Magazin #21 der Kulturstiftung des Bundes

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Herbst / Winter 2013


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Editorial Das vorliegende Heft hat wieder ein Schwerpunkt­ thema: Diesmal ist es „Krieg“. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges jährt sich 2014 zum hundertsten Mal, und tatsächlich verzeichnet dieses Gedenk­ereignis jetzt schon eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit. Das ist alles andere als selbstverständlich, denn in Deutsch­ land besitzt die Erinnerung an den Ersten Welt­krieg ­wenig Prominenz. Das sieht in anderen euro­pä­ischen Staaten anders aus. Wir hingegen müssen e­ i­ni­ge An­ strengungen unternehmen, die erinnerungs­kulturelle Schwelle des Dritten Reiches rückwärts zu über­schrei­ ten. Welches Erbe haben uns die Ereignisse und Erfah­ rungen des Ersten Weltkriegs hinterlassen, mit dem das lange 19. Jahrhundert zu Ende ging? Wie wollen und können wir im 21. Jahrhundert daran anknüpfen? Das sind Fragen, mit denen sich Schriftstellerinnen und Schrift­steller in persönlichen Statements („August 1914“) auseinandersetzen, wie sich auch eine Reihe von Pro­ jekten und Veranstaltungen der Kultur­stiftung des Bun­ des damit befasst. Das fängt an mit einer Konferenz zu „100 Jahre Sacre du Printemps“, dem Tanz­skandal aus dem November 1913. Hier sind musikalisch und tänze­ risch Motive vorweggenommen, die ein Dreivierteljahr später menschenverachtende Realität werden sollten. Im Rückblick zeigt sich hier exemplarisch, dass sich unsere Haltung zum Opfer in den letzten hundert Jah­ ren gewandelt hat. Der heldische Tod fürs Vaterland, das „aktive Opfer“ auf den Schlachtfeldern hat in den westlichen Ländern weitgehend ausgedient und ist tech­ nisch überholt. In den musli­mischen Kriegs- und Bür­ gerkriegsgebieten herrscht allerdings eine andere Men­ talität, dort wird das Märtyrertum, das Selbstopfer gefeiert. In der zentralen Rolle, die das Opfer in unseren Dis­ kursen einnimmt, manifestiert sich möglicherweise ih­ nen gegenüber eine höhere Sensibilität, die uns die deut­ sche Erinnerungskultur mit ihrem Fokus auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust beschert hat. Herfried Münkler und Manfred Hettling entwerfen auf je eigene Weise zeit- und mentalitätsgeschichtliche Panoramen rund um das Opferthema in Zeiten des Krieges. Ein Ar­ tikel der Kriegsreporterin Carolin Emcke, die Gründe dafür sucht, warum es generell so schwer ist, vom Krieg zu erzählen, beschließt unseren Schwerpunkt. Mit Besorgnis werden in den Medien die derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im EU-­ Land Ungarn verfolgt. Wir haben Theaterschaffende, die mit Sanktionen zu kämpfen haben, gefragt, wie ihre per­ sönliche Situation ist und ob sie an eine Ausreise denken, wie immer mehr ihrer Landsleute. London gilt mittler­ weile als viertgrößte ungarische Stadt, nach Deutschland sind allein in der ersten Hälfte des Jahres 2013 mehr Un­ garn ausgewandert als im gesamten letzten Jahr. Weiter­ hin berichten wir über Neuigkeiten aus unserem inter­ nationalen Programm „Afrika“ und kündigen hier schon an, dass unser nächstes Heft im Frühjahr 2014 wieder einen Themenschwerpunkt haben wird: „Afrika“. Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz Vorstand Kulturstiftung des Bundes


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Inhalt Krieg und Opfer Tanz über Gräbern — Ein Interview mit Gabriele Brandstetter

Ein Skandal, der zum Mythos wurde: Das Stück „Le Sacre du Printemps“ fasziniert Choreografen auch hundert Jahre nach seinem Entstehen – nicht zuletzt wegen des zentralen Motivs des Menschenopfers.

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Das Opfer – eine Würdigung — Manfred Hettling

„Der Einzelne muss untergehen, damit das Ganze hervor­ gehe“: Wie sich die religiöse Opferidee in eine neuzeitliche Ressource verwandelte und warum der Tod für das Vater­ land nichts mit Kriegsbegeisterung zu tun haben muss.

S. 7

August 1914 — Essays von A.L. Kennedy, Marcel Beyer, Andreas Platthaus, Sreten

Der Erste Weltkrieg war der Startschuss für das von Eric Hobsbawm so bezeichnete blutige „kurze 20. Jahrhundert“– und ist in Deutschland doch fast vergessen. Ein inter­ nationales Autorenprojekt sucht jetzt nach neuen Formen des Gedenkens.

S. 10

„Die Opfertiere sind knapp geworden“ — Ein Gespräch mit Herfried Münkler

Über die verstörende Aktualität des Ersten Weltkrieges, einen Heuschober in Galizien, romantische Täuschungen und die Wiederkehr des guten Krieges.

S. 14

Am Ende aller Gewissheiten — Carolin Emcke

Warum gibt es so wenige Erzählungen von Krieg und Gewalt? Vielleicht weil Krieg eine kognitive Ver­störung bedeutet, Gewalt keinen Sinn ergibt, Opfer ihrer ­Sprache nicht mehr trauen und wir die moralischen und ästhe­­ tischen Zumutungen des Krieges nicht ver­stehen wollen?

S. 17

Neue Projekte Afritecture / Doppelgänger / The Politics and Pleasures of Food / Die Frauen von Troja / Die Bibel. Woran wir glauben / „Unafrikanische“ Homo­sexualität / Vot ken you mach? / In Order to Join / Llyn Foulkes. Music is my joy, painting is my angst / Kafkas Prozess 2014 / Portikus Stars and Stripes /

Der Stachel des Skorpions / Fiktion / Eine Deklaration zur digitalen Zukunft unserer Literatur / Das Detroit Projekt / Keep me in Mind / Fidelio im Zuchthaus Cottbus / Odyssee: Klima. Transdisziplinäres Festival / World of Matter / Outside the Box! / Gego. Line as Object / Sind noch Lieder zu singen? / Choreographie des Klangs / Sasha Waltz: Installationen. Objekte. Performances / Momente ohne das Davor und Danach: Interview mit Sasha Waltz / Totaltheater 12 / 1938. – Kunst – Künstler – Politik / „Das Jahr 1938 war das Schicksalsjahr für den Kunst­betrieb“ Ein Interview mit Dr. Raphael Gross / Postwar / Himmel, Hölle, Fegefeuer / Babelsprech / Sounds no Walls / Kinder­königreich / Responsive ­Subjects Lyrik-Tournee Kiew-Czernowitz-Lemberg-Berlin-Bremen / Ein Gedicht von Iryna Vikyrchak

S. 20–29

Was heißt schon Fremdsein und wo beginnt eigentlich das Exil ? — Anmerkungen von Kornél Mundruczó, Andrea Tompa, György Szabó, Béla Pintér, Árpád Schilling

Die Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hat sein Land in Europa isoliert. Viele Künstler rufen zum Widerstand auf, andere aber stellen sich immer häufiger die Frage: Bleiben oder gehen?

S. 30

Windows of a Brave New World  — Christoph Kappes

Verschlüsselung ist nur zweite Wahl. Im Internet muss Macht eingehegt werden, damit auch im aufziehenden digitalen Zeitalter neue Formen von Privatheit entstehen können.

S. 34

Was ist da los ? — TURN Fonds für künstlerische Kooperationen mit afrikanischen Ländern

Wie afrikanische Künstler politische Raster zerstören und ökonomische Denkmuster entlarven.

S. 36

Gremien  S. 38

Impressum S. 39


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Tanz über GRÄBERN Wie „Le Sacre du Printemps“ zu einem Mythos des modernen Tanzes wurde

kommt offenbar immer noch rüber. Äußerungen von Zeitzeugen wie Gustave de Pavlovsky über das „Massacre du Printemps“ und Berichte von Cocteau oder Valentine Gross über das „Beben“ im Theater, das ebenso vom Tumult im Zuschauerraum wie der Musik und dem Stampfen der Tänzer herrührte, vermitteln davon ein lebendiges Bild. Das mag überzeichnet sein, gehört aber zum Kontext der Zeit: Dass Kunst einen Aufruhr bewirken solle, einen Bruch mit den Traditionen und ein radikales Umdenken provozieren müsse, gehörte zum Anspruch der Künstler des Expressionismus, Futurismus und Dada.

Hart, roh, gebrochen: Seit der Ur­aufführung vor hundert Jahren im Théâtre des Champs-Élysées in Paris hat sich „Le Sacre du Printemps“ zu einem Klassiker des modernen Tanzes entwickelt. Igor Strawinskys Musik und Vaslav Nijinskys Inszenierung sorgten damals für einen Skandal. Was aber fasziniert Choreografen und Tänzer heute an diesem Stück? Und wie interpretieren sie das zentrale Motiv des Menschenopfers? Die Tanz­wissenschaftlerin Gabriele Brandstetter über Brisanz und Aktualität eines Klassikers.

Frau Professor Brandstetter, „Le Sacre du Printemps“ ist zumindest dem Namen nach vielen Menschen ein Begriff. Allerdings kennen wohl mehr Leute die Musik als das Ballett. Wie erklären Sie sich denn den bis heute anhaltenden Erfolg von „Sacre“, das zum Klassiker der Moderne im Tanz geworden ist?

Friederike Tappe-Hornbostel

Für die bis heute anhaltende Wirkung spielt gewiss der Skandal, den „Sacre“ bei der Premiere in Paris hervorrief, eine große Rolle. Etwas von der verstörenden Wucht der Uraufführung 1913

Gabriele Brandstetter

T-H

GB

Das Erfolgsgeheimnis von „Sacre“ geht aber über seine spektakuläre Uraufführung hinaus. Auch thematisch war das Stück ein Meilenstein. Serge Diaghilew, der geniale Impresario der Ballets Russes, brachte damals ganz bewusst junge Künstler zusammen, die Musik, Choreografie und Bühne für „Le Sacre du Printemps“ zu einer szenischen Ritual-­

Darstellung gestalteten. Das entsprach dem um 1913 aktuellen wissenschaflich-ethnolo­ gischen und künstlerischen Interesse am „Primitiven“. Die Themen von „Le Sacre du Printemps“ – Ritual und Opfer, Gemeinschaft und Individuum – bildeten eine historische Herausforderung für Choreo­ grafen, so dass bis heute mehr als 250 Versionen von „Sacre“ gezählt werden. Gerade diese Motive reizen offensichtlich immer wieder zu neuer Interpretation. Wenngleich wir wissen, dass die von Nijinsky choreografierte Aufführung – das „Original“ − nicht mehr greifbar ist, hat möglicherweise genau dieser Umstand dafür gesorgt, dass „Sacre“ zum Mythos wurde, der sich in einem ständigen Prozess der Adaption wandelt und weiterentwickelt. Heute ist er aber aus dem Kanon der Tanz­ geschichte nicht mehr weg­ zudenken. T-H

Worin bestand der skandalöse Bruch mit den ästhetischen Traditionen des Tanzes?


5 Rivière, der im November 1913 die wohl beste zeitgenössische Rezension zu „Le Sacre du Printemps“ veröffentlichte, nennt „Sacre“ ein Werk „ohne Sauce“. Er meint das positiv: Er rühmt die Härte, das Rohe und Gebrochene, das ohne Beiwerk auskommt – ohne „Verdauungshilfe“, wie er sagt. Und er bezieht dies sowohl auf die Musik Strawinskys als auch auf Nijinskys Choreografie. Er war einer der ersten, der das Revolutionäre an Nijinskys Bewegungskonzept, seiner choreo­ grafischen Anordnung der Tänzer erkannte: In „Sacre“ sieht man Tänzer, die nicht die klassische graziöse Linie des Balletts zeigen, sondern mit eingedrehten Füßen, abgeknickten Köpfen, gewinkelten Armen und Händen stehen und gehen; mit eckigen, abrupt wechselnden Bewegungen, chaotisch rennend, oder im Chor rhythmisch stampfend. Nijinsky „opfert“ die geltende Idee von „Grazie“; er begeht ein „Crime against Grace“, wie das Millicent Hodson im Kontext ihrer Rekonstruktion von „Sacre“ formuliert hat. In Nijinskys Choreografie werden Elemente des modernen und zeitgenössischen Tanzes erstmals geballt sichtbar: Brechung der Körperachsen und der Bewegungs-­ Symmetrien; Orientierung der Dynamik von Gehen, Stehen, Fallen auf den Boden hin; Bewegung ohne mimischen oder erzähler­ ischen Ausdruck als alleinige Basis des Materials der Choreografie. Für das Publikum 1913 war dies absolut schockierend. In den Rezensionen von 1913 wurden die Bewegungen der Tänzer öfter mit dem Vokabular für psychisch Kranke bedacht, oder es wird das Primitive moniert.

zesse in Politik, Gesellschaft und Kultur ihre charakteristischen Dynamiken. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gab es unter euro­ päischen Künstlern und Intellek­ tuellen eine große Sehnsucht nach einem befreienden polit­ ischen Wandel. Es herrschte eine äußerst spannungsgeladene politische Atmosphäre, die von Künstlern sensibel wahrgenommen wurde. So auch im Umfeld der Ballets Russes, deren Emigration von Russland nach Paris mitten in die Zeit der militärischen Aufrüstungen fiel. Die Formel eines „Tanzes auf dem Vulkan“ war typisch für das Zeitgefühl. Und dass 1913 vom Ersten Weltkrieg schon sehr viel zu spüren ist, zeigt eine Bemerkung von Harry Graf Kessler – einem politisch und kulturell sehr engagierten Europäer, der damals mit den Ballets Russes kooperierte. Bereits Ende 1912 schreibt er aus Paris an den Dichter Hugo von Hofmannsthal, die Spannungen zwischen Österreich und Serbien würden ihn beunruhigen und er fürchte einen „Weltkrieg“. Und dann schreibt er wörtlich: „Wenn Ihr uns nur nicht den Nijinski abschießt!“

GB Jacques

T-H

GB

Inwiefern deutet „Sacre“, uraufgeführt am Vorabend des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs in Paris, auf die kommenden Kriegsereignisse im Jahr 1914 hin? Was hat der Opfertod eines jungen Mädchens mit dem soldatischen Tod zu tun? Das „Frühlingsopfer“ ist immer wieder mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 in Verbindung gebracht worden. So hat der Historiker Modris Eksteins die These aufgestellt, dass das „Opfer“, das in „Le Sacre du Printemps“ eine rituelle und mythische Dimension hat, wie eine Allegorie der in den Schützen­ gräben des Ersten Weltkriegs ihr Leben opfernden Soldaten gelesen werden könne. Solche Deutungen eines epochalen Ereignisses − wie des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs − und die Inter­ pretation eines Vor­ boten − wie etwa „Le Sacre du Printemps“ − sind naturgemäß erst nachträglich möglich. In der Rückschau erweisen die spezifischen Pro-

In „Sacre“ ist das (Selbst-)Opfer ein zentrales Motiv. Wie sieht es hundert Jahre später aus? Das Opferbringen ist doch heutzutage nicht mehr populär. Wie interpretieren aktuelle Inszenierungen die Feier des Opfers?

