auswahl nimmt Brian O’Doherty selbst vor, der auch mit einer eigenen Installation auf Werke und Umfeld reagieren wird. Das Symposium „Art as an Argument / Kunst als Argument“ gibt Eugen Gomringer und Sam Hopkins die Gelegenheit, die künstlerische Herangehensweise des Ausnahmekünstlers in seiner Anwesenheit zu untersuchen. Künstlerische Leitung: Marina von Assel Künstler/innen: Brian O’Doherty, USA; Eugen Gomringer, CH; Sam Hopkins, KE Kunstmuseum Bayreuth 3.7.—13.10.2013 ↗ www.kunstmuseum-bayreuth.de

Ware und Wissen Künstlerische Positionen zur Völkerkunde und Handelsgeografie in Frankfurt Die drei Gründerzeitvillen des Frankfurter Weltkulturen Museums beherbergen 67.000 ethnologische Artefakte, 120.000 Fotografien und 50.000 Bücher. Unter dem Leitmotiv „Trading Perceptions – Wahrnehmungen verhandeln“ möchte das Museum in den kommenden Jahren seine beeindruckende Sammlung unter zeitgenössischen Gesichtspunkten neu ausrichten, ihre Entstehungsgeschichte hinterfragen und die Ergebnisse für Besucher/innen zugänglich machen. Die Ausstellung „Ware und Wissen“ widmet sich der Sammlungsgeschichte zum Themenkomplex internationaler Handel in Frankfurt und Deutschland. Die Idee: Internationale Künstler entwickeln im Rahmen von Residenzen im Weltkulturen Labor neue Zugänge, alternative Begriffe und Konzepte für die bestehenden Sammlungen. Anhand der Themenbereiche Schenker und Samm­ler, Handelsware und Verwaltung, Serialität und Tausch untersuchen sie die historischen AnfänAbb.: Neuguinea-Objekte im einstigen Magazin des Museums für Völkerkunde (heute Weltkulturen Museum) im ehemaligen „Neckermann-Haus“ am Danziger Platz, Frankfurt am Main, Ostbahnhof, 1961. Bei den Objekten handelt es sich um Kalkspatel aus Knochen, Knochendolche, Armstulpen, Speerschleudern, Sanduhrtrommeln u.a.

ge von globalen Märkten und ihren Einfluss auf die Vorstellungen von Kultur und Gesellschaft. Die historischen Sammlungsgegenstände erzählen nicht nur spannende Geschichten aus der Vergangenheit, sondern sind auch eine wertvolle Quelle für die heutige Wissensproduktion. ↗ www.weltkulturenmuseum.de

Künstlerische Leitung: Yvette Mutumba Projektleitung: Nina Huber Künstler/innen: Peggy Buth, Alexander Düttmann (GB),

Patricia Falguières (FR), Peter Osborne (GB), Willem de Rooij (NL), Saskia Sassen (US), Richard Sennett (US), Nicholas Thomas, David Weber-Krebs (BE), Luke Willis Thompson (NZ) u.a. Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main, 1.10.2013—29.6.2014


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Besence Open (2013), Director: Krist贸f Kov谩cs

Dialog With Carmen (2013), Director: Lidija Mirkovic

Besence Open (2013), Director: Krist贸f Kov谩cs


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Cineromani Die lang erwartete Anerkennung der Kultur der Sinti und Roma muss über die Ebene von Projekten und Initia­tiven hinausgehen und dauerhafte Kultur- und Bildungseinrichtungen für die Kultur der Roma schaffen.

Dialog With Carmen (2013), Director: Lidija Mirkovic

Auf dem Weg über die Grenze Gedanken zur Anerkennung und Wertschätzung der Kultur der Sinti und Roma in Deutschland und Europa

Europa ginge damit einen Schritt Richtung Utopie der Grenzen­ losigkeit und offenen Gesellschaft.


32 André J. Raatzsch

Damit Roma in Europa wirklich ankommen können, brauchen sie die Einreiseerlaubnis ihrer Zeitgenossen, sagte der ungarische Maler Tamás Péli (1948—1994) in den 1990er Jahren. Péli wollte mit seiner Kunst die Kultur und Traditionen der Roma bekanntmachen, seine wichtigste Arbeit war ein über 40 Quadratmeter großes Bild, das den Ursprung und die Wanderungen der Roma zeigt. Fast 20 Jahre später haben Sinti und Roma eine wichtige Etappe auf dieser Wanderung erreicht: Am 14. November 2012 erkannte Schleswig-Holstein Sinti und Roma, wie schon zuvor Dänen und Friesen, offiziell als Minderheit in seiner Landesverfassung an. Zuerst war ich skeptisch, dann habe ich mich über die Entscheidung gefreut und hoffe, dass ihr bald auch andere Bundesländer folgen werden. Was aber bedeutet diese Entscheidung unserer Zeitgenossen? Sie steht für eine neue Form der Wertschätzung und Anerkennung und weist auf einen Bewusstseinswandel in Deutschland hin. Während Wertschätzung eine psychologische Bedeutung hat und ohne große Anstrengung von jedem/r für jede/n erteilt werden kann, bedeutet Anerkennung, dass politische Institutionen und gesellschaftliche Organisationen Entscheidungen treffen, die das Zusammenleben in eine neue Richtung lenken. Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, empfindet die Entscheidung Schleswig-Holsteins als historisch, und sieht sie nach der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin als „zweiten großen Schritt für eine gleichberechtigte Anerkennung unserer Minderheit als Bürger dieses Landes“. Einige Fragen bleiben dennoch unausgesprochen. Die Anerkennung als Minderheit bezieht sich nur auf die schleswig-holsteinischen Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit. Wo liegt Romanistan in Europa?

Offen bleibt, was mit den Sinti und Roma passieren wird, die als Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien oder als Migranten aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union oder aus Drittstaaten gekommen sind. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat im Gesprächskreis ‚Minderheiten‘ beim Innenausschuss des Deutschen Bundestages am 26. Oktober 2011 folgenden Vorschlag gemacht: „Zusammenfassend sieht der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma die Notwendigkeit, in Deutschland und in Ländern des Europarats langfristige Programme für die Durchsetzung der gleichberechtigten Teilhabe von Sinti und Roma aufzulegen. Solche Programme müssen aber zwingend als konkrete Vorhaben vor Ort entwickelt werden und bedürfen einer regelmäßigen Überwachung und Evaluierung. Nur so kann die langfristig erfolgreiche Umsetzung der europäischen Rahmenvorgabe sichergestellt werden.“ Doch wie erfolgreich können solche Programme sein? Wie wichtig ist ein neues Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaften in Europa für die gleichberechtigte Teilhabe von Sinti und Roma in Gesellschaft und Kultur? Der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geht in diesem Jahr an den deutschen Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal für sein Buch „Europa erfindet die Zigeuner“. Bogdal unternimmt darin bewusst nicht einen weiteren Versuch, die Sinti und Roma zu emanzipieren, sondern er möchte auf gesellschaftlicher und politischer Ebene ein neues Verständnis für sie entwickeln. Die Vergabe des Preises wertet er als einen Erfolg auf diesem Weg. Und er ist überzeugt, dass das Thema künftig verstärkt auf der politischen Tagesordnung stehen wird. Die „International Romani Film Com-

mission“ möchte mit dem Projekt „Cineromani – Empowering Roma Filmmakers“ die europäischen Roma in der internationalen Filmlandschaft etablieren. Cineromani wird durch die Kulturstiftung des Bundes sowie den Ungarischen Nationalen Kulturfonds gefördert und ist Beweis dafür, dass es in der deutschen und ungarischen Kulturförderung einen Perspektivwechsel gibt. Eine Retrospektive im Berliner Zeughauskino unternimmt den Versuch, filmische Roma-Narrative nachzuzeichnen. In Zusammenarbeit mit Mitgliedern der International Romani Film Commission präsentiert außerdem eine zweitägige Filmschau zeitgenössische audiovisuelle Arbeiten im Collegium Hungaricum in Berlin. Arbeiten von bekannten Filmschaffenden wie Toni Gatlif stehen hier neben Produktionen von Nachwuchsfilmern und geben Positionen der Roma-Community wieder. Zusätzlich finden Workshops statt, in denen Experten jungen Talenten mit Karrierestrategien zur Seite stehen. Künstlerische und thematische Inhalte, die auf dem Cineromani Filmfestival erarbeitet wurden, fließen im Herbst 2013 in den Themenschwerpunkt des Cottbusser Filmfestivals ein. Um ein modernes Verständnis von Roma-­ Kultur bemüht sich auch die Initiative „Romanistan­– Crossing Spaces in Europe“ (www.­ romanistan-berlin.de), ein Netzwerk kultureller Einrichtungen und Organisationen europäischer Roma. Schon in den 1970er Jahren waren in einigen europäischen Ländern erste kulturelle Emanzipationsbewegungen der Roma entstanden. In den 1980er Jahren forderten Roma-Intellektuelle eigene Museen und Theater, Verlage und Kulturzentren, um sich in die europäische Kulturlandschaft einzuschreiben. Trotzdem gibt es bis heute kaum eine institutionelle Basis für Kunst und Kultur der Roma. Offensichtlich gelingt es der Kulturförderung in vielen euro­ päischen Ländern noch nicht, Initiativen der Roma-Kultur offiziell anzuerkennen. „Romanistan – Crossing Spaces in Europe“ will daher einen Perspektivwechsel in den staatlichen För­derstrukturen vorbereiten. Ziel ist die „De-­ Exotisierung” von Roma-Künstlern. Ein internationales Symposium, drei künstlerische Pro­ duk­tionen aus den Sparten Bildende Kunst, Theater und Musik, ein Musikfestival und eine abschließende Konferenz im Rahmen einer Roma-Kulturwoche wollen einen kritischen Diskurs anstoßen über das Verhältnis von kultureller Identität und Produktion jenseits stereotypisierender Ethnisierung und Romantisierung. Das Projekt definiert Roma-Kulturproduzenten nicht isoliert als kulturelle Avantgarde in einer ethnozentrischen Bewegung, sondern als Protagonisten einer gesamtgesellschaftlichen kulturpolitischen Debatte. Die Beispiele könnten auf einen Wandel hindeuten: Die lang erwartete Anerkennung der Kultur der Sinti und Roma muss über die Ebene von Projekten und Initiativen hinausgehen und dauerhafte Kultur- und Bildungseinrichtungen für die Kultur der Roma schaffen. Europa ginge damit einen Schritt Richtung Utopie der Grenzenlosigkeit und offenen Gesellschaft. Und wer weiß, vielleicht hören wir schon bald davon, dass in Berlin eine Kultureinrichtung für die Kultur der Roma und Sinti eröffnet wurde.

Cineromani – Empowering Roma Filmmakers Filmretrospektive, Filmschau, Gespräche und Workshops Nur wenige Roma-Regisseure sind in der vielfältigen europäischen Filmlandschaft vertreten. Für eine Kultur, die jenseits von Grenzen und Nationen exis­ tiert, ist der Zugang zu Strukturen für Produktion, Kommunikation und Förderung von Filmen schwierig. Die Initiative „Cine­romani – Empower­ing Roma Film­ makers“ will daher mit einer Filmretro­spektive, Ge­ sprächen und Work­­s­hops die Arbeit junger Roma-­ Regisseure nachhaltig fördern und unterstützen. Eine umfassende histor­ische Retrospektive im Zeughaus­ kino unternimmt den Versuch, filmische Roma-Narra­ tive nachzuzeichnen. Zusätzlich zu den öffentlichen Filmvorführungen finden geschlossene Workshops statt, in denen Exper­­ ten den jungen Talenten mit nachhaltigen Karriere­ strategien zur Seite stehen. Künstlerische und thema­ tische Inhalte, die auf dem Cineromani Film­festival erarbeitet wurden, fließen im Herbst 2013 in den Themenschwerpunkt des Cottbusser Filmfestivals ein.

Künstlerische Leitung: János Can Togay Projektleiterin: Corinna Erlebach Künstler/innen: Katalin Barsony (HU), Hamze Bytyci, Toni Gatlif (FR), Damian James Le Bas (GB), Dejan Markovic (CS), Sami Mustafa (XZ), Judit Stalter (HU), Ivor Stodolsky (FIN/USA) Filmretrospektive 1.—22.6.2013 im Zeughauskino im DHM/Collegium Hungaricum, Berlin 31.5.—2.6.2013 Filmschau im .CHB 3.—5.6.2013 Workshops und Panels im .CHB Filmschau 5.—10.11.2013 beim Filmfestival Cottbus ↗ www.hungaricum.de

Weitere Veranstaltungen André J. Raatzsch, Jahrgang 1978, lebt als bildender Künstler in Berlin und Budapest. Teilnahme an zahlreichen Aus­ stellungen, u.a. am ersten Roma Pavillon „Paradise Lost“ der Biennale Venedig 2007. Derzeit forscht er im Rahmen eines Dok­ torandenprogramms an der Ungarischen Hochschule für Bildende Künste zur Re­ präsen­tation der europäischen Roma unter Berücksichtigung von Fotografie, Foto-Ar­ chi­ven und dem dazugehörigen fotografischen Diskurs.

Musikfestival „Musik der Unterdrückten“ 6.4.2013 im SO36, Berlin Ausstellung „ROMA IMAGE STUDIO“ 19.4.—2.6.2013 in der Galerie Saalbau Neukölln, Berlin Theateraufführungen „Markt(platz)geschichten“ von Slavisa Markovic 11.5.2013 im Rroma Aether Klub Theater und 11.5.2013 Abschlusskonferenz in Berlin


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DOKU.ARTS— Second Hand Cinema

Utopien vermeiden 20 Jahre Werkleitz Jubiläumsfestival Das Medienfestival Werkleitz feiert seinen 20. Geburtstag mit einem Jubiläumsfestival. Gegründet 1993, kurze Zeit nach dem Fall der Mauer und während des Aufstiegs des World Wide Web, nutzte ein Kollektiv die euphorische Aufbruchsstimmung in Europa, um ihr neuartiges Medienkunstfestival durchzusetzen: eine gemeinsame Präsentation von Film- und Videokunst, Bildender Kunst, Computerkunst und Performance. Zwanzig Jahre später hat sich die Stimmung verändert. Deregulierte Finanzmärkte, der Rückzug des Staates aus seiner gesellschaftlichen Verantwortung und ökonomischer Druck haben die Erweiterung Europas von einer politischen Utopie zu einem wirtschaftlichen Projekt verkümmern lassen. Werkleitz nimmt sein 20jähriges Bestehen zum Anlass, diese sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen zu reflektieren: Welche Rolle spielt die Kunst damals und heute? Was ist aus der Idee der Gemeinsamkeit, des Kollektivs geworden? Wie verändert sich die Präsentation von Kunst in Zeiten des Internets? Zwanzig Kuratoren und Theoretiker sind eingeladen, neu entwickelte Arbeiten in einem städtischen Ausstellungsparcours oder in Film- und Performanceprogrammen in Halle zu präsentieren. Die aufgeworfenen Fragen sollen in einem Symposion diskutiert werden; eine Publikation fasst die Ergebnisse zusammen.

↗ www.werkleitz.de

Künstlerische Leitung: Daniel Herrmann, Marcel Schwierin Künstler/innen: Nevin Aladag (TR), Tamás Kaszás (HU), Kader Attia (FR), John Baldessari (US), Peggy Buth, Barbara Caveng (CH), Loretta Fahrenholz, FM Einheit, Regina José Galindo (GT) u.a. Volkspark Halle (Saale) 11.—27.10.2013

onspartner, wie zum Beispiel die Cinémathèque de Tanger unter der Leitung von Yto Barrada, ermöglichen eine einzigartige Zusammenstellung historischer Besonderheiten aus internatio­ nalen Film- und Fernseharchiven. Künstlerische Leitung: Andreas Lewin Künstler/innen: Yto Barrada (MA), Rania Stephan (LB), Akram Zaatari (LB), Luc Bourdon (CA), Terence Davis (GB), Aliona van der Horst (NL/RU), Bruno Monsaingeon (F), Anthony Wall (GB), Christoph Hübner u.a. Zeughauskino DHM Berlin 18.9.2013—12.10.2014 ↗ www.doku-arts.de

Film und Neue Medien

risten in Frage. Das Genre des Dokumentarfilms verändert sich nach­haltig. Eine umfassende Werkschau von 30 internationalen Filmemachern und Künst­lern – vor allem aus den ara­ bischen Ländern des Mittelmeer­ raumes – konzentriert sich auf Kompilationsfilme und Dokumentarfilme, die mit Archivmaterial arbeiten. Audiovisuelles Archivmaterial ist für Auf einer Tagung werden die Pradie Realisierung von Dokumentarfil- xis der Archivnutzung, Archivbildung men eine wichtige Quelle. Doch der und ästhetische Strategien eines „Kikommerzialisierte Zugang zu Archi- nos aus zweiter Hand“ am Beispiel der ven, die rasante Entwicklung neuer Fernseharchive von ARD und ZDF von Technologien und die Debatte um das internationalen Experten diskutiert Urheberrecht stellen die unabhängige und europaweit verglichen. Europäikünstlerische Arbeit von Dokumenta- sche und nordafrikanische Kooperati-

Zukunftsperspektiven für den künstlerischen Dokumentarfilm: Eine Filmwerkschau und Tagung im Berliner Zeughauskino


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POST MUSICALS Internationales Musicalfestival

Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel widmet seine Reihe ‚POST MUSICALS‘ einem Genre, das mit Werken beispielsweise von George Gershwin, Kurt Weill oder Leonard Bernstein lange Zeit für intelligente, gesellschaftskritische Unterhaltung stand. Erst mit seiner zunehmenden Kommerzialisierung in den 1980ern wurde das Genre musikalisch verflacht und inhaltlich banalisiert und ist heute Inbegriff für gewinnbringende Massenspektakel, die mit eigenen Bauten und dominanten Werbeflächen aggressiv in die Weichbilder von Städten wie etwa Hamburg eingreifen. Ab 2013 produziert das Internationale Sommerfestival drei Musi­cals mit dem Ziel, einen Gegenentwurf zum kommerziell ausgerichteten Typus zu erarbeiten, der an die ursprünglich subversive Gesellschaftsanalyse von Musicals in ihrer anspruchsvollen Verbindung aus Musik, Tanz und Theater anknüpft. Als internationale Produktionen sollen sie einen großen Wirkungsradius erreichen und das Musical als innovatives Genre revitalisieren. Everything all in all Die US-amerikanische Instru­men­ talistin und Komponistin Shara Worden hat mit ihrer Band My Brightest Diamond das Klangspek­ trum von Pop-Musik entscheidend erweitert. Gemeinsam mit dem Re­ gisseur Andrew Ondrejcak und dem belgischen Barock-En­sem­ble BOX entsteht ein Pop- Musical, in dem sich allegorische Archetypen des Barock in heutigen Alltagssituationen bewähren müssen. Eine

Die Welt in Waffen Welche Staaten verkaufen die meisten Waffen? Welche Länder sind die größten Waffen-Käufer? Die Karten von Worldmapper verzerren die Welt, um die Wirklichkeit klarer zu sehen. Die größten Waffenverkäufer

Koproduktion des Internationalen Sommerfestivals mit DeSingel, Amsterdam. John McEnroe – The Musical Der kanadische Entertainer und Pop-Musiker Chilly Gonzales hat gemeinsam mit dem Journalisten Tim Adams ein Musical über John McEnroe geschrieben, den ersten Sport-Superstar, Nike-Werbeträger und schimpfenden Ausnahmespieler. Gonzales inszeniert das Stück, das vom Internationalen Sommerfestival in Kooperation mit dem Luminato Festival in Toronto produziert wird.

Die größten Waffenkäufer

Phantom Ghost: Exposé ‚Phantom Ghost‘ ist das Projekt des Musikers Thies Mynther und des Tocotronic-Sängers Dirk von Lotzow. Aus gemeinsamen Gesprächen mit der ehemaligen Broad­way-Ballerina, Pornodarstellerin und Choreografin Geor­gina Spelvin entsteht ein Musical, das sich entlang von Spelvins Biografie mit dem Verhältnis von Kunst und Sexualität beschäftigt. Eine Produktion des Internationalen Sommerfestivals in Koproduktion mit dem Donaufestival Krems. ↗ www.kampnagel.de

Künstlerische Leitung: Amelie Deuflhard Künstler/innen: Andrew Ondrejcak (US), Shara Worden (US), Chilly Gonzales (CA), Tim Adams (GB), Thies Mynther deSingel Antwerpen 1.—31.5.2013; Kampnagel Hamburg 10.—16.8.2013, Luminato-Festival Toronto 20.6.—31.8.2014

RELATIONS Festival Ein Theaterfest mit künstlerischen Wahlverwandten an den Kammer­spielen in München

In der Spielzeit 2012/13 feiern die Münchner Kammerspiele ihren 100. Geburtstag. Ein Höhepunkt der Jubiläumsspielzeit ist das internationale „Relations Festival“. Seit einigen Jahren pflegen die Münchner Kammerspiele unter dem Motto ‚Relations‘ vielfältige Arbeitsbeziehungen zu Künstler/innen aus Europa und der Welt. Die Kammerspiele sind zu Gastspielen eingeladen, es entstehen Koproduktionen in München und weltweit. Die Bewegung zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen ist zur Normalität geworden, im Theater aber nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Das Theaterfest greift diese Thematik auf und befasst sich mit den Herausforderungen internationaler Theaterarbeit und der Zukunft des Stadttheaters. Das Rahmenprogramm umfasst ein internationales Symposium, Workshops für Nachwuchskünstler/innen, Publikumsgespräche und Konzerte. Künstlerische Leitung: Julia Lochte, Koen Tachelet (BE) Künstler/innen: Lola Arias / Compania Postnuclear (AR), Alvis Hermanis / Jaunais Rigas Teatris (LV), Sebastian Nübling / Junges Theater Basel (CH), Kristian Smeds / Smeds-Ensemble (FI), Meg Stuart / Damaged Goods (BE/USA), Theater NO99 (EE), Lotte van den Berg / OMSK (NL), Ivo van Hove / Toneelgroep Amsterdam (NL), Dries Verhoeven (NL), Wunderbaum (NL) Münchner Kammerspiele, München 7.—18.6.2013 ↗ www.muenchner-kammerspiele.de

Situation Rooms Ein Multiplayer ­Video-Stück zum Waffenhandel Weltweit sind hunderte Millionen Feuerwaffen im Umlauf, geschätzte 14 Milliarden Schuss Munition werden jährlich produziert. Laut des Internationalen Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) stehen die USA, Russland und Deutschland derzeit an der Spitze der Waffen exportierenden Länder. Das Projekt „Situation Rooms“ schrumpft die globalisierte Welt des Waffenhandels auf eine Fläche von 15 x 12 Metern. Die drei Künstler/innen von Rimini Protokoll entwickeln mit Bühnenbildner Dominic Huber und Videokünstler Chris Kondek ein Bühnen-Film-Set aus zehn bis 15

Räumen. Die Zuschauer betrach­ ten die Bühne nicht von außen, sie werden zu Akteuren. Mit iPod und Kopfhörern ausgestat­ tet, durchwandern sie die Räume, folgen dabei einem Film auf ihrem Display und wechseln ihre fil­ mischen Identitäten: Sie schlüpfen in die Rolle eines Geldwäsche­ beauftragten, eines griechischen Panzerpiloten oder schmieden als philippinischer Waffenschmied Pistolen. Sie begegnen sich in den Räumen, die einzelnen Identitäten treten in Beziehung zueinander. Die Besucher werden Teil eines komplex angelegten und multi­perspektivischen „Shootings“. „Situation Rooms“ ist eine Koproduktion mit der Kultur Ruhr GmbH, dem Schauspielhaus Zürich, dem Parc et Grande Halle de la Villette Paris und dem HAU Berlin, die Uraufführung findet während der Ruhrtriennale 2013 statt.

Künstlerische Leitung: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel (alias Rimini Protokoll) Künstler/innen: Dominic Huber, Chris Kondek u.a. Turbinenhalle Bochum 23.8.—14.9.2013; Schauspielhaus Zürich 21.9.—5.10.2013; Hebbel am Ufer Berlin 19.2.—1.3.2014; Grande Halle de la Villette Paris 10.—24.5.2014 u.a. ↗ www.rimini-protokoll.de


35 Precarious Bodies

Orfeo

Veranstaltungsreihe zum Werk Jan Fabres im Berliner Theater Hebbel am Ufer

Künstlerische Leitung: Annemie Vanackere Künstler/innen: Jan Fabre (BE), Young Jean Lee (US), Markus Öhrn (SE), Panaibra Canda (MZ), Normal Love Hebbel am Ufer Berlin 8.—14.4.2013 ↗ www.hebbel-am-ufer.de

Choreografische Oper von Claudio Monteverdi und Sasha Waltz Choreografie / Regie: Sasha Waltz Musikalische Leitung: Pablo Heras-Casado, ES Sänger/innen: Georg Nigl, AT; Barbara Hannigan, CA; Charlotte Hellekant, SE; Julian Milan, ES; Simon Robinson, GB; Cecile Kempenaers, BE Ensembles: Vocalconsort Berlin, Chor; Freiburger Barockorchester, Orchester; Sasha Waltz & Guests, Tanz Nederlands Opera Amsterdam 18.—31.8.2014 Grand Théâtre du Luxembourg, Luxemburg 5.—9.12.2014 Festspielhaus Baden-Baden 19.—21.6.2015 u.a. ↗ www.sashawaltz.de

Bühne und Bewegung

Der bildende Künstler, Regisseur und Choreograf Jan Fabre zielt in seinen Stücken seit 30 Jahren auf die Verwundbarkeit des Tänzerkörpers ab. Der leistungsbereite und gesunde Körper wird durch äußere und innere Anforderungen so sehr strapaziert, dass trotz der angestrebten körperlichen Perfektion seine Verletzlichkeit, Gefährdung und Unsicherheit durchscheint. Die Veranstaltungsreihe „Precarious Bodies“ im Hebbel am Ufer öffnet die Kunst Jan Fabres für eine neue Zuschauergeneration und setzt sie in Bezug zu aktuellen Produktionen: Der schwedische Künstler Markus Öhrn interpretiert Jan Fabres Text „Etant Donnés“ neu und spielt mit versteckten sexuellen Begierden und dem Verhältnis zwischen Sehen und Gesehenwerden. In der „Untitled Feminist Show“ der koreanisch-amerikanischen Choreografin Young Jean Lee treten Frauen auf, die ganz augenscheinlich nicht den gegenwärtigen Schönheitsidealen entsprechen. Gängige Körperbilder dekonstruiert auch der mosambikanische Tänzer und Choreograf Panaibra Canda in seinem Stück „The Marabentha Solos“.

Über.leben

Internationales Figurentheaterfestival Fokus Afrika Unter dem Motto „Über.leben“ macht das Internationale Figurentheaterfesti­ val in München 2013 die Biografie zum Ausgangspunkt künstlerischer Aus­einan­ dersetzungen mit gesellschaft­ lichen Belangen: Die private Geschichte wird zur politischen, Weltgeschichte wird persönlich. Rund 25 Ensembles aus aller Welt sind eingeladen, mit ihren Produktionen Lebensgeschichten in Beziehung zu Historie, Mythen und Märchen zu setzen. Eine Installation afrikanischer Figuren der Sammlung Puppentheater erweitert die Perspektive auf das Festivalthema. Gespräche, Vorträge und Workshops, eine Filmreihe sowie Inszenierungen von Studierenden des Puppenspiels runden das Programm ab. Ziel des Festivals ist es, das Figurentheater in der breiten Vielfalt seiner ästhetischen Mittel zu veranschaulichen und zu einem offenen Diskurs über die Darstellung wie auch die Darstellbarkeit von Geschichte auf dem Figurentheater beizutragen.

Künstlerische Leitung: Mascha Erbelding Künstler/innen: Pélagie Gbaduidi (SN), Stefanie Oberhoff, Paper Body Collective (ZA), Compagnie Kazyadance, Yvette Coetzee (ZA), Nicola Unger, Théatre Tohu-Bohu (FR) Münchner Stadtmuseum, Schauburg, Pasinger Fabrik, Alten- und Servicezentrum Altstadt München 16.—27.10.2013 ↗ www.figurentheater-gfp.de

Die renommierten Ensembles Sasha Waltz & Guests, Freiburger Barockorchester und Vocalconsort Berlin planen für 2014 eine gemeinsame Produktion von Claudio Monteverdis Oper „L’Orfeo“. Das Stück zählt zu den Meisterwerken der europäischen Musikgeschichte und ist die erste heute noch erhaltene ‚Favola in musica‘, die Instrumentalmusik, Gesang, Tanz und Bühne als Einheit begreift. Ziel des Projektes ‚Orfeo‘ ist es, Monteverdis Themen mit zeitgenössischen Mitteln in das von Sasha Waltz entwickelte Genre der Choreografischen Oper zu übersetzen.

Dazu soll eine eigene Bewegungssprache als gleichberechtigte Partitur neben der musikalischen etabliert werden, deren beider Zusammenspiel es ermöglicht, Tanz, Gesang, Instrumentalmusik und Bühnengestaltung zu einer Einheit zu verbinden. Als Kooperation dreier selbständiger Ensembles, produziert in Berlin und Amsterdam, wird das Projekt von einem europäischen Netzwerk aus Opern- und Koproduktionspartnern in Amsterdam, Luxemburg, Paris, Warschau, Lille und Berlin erarbeitet und international zur Aufführung kommen.