T-H

Tatsächlich ist für Choreografen, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigene Version von „Le Sacre du Printemps“ planen, das Thema Opfer noch weit brisanter geworden. Wie kann man sich – in einer Neu­ interpretation von „Sacre“ – mit diesem problematischen Thema auseinandersetzen? Wie kann das Verhältnis von Gemeinschaft und Einzelnem, von Auserwählheit und Ausschluss heute interpretiert werden? Das schwierige Verhältnis von Macht, Gewalt und Gesetz und die Unterscheidung von „victim“ und „sacrifice“ sind wohl über die Zeiten hinweg immer aktuell. Daher werden Theologen, Politik- und Kultur­ wissenschaftler auf der Tagung „Tanz über Gräben. 100 Jahre Le Sacre du Printemps“ genau dazu auch Stellung nehmen. Junge Choreografen, die sich heute mit „Le Sacre du Printemps“ auseinandersetzen, haben unterschiedliche Möglichkeiten der Entscheidung: Sie können die Frage der Alltäglichkeit, ja, der Banalisierung des Opfers ansprechen – wie dies etwa Yvonne Rainer in „ROS Indexical“ getan hat. Sie können das Thema des Opfers transponieren und in

GB

die Gemeinschaft des Publikums „hineindirigieren“ – wie dies Xavier Le Roy unternommen hat; oder das Opfer selbst „opfern“, eine Deutung, die Laurent Chétouane für sich und seine Tänzer wählte. Choreografen können auch betont politische Positionen beziehen und die Beziehung von Opfer und Täter im Blick auf die Inhumanität der Ereignisse im National­ sozialismus inszenieren, wie dies Martin Stiefermann getan hat. In der jetzigen welt­ politischen Situation scheinen weder Stück noch Thema an Faszination eingebüßt zu haben. Erstaunlich viele junge Choreografinnen und Choreografen haben sich beim HAU am Open Call für neue Inszenierungsvorschläge beteiligt. Ich bin gespannt!

Tanz über Gräben. 100 Jahre „Le Sacre du Printemps“ Eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes und des Zentrums für Bewegungsforschung an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Tanzfonds Erbe, dem Radialsystem V und dem HAU Hebbel am Ufer.

Die Premiere von Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ in der Choreografie von Vaslav Nijinsky l­ öste 1913 in Paris einen der größten Skandale der Tanzge­ schichte aus: In bewusster Abkehr von der Körper­ sprache des herkömmlichen Balletts nahm das Stück am Vorabend des Ersten Weltkrieges die Kriegstoten der Schützengräben auf erschreckende Weise vorweg. Seitdem regte es in besonderem Maße Künstler zu ei­ ner eigenen Auseinandersetzung mit dem Thema und dem Stoff an. Hundert Jahre danach analysiert die internationa­ le und interdisziplinäre Konferenz „Tanz über Gräben“ die Sprengkraft von „Le Sacre du Printemps“ als einer der einflussreichsten Choreografien des 20. Jahrhunderts und erörtert seine besondere Rolle für die Tanzmoder­ ne. Im Mittelpunkt der Veranstaltung steht die Frage nach den Opferaspekten Victim und Sacrifice und der dem Stück eigentümlichen Beziehung zwischen Moder­ nismus und Primitivismus. Die Veranstaltung ist eingebettet in ein umfang­rei­ ches Begleitprogramm, das Rekonstruktionen frühe­rer Choreografien und zeitgenössische Versionen des Stü­ ckes miteinander konfrontiert und in einer eigens für die Veranstaltung beauftragten künstlerischen Installa­ tion die Vielzahl von Bearbeitungen thematisiert. In den interdisziplinären Beiträgen von Tanz- und Musikwis­ senschaftlern, Kunsthistorikern und Theologen, Philo­ sophen und Kulturwissenschaftlern geht es darum, „Le Sacre du Printemps“ kulturhistorisch und -wissenschaft­ lich zu analysieren. Konzept und wissenschaftliche Leitung: Gabriele Brandstetter Mit: Jan Assmann, Gabriele Brandstetter, Laurent Chétouane, Lynn Garfola, Jack Halberstam, Millicent Hodson, Herfried Münkler, Sasha Waltz, Sigrid Weigel u.a. Radialsystem V, Berlin, 14. bis 17. November 2013 ↗ www.kulturstiftung-bund.de/sacre


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Das OPFER – eine Würdigung

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Manfred Hettling

enn Soldaten für „aufopferungsvolles“ Handeln ge­ ehrt werden, treten Bilder von Pulverdampf, Schlach­ tenlärm, Granatsplittern, von Blut und Wunden, von tö­ ten und getötet werden vor das innere Auge. Diesen ­Situationen standzuhalten, sich in ihnen zu bewähren, das stellt seit jeher einen Kern soldatischen Handelns dar, welches im Krieg zu Tage tritt. Darin unterscheidet sich die Existenzform des Soldatischen grundsätzlich vom zivilen Dasein des Bürgers: Letzterem können ­materielle Leistungen abverlangt werden, können Be­ schränkungen in unterschiedlichen Handlungsbereichen auferlegt werden − aber dass das Gemeinwesen als ultima ratio auch den Verlust des Lebens abverlangen kann, ­diese Vorstellung ist uns fremd geworden. Gerade in Deutschland denken wir beim Begriff eines Opfers für das Gemeinwesen (sacrifice) wohl kaum an Soldaten, oder an mögliche Gefährdungen für Polizisten, für Feuer­ wehrleute, für humanitäre Helfer im Ausland − sondern eher kritisch und distanzierend an frühere Formen einer politischen und ideologischen Überhöhung des Opfers für die Nation, oder auch für das Reich, für die Volksge­ meinschaft, für die Rasse. Das Außergewöhnliche und Erklärungsbedürftige an den Kriegen des 20. Jahrhun­ derts seien gerade, so Benedict Anderson, der mit der „Erfindung der Nation“ einen modernen Klassiker der politischen Ideengeschichte vorgelegt hat, weniger das millionenfache Töten, als vielmehr die große Zahl an Menschen, die freiwillig zur „Hingabe“ ihres Lebens, zum „höchsten Opfer“ bereit waren. Das schließt kei­ neswegs alle Toten politischer Gewalt ein, gewiss nicht. Doch die zeitgenössische Zuwendung zu den Opfern von Gewalt (victim), von Krieg und Gewaltherrschaft, wie die bundesdeutsche Formel seit den sechziger Jahren lautet, hat sowohl die historische Erinnerung an frühe­ re Erscheinungsformen eines aktiven Opfers verblassen lassen als auch ein Verständnis der mythologischen und funktionalen Zusammenhänge zwischen Opfer und Ge­ meinschaft erschwert. Anders gewendet: Wie kann man vergangene Formen von kultureller Inszenierung und Würdigung des Opfers eines einzelnen für sein Gemein­ wesen erstens hinreichend verstehen und zweitens an­ gemessen beurteilen? Eine distanzierende Kritik, welche jede gesellschaftliche Würdigung von Opfern als Opfer­ überhöhung und als ideologischen Opferkult kritisiert, mag Ausdruck eines modernen, individualistischen Ge­ sellschaftsverständnisses sein, welches indes die Sensi­ bilität für jene Bedingungen ihrer eigenen Existenz ver­ loren hat, die sie selber, mit friedlichen und deliberativen Elementen allein, gegebenenfalls nicht hinreichend ­sichern und garantieren kann. Insofern kann ein histo­ risch gesättigter und analytischer Blick die Skepsis schär­ fen sowohl gegenüber ideologischen Überhöhungen als auch gegenüber dem modernen Selbstbild einer aufge­ klärten und vermeintlich unabdingbaren zivilen Distan­ zierung zu jeglicher Form von aktivem Opfer (sacrifice).


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Bürgertugend findet ihren höchsten Grad in der Auf­opferung, im Tod für das Vaterland.

Das Opfer konnte das Leben und das Schicksal in einem überindividuellen Sinne ‚aufheben‘.