AUGENBLICK MAL! Facing Reality Politisches Theater für junges Publikum aus Europa „Facing Reality“ ist ein neuer Programmteil des Theaterfestivals für junges Publikum „Augenblick mal!“. Internationale Produktionen werden eingeladen, Impulse für die Entwicklung des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland zu geben. Ein unaufgeklärter Mord an einem Jugendlichen der linken Szene (Kroatien), eine junge Lehrerin, die mit unkonventionellen Lehrmethoden auf erbitterten Widerstand gestoßen ist (Ungarn), der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche (Irland) – alle Produktionen setzen sich thematisch mit der aktuellen und historischen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen auseinander. Die Einbindung von jugendlichen Laiendarstellern neben professionellen Schauspielern sowie der reale Hintergrund der Theaterproduktionen erzeugen eine beeindruckende Authentizität. Das Festival will auf diese Weise die politische Dimension der Theaterarbeit für Kinder und Jugendliche betonen. Das Festival „AUGENBLICK MAL!“ ist eine Veranstaltung des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland und der Kulturstiftung des Bundes. ↗ www.kjtz.de

Künstlerische Leitung: Gerd Taube, Kay Wuschek Künstler/innen: Árpád Schilling (HU), Feidlim Cannon und Gary Keegan (IE), Anica Tomic (HR) Theater an der Parkaue, GRIPS Theater Berlin 23.—28.4.2013


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Forget it. Der Philosoph Hermann Lübbe über das Vergessen und die Historisierung der Erinnerung

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I. Vom Nutzen und Nachteil des historischen Fiebers as Vergessen ist bekanntlich ein tradi­tions­ reiches Thema europäischer Moralistik. Spontan fallen uns zuerst gemeinbekannte Regeln ein, die schadens­trächtiges Vergessen vermeidbar machen sollen und komplementär dazu fällige Erinnerung verlässlich. Es war Harald Weinrich, der in den neunziger Jahren mit seinem glanzvollen Buch „Lethe“ daran erinnert hat, dass die Moralistik des Vergessens auch noch ganz eine andere Seite hat, nämlich die des Umgangs mit unserer Angewiesenheit auf das Vergessen und somit auf eine Kunstlehre, die störende Erinnerungen vermeidbar macht und uns endlich vergessen lässt. Zur Neuvergegenwärtigung dieser Kunstlehre des Vergessens zitiere ich eine einzige triviale Regel, ohne deren Beachtung produktive Zeitverbringung nicht möglich wäre – in jedermanns Alltag und am Schreibtisch der Gelehrten ohnehin. Ich meine die bekannte Regel, die es möglich macht, sogar noch unaufkündbare Erinnerungspflichten mit entlastendem Vergessen verbindbar zu halten. Man lege, wie Bürokraten sagen, was keinesfalls vergessen werden darf, „auf Termin“ und wird eben damit aktuell frei von störender Erinnerung an es. Die zitierte Regel zur Entlastung von Erinnerungspflichten im Interesse von Zeiträumen ungestörten Vergessens ist, wie ich sagte, trivial. Aber mit eben solchen Trivialitäten hat es die Moralistik traditionellerweise zu tun – mit dem Ele-

mentaren nämlich, auf das wir stets und überall alle angewiesen sind. Selbstverständlich gibt es Lebensformen, die sich darüber erheben, und deren höhere Moralistik ist Teil unserer Intellektuellenkultur. Wie kein anderer hat Friedrich Nietzsche die existentielle Notwendigkeit des Vergessens gelehrt. „Bei dem kleinsten aber und bei dem grössten Glücke ist es immer Eins, wodurch Glück zum Glück wird: das Vergessen-können“ („Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“). Der gute Sinn dieser ihrerseits traditionsreichen Verknüpfung von Glück und Vergessen bleibe hier unerörtert. Ich habe hier an Nietzsches Vergessenslehre ihrer modernitätskritischen Zuspitzung wegen erinnert. Nietzsche verknüpft seine Philosophie des Vergessens bekanntlich mit einer Kulturkritik des modernen Historismus. Vergessen als Medium des Glücks – das sei „das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden“. Eben dieses Vermögen werde durch die organisierte und überdies verwissenschaft­lichte moderne Erinnerungskultur ruiniert – mit ihrem historisch beispiellos hohen Grad von „Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Cultur“. In der Quintessenz dieser antihistoristischen Kulturkritik Nietzsches heißt das, „dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden“. Zur Veranschaulichung der vermeintlich destruktiven Konsequenzen des Historismus, die Nietzsche beklagt, mag man sich den architekturgeschichtlichen Historismus vergegenwärtigen. „Cultur“, meinte Nietzsche in seinen „Unzeitge-

mäßen Betrachtungen“, sei „vor allem die Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäusserungen“. Gemessen an diesem normativen Kulturbegriff wäre die Dekadenz eines städtebaulichen Ambientes hoffnungslos, in welchem die Kirche sich neogotisch, das Gymnasium im bildungsbeflissenen Renaissancestil, die Bank hingegen wuchtig neobarock präsentiert und schliesslich das Postamt backsteingotisch. Es ist ja richtig: Der architektonische Historismus wurde architekturgeschichtlich alsbald überholt – radikal im Bauhausmilieu. Inzwischen ist aber doch das Bauhaus seinerseits historisiert, ephemer sogar imitiert und in der Postmoderne mit seinen historisierenden Architekturzitaten dementiert. Dazu passt, dass über das Bauhaus hinaus selbstverständlich auch der architektonische Historismus zu einem vornehmen Objekt der Denkmalpflege avanciert ist. Ersichtlich ist das von Nietzsche beklagte „historische Fieber“, statt „verzehrend“, produktiv.

II. Alterungsdynamik. Die Avantgarde füllt die Museen. Was immer die Wirkung des historischen Bewusstseins und näherhin die Wirkung der geschichtswissenschaftlichen Professionalisierung der Erinnerung auf unsere moderne Lebenskultur sein mag –: Um Wirkungen der kulturellen Devitalisierung kann es sich nicht handeln. Der von Nietzsche vermutete Zusammen-


File Room, 2009—2011 Dayanita Singhs Bilder aus indischen Archiven untersuchen, wie Erinnerung verwaltet und Geschichte überliefert wird. Ihre Bilder werfen ein Licht auf das Wider­ sprüchliche von Archiven und Depots: Sie sind in ihren Ordnungssystemen eigentlich unpersönlich und doch das „Handwerk“ von Archivaren.

Deren Entscheidungen legen fest, was wir wissen und an was wir uns erinnern. Archive sind Orte unumstößlichen Wissens und können doch vernach­ lässigte Details und verges­sene Dokumente verbergen. Dayanita Singh regt uns an, Archive nicht nur als Wissens­ speicher, sondern als Orte von Geschichten zu sehen, verwunschen schön in ihrer zerzausten Un-­ Ordnung. Auf der diesjährigen Biennale in Venedig stellt Dayanita Singh neben Ai Weiwei, dem Regisseur Romuald Karmakar und dem südafrikanischen Fotografen Santu Mofokeng im Deutschen Pavillion aus.


38 hang von Vergangenheitsvergegenwärtigungseifer und Neuschaffungsscheu ist inexistent. Würde Nietzsche heute leben, so müsste er sich wundern, welche Grade der Intensität historisierender Vergangenheitsvergegenwärtigung unsere Zivilisation aushält, ohne darüber an Innovationsdynamik und damit an Zukunftsfähigkeit zu verlieren. Es ist ja wahr: „Museen haben Konjunktur“, und die deutschkulturell so genannten Geisteswissenschaften, primär also die historischen Kulturwissenschaften, die den Musealisierungsprozess fachlich disziplinieren, erlitten darüber, fand Jürgen Mittelstrass, „Ansehensverluste“ kraft Teilnahme an einer „Rebarbarisierung der Welt, die ihre Werte ins Museum stellt“. Indessen: Allein schon die finanziellen Aspekte der Sache machen diese nietzscheanisierende Beschreibung der Zusammenhänge zweifelhaft. Museen sind teuer, sehr selten wirtschaftlich autark, zuwendungsbedürftig also in privater wie in öffentlicher Trägerschaft. Unbeschadet der wachsenden Schuldenlasten, die auf den öffentlichen Haushalten liegen, würde keine Partei es wagen, die Museumsbudgets endlich zu liquidieren. Museumssturm gab es tatsächlich einmal, nämlich als eine von Avantgarde-Künstlern kultivierte Attitude, die längst ihrerseits historisiert ist – so Marinetti zum Beispiel mit seinem berühmt-berüchtigten Aufruf, Italien endlich „von den zahllosen Museen“ zu befreien, die es bedeckten „wie zahllose Friedhöfe“ und den künstlerischen Aufbruch in die Zukunft hemmten. Stattdessen hat der künstle­ r­ische Futurismus, indem er mit unbestreitbar Neuem Epoche machte, eben damit seinerseits zugleich noch den Musealisierungsprozess beschleunigt. So geschähe das eben, schrieb Hans Tietze, einer der Lehrer Ernst Gombrichs, wenn über Neuerungen das Neue von gestern alt gemacht wird. Schrumpfe der Zeitraum avant­gardistischer Geltung einer Innovation auf Monate, so veralteten schließ­lich die Werke der „jungen Genies“, ehe ihre Farbe trockne. Sie gelangten „ohne Zwischenstadium ins Museum“. Der Bedarf an Schauhäusern gestrig ge­ wordener Kunst, die bereits heute von morgen sein wollte, wächst. Ihrerseits anschwellende Publikumsmassen bekunden Interesse, und zögerliche Bereitschaft der Politik, dieses Interesse zu bedienen, geriete in den Geruch der Zukunftsverweigerung, und just das Museum wird – anders als Mittelstraß vermutete – zum Demonstrationsort uneingeschränkter kul­tur­politischer Freudigkeit in der Verarbeitung von Konsequenzen kultureller Innovationsdynamik. Das Komplementaritätsverhältnis von Innovationsdynamik und Historisierung gilt über die Kunst hinaus für die moderne Zivilisation in ihrer ganzen Breite – einschließlich der Wissenschaften und der Technik. Sogar Autokäufern, die das jeweils jüngste Modell ihres Vorzugsfahrzeugs am Ort seiner Produktion in Empfang nehmen möchten, wird heute im Auto-Museum daselbst die Komplementarität von Innovations- und Alterungsdynamik anschaulich gemacht. In Bochum ist der Ausspruch eines Montanindustriellen berühmt geworden, der

eine Jubelfeier des Bergbaumuseums mit dem Satz kommentierte: „Das Berg­­ baumuseum expandiert, der Bergbau schrumpft“ – das nämlich im aktuellen Transformationsprozess der Wirtschaft des Ruhr-Reviers.

III. Archivierung und organisiertes Vergessen Mit Schilderungen dieser Zusammenhänge von beschleunigter zivilisatorischer Evolution und Historisierung ihrer Relikte ließe sich lange fortfahren. Nächst dem Denkmalschutz und der Museumsbewegung sei exemplarisch noch das Archivwesen erwähnt. Modernisierungsprozesse sind bekanntlich nicht zuletzt Vorgänge der sozialen und regionalen Expansion unserer wechselseitigen Abhängigkeiten – informationell und institutionell, ökonomisch und rechtlich. Die Menge der Instanzen, die interaktiv miteinander verbunden sind, wächst dramatisch. Im An­ schwellen der Handbücher des Völkerrechts, in denen Regelungen dieser Inter­ aktion aufgelistet sind, spiegelt sich das. Zugleich wächst dabei in einem quadra­ tischen Verhältnis zur Zahl der Instanzen, die sich voneinander abhängig gemacht haben, die Menge der Möglichkeiten ihrer Interaktion. In Korrespondenzen, Akten und ihren modernen elektronischen Äqui­valenten schlägt sich das nieder, und der Niederschlag abgeschlossener Vorgänge gelangt ins Archiv. Zu welchem Zweck? Im Unterschied zu Archiven vormoderner Zeiten hat ja das definitiv archivierte Material jede praktische, insbesondere rechtliche Bedeutung verloren. Der moderne Sinn des wie nie zuvor expandierten Archivwesens ist somit einzig der der Sicherung der Belegbasis für die Selbsthistorisierung unserer Zivilisation. Entsprechend ist in Ergänzung zur modernen städtebaulichen Bedeutung der Museumsarchitektur auch die Archiv­ architektur ihrerseits kulturell wichtig geworden – politisch sogar, wie sich eindrucksvoll in Paris beim 11. Internatio­ nalen Kongress der Archivare bekundete, den 1988 der Präsident der Republik als Gelegenheit nutzte, die neuen hauptstädtischen bibliothekarischen und archi­v­a­ rischen Großbauten zu feiern. Der Hinweis auf das Archivwesen bietet freilich zugleich Anlass, sich zu erinnern, dass im Kontext des modernitätsspezifischen Historismus eben auch das Vergessen seine Rolle spielt. Der Tradition des Moralismus ist ja der Topos vertraut: Um sich an Wichtigkeiten verlässlich erinnern zu können, muss fürs Vergessenwerden von Belanglosigkeiten verlässlich gesorgt sein, und im modernen Archivwesen besorgt das die so genannte Kassation, die Überantwortung des für zukünftige Vergangenheitsinteressen als irrelevant eingeschätzten Anteils der Alt­ akten an den Schredder. Der Umfang des so durch Kassation dem definitiven Vergessen überlassenen Materials wirkt auf Laien überraschend: Er liegt heute im Regelfall bei über 90 Prozent, und je nach Sachgehalt des Aktenmaterials verblei-

ben gelegentlich sogar nur noch drei Prozent oder weniger gar in Dauerverwahrung. Historisierungstheoretisch wichtig ist die Frage, wie im Kassationsakt Erinnerungsrelevantes und Vergessensbedürftiges sich unterscheiden lassen. Das Kriterium ist das vermutete Interesse Zukünftiger an der Historisierung derjenigen Vergangenheit, die unsere Gegenwart demnächst geworden sein wird. „Präzeption“ könnte man diesen Akt möglichst verlässlicher Einschätzung zukünftiger Vergangenheits­vergegenwärtigungsinter­ essen nennen. Nur unter der Voraussetzung der Existenz kultureller Interessen von einiger anthropologischer Konstanz ist das möglich. Auch die Erinnerungskultur basiert somit in letzter Instanz auf solchen Konstanzen. Zur lebenspraktisch und damit kulturell angemessenen Einschätzung der anwachsenden Bedeutung, die in der modernen Zivilisation die historisierende Erinnerung spielt, gehört überdies die Einsicht, dass in der übergroßen Mehrzahl innovatorischer Tätigkeiten, die die Evolution unserer Zivilisation dynamisieren, Erinnerungen keine Rolle spielen, wo somit akute Interessen der Vergangenheitsvergegenwärtigung störend wirken müssten und Vergangenheitsvergessenheit Tugend ist. Für weite Bereiche von Forschung und Entwicklung gilt das. Harald Weinrich hat aus gutem Grund das erwähnte Lethe-Buch mit einem „Epilog zum Oblivionismus der Wissenschaft“ beschlossen. „Was vor mehr als ca. fünf Jahren publiziert ist – forget it – das ist im Kontext zahlloser Forschungs- und Entwicklungsprojekte eine wie selbstverständlich beachtete Regel, und entsprechend ist der Weinrich’schen Zitation der saloppen Redeweise „forget it“ auch ein ironischer Oberton gar nicht beigegeben. Daraus ergibt sich eine wichtige Konsequenz: Der Sinn des modernen Historismus in seiner erläuterten strukturellen Komplementarität zur zivilisatorischen Evolutionsdynamik ist ersichtlich nicht der, aus der Vergangenheit zu lernen, um sich für die Zukunft handlungsfähig zu machen. Das ist zugleich die Quintessenz der berühmt gewordenen Eingebung Reinhart Kosellecks, die „Auflösung“ des Topos „Historia magistra vitae“ als signifikante Mustergeschichte für die um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert dramatisch verlaufende Abkehr des Historismus von der Aufgabe zu erzählen, der Vergangenheit Lehren für die Zukunft abzugewinnen.

IV. Unvergesslicher Historizismus und freundlichere Geschichtspolitiken Für die These, dass der lebenspraktische Sinn historistisch verwissenschaftlichter Vergangenheitsvergegenwärtigung gerade nicht mehr der Gewinn von handlungsrelevanten und damit zukunftsbezogenen Lehren ist, sind die Folgen der Verweigerung dieser Einsicht der stärkste Beleg. Der Philosoph Karl R. Popper hat

dieser Weigerung den Namen „Histo­ri­ zismus“ gegeben. Gemeint ist der im 20. Jahrhundert tatsächlich ideologiepolitisch exekutierte Anspruch, in Überbietung aller traditionellen Lehrgeschichten die Gesetzmäßigkeit des Gesamtablaufs der Geschichte erkannt zu haben – das „Naturgesetz“ ihrer „Bewegung“ nämlich, wie Karl Marx das buchstäblich nannte. In Verbindung mit der darin vermeintlich eingeschlossenen Zusatzeinsicht, einzig kraft Zugehörigkeit zur gesetzmäßigen Abschlussklasse im Ablauf der Klassenkämpfe sei Einsicht in die Gesetzmäßigkeit dieses Ablaufs überhaupt möglich, wurde dieser „Historizismus“ zur unüberbietbaren Selbstlegitimation im weltgeschichtlichen Endkampf dieser Ab­schluss­ klasse, und den Opfern dieses Endkampfes hat Popper sein Historizismus-Buch gewidmet. Entsprechend stellt sich die Frage, ob es denn nicht zum Sinn des Historismus in seiner Zugehörigkeit zur modernen Kultur gehöre, dem Vergessen der Opfer der totalitären Perversion dieser Kultur vorzubeugen. Aus erläuterungsunbedürftigen Gründen ist vor allem in Deutschland die gute Meinung verbreitet, die historische Erinnerung diene nicht zuletzt, ja vor allem diesem Zweck. Das hat seine Plausibilität und ist dennoch verkehrt. Die fortdauernde Präsenz der Schrecken totalitärer Gewaltherrschaft verdankt sich nicht der Historisierung dieser Herrschaft. Ihr Grund hat eine ungleich größere Mächtigkeit – die Macht kollektiver Erinnerungen, zu denen das moderne historische Bewusstsein sich nicht evozierend, sondern fortdauernd im Nachhinein moderierend und disziplinierend verhält. Die Historisierung des Terrors, die in der Tat längst stattgefunden hat und sich fortsetzt, wäre als Medium seiner Unvergesslichkeit missverstanden. Man sieht das, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die politisch zukunftsfähigen Antworten auf die untergegangenen Schreckensregime deren Historisierung überhaupt erst möglich gemacht haben. Im deutschen Beispiel heißt das: Die fällige Antwort auf die Diktatur der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei war die zweite deutsche Demokratie – so im Vorgang der Neugründung der politischen Institutionen und so auch in der individuellen Lebensgeschichte der Deutschen. Die Wucht der auch über die Generationsbrüche hinweg unvergesslich gebliebenen Ereignisse und die Fortdauer ihrer Folgen hat dann freilich alsbald auch jene Historisierung des Nationalsozialismus bewirkt, die das Dritte Reich inzwischen zum besterforschten Teil der deutschen Geschichte haben werden lassen. Insoweit kann auch von Verdrängung des Nationalsozialismus aus der Erinnerung der Deutschen keine Rede sein. Das heißt selbstverständlich nicht, dass es Individuen einschließlich ihrer institutionellen und informellen Verbundenheiten gar nicht gäbe, die ihren Vorteil im Glauben an neuerfundene Geschichten ihrer selbst gesucht und gefunden hätten, und man kennt die Fälle, in denen das aufflog. In der akademischen Welt wirkte der Fall eines prominent gewordenen progressiven Hochschulrektors spektakulär, der sich durch einen


39 Identitätswechsel von seiner Vergangenheit als SS-Offizier befreit hatte, bis er mit der Wirkung einer Beendigung seiner zweiten, durchaus glanzvollen Karriere von Zeitgenossen seiner ersten, umgetauschten Vergangenheit wiedererkannt wurde. Aber ein Fall der Neuvergegenwärtigung verdrängter Vergangenheit durch geschichtswissenschaftliche Forschung war das eben nicht, vielmehr eine Entlarvung durch Wiedererkennung bei unverhofftem Wiedersehen in realer Konsequenz einer Vergangenheit, die es angeblich nie gegeben hatte, und das gehörige Medium der Aufarbeitung dieser Vergangenheit war nicht deren Historisierung, vielmehr ein Disziplinarverfahren. Die historische Signifikanz des Falles hat ihn dann sekundär selbstverständlich auch zu einem Objekt zeitgeschichtlicher Forschung werden lassen. Der forensische Sinn der Aufdeckung vertuschter Vergangenheiten, die rechtlich zu verantworten sind, sowie der therapeutische Sinn der analytischen Neuvergegenwärtigung verdrängter Vergangenheiten ist nicht der Sinn der Vergangenheitsvergegenwärtigung in historischer Absicht. Es bleibt grob missverständlich zu sagen, die historischen Wissenschaften dienten der politischen und moralisch-kommunikativen Praxis wie analog die theoriebildenden Wissenschaften, die Naturwissenschaften zumal, der Technik. Auch aus der Beschäftigung mit der nationalpolitisch gewichtigen Kyffhäuser-­ Denkmalsszenerie mit ihren Relikten aus dem Bismarck’schen Kaiserreich, der Weimarer Republik und auch noch der DDR finden wir uns zu politischen Engagements weder herausgefordert noch kompetent gemacht. Und selbst noch im geschichtspolitisch schwerwiegenden Fall des als Sonderbehörde eingerichteten Archivs für die Akten des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik finden wir nach Ablauf der Verjährungsfristen dort dokumentierter straf­ barer Handlungen nichts, was im praktischen Endeffekt auf etwas anderes als auf Möglichkeiten der Feststellung und Beschreibung hinausliefe, wie es wirklich gewesen ist. Aus Debatten zur Abschaffung oder Reform des Schulfaches „Geschichte“ vor vier Jahrzehnten hat man in Erinnerung, dass Apologeten dieses Unterrichts den Versuch machten, seine praktische Relevanz mit der Auskunft herauszustreichen, Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht machten „Identitätsangebote“. In der Tat ist ja richtig, dass, wer wissen will, wer einer sei oder gewesen sei, sich an die Biographen unter unseren Historikern wenden muss. „Die Geschichte steht für den Mann“ – so formulierte es in vorfeministischer Zeit der Geschichten-Phänomenologe Wilhelm Schapp. Auch auf Institutionen und Kollektive ließe sich die identitätsvergegenwärtigende Funktion der Historiographie beziehen. Aber Angebote der Identitätsverschaffung werden damit dem Publikum nicht unterbreitet. Wer einer gewesen sei, indem er es so und nicht anders geworden ist – das bleibt stets indispositiv, und das unabhängig vom Wandel unserer jeweiligen Interessen bei der Vergegenwärtigung

von Individualitäten in ihrer stets unabschließbaren Ineffabilität, wie Goethe das nannte. Das so genannte Luther-Bild war naheliegenderweise zwischen den Konfliktparteien des Kulturkampfes nicht dasselbe, und es macht einen Unterschied, ob in unseren Geschichtsunterrichtsbüchern bei der Passage des Jahres 1871 deutschen Schulkindern die Reichsgründung erläutert wird oder, wie 1968 stattdessen empfohlen, die Zukunftsvision der Pariser Kommune. Aber solche Unterschiede belegen ja nicht, dass das, was tatsächlich der Fall war, sich damit als eine Funktion praktischer Erkenntnisinteressen und somit als „Konstrukt“ verstehen ließe. Sie besagen vielmehr, dass in Abhängigkeit von unseren kontingenten jeweiligen Lebenslagen, gelegentlich abrupt, ein Bildertausch im Wechselrahmen so genannter Geschichtspolitiken erfolgt. Solcher Wechsel bleibt indessen, vom Sonderfall dogmatischer, gar totalitärer Festschreibungen solcher Politiken abgesehen, seinerseits uneingeschränkt historisierbar, und für die Kompatibilität der einschlägigen Bilder ist gesorgt, solange die Fertigung solcher Bilder der historistischen Norm unterworfen bleibt, gemäss den methodischen Regeln der Profession zu sagen, was und wie es wirklich gewesen ist. Exemplarisch heißt das: Der wahlpreußische Sachse Heinrich Treitschke war der schwungvollste unter den Historikern, die gegen die Tradition katholischer und nationalromantischer Großdeutscher für das Kaiserreich der kleindeutschen Bismarck’schen Version optierten. Zugleich mit dem Reich ist auch diese Option historisch geworden. Nichtsdestoweniger bietet Treitschkes Historiographie des deutschen 19. Jahrhunderts mitreißende Lektüregelegenheiten – zum Beispiel zum Verständnis der nicht zuletzt auch in Deutschland einmal weit verbreitet gewesenen Begeisterung für Napoleon in seiner Schilderung der rechtspolitischen und verwaltungstechnischen Modernität der neuen linksrheinischen Gebiete Preußens.

V. Wieso uns interessiert, was sich einzig historisch erklären lässt Die Frage ist also die nach den Gründen, die uns just im Lebenszusammenhang der modernen, hochdynamisch gewordenen wissenschaftlich-technischen Zivilisation wie nie zuvor historisch interessiert sein lassen – buchstäblich „wie nie zuvor“ gemessen am skizzierten Aufwand aktueller musealisierender, denkmalpflegerischer, archivierender und sonstiger professioneller Vergangenheitsvergegenwärtigungen. Wenn es sich dabei unbeschadet rezenter oder auch neubildender Geschichtspolitiken dominant nicht um ein praktisches Interesse handelt – um welches Interesse handelt es sich dann? Auf die Spur einer zweckmäßigen Antwort gelangt man, wie mir scheinen will, mit Blick auf das erwähnte Alterungskomplement der Innovationsdynamik.

Komplementär zu den Neuerungsraten steigt die Reliktmenge an und damit zugleich die Menge des Kulturguts, das, um noch oder wieder verständlich zu sein, eine Erklärung methodisch spezieller Art verlangt – eine historische Erklärung nämlich. Es lohnt, sich die Unverständnis auflösende Kraft historischer Erklärungen, statt an Exempeln aus der Geschichte der historischen Kulturwissenschaften, am Beispiel des Ursprungs der historischen Naturwissenschaften, vor Augen zu führen. Es lohnt sich speziell im Kontext deutscher Wissenschaftsgeschichte deswegen, weil es in der Frühgeschichte des Historismus zu den einzig historisch erklärbaren Besonderheiten der deutschen Wissenschaftsgeschichte gehörte, der seit Plinius dem Älteren so genannten „Historia naturalis“ einschließlich ihrer grundlegenden modernen Transforma­ tion zu den Naturgeschichtswissenschaften, zum Beispiel der Geologie und vor allem der Paläontologie, überdies auch der Kosmologie, Historizität überhaupt abzusprechen.

von Alterungsvorgängen sind uns zugleich diejenigen kulturellen und naturalen Lebensvoraussetzungen mit umso größerer Intensität gegenwärtig geworden, die sich durch eine größere Alterungsresistenz auszeichnen – „Klassik“ zum Beispiel in der spezifisch modernen temporalen Charakteristik dieses Begriffs. Verpflichtungen, die die ohnehin nebenfolgenreiche Zivilisationsdynamik noch beschleunigen sollen, sind ohnehin obsolet geworden. In der wissenschaftstheoretisch üblich gewordenen Ablösung des Fortschrittsbegriffs durch den Begriff der Innovation spiegelt sich das.

Schließlich ist es ja auch dabei geblieben, dass uns gegenüber der Kultur die Natur als Entität der relativ beständigeren Dauer erscheint. Die zitierten Kulturwissenschaftstheoretiker hatten daraus von Droysen bis Gadamer den Schluss der kulturwissenschaftlichen Irrelevanz der historischen Naturwissenschaften gezogen. Sie sahen nicht, dass sich durch Wir­ kungen des Vergleiches von Natur und Kultur aus dem Blickpunkt ihrer HistoriNaturhistorisch, gattungshistorisch zität inzwischen unsere Kultur selber veroder kulturhistorisch – die Historie ins- ändert hat. gesamt wird kulturell quintessenziell als Kontingenzerfahrungsmedium wirksam. Hans Blumenberg hat es eindrucksvoll Hermann Lübbe, geb. 1926 in Aurich. verstanden, die naturalen, technischen Studium der Philosophie und Sozialwissenund kulturellen Aspekte historistisch schaften. Von 1963 an war Lübbe Profesintensivierter Kontingenzerfahrung sor für Philosophie, zuerst in Bochum, zusam­menzufassen – zum Beispiel in dann in Bielefeld und zuletzt in Zürich. Zu seiner Analyse irreversibler Veränderung seinen jüngeren Veröffent­lich­ungen zählen: „Die Zivilisationsökumene. Globaliunserer Welt- und Daseinserfahrung durch sierung kulturell, technisch und politisch“ die Kosmonautik. Die Erde aus Mond(2005), „Vom Parteigenossen zum Bundesfahrerdistanz von außen zu sehen – das bürger. Über beschwiegene und historiist, sieht man genauer hin, nicht nur eine sierte Vergangen­ h eiten“ (2007). 2012 Bestätigung der Triftigkeit des kopernierschien „Geschichtsbegriff und Ge­ kanischen Weltbilds durch Anschauung. schichts­­­interesse: Analytik und Pragmatik in der Historie“. Diese Anschauung kombiniert das zugleich mit einer existenziellen, nämlich lebensWir veröffentlichen hier eine gekürzweltlichen Rückversetzung der Erde in te Fassung des Vortrags von Herrmann eine unausweichliche Mittelpunktstellung. Lübbe für den Kongress „Kulturen des Und in der historisierenden VergegenwärBruchs“, den die Kulturstiftung des Bundes im Juni 2012 im Haus der Berliner Festtigung der wissenschaftsgeschichtlichen, spiele ausrichtete. technikgeschichtlichen und weltanschau­ ungsgeschichtlichen Bedingungen dieses Effekts wird mit unüberbietbarer Intensität die Kontingenz unserer Lage erfahrbar – basiert auf dem historischen Wissen, dass auch der historisch erklärbar so genannte Kosmos ein historisches Datum ist, und der Affekt, den der von diesem Wissen geprägte Anblick unserer Weltlage auslöst, verlangt zu seiner Beschreibung Dichterworte – „traurig und prächtig“. Die Dynamik unserer Zivilisation ist es, die in ihrer vergangenheitserzeugenden Kraft wie nie zuvor dem Vergangenen aufdringliche Gegenwart verschafft und zugleich uns das kontingenzabhängige Anderssein Anderer näher gerückt hat. Modernisierungsabhängig wächst damit die Aufdringlichkeit von Fremdheiten und Unverständlichkeiten, denen sich einzig über historische Erklärungen beikommen lässt. Abschließend sei noch gesagt, dass man die durch die Selbsthistorisierungstendenzen unserer Zivilisa­­­tion geprägten modernen Zeiterfahrungen nicht auf die Wiederkehr kulturell dominanter Flüchtigkeitserfahrungen re­du­zieren darf. Ineins mit der in der Tat modernitätsspezifisch aufdringlicher gewordenen Erfahrung der Beschleunigung


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Von der Illusion einer Umarmung Mit einem Projekt über den „Bromberger Blutsonntag“ 1939 wagten sich die Landesbühne Niedersachsen Nord und das Teatr Polski auf ein schwieriges Terrain der Geschichte von Deutschen und Polen.