Krieg stellt eine besondere Form von Gewaltaus­ rischer Mittel noch heute weit selbstverständlicher als übung dar, die erstens organisiert und konzentriert ist in Deutschland. Aber der deutsche Sonderweg der gene­ und zweitens in besonderer Weise politisch legitimiert rellen Delegitimierung von Krieg seit 1945 dürfte vor werden kann. In der Neuzeit vollzog sich zuerst eine allem auf die Auseinandersetzung mit dem Nationalso­ ‚Verstaatlichung‘ des Krieges, in welcher die Gewaltaus­ zialismus und den nationalsozialistischen Verbrechen übung staatlich monopolisiert und konzentriert wurde, zurückzuführen sein. was auch eine Steigerung des Gewaltpotenzials durch Sterben für Deutschland die Mobilisierung größerer Ressourcen bedingt. Die Heere wurden schlichtweg größer, die Kriegsteilnehmer Doch ging es bei den Darstellungen der soldatischen weiterhin motiviert durch feudal-adlige Ehrvorstel­ Opfer, ging es bei den Thematisierungen des Kriegs­ lungen, durch materielle Interessen oder primär durch todes nur um die Frage von Krieg und Frieden? Gerade disziplinäre Gewalt zusammengehalten. Eine allgemeine im langen historischen Bogen betrachtet, tritt die Be­ Beteiligung der Einwohner und Bürger jenseits materi­ deutungsvielfalt des Opfers klar hervor. Die sowohl in eller Leistungen war in der Regel nicht intendiert. In bürgerlichen Kreisen wie in erheblichen Teilen der ein­ seinem politischen Testament von 1768 etwa verwies fachen ländlichen Bevölkerung sowohl 1813 als auch Friedrich der Große auf das alte Ideal, nach welchem der 1914 durchaus verbreitete Bereitschaft, sich am Krieg Fürst Krieg führe und „der friedliche Bürger ruhig und gegen die napoleonische Fremdherrschaft und Besat­ ungestört in seiner Behausung bliebe und nicht wüsste, zung aktiv zu beteiligen, lässt sich mit dem Verweis auf dass seine Nation sich schlägt, wenn er es nicht aus den monarchische Loyalität und nationale Aufwallung nicht Kriegsberichten erführe“. Im Kontext der Revolu­tions­ hinreichend verstehen. Gewiss, in den zeitgenössischen kriege und der Befreiungskriege um 1800 dann erfolgte Texten jener Jahre findet sich immer wieder eine uns zusätzlich eine ‚Vergesellschaftung‘ des Krieges, in wel­ heute befremdlich anmutende Bejahung des Sterbens cher die zivile Bevölkerung auf neue Weise materiell und im Krieg. Zur Veranschaulichung seien Stimmen aus vor allem auch ideell ins Kriegsgeschehen eingebunden 1813 wie aus 1914 angeführt. Ein Berliner Theologie­ wurde. Als erste Bürgerpflicht wurde nun nicht mehr student, Friedrich Wilhelm Sachse, schrieb 1813 an sei­ „Ruhe“ proklamiert, wie es in Berlin nach der Niederla­ nen Bruder, ebenfalls Freiwilliger im preußischen Heer, ge von Jena im Oktober 1806 plakatiert worden war, son­ „der Einzelne muß untergehen, damit das Ganze her­ dern die Teilhabe am Kriegsgeschehen. Die freiwillige vorgehe ... wir wollen uns opfern für das Vaterland, damit Kriegsteilnahme des Bürgers, sogleich zur Wehrpflicht aus edlem Samen edle Früchte hervorgehen“. Und der verallgemeinert, wurde nun propagiert, von oben, aber preußische Regierungsrat Häse annoncierte in der Vos­ auch von unten. Im nationalstaatlichen Rahmen erfuh­ sischen Zeitung 1813 den Tod seines Sohnes in einem ren antike Vorbilder ( pro patria mori) eines Opfers für der ersten Gefechte des beginnenden Krieges bei Lüne­ das Gemeinwesen nun eine Wiederbelebung. Karl Wel­ burg: „Ein so schneller Verlust ist hart, aber es ist trös­ cker, einer der führenden Vertreter des deutschen Früh­ tend, daß auch wir einen Sohne geben konnten zu dem liberalismus, lobte dann wenige Jahrzehnte später die großen heiligen Zweck. Wir fühlen tief die Notwendig­ „Bürgertugend“ als „aufopfernde Bestrebung für das bür­ keit solcher Opfer“. Während Krieg am Beginn des 19. gerliche Gemeinwesen“, die ihren höchsten Grad in der Jahrhunderts noch fast als Selbstverständlichkeit ange­ „Aufopferung“, im „Tod für das Vaterland“ finde. sehen wurde, konnte sich Opferbereitschaft dann etwa Damit war die bis dahin religiöse Idee des „Opfers“ im Ersten Weltkrieg durchaus mit einer Ablehnung des als politische Größe in die neuzeitliche Moderne über­ Krieges verbinden. In einer nach 1918 massenhaft ver­ führt worden. In verschiedensten religiösen Kulturen breiteten Sammlung von „Kriegsbriefen gefallener Stu­ war und ist das Opfer als kultischer Akt zur Götterbe­ denten“, von Philip Witkop, finden sich Äußerungen, bei einflussung oder zur Heilsgewinnung verbreitet. Das denen einerseits der Krieg prinzipiell abgelehnt wird, Opfer konnte hierbei eine Ausnahme darstellen oder in andererseits verkündet wurde, „denn das Entscheidende zyklische Anlässe integriert sein. Auf einen derartigen ist doch immer die Opferbereitschaft, nicht das, wofür jahreszeitlichen Kontext, der den Kreislauf der Natur das Opfer gebracht wird“. Das Opfer brachte die Verbin­ durch das menschliche Opfer an die Götter sichert und dung des einzelnen mit einem „Ganzen“ zum Ausdruck, bestätigt, nimmt auch Strawinsky in seinem „Sacre du konnte in einem Hegelschen Verständnis das Leben und Printemps“ von 1913 Bezug − das Irritierende und Pro­ das Schicksal in einem überindividuellen Sinngefüge vozierende dieses aus zeitgenössischer Sicht archaischen ‚aufheben‘. Das manifestierte sich nicht zuletzt auch da­ Opfergedankens auch in akustische Verunsicherungen rin, dass der Bezug zum Monarchen während des Ersten überführend. Das Christentum stellt insofern keine Aus­ Weltkriegs schnell und geradezu selbstverständlich ver­ nahme dar, hat den Opfergedanken jedoch besonders schwand, nur noch Kollektivformeln wie Volk, Vaterland, ausgebildet und privilegiert mit der Vorstellung des Deutschland als Sinn dieser Opfer postuliert wurden. Opfer­todes des Gottessohnes für das Heil des Menschen. Und auch während des Zweiten Weltkriegs dominierte Christliche und andere Märtyrerkulte haben diesen Zu­ der Opferbezug auf Deutschland, Sterben für den Füh­ sammenhang dann übertragen und die Idee des Sterbens rer wurde nicht zur populären Formel. für ein zukünftiges Heil in ein dem irdischen Menschen Ein Akt der Selbstaufgabe zugängliches Handlungsmodell übersetzt. Es geht nicht um die Frage, ob es sich hierbei um Kulturübergreifend und religionssoziologisch kann man das Opfer als Handlung beschreiben, in welcher ein ‚wahre‘ Gefühlslagen und Befindlichkeiten handeln moch­ Objekt zerstört oder ein Lebewesen getötet werden. In te oder um Sprachbilder und Verhaltenszumut­ungen aus diesem Akt wird zugleich das Zerstörte aufgewertet, in romantischem Geist. Es geht auch nicht darum, ob wir einen höheren Zustand überführt: geheiligt. − Der mo­ die Einstellungen, die hier zu Tage treten, teilen wollen ralische Zustand der Person bzw. der Gruppe, die das oder nicht. Fruchtbarer ist indes die Frage, welche Be­ Opfer vollzieht, wird verändert (Marcel Mauss). Jedes ziehung zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Opfer kann damit auf mindestens drei Bestandteile hin einzelnem Bürger und politischem Gemeinwesen wird befragt werden: der Opfernde, das Geopferte, die Heili­ hier sichtbar? Der emotionale Überschuss, der einem in gung. Die Bedeutung des „Opfers für das Vaterland“, wie diesen Zeugnissen und in vielen anderen Quellen und der Tod im Krieg seit dem immensen politischen Mobi­ Äußerungen jener Zeit entgegentritt, ist einer der em­ lisierungsschub bezeichnet wurde, den Revolution und phatischen Teilhabe am Kollektiv, am Gemeinwesen, an Nation ausgelöst hatten, erschließt sich deshalb erst, der gemeinsamen Sache jenseits von Einzelinteresse wenn man alle drei Dimensionen betrachtet und zusam­ oder Familienband, jenseits von persön­licher Bekannt­ menhängend analysiert. Die breite Zustimmung zum schaft oder personaler Herrschafts­bindung. Darin liegt Gedanken des Opfers für das Vaterland in den westlich-­ die ‚Heiligung‘ begründet, politisch gewendet: die Le­ europäischen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert gitimierung der politischen Ordnung. Das Opfer, das sollte nicht per se mit einer Kriegsbegeisterung oder gar hier versprochen bzw. gewürdigt wird, stellt eine aktive Kriegsverherrlichung verwechselt werden. Auch der Handlung dar, wird als bewusster Akt der Aufgabe oder millionenfache Tod im Ersten Weltkrieg hat keinen der Selbstaufgabe für ein höheres Ziel beschrieben. Das grundsätzlichen Einstellungswandel herbeigeführt. In menschliche Einzelleben wird eingebettet in eine über­ vielen westlichen Nachbarländern ist der Einsatz militä­ individuelle Ordnung – die nicht mehr religiös, sondern


9 säkular gefasst wird. Mit den krieger­ischen National­ staatsbildungen seit dem 18. Jahrhundert wird die Nati­ on zur zentralen politischen Leitidee. Damit verweist der Tod des Einzelnen nicht auf eine Erfüllung im christli­ chen Jenseits, sondern findet seinen „Sinn“ im Erhalt und in der Rettung des politischen Kollektivs, als Be­ dingung für das Weiterleben der anderen Mitglieder die­ ses Gemeinwesens. Es handelt sich damit um ein aktives Opfer, welches als donum formuliert werden kann, als Gabe (der Regierungsrat, der seinen Sohn für die höhe­ re Sache gegeben hat) oder als sacrificium, als Preisgabe des eigenen Lebens (die studentischen Freiwilligen von 1813 oder von 1914). Von diesem aktiven Opfer­begriff, der immer ein Opfer für etwas darstellt, unterscheidet sich der vor allem in unserer Gegenwart seit 1945 im Vordergrund stehende passive Opferbegriff – victima – der das sinnlose Erleiden von Gewalt zum Kern hat und in der bundesdeutschen Formel der „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ jene andere Dimension des ak­ tiven Handelns und eines bewussten Einsatzes mensch­ lichen Lebens unsichtbar hat werden lassen. Das spiegelt die deutsche Erfahrung der Verbre­ chen gegen passive Zivilisten durch den Nationalsozia­ lismus ebenso wie die Wahrnehmung der DDR-Diktatur und der Gewaltausübung gegen die eigene Bevölkerung, verdichtet am 17. Juni und im Mauerbau. Diese historisch gewachsene Prägung begünstigte die normative Distan­ zierung vom aggressiven Nationalismus und Militar­is­ mus, sie erweist sich jedoch in der Gegenwart als zu be­ grenzt, um neuen demokratischen Anforderungen und politischen Handlungsmodellen gerecht werden zu kön­ nen. Wenn ein demokratischer Souverän wie die Bundes­ republik Soldaten in Auslandseinsätze schickt, können diese nicht mehr als passive Opfer von Krieg und Ge­ waltherrschaft beschrieben werden. Damit ist das sinn­ hafte Opfer, das sacrifice für politische Ziele, wieder auf die politische Tagesordnung gerückt. Teilhabe am Schicksal des Gemeinwesens

Jede Gesellschaft muss dabei in oft konfliktreichen und schwierigen Aushandlungsprozessen einen Konsens finden, um sowohl politische und militärische Handlungs­ möglichkeiten zu bewahren, als auch ideologisierte Ins­ trumentalisierungen und Vereinnahmungen zu begren­ zen und zu verhindern. Dieser Spannung kann keine demokratische Ordnung entgehen. Die deutsche Ge­ schichte der letzten zwei Jahrhunderte hat dabei vor allem zur Ausbildung von einseitigen, man könnte sagen, Entweder-Oder-Antworten tendiert. Nach der Genese des modernen, säkularen Opfergedankens im Kontext von 1813, mit einem Nebeneinander von demokratischen Partizipations- und nationalen Einheitserwartungen hat sich in den Einigungskriegen 1864 bis 1871 und vor allem den beiden Weltkriegen eine Entindividualisierung und Überhöhung des Opferbegriffs durchgesetzt, die eine Ideo­ logisierung des Krieges beförderte. Nach 1945 schließ­lich hat die normative Distanzierung hiervon wie­ derum jegliche Vorstellung einer Sinnhaftigkeit des akti­ ven Opfers verdrängt. Es scheint an der Zeit, der Ambivalenz des Opfer­ begriffs ins Auge zu sehen und das politische Potenzial dieser einst religiösen Kategorie neu zu erfassen. Eine gewachsene und stabile Demokratie sollte in der Lage sein, diese „Ressource“ zu integrieren, ohne verschwen­ derisch damit umzugehen. Ist es nicht an der Zeit, die staatsbürgerliche Teil­ habe am Schicksal des Gemeinwesens umfassender zu denken und die Erfüllung von Aufgaben nicht an einen leicht anonymisierbaren Staat zu delegieren, der dann schnell als den Bürger bedrohender Moloch darstellbar wird? Wie umfassend ist der Anspruch auf bürgerliche Selbständigkeit und politische Partizipation zu verste­ hen? Das schließt eben im Letztfall auch den militä­ rischen Schutz mit ein und wertet den Einzelnen und seinen Einsatz auf, und es ist nicht per se undemokra­ tisch. Das unüberbietbare Beispiel hierfür ist bis heute die Gefallenenrede des Perikles, wie sie Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges erzählt. 431/30 v. Chr., im ersten Jahr des Peloponnesischen

Krieges, lässt er die Athener die ersten Toten des Krieges gegen die Spartaner bestatten. In der Begräbnisrede skizziert Perikles, wofür die Toten geehrt würden. Aus­ gangspunkt seiner Darstellung ist das eigene Gemein­ wesen, die politische Verfasstheit des athenischen Staates. „Aus welcher Gesinnung wir dazu gelangt sind, mit wel­ cher Verfassung, durch welche Lebensform wir so groß wurden“ − das bilde den Maßstab, um die Handlungen der Gefallenen zu werten. „Für eine solche Stadt“, und damit für diese politische Ordnung seien die Bürger ge­ storben. Die nachträgliche Sinnstiftung ihres Todes ver­ bindet Thukydides mit der Proklamation der zukünfti­ gen Orientierung für die Lebenden, damit diese sich dieser Verfassung gleichermaßen verpflichtet fühlen mö­ gen. In der Würdigung des Opfers treten die politischen Prinzipien und normativen Grundlagen der gesellschaft­ lichen Ordnung in den Vordergrund. Ohne das Bewusstsein eines gemeinsamen Wert­be­ zugs und ohne die Bereitschaft, sich für diesen Wertbezug einzusetzen und ihn gegebenenfalls aktiv zu verteidigen, bliebe jede politische Ordnung fragil und auf das Wohl­ wollen anderer angewiesen. Das schließt die Bereitschaft, für dieses Gemeinwesen Opfer zu bringen, ein. Je höher der Bürger den Wert seiner politischen Ordnung ein­ schätzt und je mehr er sich als aktives Mitglied dieses Gemeinwesens ansieht, desto größer dürfte das Poten­ zial für Opfer für das Gemeinwesen sein. Frühlingsopfer und Menschenopfer sind uns fremd geworden – zum Glück. Aber auch die moderne Demokratie kann des ­„supreme sacrifice“, wie es im Englischen heißt, nicht ent­ behren. Und sie braucht angemessene Formen, dieses Opfer darzustellen und als vorbildhaft zu würdigen.

Manfred Hettling, Jahrgang 1956, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universi­tät Halle-Wittenberg mit einem Schwerpunkt zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. 2013 Herausgeber (zusammen mit Jörg Echternkamp) des Bandes „Gefal­lenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung“, München, Oldenbourg Verlag.

Es scheint an der Zeit, der Ambi­valenz des Opferbegriffs ins Auge zu sehen und das politische Potenzial dieser einst religiösen Kategorie neu zu erfassen.


AUG 10

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In Deutschland ist den Ersten Welt


GUST 11

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die Erinnerung an krieg verblasst ‌


12 ... dennoch hat das internationale Autorenprojekt „Au­gust 1914“ des Netzwerks der Literaturhäuser er­ staun­­lich viele international reno­m­ mierte Autoren für eine neue Auseinandersetzung mit dem Ersten Welt­ krieg gewinnen können. Wir haben sie gefragt, was sie an der Beschäftigung mit dem Krieg reizt. Mit welchen ­Erwartungen machen sie sich an die Recherchen zum August 1914? Wo­rin sehen sie die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für unsere Erinnerungskultur? Wir haben sehr unterschiedliche Antworten bekommen.