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Barbara Behrendt

n Bydgoszcz, dem früheren Bromberg. Der polnische Autor Artur Palyga lacht: „Meine Mutter hat immer gesagt: Man schreibt alle Länder groß. Nur Deutschland, das darf man auch klein schreiben.“ Palyga schüttelt den Kopf, als er mir von dem Deutschlandbild erzählt, mit dem er groß geworden ist. „Wenn wir Krieg gespielt haben, dann mussten die unbeliebtesten Kinder die bösen, sadistischen Deutschen sein.“ Drei Wochen später in Wilhelmshaven. Die deutsche Autorin Katharina Gericke erinnert sich an ihren ersten Besuch in Polen vor wenigen Jahren: „Ich kam nachts ohne einen Zloty an, ich hatte gar nicht im Kopf, dass sie dort keinen Euro haben.“ Sie lächelt ein wenig verlegen: „Mit Polen gab es bei mir nie Berührungspunkte.“ Natürlich gibt es in Deutschland auch Vorurteile gegenüber Polen, doch meist herrschen eher Unwissenheit und Desinteresse vor, wenn das Gespräch auf den Nachbarn kommt. In Polen hingegen kämpft die zweite Nachkriegsgeneration noch immer mit einem geerbten Minderwertigkeitskomplex. Kein Wunder also, dass sich die Zusammenarbeit der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven mit dem Teatr Polski in Bydgoszcz im früheren Westpreußen als schwieriger herausstellte als gedacht. Gefördert vom Fonds Wanderlust der Bundeskulturstiftung startete die harmonisch ‚Begegnung‘ genannte Kooperation 2009 – und landete erst einmal in einer Sackgasse: Unterschiedliche Denkweisen und Umgangsformen, fremde Strukturen und Theaterformen prallten aufeinander, man kannte und vertraute sich nicht – bis sich alle Verantwortlichen an neutralem Ort am runden

Tisch trafen. Die Mühen, die die Theatermacher zu Beginn für das Projekt aufbringen mussten, haben sich gelohnt. Drei Jahre und viele Besuche später ist eine Gemeinschaftsproduktion entstanden, die eindringlich deutsch-polnische Gegenwart verhandelt, die die Bühne zum Forum unerledigter Geschichte macht, auf dem emotionale Kontroversen geführt werden können. Bydgoszcz am Premierentag. Auf dem Spielplan steht die Uraufführung von „Erdbeersonntag“, dem Stück, das Artur Palyga und Katharina Gericke geschrieben haben. Der Weg vom ältesten Hotel der Stadt, dem „Pod Orlem“ („Zum Adler“), zum Teatr Polski führt vorbei an prächtig sanierten Bürgerhäusern und an Bruchbuden ohne Fensterscheiben, an Kirchen und vielen malerischen Brücken über den Fluss Brahe. Knapp über 360.000 Menschen leben in Bydgoszcz. Im Teatr Polski ist der Zuschauerraum der kleinen Probebühne überfüllt, man rückt zusammen. Im Publikum sind auch einige ältere Wilhelmshavener, gebürtige Bromberger, die den 900 Kilometer weiten Weg hierher nicht gescheut haben. Die kleine Delegation der Bundeskulturstiftung und auch ich, die deutsche Journalistin, bekommen Plätze in der ersten Reihe. Ich fühle mich geehrt und irgendwie auch beobachtet. Nach den ersten zehn Minuten würde ich vor Scham am liebsten unter den Stuhl kriechen: Ausgerechnet ein Video mit einer Rede Hitlers zum „Blutsonntag“ stellt Regisseurin Grazyna Kania an den Anfang ihrer Inszenierung. Wie nehmen die polnischen Zuschauer die Hasstirade auf? Was am „Bromberger Blutsonntag“ geschehen ist, wird auf polnischer und deutscher Seite nach wie vor unterschiedlich gesehen und beurteilt – eine Vergangenheit, zwei Geschichten. Fest steht: Es gab am 3. September 1939 ein Massaker unter Polen und Deutschen in Bromberg. Die jüngste Auswertung aller Studien, die der Osteuropa-Historiker Markus Krzoska an der Universität Gießen erarbeitet hat, geht von über 400 Getöteten aus. Zuvor lagen die Schätzungen zwischen 178 und 58.000 (!) Opfern – letztere Zahl wurde von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels in die Welt gesetzt, der behauptete, alle Opfer seien Deutsche gewesen. Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, so schreibt der Journalist Sven Felix Kellerhoff in der „WELT“, sei der „Blutsonntag“ deshalb das gängigste „Argument“ von Rechtsextremen gewesen, die Verbrechen der Wehrmacht zu relativieren. Was hat sich damals wirklich ereignet? Nach dem Überfall Deutschlands, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, habe sich die polnische Armee im Schockzustand befunden, schreibt Krzoska. In Bydgoszcz befürchtete man die baldige Besetzung und gründete eine Bürgerwehr. Flüchtlinge und versprengte Soldaten strömten in die Stadt, auf den Straßen stauten sich die Menschen, Gerüchte über vorrückende Deutsche kursierten und als plötzlich Schüsse fielen, hieß es, deutsche Saboteure hätten das Feuer eröffnet. Das Gerücht wurde, so Krzoska, „zum Auslöser einer Hetzjagd auf einheimische Deutsche“. Nur zwei Tage später ließ die Wehrmacht als Vergeltungsakt Tausende von Polen exekutieren. Soweit der Forschungsstand im Frühjahr 2012. Doch Gericke und Palyga haben sich gar nicht erst auf historische Ursachenforschung eingelassen. „Erdbeersonntag“ spielt in der Gegenwart: Großvater Kazimierz und sein Enkel Mieszko fahren zum ersten Mal nach Deutschland, zu einer „Versöhnungskonferenz“ in Wilhelmshaven. Dorthin reist auch die Deutsche Elsa, die nach dem Krieg aus Polen geflüchtet war. Beide kennen sich und erhoffen sich ein Wiedersehen. Beide haben im Gepäck schlimme Erinnerungen und zwiespältige Gefühle. In einem Einkaufszentrum kommt es zum Eklat: Enkel Mieszko grölt „Polen, Polen über alles“, und Kazimierz bedroht mit nicht geladenem Gewehr einen jodelnden Bayern. In der Untersuchungshaft muss Mieszko der jungen Dolmetscherin Dora den Vorfall erklären: Deutschland – das ist für Mieszko ein Land, das nach dem Krieg mit „so viel amerikanischem Geld vollgepumpt wurde, dass es noch für den Rückkauf der DDR gereicht hat“. Trotzdem kommen sich Mieszko und Dora am Ende näher. Elsa und Kazimierz aber verpassen sich. „Weil es diese Begegnungen zwischen der deutschen und der polnischen Kriegsgeneration auch im wahren Le-


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Barbara Behrendt ist Kulturjournalistin für die taz, die deutsche bühne, Theater heute und hat ein Jahr lang für den Wander­lust-Blog der Kulturstiftung des Bundes geschrieben.

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In Wilhelmshaven, wo das Stück unter dem Titel „Bromberg/Bydgoszcz“ läuft, war die Kritik nach der deutschen Premiere deutlich positiver. „Die Regisseurin verdeckt nichts, sondern lässt viele Wahrheiten zu“, lobt etwa die „Wilhelmshavener Zeitung“; „eine gemeinsame Geschichte nicht als Bürde zu begreifen, ist die Botschaft.“ Auch das Publikum begegnet der Inszenierung gelöster, was sicherlich auch daran liegt, dass Wilhelmshaven nicht Schauplatz der Geschehnisse war. Die ironischen Spitzen, Mieszkos böse Witze aber werden wissend bekichert – man erkennt sich durchaus wieder in den Klischees und klatscht am Ende energisch. Doch vielleicht projiziere ich auch nur meine eigene Gelöstheit, die ich hier im Vergleich zur polnischen Premiere empfand, auf die Zuschauer in Wilhelmshaven. Vom Gefühl der Scham konnte ich mich in dieser Umgebung viel eher frei halten. Eine Hitler-Rede, das stellte ich befremdet fest, ist unter Deutschen leichter zu ertragen.

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„Hören wir endlich auf, nach Schuldigen zu suchen.“

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ben nicht gibt, abgesehen von den offiziell organisierten“, sagt Palyga. Die „Erdbeere“ im Titel stehe für eben jene Illusion einer süßlichen, aber kaum nachwirkenden Umarmung. Eine echte Annäherung, so sagt Kazimierz im Stück, kann es nur geben, wenn man „seine Wunden zeigt“. Es sind nicht so sehr ästhetische Fragen, die bei dieser Theaterkooperation im Mittelpunkt stehen. Es ist der Versuch, gemeinsam Vergangenheit und Gegenwart zu befragen. „Erdbeersonntag“ funktioniert wie eine Sonde, die Signale in die polnische und deutsche Gesellschaft hinaus sendet – und das Echo aufzeichnet: „Die Inszenierung hat einen Nerv getroffen“, sagt Intendant Lysak, „sie sorgt für Wirbel und hitzige Diskussionen.“ Der Historiker Włodzimierz Jastrzębski sprach in einem Zeitungsbeitrag vom „Blutsonntag“ als einem Pogrom an den Deutschen. Dagegen protestierte Roman Jasiakiewicz, Vorsitzender des Bydgoszczer Stadtrats. Wäre er damals Präsident von Bydgoszcz gewesen, hätte er „hart gegen jeden Deutschen auf jeder Straße und in jedem Haus in Bydgoszcz gekämpft“. Eine andere Zeitung titelte: „Deutsches Geld – Prodeutsche Aussage“. Die historischen Fakten seien ungenau, die Deutschen würden als „edler und klüger“ dargestellt. Naiv sei es gewesen, sich auf eine Zusammenarbeit einzulassen, die sich ausgerechnet das eine Ereignis herauspicke, bei dem die Deutschen zu Opfern wurden. Ein Kritiker bemängelt ebenfalls die „Vereinfachung des Gesamtbildes der deutsch-polnischen Beziehungen“. Dagegen erklärte der polnische Schauspieler Roland Nowak, der Großvater Kazimierz spielt: „Erst in Wilhelmshaven hörte ich die Berichte der Kinder von den deutschen Opfern des Blutsonntags und begann, an der polnischen Wahrnehmung der Geschichte zu zweifeln. Bis dahin kannte ich keine andere Version, als die vom Ablenkungsangriff der Deutschen. Hören wir endlich auf, nach Schuldigen zu suchen.“


Mediterranean Voices Konzerte und Symposien, Videos und Installationen Das Mittelmeer: transkultureller Raum zwischen drei Kontinenten, Geburts­ ort von drei Weltreligionen, Wiege der Demokratie. Ein Raum, der durch den Zusammenprall der Kulturen in ständiger Bewegung und Unruhe ist und der die Entwicklung Europas mit­ bestimmt. Wer kann das Europa des 21. Jahrhunderts gestalten und für wen wird der Transferraum Mittel­ meer zu einer Endstation? Vor diesem

Die Werke werden im Laufe des Jah­ res 2013 in engem Austausch mit den Neuen Vocalsolisten Stuttgart erar­ beitet. Außerdem finden drei Sym­ posien in Köln, Stuttgart und Nikosia statt. Der Videokünstler Daniel Kötter begleitet das Projekt. Aufgeführt werden die musikalischen und filmischen Werke in einem von der griechischen Architektin Sofia Dona konzipierten Raum, der Kon­ zert- und Ausstellungsort vereint und die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Mittelmeerregion thematisiert. Die Premiere findet 2014 im Rahmen des Festivals „Eclat“ in Stuttgart statt, Aufführungen sind u.a. in Marseille, Athen, Istanbul, Kairo, Venedig und Tel Aviv geplant.

Musik und Klang

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Achtbrücken | Musik für Köln 2013 Uraufführung von „Ensemble“ von Benedict Mason Vor 75 Jahren erfand Konrad Zuse den Computer Z1, den ersten programmgesteuerten Rechner, der mit binären Zahlen arbeitete. Aus Anlass dieses Jubiläums präsentiert das Festival Achtbrücken | Musik für Köln 2013 einen kaleidoskopartigen Überblick über den Einsatz von Elektronik in der Musik. Ziel ist eine Reflexion über die zunehmende Bedeutung des Computers in künstlerischen Prozessen und im Alltag. Im Zentrum des Festivals steht die Uraufführung des Werks „Ensem­

ble“ des international renommierten britischen Komponisten Benedict Mason (*1954). In dem Werk für drei identisch besetzte Ensembles beschäftigt sich Mason mit der Erforschung elektronischer Klangeffekte. Er komponierte das Werk auf der Basis mathematischer Strukturen, wobei mithilfe akustischer Mittel quasielektronische Klangeffekte erzeugt werden. Die Weltpremiere in Köln realisieren das Ensemble Modern, das Klangforum Wien und das Ensemble musikFabrik.

Künstlerische Leitung: Louwrens Langevoort Projektleitung: Nicolette Schäfer Künstler/innen: Ensemble Modern, Klangforum Wien (A), Ensemble musikFabrik Staatenhaus am Rheinpark / KölnMesse, Köln, 3.5.2013 ↗ www.achtbruecken.de

Neue Vocalsolisten Stuttgart

Hintergrund regt „Medi­ter­ranean Voices“ einen vielschichtigen künstler­ ischen Diskurs auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik an. Zwölf Komp­onist/innen aus dem Mittelmeer­ raum sind eingeladen, ein kammer­ musikalisches Werk für eine bis sieben Stimmen zu komponieren.

Künstlerische Leitung: Christine Fischer, Daniel Kötter, Sofia Dona (GR) Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Björn Gottstein Künstler/innen: Neue Vocal­solisten Stuttgart, Dániel Péter Biró (USA), Zeynep Gedizlioglu (TR/D), Zaid Jabri (SYR), Nimrod Katzir (IL), Zad Moultaka (LB/F), Samir OdehTamimi (IL/D), Amr Okba (EG), Marianthi Papalexandri-Alexandri (GR), Silvia Rosanwi (I), Evis Sammoutis (CY), Josep Sanz (E) Symposium: Theaterhaus Stuttgart, 21.—22.6.2013 ↗ www.mdjstuttgart.de

ATLAS. Inseln der Utopie Musikalische Rauminstallation in der Galerie Herrenhausen in Hannover Der renommierte Komponist José Sánchez-Verdú aus Spanien ist der Erfinder des „Auraphons“. Dieses außergewöhnliche Instrument, mit dem die Stimmen von Sängern oder auch Klänge von Instrumentalisten mit Kon­ taktmikrofonen über Rechner und Lautsprecher hinter Stahlplatten, Tam Tams oder Gongs einen Resonanzraum erhalten, kommt auch in der Rauminsta­ ­­llation „ATLAS. Inseln der Utopie“ zum Einsatz und wird in diesem Fall durch ein „visuelles Auraphon“ ergänzt, bei dem Klang in Bewegung und Bewegung in Licht übersetzt wird. Das Projekt bietet dem Publikum neue Raumerfahrungen im musikalischen Prozess. Bilder, Projektionen und Texte u. a. von Platon, Thomas More, Giordano Bruno, Hölderlin und Juana Inés de la Cruz werden musikalisch und räumlich zueinander in Beziehung gesetzt. Das Publikum kann sich in der Galerie Herrenhausen frei bewegen, liegen oder sitzen. Die Musiker und Sänger durchwandern die Räume so, dass wechselnde Konstella-

tionen immer wieder neue musikalische Inseln erzeugen. Weitere Auf­ führungen sind in Porto und Salzburg geplant. Künstlerische Leitung / Inszenierung: Sabrina Hölzer Musikalische Leitung / Komposition: José Maria Sánchez Verdú (ES) Künstler/innen: Jeannot Bessière (FR), Solistenensemble Kaleidoskop, Neue Vocalsolisten Stuttgart Galerie Herrenhausen Hannover 1.—2.6.2013; Casa da musica Porto 17.—18.4.2014; republic Salzburg 7.—8.3.2015 ↗ www.kunstfestspiele.hannover.de


43 jazzwerkstatt Peitz Nr. 50 „Ein Ort außerhalb von Raum und Zeit des Alltags“ das Comeback der jazzwerkstatt Peitz Wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, in der deutsch-sorbischen Niederlausitz liegt die Kleinstadt Peitz. Seit 1973 fand hier, zum Teil mehrmals jährlich, das seinerzeit größte Jazzfestival der DDR statt. Wichtiger Impulsgeber für die Entwicklung des zeitgenössischen Jazz in Europa, wurde es seinerzeit vom SED-Regime verboten. Fast 30 Jahre später rief der Förderverein jazzwerkstatt Berlin-Brandenburg das Festival neu ins Leben und realisiert 2013 seine 50. Ausgabe. Anlässlich dieses Jubilä-

ums wird an mehreren Spielorten in der ganzen Stadt ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm geboten – diesmal mit dem Fokus auf die Berliner Jazzszene und auf New York. „Peitz – das waren nicht einfach drei Tage außerhalb von Raum und Zeit des Alltags. Es war ein anderer, möglicher Raum, eine andere Zeit, die soziale Schwerkraft hatte sich verändert. Nicht eine Ahnung, eine Erfahrung von anderem Leben.“ — Olaf Nicolai „Peitz, das war in den siebziger und frühen achtziger Jahren bis zu seinem Verbot viel mehr als nur eine Reihe handverlesener subversiver Konzerte im umzäunten Land. Ausgerechnet in der östlichen Provinz nah beim Spreewald erfuhren und verinnerlichten wir, wie viel größer die Welt ist, hier war der Ort, über die Mauer zu blicken und das Gesehene

zu einer tragfähigen Haltung zu verdichten. Heute wieder in die Niederlausitz zu fahren ist nicht Nostalgie, sondern ein Trip dorthin, wo mit Kontinuität, Fantasie und Wagemut etwas gewachsen ist, das sich als tragfähig erweist.“ — Ulrich Steinmetzger Künstlerische Leitung: Ernst Bier, Ulrich Blobel Künstler/innen: Archie Shepp Quartet (US), Joseph Bowie’s Defunkt (US), Jon Irabagon Trio (US), Andrew Cyrille + Duology (US), Joe Sachse Trio plus Jon Irabagon (GB/US), Zentralquartett, Tom Rainey Trio (US), Vesna Pisarovic with Suspicious Minds (CRO/AUS), Henrik Walsdorff Trio, Silke Eberhard + Potsa Lotsa Peitz, Cottbus, Lübbenau, Berlin 6.—9.6.2013 ↗ www.jazzwerkstatt-berlin-brandenburg.de

Avant Avantgarde Musikalische Experimente vergangener Epochen

Welche musikalischen Experimente gab es, bevor Claude Debussy, Edgar Varèse oder John Cage die traditionelle Musikkultur auflösten? „Avant Avantgarde“ beantwortet diese Frage mit einer Zeitreise zur experimentellen Musik vergangener Epochen. Anhand von Partituren und Traktaten, die lange vor den Begriffen „Neue Musik“, „experimentell“ oder „Avantgarde“ entstanden, begeben sich Künstler/innen des Zentrums für Aktuelle Musik – ZAM e.V. und der fundacja 4.99 aus Warschau auf musikalische Spurensuche nach den stillen Vorreitern und frühen Klangpionieren abenteuerlicher Musikproduktionen. Über einen Zeitraum von bis zu einem Jahr entwickeln Musiker/innen aus ganz Europa Kompositionen, Spielregeln, Choreografien, Soundsamples und Computerprogramme; Instrumentenbauer/innen überlegen, wie sie kosmische Orgeln, Katzenklaviere oder Glasharmonikas zum Klingen bringen. Nicht die historische Aufführungspraxis, theoretische Schulen oder Trends, sondern der spielerische Umgang mit den originellen Ideen der Klangpioniere steht bei diesem Vorbereitungsprozess im Vordergrund. In exklusiv vorbereiteten Premieren stellt das Programm von „Avant Avantgarde“ eine Auswahl vielerlei Entdeckungen vor. In Konzerten, Vorträgen und Performances werden die Ergebnisse an vier Terminen in Köln, Krakau, Warschau und Berlin vorgestellt. Ein Mediabook versammelt Artikel von Musikwissenschaftler/innen und enthält eine CD mit einer Auswahl der Aufführungen.

Künstlerische Leitung: Marion Wörle, Maciej Sledziecki, Michal Libera (PL) Künstler/innen: Dženana Aganspahic (BA), Burkhard Beins, Arturas Bumsteinas (LT), Lucio Capece (AR), Francesco Cavaliere (IT), Tomek Chołoniewski (PL), Max Eastley (GB), Jean-Luc Guionnet (FR), Gamut ensemble: Marion Wörle aka Frau W, Maciej Sledziecki, CM von Hausswolff (SE), Gerhard Kern, Aleks Kolkowski (GB), Michał Libera (PL), Andrew Liles (GB), Magda Mayas, Ralf Meinz, Karolina Ossowska (PL), Mikołaj Pałosz (PL), Razen (BE): Kim Delcour, Brecht Ameel, Paul Garriau, Pieter Lenaerts, Paweł Romanczuk (PL), Spat‘Sonore (FR), Steven Stapleton (GB), Thomas Tilly (FR), Jan Topolski (PL), Michael Vorfeld Stadtgarten Köln 30.5.2013; Kirche tba Krakau 21.6.2013; Centre for Centemporary Art Zamek Warschau 27.9.2013; Berghain Berlin 7.11.2013 ↗ www.z-a-m.eu

Milchstrom, Fragebett, Gralsmaschinen Ein Lohengrin-Gelände in Weimar 2013 ist Wagnerjahr. Zum 200. Geburtstag des Komponisten möchte das Kunstfest Weimar Produktionen vorstellen, die Richard Wagner im Spiegel der zeitgenössischen Kunst zeigen. Im Mittelpunkt steht die Neuinszenierung der Wagner-Oper „Lohengrin“, die 1850 von Franz Liszt in Weimar uraufgeführt wurde. Der Installationskünstler Georg Nussbaumer nimmt in seinem Projekt „Milchstrom, Fragebett, Gralsmaschinen / Ein Lohengrin-Gelände“ Leit­ motive aus dem Lohengrin-Kosmos auf und errichtet sie als interaktive, klingende Installationen im Weimarer Schießhaus und dem umgebenden Park. Auf labyrinthischen Wegen begegnen die Besucher immer wieder musikalischen oder performativen Elementen aus der Wagneroper. Streichquartette spielen den Klavierauszug des „Lohengrin“, das Wagnerische „Frageverbot-Motiv“ wird

als „Fragebett“ inszeniert, die Musiker/ innen des Solistenensembles Kaleidoskop lassen Stücke mit Schwanenfedern und eigens entwickelten Blechblasinstrumenten entstehen. Während einer Woche können sich die Besucher frei auf dem Gelände bewegen, die Live-Aufführungen des Ensembles besuchen und die gesamte Lohengrin-Installation besichtigen. Künstlerische Leitung: Georg Nussbaumer (AT) Dramaturgie: Michael Rauter (CH) Künstler/innen: Solistenensemble Kaleidoskop, Renée Stieger (AT), Johannes Marian (AT) Schießhaus Weimar 7.—14.9.2013 ↗ www.pelerinages.de


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500 Milliarden wären schön

Konferenztisch des Vorstands der BNP Paribas Paris, 7.12.2009

Es geht auch anders. Nur wie? Der Filmemacher Andres Veiel hat Gespräche mit 25 ehemaligen Bankern geführt und daraus sein Theaterstück „Das Himbeerreich“ komponiert.


45 Die beiden Journalisten Dirk Pilz und Harald Schumann haben sich mit Veiel in seiner Stammkneipe in Berlin-­Kreuzberg getroffen und über Banker, die Verantwortung in der Politik und die Krise der Finanzwirtschaft gesprochen, über Ein­ samkeit, Theater und die Kraft des Dokumentarischen.

P/S Herr Veiel, in Ihrem Stück versammeln sich fünf Ex-Banker und ein Fahrer und geben Lebensweisheiten von sich. Was soll das? AV Es sind eben nicht Lebensweisheiten, sondern verdichtete Einsichten aus sehr langen Gesprächen, die ich mit Bankern, überwiegend ehemalige Vorstände, geführt habe. Ich habe den Akteuren der Krise beim Nachdenken zusehen können. Das hat dazu geführt, dass ich in Zonen kam, wo es um die eigene Verantwortung geht, um die Rolle, die jemand in einer Bank gespielt hat, auch bei der Öffnung der Banken in Richtung des Investmentbankings. Diese Gespräche drehten sich ja immer um sehr konkrete Fälle, die letztendlich alle auf Kosten der Steuerzahler gehen. In diesem Zusammenhang interessierte mich der Einzelne, der die fatalen Auswirkungen erkannt und wider besseres Wissen trotzdem mitgemacht hat.

Das Stück ist also eine Montage aus Gesprächspassagen, es sind Zitate? P/S

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Genau.

Aber warum die komplizierte Methode, sowohl die konkreten Gesprächspartner als auch die konkreten Fälle zu tarnen? P/S

Es geht nur kompliziert, weil diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, sehr viel Geld dafür bekommen, dass sie schweigen. Sie haben qua Vertrag ein Schweigegelübde abgelegt. Wenn sie das brechen, haben sie einen Zivilprozess zu fürchten, würden unter Umständen zu Schadenersatz verurteilt. Es könnte zudem den Entzug ihrer Pension bedeuten, in jedem Fall die Exkommunikation aus der Banking Community. Sie sind damit in einem tiefen Ambivalenzkonflikt. Auf der einen Seite haben sie in den letzten Jahren viel Staub gefressen. Es sind ja alles Leute, die durch ihr Alter an Macht verloren haben, die nicht mehr gefragt und eigentlich auch nicht gebraucht werden, die in ihren Banken in einem abgetrennten Bereich arbeiten, eben in einem „Himbeerreich“. Sie werden zwar noch versorgt, aber sie sind enorm angstgetrieben, alle ihre Privilegien zu verlieren und gänzlich ausgegrenzt zu werden. Ich bin die transkribierten Gespräche deshalb mit AV

Anwälten zusammen Wort für Wort durchgegangen. Immer ging es darum, wie stark bestimmte Einzelheiten verschleiert werden müssen. Denn intern ist ja schnell zu rekonstruieren, dass diese Äußerung sich nur auf Fall X beziehen und nur von Y kommen kann. Gleichzeitig hatten alle den großen Wunsch, über ihre Erfahrungen zu sprechen. P/S Dennoch hätte es die Möglichkeit gegeben, ein einfacher nachvollziehbares, geschlossen fiktionales Stück zu entwerfen.

Gerade am Dokumentarischen lag mir aber. Mit wenigen Ausnahmen gibt es ja im Wirtschaftsjournalismus kaum Leute, die in der Lage sind, gegen ihr langfristiges Interesse zu handeln, nämlich die Quelle nicht versiegen zu lassen. Denn wenn man bestimmte Dinge gegen bestimmte Interessen recherchiert und veröffentlicht, verliert man seine Quelle, also seine Informanten. Das ist für mich eine Erklärung, warum bestimmte Fälle der Finanzkrise öffentlich bislang nicht verhandelt wurden. AV

P/S Auf diesem Wege mag das Stück ja auf authentischen Zitaten beruhen, aber selbst im anonymen Interview werden doch diese früheren Macher der Hochfinanz nur wieder ihre uneingestandenen Lebenslügen wiedergegeben haben. Was bringt Sie zu der Annahme, dass die Aussagen ehrlich sind?

Zum einen habe ich ja mehrere Quellen, ich habe immer gegengecheckt. Zum anderen geht es mir nicht um die absolute Wahrheit, sondern um verschie­ dene Sichtweisen, um verschiedene Arten der Rechtfertigung, des Ausweichens, Beschönigens dieser Menschen. Natürlich sind ihre Aussagen von Eitelkeiten und einem Rechtfertigungsduktus geprägt, doch das ist auch eine Wahrheit. AV

Aber spiegeln die Aussagen wider, was diese Menschen wirklich denken? P/S

AV Ja, ich merkte es daran, wie sie am Anfang eines Gesprächs sich erst kontrollierten und eine vorbereitete Geschichte erzählten. Aber dann gingen die Gespräche weiter, sie gerieten in einen anderen Duktus, wurden kurzatmiger, innerlich erregter. Man erlebte da eine innere Not, aus der die Notwendigkeit folgte, weiterzureden, immer begleitet von der Angst, zu viel zu sagen. Wenn jemand nur fabulieren würde, würde ich diese Angst nicht spüren. P/S Das wiederum spräche dann doch für ein Stück mit einer zusammenhängenden Handlung, die es für das Publikum leichter macht, überhaupt mitzukommen. AV Die behandelten Vorgänge lassen sich nicht in einer

einfachen Identifikationsgeschichte erzählen, sie sind dafür zu komplex.

geholt hat und dann wie der Nasenbär durch die Manege geführt wurde.

Wieso? Man kann doch auch mit einer Identifikationsgeschichte komplexe Zusammenhänge darstellen.

Und warum gibt es keine Figur im Stück, die Politiker ist?

P/S

In der Inszenierung biete ich ja auch Miniaturen von Identifikation an. Aber alles auf eine emotional einfacher zugängliche Geschichte zu bringen, wäre eine Beschränkung. Man würde dann eine zentrale Erfahrung außen vor lassen, dass nämlich die Banker immer bewusst mit Begriffen agieren, die nicht verstanden werden sollen, die gezielt eine hermetische Binnenwelt schaffen. Wer weiß schon genau, was stochastische Volatilität ist? AV

P/S

Das soll man als Zuschauer erfahren?

AV Ja, aber ich habe ja nach einer theatralischen Übersetzung gesucht, also mit Schauspielern gearbeitet, die diese Texte denken, die in der Lage sind, diese komplizierte Sprache so zu sprechen, dass der Zuschauer zuhört. P/S Sie haben keine Angst, das Publikum zu überfordern?