Der Beginn meines politischen Bewusstseins A. L. Kennedy

Der Erste Weltkrieg schien mir nie besonders weit weg. Die Erinnerung da­ ran war vielleicht nicht mehr lebendig, aber doch noch greifbar. Mein wachsen­ des Verständnis dafür hat meine Persön­ lichkeit geprägt. Meine Großmutter – die ein ganzes Stück älter war als mein Großvater – er­ zählte mir von ihrer Kindheitserinnerung: Wie sie die Männer aus ihrer Straße, aus ihrem Viertel, fröhlich in den Krieg mar­ schieren sah. Und sie erzählte, dass keiner von ihnen zurückkehrte. Das hatte sie nie verziehen, und deshalb war sie ihr Leben lang Kommunistin. Meine Mutter wuchs bei ihrer Groß­ mutter auf, und deren Haus steckte voller Erinnerungen an die Gefallenen, die alten Lieder aus den Schützengräben wurden immer noch gesungen, obwohl die Fami­ lie nicht besonders soldatisch geprägt war. Meine Mutter liebte die Dichter des Krie­ ges sehr: Wilfred Owen, Siegfried Sas­ soon, Robert Graves, A. E. Housman und besonders Edmund Blunden. Diese Liebe und, ich möchte meinen, auch dieses Mit­ gefühl gab sie an mich weiter. Sie konnte sich noch an Kriegsveteranen in ihren da­ mals schon verblichenen und schmudde­ lig blauen Versehrtenuniformen erinnern, und sie gestand mir, wie traurig und be­ schämt sie bei ihrem Anblick und wegen ihrer Missachtung war. Die Lieder und Worte des „Großen Krieges“, wie er in Großbritannien heißt, waren zu meiner Kindheit noch in mei­ nem Elternhaus zu finden. In der Schule lasen wir sie zum Teil gründlich, denn sie gehörten zum Lehrplan. Im Geschichts­ unterricht mochte die riesige Zahl der Gefallenen distanzierend und unpersön­ lich wirken, das ungeheure Ausmaß des Leidens errichtete eine weitere Hürde für echte Empathie, neben der üblichen Be­ schränkung des Klassenzimmers, dem Druck, Zahlen und Fakten auswendig zu lernen und Gefühle zu verbannen. Doch die Gedichte, die wir im Englischunter­ richt lasen, entfesselten die Kraft persön­ lichen Erlebens, machten die Schrecken realer. Und auch wenn meine Schule äu­ ßerst reglementiert und militaristisch war,

an dieser Stelle konnte man kaum positiv vom Krieg sprechen. Wir erfuhren von der weihnachtlichen Waffenruhe, und ihr pazifistischer Kern wurde nie offen ver­ urteilt. Dass ich Pazifistin wurde, war eine direkte Folge dessen, was ich über den Ersten Weltkrieg lernte. Anfänglich nahm ich an der alljähr­ lichen Gedenkparade auf unserem Schul­ hof mit reinem Herzen und Gewissen teil. Doch als ich älter wurde, hatte ich immer mehr den Eindruck, dass diese Parade vor allem als Verstärker dienen sollte, um uns militärische Werte einzupflanzen, um die Kadettenausbildung zu feiern (das Kadet­ tenkorps war zu der Zeit sehr aktiv und sichtbar – ursprünglich gegründet von Serben, die während des Ersten Weltkrie­ ges ins Exil gehen mussten und sich auf eine kriegerische Rückkehr vorbereiten wollten). Irgendwann verweigerte ich die Teilnahme aus Gewissensgründen – was damals nicht gern gesehen wurde. Ich leistete einen winzigen, unbedeutenden Akt des Widerstands, der kein Leid unge­ schehen und keinen Toten wieder leben­ dig machte, aber er war der Beginn mei­ nes politischen Bewusstseins. Als junge Schriftstellerin arbeitete ich für ein Erinnerungsprojekt – zusam­ men mit John McGuire, einem Veteranen des Ersten Weltkriegs, der kurze Zeit ­Winston Churchills Bursche war. Churchill war natürlich berühmt und wurde gefei­ ert, John McGuire jedoch nicht. Mr. Mc­ Guire war Arbeiterkind, hatte sich jünger als erlaubt zur Armee gemeldet und in den Schützengräben zahlreiche Aus­ zeichnungen errungen, und doch wurde er sein ganzes Leben vernachlässigt und weitgehend übersehen. Als er in den hungrigen Dreißigerjahren um ein Emp­ fehlungsschreiben für die Arbeitssuche bat, erhielt er von Churchill einen ab­ schätzig ablehnenden Brief – von dem Mann, der im Dreck des Niemandslandes neben ihm gelegen hatte. Die Ungerech­ tigkeit erschien mir empörend, doch für John McGuire zeigte sie nur, dass in der Gesellschaft alles so eingerichtet war, wie es sollte, dass alle auf ihrem angestammten Platz blieben. Im Lauf der Zeit hat der Erste Welt­ krieg als Unterrichtsstoff in ­Großbritannien an Bedeutung verloren – die Veteranen sind gestorben – und unser Bildungs­ system versagt zugegebener­maßen inzwi­ schen auch auf vielen anderen Ebenen. Man lehrt unsere Kinder nichts über un­ sere Fehler der Vergangenheit, und das macht sie natürlich zugleich gefährdet und gefährlich. Großbritannien hat sein Empire allmählich und relativ schmerzlos verloren, sodass es nie zu einer ehrlichen, realistischen Bewertung unserer Stellung in der Welt gekommen ist – des Leids, das unsere koloniale Herrschaft verursachte, unserer Rolle im Spiel der Kräfte, das den Ersten Weltkriegs ausbrechen ließ. Man­ gel an Erinnerung, an Demut, an Selbst­ erkenntnis ist für eine Bevölkerung eben­ so fatal und folgenschwer wie für einen einzelnen Menschen, und Großbritannien leidet an genau diesen Mängeln, diesen Unterlassungssünden – viele werden so­ gar gefördert, da jetzt die letzten Reste des Empires ihre Freiheit erringen und England seine Geschichte und seine Kul­ tur neu betrachten und bewerten muss. Diese Neubewertung könnte enorm po­

sitiv sein und mit Bildungsinitiativen einhergehen, die an die Zeit von 1914 bis 1918 erinnern. Doch gewisse einflussrei­ che Kräf­te wollen lieber blinden Patrio­ tismus, militär­ische Wertvorstellungen, die Vorherrschaft einer bestimmten Re­ ligion und einer bestimmten Weltanschau­ ung bestärken – die Sorte Mythen und Schimären, die so viele junge Männer so schlecht vorbereitet und so grundlos in die Schützengräben getrieben haben. Ich wäre sehr froh, wenn mithilfe des Projekts „August 1914“ eine neue Gene­ ration einen Blick auf diesen vielleicht ersten wahrhaft industrialisierten Krieg werfen und einige der vielen Lehren da­ raus ziehen könnte, die er bereithält. Ich würde selbst gern mehr über eine Epoche lernen, in der eine gesamte Bevölkerung sich auf eine Erfahrung einlassen wollte, die eine ganze Nation verändern sollte: die Beschäftigungsverhältnisse, die Rolle der Frau, die Stellung des Militärs, die Be­ deutung der Arbeiterklasse, die Aufgabe der Regierung. Ich würde gern sehen, wel­ che Keimzellen der Veränderung bereits vorhanden waren und welche erst das fol­ gende Blutbad hervorbrachten. Ich würde gern erfahren, welche Rolle Schottland und Glasgow dabei spielten – wie einer­ seits die Tradition des Dienstes fürs Em­ pire fortgeschrieben wurde, wie sich an­ dererseits die Dynamik des Verhältnisses zwischen Schottland, Großbritannien und dem Empire wandelte. Ich würde gern näher betrachten, wie leicht ein ganzes Volk sich zur Schlach­tbank führen ließ. Ich würde gern entdecken, was ich noch nicht weiß und nicht erwarte, und her­ ausfinden, welche Erfahrungen Glasgow mit anderen europäischen Städten teilt. Aus dem Englischen von Ingo Herzke

A. L. Kennedy, geboren 1965, ge­hört zu den namhaftesten Autorinnen Großbritanniens. Sie hat mit ihren Short-­ Story-Sammlungen und Romanen mehrere Preise gewonnen, darunter den Sommerset-Maugham-Award. 2005 erschien bei Klaus Wagenbach ihr Roman „Paradies“ („Paradise“), für „Day“ (Klaus­Wagenbach 2007) erhielt sie den COSTA Book Award in der Sparte Novel. Zuletzt erschien 2012 ihr Roman „Das blaue Buch“ („The Blue Book“) bei Carl Hanser. A. L. Kennedy lebt in Glasgow.

Januar 2013, August 1914 Marcel Beyer

Da standen wir also jetzt Anfang Ja­ nuar 2013 im sanften Dresdner Nieselre­ gen und betrachteten Soldatenpenisse. In schwarz-blau angelaufener Bronze. Auf bronzenen Gedenktafeln für die Gefal­le­ nen des Ersten Weltkriegs. Mit Studierenden aus Hildesheim, die zur Stadterkundung nach Dresden ge­ kommen waren, hatte ich den Sowje­ tischen Garnisonsfriedhof am Rand der Dresdner Heide besucht, weitab jener his­ torischen oder in historisierender Ab­

sicht zurechtgemachten Stätten, an de­ nen man ständig fürchten muss, Guido Knopp beim Dreh zu stören. Während der sowjetische Friedhof für mich, aus dem Westen kommend, Mitte der neunziger Jahre eine Entdeckung war, die mir aller­ nächste und doch rasch verschwindende Geschichte vorführte, mit kyrillischen Beschriftungen und allnächtlich von den Wildschweinen angerichteten Verwüst­un­ gen, überlegte ich nun allerdings, ob die Ehrenmale und Sowjetsterne den ‚Hildes­ heimern‘, eine Generation jünger als ich, womöglich ein bisschen zu Goodbye Lenin vorkamen, Requisiten, angesichts derer vielleicht ältere Herrschaften – Eltern, Lehrer, Bundestagsabgeordnete – mit wohligem Grusel Tränen lachen, doch nichts, was einen Zwanzig-, Fünfundzwan­ zigjährigen berührt. Nachdem wir die Inschriften, so gut es uns eben gelang, entziffert und ange­ sichts frischer Plastikblumen auf den Kin­ dergräbern gestaunt hatten, schlug je­ mand aus der Gruppe vor, wir sollten uns auch den auf der gegenüberliegenden Stra­ ßenseite liegenden Nordfriedhof anschau­ en, den früheren Garnisonsfriedhof der sächsischen Armee. Dort stießen wir auf eine Anlage, die wirkte, als hätten Wal­ dorfschüler versucht, mitten im Wald das Berghain nachzubauen. Der sogenannte Ehrenhain, von 1917 bis 1920 zur Erinne­ rung an die Gefallenen des Großen Krie­ ges angelegt. Schon aus der Ferne stach uns der in großen Buchstaben in den Stein gemei­ ßelte Gedenkspruch ins Auge – nicht etwa in der heute für alles grob als ›histo­ risch‹ Markierte vorbehaltenen gotischen, sondern in einer zarten, klaren, serifen­ losen Schrift, zu unserer Verwunderung entschieden modern. Im ersten Moment meinte ich sogar, der Gedenkspruch ver­ weise ausdrücklich auf die Moderne, las ich doch das Wort MODERN, bis die ­Studierenden mich aufklärten, es heiße MAG DER STAUB GEFALLNER HEL­ DEN MO­DERN, was sich auf IHRES RUH ­M ES FLAM ­M ENZÜGE LODERN reimt. Ein nun wieder entschieden nicht in die Moderne reichendes Zitat, aus Theodor Körners „Auf dem Schlachtfel­ de von Aspern“ von 1812. Die deutsche Geschichte, schien es, war schon immer auf merkwürdig unheilvolle Weise in sich selber verdreht – Anfang des zwanzigs­ ten Jahrhunderts nimmt man Zuflucht zu einem Gedicht aus Napoleonischer Zeit, als ließe sich das unfassbare Ge­ schehen des Ersten Weltkriegs am ehes­ ten noch in alten Versen bannen, die heu­ te, wieder hundert Jahre später, niemand mehr kennt. Der Ehrenhain beschränkt sich nicht auf ein von einer Mauer gesäumtes Grä­ berfeld, er umfasst auch ein Gebäude, das sich über eine Treppe erklimmen lässt, als sei es ein Haus, dessen Fensterlöcher mit Bronzeplatten abgedichtet wurden. Wir sahen Reichskriegsadler, Sturmtruppen, Stabhandgranaten, von elektrischen Blit­ zen umkränzte Stahlhelme und nackte Männer, in Gruppen dicht aneinanderge­ drängt, zu dritt ein Geschütz bedienend, seltsam ineinander verschlungen, auf das Groteskeste mit Stahlhelmen bekleidet. Die Anlage hatte die Anmutung eines Darkrooms unter freiem Himmel. Eine Funktion, die, nebenbei gesagt, zumindest der Sowjetische Garnisonsfriedhof ge­gen­


13 über zu DDR-Zeiten tatsächlich erfüllte. Lafetten, Stahlhelme, junge Männer mit bloßem Penis, dazu ein Reim von Körner – und das soll der Erste Weltkrieg gewesen sein, wie man ihn uns, den zu­ künftigen Generationen, zur Erinnerung darbietet? Angesichts der zweifellos von verdien­ ten Bildhauern mit Verve und Akribie nach heroischen antiken Vorbildern je individuell geformten Penisse wäre es mir unpassend erschienen, hätte ich darauf hingewiesen, eine meiner Erfahrungen sei es, für den Schreibenden bestehe die Auseinandersetzung mit Geschichte nicht etwa, wie gerne behauptet, aus einem Le­ bendigmachen von Totem, sondern da­ raus, solchen Momenten, Bildern, Verhal­ tensweisen nachzuspüren, die aus der Ver­gangenheit in unsere Gegenwart hi­ neinleben, ohne dass wir auf Anhieb eine Erklärung dafür haben. Aber ich glau­be, auf eine im besten Sinne diffuse Weise dachte das in diesem Moment ohnehin jeder in unserer Gruppe, während wir auf weichen Fichtennadelkissen zum Ausgang trotteten, durch eine dunstige Welt. Marcel Beyer, geboren 1965, ist Schriftsteller. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Romane „Flughunde“ (Suhrkamp 1995), „Spione“ (DuMont 2000) und sein zuletzt erschienener Erzählband „Putins Briefkasten“ (Suhrkamp 2012). Er wurde mit zahl­reichen Preisen geehrt, darunter dem Erich-­ Fried-Preis, dem Friedrich-­H ölder­lin-­ Preis sowie dem Joseph-­­Breitbach-Preis. Er lebt in Dresden.

Presse g­ eschichte

Es wurde also nicht nur Pressepolitik gemacht, sondern auch Pressegeschichte geschrieben. Der Krieg erhöhte den Hun­ ger nach Bildern, und deshalb veränder­ ten sich die Zeitungen. Die Erfahrung der Zensur veränderte das Selbstverständnis der Redaktionen und bereitete die kurze Blüte des deutschen Journalismus wäh­ rend der Weimarer Republik vor. Gleich­ zeitig entfremdete die nationalistische Stimmung unter den Wissenschaftlern viele ehemalige Autoren ihrer publizisti­ schen Foren. Solche Entwicklungen sind weitaus mehr als nur historische Fragen; sie rüh­ ren an das, was deutscher Journalismus heute noch ist. Im Ersten Weltkrieg wur­ de bereits ausprobiert, was der National­ sozialismus später während seiner Herr­ schaft perfektionieren sollte: die zentrale Lenkung der gesamten Presse. Als Reak­ tion darauf wurde die „vierte Gewalt“ nach 1945 in den westlichen Besatzungszonen auf eine neue Grundlage gestellt, während entsprechende Hoffnungen in der sowjeti­ schen Besatzungszone schnell enttäuscht wurden. Heute herrscht im Journalismus eine solche Vielfalt vor, dass man sich kaum mehr vorstellen kann, was es bedeu­ tete, als 1914 die Zeitungen auf Staatskurs gebracht wurden. Doch am Prinzip der gelenkten Information in Kriegszeiten hat sich nichts geändert, und man wird deren Gefahren für die Gesellschaft nur verste­ hen, wenn man auch ihre Genese kennt. Andreas Platthaus, geboren 1966, Journalist und Autor, arbeitet seit 1997 als Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seit Januar 2002 ist er stellvertretender Feuilletonchef. Seit 1998 erschienen mehrere Bücher, da­ runter zuletzt „Alfred Herrhausen – Eine deutsche Karriere“ (Rowohlt 2006) sowie 2009 sein erster Roman „Freispiel“, ebenfalls bei Rowohlt. Er lebt in Leipzig.

Andreas Platthaus

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, be­ fand sich ein großer Teil der deutschen Journalisten in den Sommerferien. Sofern sie sich nicht in Ländern aufhielten, die nun Kriegsgegner waren, eilten sie so schnell wie möglich an ihre Schreibtische zurück – und schrieben zunächst über­ wiegend Propaganda, weil sie die politi­ sche Entwicklung nur aus der Ferne ver­ folgt hatten. Lediglich vereinzelte Stim­ men, darunter als wichtigste Theodor Wolff, der Chefredakteur des „Berliner Tage­blatts“, warnten sofort vor dem nati­ onalen Überschwang und der zweifelhaf­ ten Legitimation des Kriegs. Im Deutschen Reich wurde eine Pres­ sezensur etabliert, die mehr als vier Jahre lang gelten sollte und jeden kriegsrele­van­ ten Artikel zustimmungsbedürftig ma­ch­te – wenn auch bisweilen erst nach Druckle­ gung. Wolff nannte das Verhalten kriti­ scher Journalisten einen „Tanz zwischen Dornspitzen“. Und doch ist es faszinie­ rend, die Wandlungen der Pressestimmen im Verlauf des Ersten Weltkriegs zu ver­ folgen. Sie waren damals die einzige In­ formationsquelle, und da Zeitungen aus Feindesland nicht importiert werden durf­ ten, blieb als Korrektiv zur deutschspra­ chigen Presse nur das, was in den Blättern neutraler Staaten stand. Es war im begin­ nenden Zeitalter der Massenmedien die erste umfassende Lenkungsmaßnahme.

Eintausend neunhundert vierzehn Ursachen Sreten

Die aktuelle Krise in Europa wird zu Unrecht auf ihre ökonomischen und po­ litischen Aspekte reduziert. Ein solcher Zugang ist nicht falsch, aber offensicht­ lich nicht ausreichend für eine gründli­ che, produktive und langfristige Lösung. Die Mangelhaftigkeit des aktuellen Zu­ gangs manifestiert sich auch als Feigheit angesichts einer Herausforderung, die seit jeher besteht, aber seit Jahrzehnten vernachlässigt wird, nämlich der Heraus­ forderung, die europäischen Grundwerte einer gründlichen Revision zu unterzie­ hen ebenso wie die Varianten der his­ torischen Darstellung. Wovor haben wir eigentlich Angst? Die Dialektik der symbolischen Infra­ struk­tur Europas stößt stumme Hilfe­ schreie aus, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Die Prinzipien, Ideen, Motive, Interessen, Glaubensinhalte, Erzähl­ungen und Bilder, auf denen Europa aufgebaut

ist und weiterentwickelt wird, sind iden­ tisch mit jenen, die Europa in Frage stel­ len, destabilisieren, desorientieren und zerstören. Das ist aufregend und riskant, vielversprechend und bedrohlich. Bestä­ tigt wird dies durch die zahlreichen euro­ päischen Reiche, visionären Bewegungen, wissenschaftlichen Paradigmen, Klassen, Glaubensrichtungen, Nationen und euro­ päischen Persönlichkeiten, die Höhenflü­ ge und Tiefpunkte erlebt haben, immer und immer wieder. Ist es zum Beispiel möglich, eine aussagekräftige und erhel­ lende Matrix aus den zahl­reichen Ähn­ lichkeiten zwischen Österreich-Ungarn, Jugoslawien und der Euro­päischen Union abzuleiten? Über den Ersten Weltkrieg zu schrei­ ben bedeutet, über Europa zu schreiben. Europa bedingt und verlangt ein ständi­ ges Neu-Verstehen, Neu-Definieren, NeuErfinden. Ohne eine solche Kultur exis­ tiert Europa nicht. Der Erste Weltkrieg ist ein europäisches Phänomen, in allen drei zeitlichen Inkarnationen: im Hinblick auf die Zukunft Europas, im Hinblick auf die Gegenwart des Krieges, der viele Men­ schenleben forderte, und auch im Hin­ blick auf die Vergangenheit, aus welcher der Weltkrieg resultierte. Für die Europä­ er bedeutet eine Auseinandersetzung mit diesem Phänomen eine Auseinanderset­ zung mit sich selbst. Die Ursachen und die Folgen des Ersten Weltkriegs entste­ hen in und wegen der jeweils unterschied­ lichen historischen Darstellungsweisen, in und wegen der widersprüchlichen Grund­ voraussetzungen Europas. Jeder Schrift­ steller ist motiviert, nach Geschichten und Bildern zu suchen, die diese Dialektik darstellen und verständlich machen. Was in der einen Variante der histo­ rischen Darstellung als Ursache beschrie­ ben wird, gilt in einer anderen als Anlass. Was in der einen Variante erinnert wird, fällt in einer anderen dem Vergessen an­ heim. Was in der einen Variante als mora­ lische Rechtfertigung zelebriert wird, dient in der vierten Variante als moralische Verurteilung. Was in der einen Variante intensive und stürmische Emotionen her­ vorruft, wirkt in einer fünften Variante versteinert und seelenlos. Was in der einen Variante als das Wichtigste gilt, wird in einer sechsten Variante als zweitrangig an den Rand gedrängt oder überhaupt als nichtig abgestempelt und vernachlässigt. Was uns in der einen Variante als die ein­ zige, unüberbrückbare Realität entgegen­ kommt, können wir in der siebten Varian­ te erfinden, müssen wir aber nicht. Was uns in der einen Variante bekannt und naheliegend erscheint, zeigt sich uns in der achten Variante fremd und unnahbar. Was in der einen Variante einen allgemei­ nen Fortschritt und einen Blick über den Horizont hinaus erlaubt, zwingt uns in der neunten Variante zu Rückschritt und Verfall. Was in der einen Variante als Frei­ heit erscheint, ist in der zehnten Variante Untertänigkeit. Was in der einen Variante unmöglich erscheint, ist in der elften Va­ riante die einzige Gewissheit. Was in der einen Variante das menschliche Schicksal zu tun vermag, ist in der zwölften der reinste Zufall. Was in der einen Variante Europa ist, ist es in der dreizehnten nicht. Was in der einen Variante die Welt ist, ist in der tausendneunhundertvierzehnten ebenfalls die Welt. Aus dem Serbischen von Mascha Dabić

Sreten (Ugričić), geboren 1961, ist Schriftsteller, Philosoph und Biblio­the­ kar. Er ist bekannt für seine kritische Haltung und sein politisches Engagement – als Schriftsteller ebenso wie als Leiter der Serbischen Nationalbibliothek, der er fast elf Jahre vorstand. Im Januar 2012 wurde er in einem Akt staatlicher Willkür seiner Position enthoben. Er hatte sich für Meinungsfreiheit eingesetzt, was dazu führte, dass man ihn von staatlicher Seite des Terrorismus bezichtigte. Er verließ daraufhin Serbien. Sein jüngstes Werk „An den unbekannten Helden“ („Neznanom junaku“, 2010) wurde im Dittrich Verlag ins Deutsche übersetzt. Nach Stationen ­in der Schweiz und in Österreich lebt ­Sreten heute in Palo Alto, Kalifornien.

August 1914 Internationales Autorenprojekt

Das Netzwerk der Literaturhäuser bittet in- und ausländische Schrift­ stellerinnen und Schriftsteller, zum Ausbruch des Er­sten Welt­ krieges historische Quellen aus dem August 1914 in verschiede­ nen deutschen, aber auch euro­ päischen Städten (von Paris über St. Petersburg bis nach Istanbul) in unterschiedlichen Medien zu re­ cherchieren und ihre Ergebnisse in Essays darzulegen: Was hat die Men­ schen im August 1914 bewegt? Wie wurde der Kriegsausbruch wahrge­ nommen und kommentiert? Es soll ein facettenreiches Bild der Stim­ mungslagen, Konfliktlinien und Ar­ gumente im August 1914 entworfen werden, aus dem am Ende ein Buch mit Essays über die damalige Situa­ tion in insgesamt 22 europäischen Städten entstehen soll. Das Projekt möchte ganz gezielt Betrachtungs­ weisen auch aus solchen Ländern berücksichtigen, die militärisch am Ersten Weltkrieg nicht beteiligt wa­ ren. Auf diese Weise lässt sich heute eine gesamteuropäische Dimension des Krieges nachvollziehen. Eine zweitägige Tagung in München mit allen Projektbeteiligten bildet den Auftakt im Mai 2014, gefolgt von diversen Lesungen und Gesprä­ chen in den Literaturhäusern im deutschsprachigen Raum. Künstlerische Leitung: Ernest Wichner Künstler/innen: Marcel Beyer, Melitta Breznik (CH), Mircea Cărtărescu (RO), Dževad Karahasan (BA), A. L. Kennedy (GB), Melinda Nadj Abonji (CH), Ulrich Peltzer, Katrin Seddig, Sreten Ugričić (CS) u.a. Tagung München: 22.–23.5.2014; Literaturhäuser Berlin, Hamburg, Rostock, Köln, Stuttgart, München, Leipzig, Salzburg, Graz, Basel, Zürich: 26.5.–6.6.2014 ↗ www.literaturhaus.net


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„Die OPFER TIERE sind knap geworde Signale durch Raum und Zeit: Stephan Schlak im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler über die Aktualität des Ersten Weltkrieges, einen Heuschober in Galizien, romantische Täuschungen und über die Wiederkehr des guten Krieges in der Debatte um den Einsatz von Drohnen.


RE pp n“

15 Warum ist der Erste Welt­ krieg heute noch eine politische Herausforderung?

men Aufstand in ein sanftes romantisches Frühjahrslicht getaucht. Damit haben wir uns über das Bedrohliche dieser Dynamiken hinweggetäuscht. Die Semantik hat die Gewalt weggezaubert. Eigentlich konnte man das wissen, dass auf uns Jahre der Gewalt und Instabilität zukommen, wenn man nicht die deutsche Revolution von 1989, sondern die Franzö­ sische Revolution zur Folie gemacht hätte. Wir haben es mit einer Dynamik zu tun, bei der keiner sagen kann, wie die Ansprüche der arabischen Massen in diesem Raum befriedet werden sollen. Dass die Muslimbrüder schon nach einem Jahr an wirtschaftlichen Problemen scheitern, zeigt die Größe der Probleme. Es zeigt aber auch, was da auf uns zukommt. Das Problem ist, dass die Europäer ihre materiellen Ressourcen auf ihrer eigenen Seite des Mittelmeers verpulvert haben, für die Griechen, Zyprier und andere. Nun sind sie nicht mehr in der Lage, auf der gegenüber­ liegenden Küste im großen Stil Zeit zu kaufen, was die revolutionären Prozesse entzerren könnte. Wenn aber die politischen und sozialen Dynamiken zusammenfließen, dann wird die Revolution kataklysmisch, dann ist nicht 1989, sondern 1789 die Blaupause der Entwicklungen.

Stephan Schlak

Er bleibt eine Herausforde­ rung, weil ihn eigentlich keiner gewollt hat. Da ist dieser Krieg ganz anders als der Zweite Weltkrieg, den politiktheoretisch zu analysieren ungeheuer langweilig ist: Er konzentriert sich auf zwei, drei Akteure und ihre sinistren Absichten. Der Erste Weltkrieg ergibt sich aus dem Zusammenwirken durchaus wohlgesinnter Akteure mit ganz unterschiedlichen Absichten. Daher bleibt die Frage: Kann sich so etwas wiederholen?

Herfried Münkler

Aber ist uns der Erste Weltkrieg nicht erst einmal unheimlich fern gerückt. Die Begeisterung für den Krieg, die nationalistische Emphase, die hero­ische Kultur – verbindet diesen Krieg nicht mehr mit dem 19. Jahr­ hundert als mit den Kampfzonen und asymmetrischen Kriegen unserer Tage?