Nein, die Schauspieler lesen in der Regel auch nicht den Wirtschaftsteil in der Zeitung, aber ich habe so lange mit ihnen geprobt, bis sie die Texte ihrer Figuren verstanden haben, bis sie es konnten. Ich habe nicht umsonst ein Jahr lang gecastet. AV

P/S Die Figuren Ihres Stückes berichten vom Leben in den Chefetagen als eine Art Kampfspiel um Macht, Gier und Angst. Die politische Dimension dieser enormen Machtkonzentration in den Geldkonzernen kommt dagegen nicht vor. Sind die Topbanker wirklich so unpolitisch, dass sie gar nicht merken, wie stark ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft ist? AV Es kommt vor, im zweiten Akt! Es wird davon berichtet, dass die Banker 2004 zur Banken­ aufsicht ins Ministerium gerufen und ihnen klar gesagt wurde, sie müssten jetzt end­ lich den Geist des Invest­ mentbankings aus der Flasche lassen, um weltweit mithalten zu können. P/S In dieser Passage geht es um den Einfluss der Politik auf die Finanzwelt, nicht umgekehrt. AV Es gibt aber auch jene, die vom Bankenrettungsschirm handelt. Es wird erzählt, wie die Bankenchefs nachts im Kanzleramt vorfahren und die Kanzlerin fragt, wie viel es denn sein dürfe. 300 Mill­ i­ arden? 400? Und die Chefs sagen: 500 Milliarden wären schön. Daran wird sehr deutlich, dass die Politik erst den Geist aus der Flasche

P/S

AV Ich wollte das Dokumentarische nicht so weit treiben, dass alles mit allem vermischt wird, um alles irgendwie vorkommen zu lassen. Das wäre eine Ansammlung von Statements geworden. Mir war die Geschlossenheit des Raumes wichtig, in dem sich diese ehemaligen Banker bewegen. Ich wollte ihre spezifische Perspektive begreifen, um so ihre Verwicklung in die Politik zu schildern: dass die Politik das Investmentbanking gewollt und aktiv gefördert hat, dass sie kleinere Banken regelrecht genötigt hat, in diese Geschäftsmodelle einzusteigen – und dann in der Hand der Banken war.

Aber wenn das stimmt, dann gibt es diese geschlossene Bankerwelt ja gar nicht. P/S

AV Doch, denn das Himbeerreich ist eine Art ewige Gegenwart, ein Ort, an dem Menschen sind, die in den ersten zwei Akten so tun, als wären sie noch dabei. Dann wird jedoch klar, dass sie abgeschoben wurden, nicht mehr gewollt werden und gegen diese Entwertung ankämpfen. P/S Es fällt ja auch ein Satz, dass Dinge gelaufen seien, die man keinem Menschen erklären könne, zumindest keinem vernünftigen. Soll das Theater es erklären können? AV Ich glaube in der Tat, dass das Theater dafür sehr geeignet ist. Ursprünglich wollte ich aus diesem Stoff einen Film machen, aber er lässt sich in Deutschland nicht drehen. Das „Himbeerreich“ ist ja inzwischen mein vierter Versuch, dokumentarisch, mit einer Kamera ins Innere der Macht vorzudringen. Mit „Black Box BRD“ ist das gelungen, alle weiteren Versuche sind gescheitert. Die Menschen sprechen nicht, wenn sie eine Kamera sehen. Das ist die Chance des Theaters. Leute, die Theater machen, denken zwar immer, sie sind der Nabel der Welt, von außen betrachtet ist das Theater aber eine Nische. Weil es ‚nur‘ um Theater ging, sprachen diese Menschen mit mir. P/S Aber ist das Theater auch geeignet, diese komplexen Vorgänge der Hochfinanz zu erklären?

Warum nicht? Es erscheint mir gerade geeignet, auch durch die speziellen Arbeitsbedingungen: Man muss weniger Geld in die Hand nehmen als bei einem Film, ich habe keinen Produktionsleiter im Nacken. Außerdem: Es gibt gute AV


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Tische der Macht

Konferenztisch des Vorstands der UniCredit Mailand, 10.9.2010

Konferenztisch des Vorstands der Allianz München, 19.10.2009

Die Finanzkrise 2008 hat unsere Welt erschüttert. Doch was hat sich in den Macht­ zentren der Wirtschaft seither verändert? Wie sieht es in den Chefetagen heute aus? Schon vor 15 Jahren hat die niederländische Künstlerin und Fotografin Jacqueline Hassink den «Tischen der Macht» eine Bildserie gewid­ met. Nach dem Absturz von 2008 hat sie erneut bei den größten internationalen Konzernen angeklopft, um die frostige Eleganz menschen­­ leerer Sitzungs­zimmer in den Fokus zu nehmen. Ihr Blick in die Zentralen von rund 40 Banken, Versicherungen und Instituten zeigt eine ganz eigene kühle Topografie wirtschaftlicher Macht.


47 Bücher, die man zur Bankenkrise lesen kann. Aber dafür muss man Zeit haben, das ist ein seltenes Privileg. Ich habe es, anders als der normale Zuschauer. P/S Ihr Stück „Der Kick“ war der Versuch, ein Einzelbeispiel so genau wie möglich zu rekonstruieren, um so zu einer Modell­ analyse von Gewaltverhalten zu kommen. Gerade durch das sehr Konkrete wurde das Stück allgemein. Versuchen Sie das auch mit dem „Himbeerreich“? AV Ja, und zwar auch an konkreten Beispielen, was ich aber tarnen musste.

Dennoch erkennen Informierte, dass es um die Übernahme der Dresdner Bank durch die Commerzbank geht. In einer Passage heißt es sogar, dass die Bundesregierung trotz der absehbaren Katastrophe dieser Fusion sie gefordert und schon vorher angekündigt habe, dass der Steuerzahler für die Verluste aufkommen werde. Kolportieren Sie hier eine Verschwörungstheorie? P/S

Nein, ich behandle auch nicht nur diesen einen spezifischen Fall, sondern zum Beispiel auch die Verstaatlichung der Hypo Real Estate. Allein im letzten Jahr mussten aus dem Bankenrettungsfonds für die staatliche Bad Bank „FSM Wertmanagement“ 9,8 Milliarden nachgeschossen werden. Die Krise ist also nicht abgeschlossen, wir sind mitten drin. Meine Frage ist: Was steckt eigentlich hinter all diesen Fällen? Wirklich nur Einzelne, die versagt haben? Was ist strukturell, was historisch bedingt? Und wichtig ist für mich, nicht auf 2.000 Investmentbanker zu zeigen und so zu tun, dass die Welt in Ordnung wäre, wenn sie verschwänden. Ich wollte auf ein System verweisen, in dem wir alle sehr tief drinstecken. Jeder, der eine Lebensversicherung hat, ist daran beteiligt – ohne es zu wissen. AV

P/S In der zweiten Hälfte des Stückes offenbaren die Figuren ja auch ihre eigenen Zweifel und Todesängste. Soll der Zuschauer so begreifen, dass auch ein abstrakt erscheinendes System wie die Finanzwelt von Menschen geschaffen ist? AV Ja, denn es geht hier nicht um ein Phänomen, das nur ein paar Irre betrifft, sondern um Menschen in der Mitte der Gesellschaft. Übrigens habe ich meine Gesprächspartner nicht dahin gebracht, über Tod und Einsamkeit zu sprechen, sie haben selbst davon angefangen. Ich war für sie teilweise fast eine Art Beichtvater.

Sie zeigen von Menschen geschaffene Strukturen, also auch von Menschen änderbare. Damit verliert das Bankensystem seine scheinbare Naturgesetzhaftigkeit. Ist das die Hoffnung, von dem Ihr Stück getragen ist? P/S

Es ist zumindest ein wichtiger Aspekt für mich. Die allgemeine Resignation, dieses Denken, dass „man da nichts machen kann“ kommt ja aus dem Nichtverständnis der Vorgänge an Finanzmärkten. Viele verweigern sich regelrecht, das überhaupt wahrzunehmen, eben weil sie es nicht verstehen. Deshalb breche ich diese abstrakte Welt herunter und zeige im Stück: Jede Entscheidung ist in einem Gremium in einer bestimmten Situation getroffen worden, in der man sich auch anders hätte entscheiden können. Es gibt eben immer Alternativen, der sogenannte Sachzwang existiert nicht. AV

P/S Und kurz vor Schluss des Stückes ergeht dann Alarm wegen eines möglichen Sturms der Massen auf die Bank. Haben Sie da Ihre eigenen Revolutionshoffnungen untergebracht?

Überhaupt nicht! Das schöne an einer Recherche ist ja, dass man auf Unerwartetes stößt. Ich habe zufällig erfahren, wie die Banken auf die Occupy-Bewegung reagiert haben: Sie haben Notarbeitsplätze in einem Bunker eingerichtet, weil sie Angst hatten, dass die Handelsprozesse bei einer Stürmung der Bank unterbrochen werden könnten – sie fürchteten, bei einem bestimmten Deal zu spät zu sein. Wie viel Angst muss herrschen, wenn schon die Möglichkeit einer großen Demonstration ausreicht, dass man ehemalige Kalte-Kriegs-Bunker außer­halb der Stadt einrichtet und alte Tastentelefone aufstellt? AV

P/S Die maßgeblichen Leute des Bankensystems wissen also, dass es einen Grund gibt, die Bank zu stürmen?

Das kann man so lesen, ja. Ich stand einmal mit einem Banker in Frankfurt vor einem der Banktürme, und er fragte mich: „Was sehen Sie, wenn Sie genau hinsehen? Der Turm fault von innen. Da arbeiten keine Menschen mehr, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren, da leben nur noch Nomaden, die heute in London sind und übermorgen in Singapur.“ AV

P/S Nun gibt es im Stück aber auch einen Chor, der auffallend häufig Vater-­SohnKonflikte anspricht. Warum?

Die Chöre werden nicht beleghaft eingesetzt, um zu sagen: Aha, da hat einer ein Vaterproblem, deshalb hat er das oder das getan. Aber unter allen Bankern, mit denen ich gesprochen habe, waren nur zwei Frauen. Und immer, wenn es um prägende Familienkonstellationen ging, waren ausschließlich Vätergeschichten das treibende Moment. Ich bin da immer wieder auf AV

Demütigungserfahrungen und Gewalterfahrungen gestoßen. Für viele war dabei leitend, dass sie das nicht noch einmal erleben wollen. Und was muss geschehen, dass es sich nicht wiederholt? Indem man ganz oben ist, wo man niemand mehr über sich hat, der einem in den Nacken hauen kann. Und indem man ein Frühwarnsystem ausbildet, um rasch zu erkennen, wer gefährlich werden könnte. Das sind ja unglaublich machtbewusste Menschen, die einen Raum betreten und sofort prüfen, wer wie im Raum steht und womöglich etwas streitig machen könnte. Dieser Radar war notwendig, um so weit nach oben zu kommen. Ich will nicht sagen, das war die Vor­ aus­ setzung, das wäre absurd, aber es ist ein wichtiges Moment. P/S Unter den versammelten Ex-Bankern ist die mit dem aggressivsten Auftritt allerdings ausgerechnet eine Frau. Das erscheint wenig realistisch, das Invest­ mentbanking ist ja fast ausschließlich eine Männerdomäne.

Wenn man sich Goldman Sachs anschaut zum Beispiel, dann sind da sehr viele Frauen, die immer – das zeigt meine Figur der Frau Manzinger – auf einem sehr schmalen Grat unterwegs sind, einerseits ihre Weiblichkeit zu instrumentalisieren und andererseits instrumentalisiert zu werden. Das macht es schwerer, eine Figur schnell einzuordnen: Auf der einen Seite hat sie es schwer, sich in der Männerwelt durchzusetzen, auf der anderen tritt sie umso aggressiver auf. Zum einen, so sagt sie, hätten zwei Leute nachfolgen müssen, um zu schaffen, was sie geschafft hat, zum anderen verliert auch diese Figur den Boden unter den Füßen. AV

P/S Haben Sie auch eigene politische Schlussfolgerungen aus der Fehlentwicklung des Finanzsystems gezogen? AV Ja, aber sie sind nicht im Stück enthalten. Entscheidend ist für mich, dass das Stück deutlich macht, dass es die sogenannten Sachzwänge nicht gibt, dass die Weichen anders hätten gestellt werden können. Wir haben es zum Beispiel bei der Kreditpolitik der EZB, für die am Ende die Steuerzahler haften, nicht mit Zwangsläufigkeiten zu tun. P/S Aber was müsste geschehen, um die Gesellschaft vor der Finanzindustrie zu schützen?

Zum einen braucht es in der Mitte der Gesellschaft überhaupt ein Interesse an diesen Vorgängen, zum anderen natürlich mehr Transparenz. Es geschehen da ja lauter Dinge jenseits einer demokratischen AV

Kontrolle. Wer hat denn den Präsidenten der EZB, der von Goldman Sachs kommt, gewählt? Das sind Vorgänge mit ungeheuren Konsequenzen, die demokratisch kontrolliert werden müssen.

Es gibt ja einen gesellschaftlichen Groß­konflikt, der zum Teil vergleichbar ist: der seit 30 Jahren dauernde Streit um die Stromkonzerne und die Großkraftwerke. Hier hat sich erst etwas geändert, seitdem Bürger die Möglichkeit bekamen, ihren Strom selbst zu erzeugen. Das hieße in diesem Fall: Gründet Banken! Wir brauchen mehr Banken in Bürgerhand. P/S

AV Genau, es geht ja nicht darum, die Bankentürme abzureißen, sondern genauer zu schauen, was verändert und erhalten werden sollte. Es gibt ja schon Genossenschaftsbanken, aber sie sind nicht systemrelevant. Sie werden nicht um jeden Preis gerettet. Eine meiner Schlussfolgerungen ist deshalb, dass jeder sich stärker selbst verantwortlich fühlen muss. Was ist mit meiner Lebensversicherung? Dem Pensionsfonds? Ich kann ja die Bank wechseln. Wir müssen wegkommen von einem Politikverständnis, das davon ausgeht, dass der Einzelne keinen Einfluss hat. Man hat ihn, man kann wissen wollen, was mit meinem Geld passiert.

Andres Veiel, geb. 1959 in Stuttgart. Der Filmemacher begann während seines Psychologiestudiums in WestBerlin mit einer Regie-Ausbildung, unter anderen bei dem großen polnischen Filmregisseur Krysztof Kieslowski. 2004 kam sein Dokumentarfilm „Die Spielwütigen“ über vier Schauspielschüler der Berliner Hoch­schule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ ins Kino. Zusammen mit der Dramaturgin Gesine Schmidt schrieb er 2005 das Dokumentarstück „Der Kick“ über einen brutalen Mord im branden­bur­gischen Potzlow. Diesen Stoff hat er im gleichnamigen Dokumentarfilm und in einem Sachbuch bearbeitet. Berühmt geworden ist Veiel 2001 mit „Black Box BRD“, einem Film, in dem er die Biografien des Bankenmanagers Alfred Herrhausen und des RAF-Terro­ r­isten Wolfgang Grams untersuchte. Für diesen Film wurde er mit dem Bayerischen, Deutschen und Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. Andres Veiel inszenierte sein Stück selbst. Anfang Januar 2013 kam „Das Himbeerreich“ erst am Schauspielhaus Stuttgart und danach am Deutschen Theater Berlin zur Premiere. Dort läuft es noch bis Ende der Spielzeit Sommer 2013.