StS

Natürlich trennen uns lange hundert Jahre von diesem Krieg. Aber das Spannende ist, in welcher Weise er selbst als ein Beschleuniger gewirkt hat. Als die Einheiten 1914 in die Schlacht ziehen, um in den dichten Massen des Infanteriestoßes anzugreifen, folgen sie einer Vorstellung des Krieges, die noch den Befreiungskriegen vergleichbar ist. Aber spätestens mit Verdun, im Frühjahr 1916, verändert sich das Erscheinungsbild der Soldaten, die Kampfweise, die Infanterietaktik. So weist dieser Krieg auf der einen Seite bis nach 1812 zurück, auf der anderen Seite schon weit ins 20. Jahrhundert voraus: vom Stahlhelm über den Panzer bis zum Jagd- und Bombenflugzeug. In den jugoslawischen Zerfallskriegen der neunziger Jahre wurden im Übrigen schemenhaft die Konfronta­ tionslinien von 1914 wieder sichtbar. Die Franzosen hatten eine Neigung, den Serben die UN-Pläne zu verraten, weil sie verhindern wollten, dass der deutsche Einfluss wieder bis zur alten österreichischen Militärgrenze reicht. In der gegenwärtigen Lage sind es die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen postimperialen Räume des Nahen und Mittleren Ostens, die uns Europäern zumindest auf die Füße fallen können. Deutschland als der Macht in der Mitte kommt dabei eine ungeheure Bedeutung zu, nur ist sie nicht mehr militärischer sondern ökonomischer Art. Es kommt nicht von ungefähr, dass in den südeuro­pä­ ischen Ländern von der politischen Linken bis zur Rechten die Karte vom „Feindbild Deutschland“ gespielt wird.

HM

StS

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Durch die permanente Beobachtung der Sorgenkinder des europäischen Wirtschaftsgürtels – Griechenland, Zypern – sind uns der Nahe und Mittlere Osten, die eigentlich brisan­ ten politischen Peripherien aus dem Blick geraten. Die demo­kratischen Hoffnungen, die mit der Arabellion verbunden waren, haben zuletzt Rückschläge hinnehmen müssen. Wir haben mit dem Begriff Arabischer Frühling diesen durchaus gewaltsa-

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nerung haben. Ich selbst bin als Kind viel bei meiner Großmutter gewesen, die mir sehr häufig von ihrem Ver­ lobten erzählt hat, der 1917 irgendwo in Galizien gefallen ist. Dieser Onkel war für mich eine ganz präsente Gestalt. Genauso wie der Heuschober in Galizien, in dem seine Kompanie einen Artillerie-Volltreffer bekommen hat. StS

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In Deutschland scheint der Erste Welt­krieg als politisches Argument in der Rhetorik kaum mehr eine Rolle zu spielen. Die moralischen und ge­ schichtspolitischen Energien wurden in der Nachkriegszeit weit­gehend vom Zweiten Weltkrieg absorbiert.

Was Sie über Deutschland sagen, das gilt in dramatischerer Weise für Russland, wo die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gänzlich verschwunden ist. Er ist überlagert durch den Bürgerkrieg bis 1922 und den großen „Vaterländischen Krieg“, also den Zweiten Weltkrieg. Während es eine eigentümliche osteuropäische Zone zwischen Helsinki, Warschau und Prag gibt, für die der Erste Weltkrieg der Anfang der nationalen Wieder­ geburt gewesen ist – das darf man nie vergessen. Wenn wir nach Westen schauen, sieht die Lage wiederum ganz anders aus. Da ist er tatsächlich bis heute der „Große Krieg“ – dem deutschen Ordinal-Zahlensystem, I. und II. Weltkrieg, hat man sich dort nur sehr unwillig angeschlossen. Die französischen Verluste im Krieg von 1914 bis 1918 waren ungeheuer – auch die britischen waren doppelt so hoch als die des gesamten Zweiten Weltkrieges. Für England und Frankreich bleibt der „Große Krieg“ das markierende Ereignis der jüngeren Geschichte, in dem eine ganze Gene­ ration ausgeblutet ist.

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Ernst Jünger hat seinen Besuchern noch seinen durchschossenen Helm aus dem Grabenkrieg zeigen können. Wie ändert sich der Blick durch das Wegsterben der letzten Zeitzeugen? Der Krieg hat sich in einem dramatischen Sinne historisiert. Das schließt aber nicht aus, dass es noch ganz viele gibt, die eine vermittelte Erin­

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Wie wahrscheinlich in einem eminen­ ten historischen Sinne war dieser Krieg? Hatte das Jahrhundert – kon­ trafaktisch gefragt – einen Plan B? Oder war der Krieg am Anfang des Jahrhunderts unvermeidlich zur Ab­ kühlung der bellizistischen Energien? Es war wohl ziemlich unwahrscheinlich, dass das 20. Jahrhundert in Europa ganz ohne Krieg ausgekommen wäre. Aber es hätten vielleicht Kriege sein können wie die des 19. Jahrhunderts, bei denen die Konflikte lokalisiert blieben, wie ja auch noch bei den Balkankriegen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Aber das Zusammenfließen der Konflikte gen Südosteuropa mit Rivalitäten zu Westeuropa, die kataklysmischen Effekte wären nicht eingetreten. Wenn man den Krieg als nicht zwangsläufig betrachtet, sondern die ungeheuren Kontingenzen bedenkt, die bei seinem Beginn und seinem Verlauf eine Rolle gespielt haben, dann kommt man zu dem Ergebnis: Die wirkliche Dramatik des 20. Jahrhunderts besteht darin, dass sein Verlauf durch eine Abfolge von Fehlkalkulationen und Führungsfehlern bestimmt ist. Mehr Weitsicht, geschicktere Kalküle, weniger politische Romantik hätten vermutlich dazu geführt, dass alles anders verlaufen wäre – etwa wenn man den Krieg im Herbst 1914 beendet hätte. Das macht es natürlich schwer, heute damit umzugehen. Wenn man allein auf die Geschichte des Attentats von Sarajewo schaut: eine Abfolge von Zufällen und Schlampigkeiten. Erstaunlich, dass der Attentäter überhaupt zum Schuss gekommen ist, eigentlich ganz unwahrscheinlich.

Die Begeisterung für den Waffengang war 1914 ja ein gesamt­europäisches Phänomen. Wie konnte sich in bürgerlicher Zeit eine solche Begeis­ terung für den großen Opfergang, das große reinigende Gewitter des Krieges entfachen? Ein wichtiger Grund war der Kraftverlust des Fortschrittsbewusstseins. So erklärt sich auch der verstörende Eindruck von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“, in Paris 1913 urauf­ geführt. An die Stelle des Fortschritts tritt die Idee der Regeneration durch das große Opfer. Die Ordnung kann nur gewahrt werden durch Opfer. Und der Erhalt der eigenen Position verlangt Opfer. Vor allem die Mittel­ schichten, die den Glauben an den Fortschritt verloren haben, hängen dieser Idee an. Es kommt nicht von ungefähr, dass bei Friedrich Meinecke und vielen anderen Sinndeutern um 1914 das Opfer eine große Rolle spielt.


16 der Religion von der Ökonomie, die Auflösung des Opfers in den Tausch: Was kriege ich denn dafür? Zum Opfer des Lebens gibt es in unserer Gesellschaft, die ja nur leben, leben und weiter leben will, kein Äquivalent.

Politische Romantik Eine interdisziplinäre Konferenz der Kultur­ stiftung des Bundes in Kooperation mit dem Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt / Main

Als geschichtspolitischer Sprengsatz hat der Erste Weltkrieg seine Kraft weitgehend eingebüßt. In un­ serer (deutschen) Erinnerungskultur spielt er kaum noch eine Rolle. Und dennoch scheint jene von Ter­ roranschlägen und flackerigen Börsennachrichten aufgepeitschte Atmosphäre um 1914, mit der die verhängnisvolle Dramaturgie des 20. Jahrhunderts begann, wie ein Fatum über unseren Jahren zu lie­ gen. In welchen Spiegel schauen wir, wenn wir im Frühjahr 2014 den Blick hundert Jahre zurückrich­ ten? Jugendbewegter Romantizismus und patrioti­ sche Machtpolitik gingen zur Zeit des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs unter dem ­Signum „Politi­ sche Romantik“ eine folgenreiche Affäre ein. Wir fragen, was hundert Jahre später im Zeitalter von europäischer Einigung und Globalisierung davon überlebt hat, und wie wir politische Romantik heu­ te bewerten.

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Frankfurt/Main: 10.–12. April 2014

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Im Ersten Weltkrieg sind es vor allem die demokratischen Mächte, die das Opfer am Gemeinwesen einfordern, alle Kräfte entfesseln und total mobilmachen.

Je politisch rückständiger die Staaten sind, wie die Staaten Osteuropas, desto weniger sind sie politisch handlungsfähig. Die Selbstmobilisierung der Gesellschaft fand hier nicht mit einer vergleichbaren Nachhaltigkeit statt, wie in den demokratischen und halbdemokratischen Regimen des Westens. Deutschland ist ein interessanter Fall, weil auf der einen Seite das Wahlrecht zum Reichstag das demokratischste überhaupt war, auf der anderen Seite aber die Regierung nicht im Reichstag gebildet wurde, sondern vom Vertrauen des Kaisers abhing. – Mit dem Ende des Krieges ist die heroische Gesellschaft eigentlich vorbei. Sie beginnt für mich 1792 mit der Levée en masse, zwischen der Revolution und den Befreiungskriegen von 1813. Der König rief und alle kamen. Mehr als ein Jahrhundert existierte die Vorstellung des Bürgers als Soldaten. Schon der Zweite Weltkrieg ist kein solcher Krieg mehr. Die Franzosen kämpfen nicht, die westlichen Länder wissen, dass sie sich keine Massenschlachten mehr erlauben können. Mit großen Verlusten arbeiten eigentlich nur die totalitären Regime. Das kaiserliche Japan, das Deutsche Reich und natürlich das bolschewis­ tische Russland waren es, die die größten Opferzahlen produziert haben. Das waren die Gemeinschaften, die in die Gesellschaft eingeschmolzene Ideologien hatten, um noch heroisch sein zu können. Die westlichen Demokratien waren das nicht. Die Vielen hatten hier einigen Wenigen alles zu verdanken, wie Churchill über die Flieger in der „Luftschlacht um England“ gesagt hat.

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Vor dem Horizont, dass einmal Massen­sterben, aktives Opfer und Demokratie miteinander verschmol­ zen, scheinen wir heute das umge­ kehrte Problem zu haben. Dass die westlichen Demokratien kaum mehr kriegsfähig sind, da es keine aktive Opferbereitschaft mehr gibt. Da kommen mehrere Gesichtspunkte zusammen: Der Anteil der Söhne ist zurückgegangen, überhaupt die demografische Reproduktionsrate. Für General von Falkenhayns Idee des Ausblutens bei Verdun spielt ja noch die schlichte demo­grafische Tatsache eine Rolle, dass Deutschland eine höhere Reproduk­tionsrate hatte als die Franzosen. Das zählt heute nicht mehr, die Opfertiere sind knapp geworden.

Anders in der arabischen Welt …

Ja, und die ist auch noch dazu reli­ giös heiß, im Unterschied zu unseren Gesellschaften. Diese jungen Leute fehlen im Westen – oder wenn man es kälter formulieren will: In jedem Kind ist bei uns viel zu viel emotionales Kapital gebunden, um von den Eltern in den Krieg geschickt zu werden. Und zweitens sind wir religiös erkaltet. Für die emotionale Mobilisierung kann man die Bedeutung der Pfarrer und aller, die eine religiöse Sprache zu sprechen in der Lage sind, gar nicht überschätzen. Diese sakrale Sprache, in der die Zumutung des Opfers, des victima, in ein freiwilliges Opfer, ein sacrificium, ein Opfer für den Herrn oder die Idee umgewandelt wird – das ist für mich das Fremdeste, was einem in der Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg begegnet. Es fällt mir ungemein schwer, die evan­gelische Kirche von heute in einer Kontinuität zu denken mit der von 1914. Wer soll die Opfervorstellung denn sonst generieren, wenn nicht die Religion? Es gab eine Ablösung

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Der Krieg hat ja auch einen Widerhall in der Sprache, in den heroischen Ausdrucksformen, in der Lust an Dichotomien und expressiven Begriffen. Wie weit war er eine Brutstätte für die politische Roman­ tik der späteren Jahre? Nun ist vor 1914 die Romantik nicht sonderlich politisiert. Es gibt so etwas wie ein starkes romantisches Bedürfnis, das sehr viel zu tun hat mit der Modernisierung der Welt, der Durchsetzung der Arbeitsteiligkeit, der Enttäuschung der romantischen Hoffnungen, die von Wackenroder, Tieck und anderen am Anfang des 19. Jahrhunderts artikuliert worden sind. Wenn wir etwa an den Wandervogel denken: Die Jugend bricht zwar mit der bürgerlichen Wohlbehütetheit, dem Plüsch und derlei mehr – aber das sind alles Vor­ gänge, von denen wir heute, mit der Erfahrung der Bundesrepublik im Rücken sagen können: Dazu bedarf es keines Krieges. Andererseits ist der Krieg ein Angebot für das Ausleben romantischer Vorstellungen. Für die Generation des Wander­ vogels Walter Flex ist Krieg: bewaff­ nete Jugend auf großer Fahrt. Eingeschlossen ist die Erfahrung von Gemeinschaft und Kameradschaft. Ein Leben jenseits der kalten Rationalität der kapitalistischen und geld­ vermittelten Welt. Das sind Erfahrungen, die im Lichte der Romantik ausgedeutet werden können. Die Ideen von 1914 sind der Versuch, aus der sich ausbreitenden Kälte der modernen Welt wieder in die Wärme bestimmter Organisationsstrukturen zurückzukehren. Man könnte auch dramatisch sagen: Diese Politische Romantik ist die Lektüre des ersten Teils des Kommunistischen Manifests unter Weglassung des zweiten Teils. Die Diagnose des ersten Teils wird geteilt: Die Entzauberung der Welt, alles Heilige verdampft etc. Aber das Proletariat taucht nicht als Retter auf. Sondern das Ziel wird in einer Re-Verzauberung gesehen. Max Weber wusste da wohl qua Introspektion relativ gut Bescheid. Der Krieg gene­­ riert Erfahrungen, die auf der einen Seite radikal antiromantisch sind, auf der anderen Seite bietet er aber auch eine Fülle von Möglichkeiten für politische Romantisierungen. Insofern zieht er wie ein Fleischwolf alles in sich herein und mischt es wild durch­ einander. Was herauskommt, ist für die Weimarer Republik ein ungeheurer Sprengsatz.

Viele junge Kriegsbegeisterte gehen als romantische Jünglinge in den Krieg, den Tornister gefüllt mit Aben­teuergeschichten – und sehen dann, wie ihre idealistischen Vor­ stellungen von einem guten alten ritterlichen Krieg im Grabenkampf zermahlen werden.

Diese Vorstellung eines „guten“ und „schönen“ Krieges taucht in der aktuellen Kriegsdebatte an einer Stelle auf, wo man es gar nicht ver­ mutet hätte – bei den Kritikern der Drohnen. Sie argumentieren, als seien sie die letzten Repräsentanten der heroischen Gesellschaft und eines heroischen Geistes, im Sinne von „High Noon“ – beide Kombattanten sehen sich in die Augen und wer schneller zieht, hat gewonnen. Aber sie hatten gleiche Chancen. Bei der moralischen Kritik an den Drohnen ist das ja der Haupteinwand: dass die am Boden Liegenden in einem dramatischen Sinne victimae sind. Sie haben keine Chance zum sacrificium, sie sind einfach nur Opfer. Nun könnte man sagen, in mancher Hinsicht hat das schon im Ersten Weltkrieg begonnen, mit den armen Kerlen im Graben – die von den Granaten des Trommelfeuers zerschossen werden. Im Ersten Weltkrieg wurden die Helden aber noch in der Luft geboren. Sie wollten alle Flieger werden, auch Ernst Jünger zwischenzeitlich. Weil sie dort in den Lüften noch der Vorstellung nachhängen konnten, der Krieg sei ein Zweikampf. Mit der Drohne hört der Luftkampf auf, der letzte Ort des Heroischen zu sein. Der Krieger sitzt irgendwo mit seinem Joystick in einem klimatisierten Raum, vielleicht eine Cola neben sich. Aber die Gegengeschichte zur moralischen Kritik daran ist die Effektivierung des Gewalteinsatzes im Sinne einer „Polizeiaktion“. Denn die Soldaten in den klimatisierten Räumen, die die Drohnen steuern, haben einen Zu­gewinn an Zeit. Sie können überlegen: Ist das jetzt eine Kampftruppe oder doch eine Hochzeitsgesellschaft? Das ist in der Stresssituation des Gefechts, in das ich vor Ort verwickelt bin, so gar nicht möglich. Der Zeit- und Beobachtungsgewinn führen endgültig weg von der alten Duell-Vorstellung des Krieges. An seine Stelle tritt die Polizeiaktion.

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Wie kann die Drohne zur Ein­hegung der neuen Kriege beitragen? Mit der Drohne kommt die Waffen-­ Technologie der Einhaltung der Genfer Konventionen zugute. Denn natürlich ist die Wahrscheinlichkeit von Kollateralschäden bei den alten Waffen sehr viel höher. Das wird zwar nicht gerne gehört, aber alle Zahlen, die verfügbar sind, weisen daraufhin. Die Kritik an den Drohnen scheint eine Sehnsucht nach dem alten Krieg zu bedienen. Ja, man könnte sagen, sie ist auch eine Form von politischer Romantik.

Herfried Münkler, geboren 1951, lehrt politische Theorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Dezember erscheint „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ (Rowohlt Berlin). Stephan Schlak, geboren 1974, Historiker und ­Politikwissenschaftler, ist verantwortlicher Redakteur der „Zeitschrift für Ideengeschichte“.


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Am Ende aller Gewissheiten Erzählungen von Krieg und Gewalt

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Carolin Emcke

as ist an Krieg und Gewalt so schwer zu erzählen? Warum gibt es Erfahrungen, die unsere Fähigkeit, sie in Worte zu fassen, zu unterwandern scheinen? Opfer von Zerstörung und Vertreibung, von Folter und Verge­ waltigung, sprechen oft von „unbeschreiblichem“ Leid, sie formulieren das, was sie erlebt haben, nicht allein als Erschütterung ihrer moralischen Erwartungen an an­dere, sondern auch als Erschütterung ihrer erzähle­ rischen Kompetenz. Warum? Zunächst bedeutet die Wirklichkeit des Krieges ein kognitives Problem. Krieg und Gewalt irritieren. Sie drin­ gen ein in eine bis dahin intakte Lebenswelt. Sie verän­ dern eine Landschaft und eine soziale Ordnung. Sie zer­ teilen eine Gesellschaft nach ethnischen Markern, die vorher niemand kannte oder die keine politisch-existen­ zielle Relevanz hatten. Krieg und Gewalt stellen eine Anomalie dar – sie verunsichern und verwirren die­je­ nigen, die ihnen unterworfen werden. Sie ergeben keinen Sinn, lassen sich nicht mit den herkömmlichen Begriffen erfassen. Die Erlebnisse wirken seltsam entkoppelt von allem, was bisher galt, was bisher die eigene Wahrneh­ mung, die eigenen Intuitionen bestimmte. So unterwan­ dern die Eindrücke und Erlebnisse im Krieg nicht nur normative, sondern auch psychische und ästhetische Gewissheiten. Die Wirklichkeit des Krieges erscheint wie ein Zerr­ bild all dessen, was vorher zutraf. Den Opfern (und auch unbeteiligten Beobachterinnen und Beobachtern) er­ scheinen die eigenen Eindrücke gleichsam unglaub­


18 würdig. Wie sollte sich das auch begreifen lassen? Wie sollte es einleuchten, dass ganze Straßenzüge über Nacht verwüstet wurden? Wer kann sich noch orientieren, wenn nichts mehr erinnert an die Nachbarschaft, in der man aufgewachsen ist, wenn der richtungsweisende Turm nicht mehr steht oder die beruhigende Moscheekuppel zerschossen ist? Wie sollte sich das verstehen lassen? Wer würde nicht fassungslos auf Hunde starren, die mit menschlichen Gliedmaßen durch die Gegend traben? Wem würden nicht die Sinne schwinden bei dem Lärm des Bombardements, dem Beben der Detonationen, der Hitze der brennenden Gebäude? Wer würde sich nicht verloren fühlen, wenn die Orangenhaine vorm Fenster alle verbrannt, die jahrhundertealten Olivenbäume ent­ wurzelt wurden oder die Bibliothek mit den alten Foli­ anten in Trümmern liegt? Dem moralischen Entsetzen über Unrecht und Will­ kür des Krieges geht die kognitive Verstörung über eine Welt, in der alles aus den Fugen scheint, voraus. Manch­ mal hinkt das Bewusstsein den Ereignissen hinterher. Es ist, als ob sich etwas widersetzt, die irreal grausamen Geschehnisse als reale zu begreifen.

Die Erzählungen der Opfer von Krieg und Gewalt klingen oft gleichermaßen verstörend wie verstört. Zudem unterwandern Krieg und Gewalt alle norma­ tiven Erwartungen, all das, was wir moralisch für denkund vorstellbar halten: Wer wären wir auch, wenn wir so einfach glauben und verstehen könnten, dass Men­ schen einander, mit oder ohne Befehl, demütigen und quälen, einsperren oder aussperren, missbrauchen und missachten, foltern und töten? Wer wären wir auch, wenn wir uns selbst, Täter oder Opfer, in diesen Situationen wieder­erkennten? Wer wären wir, wenn wir uns oder den anderen nicht mehr vertrauen könnten ohne darüber ver­ wundert zu sein? Wer wären wir auch, wenn wir so ein­ fach glauben könnten, dass es niemanden schert, dass die Weltgemeinschaft vielleicht weiß, was geschieht, aber sie noch nicht einmal bereit ist, den Krieg „Krieg“ oder den Genozid „Genozid“ zu nennen? Neben dieser anfänglichen Verstörung über das Un­ verständliche des Krieges kommt für die Opfer das Ent­ setzen über das, was der Krieg aus ihnen macht, hinzu. Nicht nur die Landschaft um sie herum ist nicht wie­ derzuerkennen, auch sie selbst ähneln irgendwann nicht mehr der Person, die sie einmal waren. „Welt, Selbst und Stimme gehen verloren“, schreibt die amerikanische Philosophin Elaine Scarry über die Wirkungsmacht von Schmerz und Gewalt. Die Opfer des Krieges, Menschen, die von einem Tag auf den anderen zu Flüchtlingen wurden, die ihr Land, ihre Arbeit, ihre Familie, alle Dinge und Menschen, die sie geliebt haben, zurücklassen mussten, wissen nicht, wie sie anderen, die sie nur mehr als Flüchtlinge wahr­ nehmen, erzählen sollen, wer sie früher einmal waren. Die Opfer des Krieges, die von einem Tag auf den an­ deren zu Gefangenen wurden, denen keine Individualität mehr zugestanden wird, keine Intimität, keine körper­ liche Unversehrtheit, die vergewaltigt werden, Menschen, die auf einmal eingepfercht werden wie Tiere, die für demütigende Spiele drapiert und gefoltert werden nach Belieben, die aus der Luft oder dem Nachbarhaus heraus beschossen werden, Menschen, deren ganze Existenz sich aufs Überleben reduziert, wissen nicht, wie sie an­ deren diese Erfahrung mit sich selbst vermitteln sollen. Denjenigen, denen wochen-, monate-, jahrelang jede Subjektivität abgesprochen wurde, die als Indivi­ duen negiert wurden, zu denen niemand sprach außer in Befehlsform, erscheint das Sprechen seltsam fremd. Was früher selbstverständlich gelang: sich jemand an­derem in einem Gespräch zuzuwenden – erscheint keineswegs mehr selbstverständlich. Diejenigen, die jahrelang auf

Angst und Hunger reduziert wurden, können kaum glau­ ben, dass auf einmal wirklich jemand hören will, was sie zu erzählen haben. Und so klingen die Erzählungen der Opfer von Krieg und Gewalt auch oft gleichermaßen verstörend wie ver­ stört: Manche erzählen stockend nur, manche erzählen hastig, sie verhaspeln und verlieren sich, manchmal ha­ ben sie die lineare Form verloren, sie erzählen bis zu ein und derselben narrativen oder psychischen Schwel­ le, dann erzählen sie rückwärts, es gibt Brüche, Lücken, manche versinken in Schweigen, für einige Wochen oder Jahre. Für diejenigen, die der Krieg zu Tätern macht, gibt es das auch: das Entsetzen darüber, wie der Krieg die eigene Person, die eigene Psyche verformt hat. Gewalt wirkt nicht nur auf die zurück, die ihr unterworfen wer­ den, sondern auch auf die, die sie ausüben. Diejenigen, die von sich selbst nicht wussten, dass sie andere quälen und töten könnten, wissen nicht zu erzählen, was der Krieg aus ihnen gemacht hat, weil sie kaum wissen, als wer oder zu wem sie davon erzählen sollten. Es können ganz unterschiedliche Motive sein, die die Erzählung vom Krieg ermöglichen oder begrenzen: Manche Menschen erzählen, um an die zu erinnern, die nicht überlebt haben, aus Pflicht, aus Schuldgefühl viel­ leicht auch. Manche Menschen erzählen, um sich aus der erzwungenen Intimität mit denen, die sie gequält und misshandelt haben, zu lösen, weil sie das Wissen, das sie aneinander bindet, teilen und öffnen wollen. Manche er­ zählen, weil das Unrecht, einmal beim Namen genannt, weniger mächtig scheint. Manche erzählen, weil sie sich aus der Vereinzelung befreien wollen, weil sie ihre Ge­ schichte anknüpfen wollen an die anderer, weil sie sich so weniger einsam, weniger wehrlos, weniger beschämt fühlen. Manche erzählen, um der Erzählung, die über sie verbreitet wurde, eine Gegen-Erzählung entgegenzu­ setzen, eine, die sich dem Stigma widersetzt, sie erzäh­ len, um den Blick umzukehren, den Blick, der sie zu Objekten der anderen machte, zu kleinen beweglichen Punkten auf einem Monitor, zu Zahlen in einem Plan­ spiel, zu Wärme induzierenden Lichtfeldern auf einem Bildschirm, zu einem bloßen Mitglied eines Kollektivs, zu Geiseln einer Ideologie, zu kalkulierbaren, entschuld­ baren Kollateralschäden eines ansonsten angeblich legi­ timen Krieges. Manche erzählen aus Zorn über das, was sie durch­ litten haben, manche erzählen aus Zuneigung für die, die untergegangen sind, manche schweigen aus Scham über das, was ihnen angetan wurde und gegen das sie sich nicht wehren konnten, manche erzählen, um die Verbrechen gesühnt zu sehen, manche schweigen, um die eigene Entblößung nicht zu wiederholen, um die zu schonen, die ihnen nah stehen. Es sind soziale Konventionen und religiöse Über­ zeugungen, politische oder kulturelle Werte und Tabus, die die Erzählung vom Krieg leiten und begrenzen. In einer Gesellschaft, die ihre eigene Armee lediglich als Entwicklungshelfer begreift, fällt es Soldaten schwer, eine Geschichte von Tod und Zerstörung, von Ambi­ valenz und Verwirrung zu erzählen. In einer Kultur, in der das Sprechen über Sexualität tabuisiert ist, fällt es Frauen besonders schwer, eine Geschichte von sexueller Gewalt zu erzählen, der sie zum Opfer fielen, in einer Gesellschaft, in der Homosexualität kriminalisiert wird, fällt es männlichen Opfern sexueller Gewalt besonders schwer, ihr Leid zu artikulieren. Soziale Normen und kulturelle Bilder definieren und markieren die Schwellen des Erzählbaren, Vorstellun­ gen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Rang und Befehlsordnung, von Status und Klasse gehören ebenso dazu, wie die daran gekoppelten zutreffenden oder un­ zutreffenden Assoziationen und Erwartungen. Wie vom Krieg zu erzählen ist, hängt nicht nur da­ von ab, wer spricht, sondern auch davon, wem etwas erzählt wird. Denen, die verschont wurden? Denen, die weggeschaut haben? Denen, die aufgrund ihrer Haut­ farbe, ihres Glaubens, ihrer echten oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv geschützt waren oder denen, die ebenfalls vertrieben oder bekämpft wurden? Denen, die profitiert haben vom Krieg, die den fremden