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Impressum Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 2 06110 Halle an der Saale T 0345 2997 0, F 0345 2997 333 info@kulturstiftung-bund.de ↗ www.kulturstiftung-bund.de Vorstand Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz (verantwortlich für den Inhalt) Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Beratung Tobias Asmuth Schlussredaktion Christoph Sauerbrey Gestaltung Neue Gestaltung, Berlin Hersteller BUD, Potsdam Redaktionsschluss 15.2.2013 Auflage 26.000 Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes – alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes. Das Magazin Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website ↗ www.kulturstiftung-bund.de/magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, erreichen Sie uns auch telefonisch unter +49 (0)345 2997 131. Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf! Die Website Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der Stiftung, die Fördermöglichkeiten und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter: ↗ www.kulturstiftung-bund.de ↗ facebook.com/kulturstiftung ↗ twitter.com/kulturstiftung Bildnachweise S.1 / 50 Bildstrecke: Kader Attia (Courtesy Kader Attia)  S. 11 Fast forward: Illustration: Jörg Hülsmann S. 14 Dintenuniversum: © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz / ZOO 3000: Foto: Maximilian Haas S. 15 FELLOW me!: Foto (Magazinregal): Wolfgang Kehmeier, 2013 / Foto (Leere Vitrine): Carola Radke, 2013, Mf N S. 16 Verschiedene Wörter: Illustra­tion: Ole Jenssen S. 20 / 21 Schuld­scheine: © Wert­papierwelt, Stiftung Sammlung histo­­­ rische Wert­­pa­piere, Olten, Schweiz S. 23 Wie viel kann ein Museum fassen?: Filmstill: © büro für neues ausstellen, Moritz Fehr 2013 S. 24 Made in Oceania: © Greg Semu, 1997  S. 25 ZERO: Foto: Daniel Roth, 2008 / 12. Triennale Kleinplastik Fellbach: © Luis Camnitzer, 1979 (Courtesy Alex­ander Gray Associates, New York) S. 26 In der Strafkolonie: © Literaturhaus Berlin / Nancy Graves: Foto: Carl Brunn S. 27 Mensch – Raum – Maschinen: Bild: Alexander Schawinsky / Door: Between Either and Or: © Judith Hopf S. 28 MIES 1:1 Das Golfclub Projekt: © Robbrecht en Daem 2012 / Das geheimnisvolle Organ: © Hannes Kater S. 29 Performance Electrics: Foto: Daniela Wolf / Ware und Wissen: © Weltkulturen Museum, Foto: Giesela Simrock, 1961 S. 30 / 31 Auf dem Weg über die Grenze: Dialog With Carmen (2013), Director: Lidija Mirkovic / Filmstill: Besence Open (2013), Director: Kristóf Kovács S. 33 DOKU.ARTS: Foto: Andreas Lewin S. 34 Die Welt in Waffen: ­ © www.worldmapper.org S. 35 Über.leben: © Nicola Unger, Phantom Story S.37 Forget it.: Fotos: Dayanita Singhs, File Room 2011 (Courtesy The Artist And Frithstreet Gallery, London) S.41 Von der Illusion einer Um­armung: Illustration: Stephen Smith (Neasden Control Centre) S. 42 Mediterranean Voices: Foto: Martin Sigmund S. 43 Milchstrom, Fragebett, Gralsmaschinen: Foto: Georg Nussbaumer S. 44 / 46 500 Milliarden wären schön: Fotos: Jacqueline Hassink, The Table of Power S. 48 Neubau der Kulturstiftung des Bundes: Foto: Jens Passoth S. 50 Gebaute Traumwelten: Foto: Per Kristiansen

Im Oktober 2012 hat die Kulturstiftung des Bundes ihren Neubau in Halle an der Saale feierlich eröffnet. Der Neubau des Münchner Architekten­ büros Dannheimer & Joos fügt sich rücksichtsvoll in das aus ver­schie­denen Epochen zusammen­ gesetzte Ensemble der Franckeschen Stiftungen ein, die auf der deutschen Vorschlagsliste für das Unesco-Weltkultuerbe stehen. Gleichzeitig füllt er selbstbewusst eine Leerstelle in der Stadtstruktur und steht für einen Neuanfang nach der

Zer­störung. Die Behandlung der Fassaden, ihre Materialität und Farbigkeit verleihen dem Gebäude sein zeit­gemäßes Erscheinungsbild. Das Geflecht symbolisiert zum Platz hin die Geschlossenheit der nachbarlichen Putzfassaden, die Beton­konstruk­tion zitiert die umliegenden Fachwerk­gebäude. So steht das Gebäude trotz aller Andersartigkeit im Dialog mit dem Ort – Tradition wird transformiert.


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Die Gremien der Kulturstiftung des Bundes Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errich­­tung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mit­glieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Die folgende Übersicht entspricht der Zusammensetzung des Stiftungsrates bei seiner 23. Sitzung am 9. Dezember 2012.

Stiftungsrat

Stiftungsbeirat

Die Stiftung

Bernd Neumann Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien, Vorsitzender des Stiftungsrates

Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten.

Vorstand

für das Auswärtige Amt Cornelia Pieper Staatsministerin für das Bundesministerium der Finanzen Steffen Kampeter Parlamentarischer Staatssekretär

Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vorsitzender des Stiftungsbeirates Dr. Dorothea Rüland Generalsekretärin des DAAD, Stellvertretende Vorsitzende des Stiftungsbeirates

für den Deutschen Bundestag Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident Dr. h.c. Wolfgang Thierse Bundestagsvizepräsident Hans-Joachim Otto Parlamentarischer Staatssekretär

Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Vorstands der Deutsche Bank Stiftung

als Vertreterin der Länder Prof. Dr. Johanna Wanka Niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur Prof. Barbara Kisseler Kultursenatorin im Hamburger Senat

Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats

als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund

Dr. Volker Rodekamp Präsident des Deutschen Museumsbundes e.V.

als Vorsitzende des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder Christine Lieberknecht Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Durs Grünbein Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

Jens Cording Beauftragter der Gesellschaft für Neue Musik e.V.

Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder

Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. Johano Strasser Präsident des P.E.N. Deutschland Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di e.V. Prof. Klaus Zehelein Präsident des Deutschen Bühnenvereins e.V. Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats e.V. Jurys und Kuratorien

Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website ↗ www.kulturstiftung-bund.de bei den entsprechenden Projekten.

Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor Sekretariate

Beatrix Kluge Beate Ollesch (Büro Berlin) Christine Werner Team

Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche Justitiariat / Vertragsabteilung Dr. Ferdinand von Saint André ( Justitiar) Susanne Dressler / Doris Heise /  Anja Petzold / Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung ) Juliane Köber / Christiane Lötsch / Christoph Sauerbrey / Arite Studier Förderung und Programme Kirsten Haß (Leitung ) Marcel Gärtner / Katrin Gayda / Dr. Marie Cathleen Haff / Teresa Jahn / Dr. Alexander Klose / Antonia Lahmé / Anne Maase / Uta Schnell / Kristin Schulz / Karoline Weber / Barbara Weiß Allgemeine Projektförderung Torsten Maß (Leitung ) Bärbel Hejkal / Steffi Khazhueva Projektprüfung Steffen Schille (Leitung ) Marius Bunk / Berit Koch / Kristin Madalinski / Fabian Märtin / Antje Wagner Verwaltung Andreas Heimann (Leitung ) Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe


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Kader Attia — Reparatur. 5 Akte Für seine erste institutionelle Einzelausstellung in Deutsch­ land entwickelt Kader Attia eine ortsbezogene Arbeit in den Berliner KW Institute for Contemporary Art, die sich mit dem Verhältnis westlicher und nicht-westlicher Kulturen befasst: Aus Diaprojektionen, Dokumenten, Fotografien und Skulp­ turen entwirft er eine Abfolge von Szenarien, die den westli­ chen Blick auf das ‚Andere‘ reflektieren. Ein umfangreiches Programm mit Dis­kussionen und Vorträgen, Workshops, Screenings und Performances rahmt die Schau und the­ matisiert den Umgang Europas mit der eigenen Kolonialge­ schichte und seine heutige Migrationspolitik. Eine Begleitpu­ blikation entsteht in Zusammenarbeit mit dem algerischen Musée National d’Art Moderne et Contemporain. Künstlerische Leitung: Ellen Blumenstein Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Jasper Kettner Künstler/innen: Kader Attia (FR), Alexander Wieser/Sonobelle Sound (A), Laurent d’Herbécourt / Tranquille le Chat (FR) KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 23.6.—1.9.2013 ↗ www.kw-berlin.de

Kader Attia wurde 1970 in Dugny (Seine-Saint-Denis) geboren. Heute lebt und arbeitet er in Berlin und Algier. Einzelausstellungen 2012 — Construire, Déconstruire, Recon­ struire : Le Corps Utopique, Musée d‘Art Moderne de la Ville de Paris (Frankreich) 2008 — Kader Attia – New Works, Henry Art Gallery, Faye G. Allen Center for the Visual Arts, University of Washington, Seattle (USA) 2007 — Momentum 9, ICA, Boston (USA) Square Dreams, BALTIC Center for Contemporary Art, Newcastle (England) Gruppenausstellungen 2012 — documenta (13), Fridericianum Museum, Kassel / Performing Histories, MoMA, New York (USA) / 10 ans du Projet pour l‘Art Contemporain, Centre Pompidou, Paris (Frankreich) / The Far and the Near: St Ives and International Art, Tate St Ives, St. Ives (England) / Liverpool Biennial 2012, Tate Liverpool Collection Exhibition: Tresholds, Liverpool (England) 2011 — Contested Terrains, Tate Modern, London (England) 2010 — The Beauty Of Distance: Songs of Survival in a Precarious Age, Biennale of Sydney, Sydney (Australia) / Dreamlands, Centre Georges Pompidou, Paris (Frankreich)

2009 — La Force de l’Art, Paris Triennial, Grand Palais, Paris (Frankreich) / Integration and resistance in the global era, 10. Havana Biennale (Cuba) 2005 — Expérience de la durée, 8. Biennale de Lyon (Frankreich) 2003 — Fault Lines, 50. Biennale von Venedig (Italien) Symposien / Lectures 2012 — Matters of Collaborations, Collaboratoire 3, Dakar (Senegal) / Modern Monday, MoMA, New York (USA) 2010 — SITAC VIII, International Symposium on Contemporary Art Theory, Mexico DF (Mexico) Residencies 2010 — Smithsonian Institution Artist Research Fellowship Program, Washington DC (USA) 2008 — IASPIS, Stockholm / Sweden

Gebaute Traumwelten Eine Bildstrecke von Kader Attia In den Städten rund ums Mittelmeer wurde lange im Geist der Europäer eine Traumwelt gebaut, angereichert mit kulturellen und politischen Phantastereien. „Wir werden immer zu der ewigen Architektur des Mittelmeerraumes zurückkehren.“ Wo in der Welt man auch hinkommt: Dieser Ausspruch von Le Corbusier hallt jedes Mal dann wider, wenn man einem der re­präsen­tativen Bauten gegenübersteht, die aus griechischen Säulen komponiert und einer globalisierten Ästhetik verhaftet sind, die vor mehr als 2.000 Jahren im Mittelmeerraum entstand. Kolonisierung? Globalisierung? Einflussnahme? Enteignung? Der politische und kulturelle Einfluss unserer Gesellschaften, der diesen Bauten eingeschrieben ist, hat mich immer fasziniert. Zwei Völker des Mittelmeerraumes haben die Moderne des Okzidents hervorgebracht: Die Spanier, als sie die Neue Welt entdeckten, und die Florentiner. Die übrige Welt folgte ihnen nach – Renaissance. Den Modernismus seinerseits haben, Folge des Bedürfnisses, den Rest der Welt zu beherrschen, die großen europäischen Nationen im Zeitalter der Klassik etabliert: Spanien, Portugal, Italien, das Vereinigte Königreich, Frankreich etc. In der Architektur kann man ein spannendes Kommen und Gehen von An- und Enteignungen unterschiedlicher Ästhetiken und Techniken be­o­bachten, die die kulturelle Eigenheit von Völ­kern als Baumeister ausmachen. Einen der Höhe­­­punkte der Kolonisierung außerwestlicher Kulturen durch den Westen markiert Anfang des 20. Jahrhunderts ein Architekt: Le Corbusier. Er unternimmt mehrere Reisen in den Mittelmeerraum („Die Orientreise“). Hier folgt er dem Beispiel von Napoleons Kampagne in Ägypten und fertigt eine Vielzahl von Skizzen, Fotografien und theoretischen Notizen zur außerwestlichen Baukultur im öffentlichen wie privaten Raum. Vom Bosporus bis zur Sahara, insbesondere in der Stadt Ghardaia lässt er sich von den Techniken und der Schönheit der Bauten hinreißen und inspirieren. Später pflegt er zu sagen: „Meine Cité Radieuse ist eine vertikale Beni Izguen (Ghardaia)“. Und wie Napoleon erhält er seinen Adelsbrief, indem er all seine Erfahrungen sorgfältig aufzeichnet. Diese Beobachtungen bilden die Grundlage für seine theoretischen Schriften, die zuerst in der „Charta von Athen“, später dann in „Le Modulor“ zusammenfließen. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts schmückt eine ganze Reihe von Bauten dieses außerwestlichen Stils Marseille – sehr zur Freude seiner Einwohner

und der Besucher der damaligen Kolonialausstellung zu Marseille. Von da an bietet Marseille eine Plattform, die das Mutterland mit seinen Kolonien verbindet. Der Verlauf dieser vielschichtigen Beziehungen zwischen nördlichem und südlichem Mittelmeerraum bis hin zum südsaharischen Afrika hat mich immer interessiert. Kunst ist zweifellos die freieste Entfaltungsmöglichkeit des menschlichen Geistes. Sie erlaubt es, Analogien zwischen unwahrschein­ lichen und unerwarteten Dingen herzustellen, aber sie weist Schwächen auf: In der Tat hat sie kraft der Ellipse (der Verbindung zweier Elemente, die nichts gemein haben) in den letzten Jahren bei uns Betrachtern eine Art Amnesie hervorgerufen. In meiner Arbeit versuche ich, die Probleme der Zukunft anhand vergangener Tatsachen zu veranschaulichen, die die Irrtümer von heute erklären. Marseille ist lange Zeit Schauplatz der Bauweise ehemaliger Kolonialräume gewesen, zur Freude seiner Einwohner wie auch der französischen Architekten, die nicht zögerten, sich der Ästhetik und Technik dieser Bauten zu bedienen. In gleicher Weise bietet Marseille ein wunderbares Theater, das die modernistischen Experimente des sozialen Wohnungs­ baus zweier Architekten zeigt, deren Werk die gesamte Bauweise des späteren 20. Jahr­ hunderts verändern wird: Le Corbusier (L’Unité d‘Habitation) und Fernand Pouillon. Angefangen von Marseille bis hin zu praktisch allen Hauptstädten des Mittel­ meerraumes (Casablanca, Istanbul, Damaskus, Beirut usw.) hat das modernistische Projekt das Wesen des sozialen Wohnungsbaus zum Guten, aber auch zum Schlechten verändert. Natürlich waren der Wiederaufbau und „Wohn­­raum für alle“ (wie Auguste Perret in Le Havre oder Fernand Pouillon) notwendig. Aber das Drama dieser drei großen Architekten ist der Verrat ihres Projekts und des sozialen Anspruchs, der sie erfüllte: Inmitten der alten Stadtzentren von Ghardaia und Fez, von der Kasbah in Algier bis zum Wohnkomplex von Cruise (Godin) stehen heute Gefängnisse mit offenem Himmel: Ergebnisse einer Politik der großen Ensembles, die auf die wunderbaren Projekte von Tradition und Moderne folgte. Heute kümmere ich mich persönlich als Künstler darum, in meinen Projekten ihre Geschich­ te zu analysieren; Fragment für Fragment, wie ein Archäologe. Aus dem Französischen von Adelheid Person







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