19 Hof übernommen, denen, die in das eigene Haus einge­ zogen sind? Oder denen, die sich auf der anderen Seite der Grenze, der Mauer, der Checkpoints wiederfanden? Wird denen erzählt, die Zeit haben und Geduld, denen, die sich vorstellen wollen, was geschehen ist oder denen, die eilig sind und ungeduldig? Ist es in einem privaten Kontext, in dem vom Krieg erzählt wird, bei einem Abendessen, das seine harm­lose Geselligkeit verlöre, wenn das Grauen des Krieges ver­ gegenwärtigt würde? Sind es Kinder, die zuhören, de­ nen man die eigenen Albträume nicht vererben möchte? Oder ist es eine öffentliche Anhörung, vor einem Gericht, in einer fremden Sprache, im Angesicht derer, denen man vorher ausgeliefert war? Ist es eine militärische Kommission, die einem den eigenen Rang aberkennen könnte? Wen gilt es zu belasten durch eine solche Er­ zählung, wen zu schützen? Wem dient die präzise, wem die unpräzise Erzählung vom Krieg? Eine Erzählung vom Krieg ist nicht zuletzt eben auch genau das: eine Erzählung. Eine Erzählung muss bestimmte strukturelle Voraussetzungen erfüllen, damit sie verständlich ist. Damit eine Erzählung gelingen kann, damit sie angehört und nachvollzogen wird, muss aus der Fülle der Ereignisse, der Wahrnehmungen etwas ausge­ wählt und verdichtet werden. Es gibt „Plot“-Erforder­ nisse, die erfüllt werden müssen, und dieses Plots müs­ sen ästhetisch und kulturell anschlussfähig sein an die Seh- und Denkgewohnheiten derer, die zuhören. Wer nicht geübt darin ist, in jedem einzeln herumliegen­ den Paket auf der Straße eine potenzielle Autobombe zu sehen, dem oder der muss man ausführlicher erzäh­ len, wer nie einen Verbandswechsel bei Brandwunden-­ Opfern gesehen hat, dem oder der muss man erläutern, wie die Haut in Fetzen abfällt, wer jahrelang in Käfigen oder Zellen eingesperrt war, wer mit Licht und Lärm um den Schlaf gebracht wurde, dem ist die Konzentration für lange Erzählungen abhanden gekommen. Dabei sind es keineswegs nur die leidvollen, grau­ samen Szenen, die das Erzählen vom Krieg erschweren, sondern auch die lustigen, die absurden, die surrealen. Wie sollte davon zu erzählen sein, ohne die Erwartungen derer, die nie einen Krieg erlebt haben, zu verstören? Wie lässt sich ermitteln, dass in einem Krieg alles gleich­ zeitig statt hat: das alltägliche Leben mit seinen banalen Routinen bleibt bestehen, es werden Hochzeiten gefei­ ert und Beerdigungen, im Wendekreis des Elends wird auch gelacht und geliebt, es werden Kinder geboren und großgezogen, Bienen gezüchtet und Brot gebacken, inmitten und am Rande der Topografie der Gewalt su­ chen Menschen nach einer Normalität, nach Heiterkeit und Glück. Nicht, weil sie zynisch wären, nicht, weil sie gleichgültig wären oder furchtlos, sondern weil sich nicht anders überleben lässt.

Wie vom Krieg zu erzählen ist, hängt nicht nur davon ab, wer spricht, sondern auch davon, wem etwas erzählt wird. Von diesen kuriosen Momenten des Krieges, dem Grotesken, Albernen, lässt sich schwer erzählen. Sie werden gern ebenso verborgen oder verdrängt, vernach­ lässigt oder verformt wie die verzweifelten und brutalen Momente. Sie belasten die Erzählung, weil sie die geläu­ figen Vorstellungen vom Krieg konterkarieren, sie wir­ ken zu leicht, zu heiter, sie scheinen das Leid und den Schmerz, der auch gegenwärtig ist, zu relativieren, sie wirken – auf Außenstehende – womöglich zynisch oder unglaubwürdig. Wer also die eigene Sprechposition nicht gefährden, wer nicht Zuhörer verlieren möchte, wer will, dass sich andere einfühlen und identifizieren können mit den Opfern des Krieges, der oder die bereinigt die Erzählung vom Krieg von allem, was allzu befremdlich erscheinen mag.

So wird schließlich deutlich, wie eng vom Krieg erzählen verbunden ist mit den Hör- und Denkgewohn­ heiten der Öffentlichkeit, in die hinein erzählt wird: uns. Es liegt auch an uns, die Bedingungen als Gesellschaft zu schaffen, damit diejenigen, die vom Krieg erzählen könnten, es auch wollen. Es liegt an uns zu signalisieren, dass wir nicht geschont werden wollen, dass wir alle mo­ ralischen, psychischen, ästhetischen Zumutungen des Krieges verstehen wollen. Es liegt an uns auszuhalten, dass die Erzählungen vom Krieg absurd klingen mögen, lückenhaft, brüchig, verwirrend, unfertig, witzig, trost­ los, grauenhaft und verstörend. Aber nur so lässt sich vom Krieg erzählen.

Carolin Emcke, geboren 1967, promovierte in Philosophie und bereist seit 1998 weltweit Krisengebiete, u.a. im Kosovo, Afghanistan, Gaza und Irak. Seit 2007 arbeitet sie als freie Publizistin vor allem für die ZEIT. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, den Deutschen Reporter­ preis, den Journalistenpreis für Kinderrechte sowie die Auszeichnung „Journalistin des Jahres“. Bei S. Fischer erschienen von ihr „Von den Kriegen. Briefe an Freunde“ (2004), „Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF“ (2008) und „Wie wir begehren“ (2012). Ihr neues Buch „Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“ erscheint dieser Tage im S. Fischer Verlag.

Krieg erzählen Lesungen, Panels, Filmreihe, Objekt­präsentationen

Wie kann man vom Krieg erzählen? Wa­ rum ist das so schwer? Das Projekt wid­ met sich der außerordentlichen Erfah­ rung von Krieg und Gewalt mit dem An­ spruch, unseren Blick auf die Wirklichkeit des Krieges zu schärfen und zu verän­ dern. „Krieg erzählen“ ist multiperspek­ tivisch angelegt: Berichterstatter/innen, Schriftsteller/innen, Fotograf/innen, Re­ dakteur/innen und Wissenschaftler/innen wie Philip Gourevitch, Peter Maass, Liao Yiwu, Marcel Mettelsiefen oder Albrecht Koschorke sowie weitere Zeugen aus Kriegs- und Krisengebieten präsentieren und diskutieren ihre Standpunkte in ver­ schiedenen Panels. Thematisiert werden u.a. auch Zweifel, Ängste und Unausge­ sprochenes – all jene Aspekte der profes­ sionellen Berichterstattung, die Hörer, Leser, Fernsehzuschauer und Internet­ nutzer in der Regel nicht erfahren. Le­ sungen mit Schauspieler/innen sowie eine Filmreihe bieten dem Publikum zusätz­ liche Möglichkeiten zur Auseinanderset­ zung mit dem Thema. Künstlerische Leitung: Carolin Emcke, Valentin Groebner (CH) Referent/innen: Slavenka Drakulić (HR), Philip Gourevitch (US), Jean Hatzfeld (FR), Albrecht Koschorke, Ethel Grace Matala de Mazza, Herta Müller, Milo Rau (CH), Klaus Reinhardt, Saša Stanišić, Liao Yiwu (CN) u.a. Haus der Kulturen der Welt, Berlin: 20.2.2014 – 22.2.2014 ↗ www.hkw.de


20 genauso mit einbezieht wie die lokale Kultur und die Bedürfnisse einzelner Ge­ sellschaftsgruppen. Durch die Beachtung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte entwickelten sie nachhaltige Lö­ sungsansätze, die in der Ausstellung an­ hand von 28 Projekten aus zehn Ländern Subsahara-Afrikas wie Kenia, Nigeria, Burkina Faso oder Südafrika gezeigt wer­ den. Die Bauten sind seit der Jahrtau­ sendwende entstanden und wurden von afrikanischen, aber auch von europäi­ schen und US-amerikanischen Architek­ ten geplant. Das Projekt wird begleitet von einem umfangreichen Rahmenprogramm mit Vorträgen und einem ganztägigen Sym­ posium, das zentrale Aspekte der Aus­ stellung wie die Urbanisierung Afrikas, ­Partizipation und die Frage nach der ar­ chi­tektonischen Identität aufgreift. Ein Die interdisziplinäre Jury hat auf ihrer Katalog erscheint in einer deutschen und letz­ten Sitzung im Frühjahr 2013 35 neue einer englischen Ausgabe im Hatje Cantz Förderprojekte ausgewählt. Die För­der­ Verlag. summe beträgt insgesamt 6,1 Mio. €. Ausführlichere Informationen zu den Künstlerische Leitung: Andres Lepik, ein­zelnen Projekten finden Sie auf unse­ Anne Schmidt, Simone Bader rer Website www.kulturstiftung-­bund.de Architekt/innen: Emilio Caravatti oder auf den Webseiten der Projekt­träger. (IT/ML), Kéré Architecture (BF), NLÉ/ Nächster Antragsschluss für die Allgemei­ Kunlé Adeyemi (NG/NL), studio ne Projektförderung ist der 31. ­Januar ­tamassociati (IT), Kounkuey Design ­Initiative (KE/US), MASS Design 2014. Group (US), Nina Maritz (NA), 26’10 South Achitects/Anne Graupner, Die Mitglieder der Jury: ­Thorsten Deckler (ZA), Noero Wolff Sophie Becker, Dramaturgin Sächsi­ sche Staatsoper Dresden / Dr. Andreas Architects (ZA), Peter Rich Architects (ZA) Blühm, Direktor Wallraf-Richartz-­ Museum & Fondation Corboud Köln /  Karl Bruckmaier, Moderator, ­Hörspielregisseur und -autor / Johan Holten, Direktor Staatliche Kunst­halle ­Baden-Baden  /  Dr. Lydia Jeschke, Redaktionsleitung Wort / Musik SWR 2 /  Dr. Stefan Luft, Politikwissen­schaftler Universität Bremen / ­Barbara Mundel, Intendantin Theater ­Freiburg / Dr. Olaf Nicolai, Bildender Künstler / Elisabeth Ruge, Verlegerin Hanser Berlin

Kooperation mit der Nationalen Akade­ mie der Wissenschaften Leopoldina, den Franckeschen Stiftungen, der Stiftung Händelhaus, dem Kunstverein Talstraße, der Werkleitz-Gesellschaft und der The­ ater, Oper und Orchester GmbH hat d ­ as Puppentheater ein interdisziplinäres Fes­

Gesellschaftsverhältnisse, des Entwick­ lungsstandes und Verfalls einer Zivilisa­ tion. Die Essensskandale der jüngsten­ Zeit, Biopiraterie und gen-modifizierte Lebens­mittel widerlegen die Vorstellung, dass Essen eben einfach nur Essen sei. Die Ausstellungen in der ACC Galerie

Afritecture Bauen in Afrika

Wir wissen in Europa wenig über zeitge­ nössische Architektur in den ­afrikanischen Ländern. Eine Ausstellung unter Leitung von drei deutschen Architekturhistorikern in der Münchner Pinakothek der Moder­ ne will das ändern: Gerade im Bereich des sozial engagierten Bauens gibt es derzeit in afrikanischen Ländern viele innova­tive Ansätze: Ob Schulen, Kindergärten, Marktanlagen, Kliniken, Kulturzentren, Sportanlagen oder Versammlungsräume – es sind gerade öffentliche Bauten und ge­ meinschaftliche Einrichtungen, an denen sich neue Nutzungs- und Baukonzepte abzeichnen. Vielfach sind die späteren Nutzer unmittelbar am Entwurfs- und Bauprozess beteiligt. Neben dem Einsatz aktueller Technologien sind viele der Bauprojekte aus lokalen Materialien ent­ wickelt und greifen vergessene Bautradi­ tionen wieder auf. Das Architekturmu­ seum der TU München legt in der Ausstellung „Afritecture – Bauen mit der Gemeinschaft“ den Fokus auf genau jene Projekte, die oftmals von Architektinnen und Architekten initiiert wurden und de­ ren Konzeption globale Zusammenhänge

Courtesy: Galerie EIGEN + ART Leipzig Berlin

Neue Förder­pro­jekte

tival entwickelt, das sich unter dem Motto „Doppelgänger“ mit den Beziehungen zwi­ schen Puppen, Menschen und Maschinen auseinandersetzt. Es lädt zu Theaterauf­ führungen, einem Science Slam, Film­ programmen, einem ­Eröff­nungskonzert, Ausstellungen und einem Open-AirSpektakel ein. Im Mittelpunkt des Festi­ vals steht eine Inszenierung der französi­ schen Puppenkünstlerin und Regisseurin Gisele Viènne, die in ihren Arbeiten immer wieder verstörende Konstellationen zwi­ schen Menschen und künstlichen Ge­ schöpfen freilegt.

Künstlerische Leitung: NLÉ Makoko Floating School, Christoph ­Werner Lagos, Nigeria Kurator/innen: Bureau für ­Begeisterung, Marcel Schwierin (Film) Partner: Bühnen Halle, Leopoldina­ Architekturmuseum der TU München ­Nationale ­Akademie der Wissenschaften, in der Pinakothek der Moderne, Franckesche Stiftungen, Stiftung ­München: 13.9.2013 – 12.1.2014 ↗ www.architekturmuseum.de/afritecture Händelhaus, Kunstverein Talstraße, Werkleitz-Gesellschaft Künstler/innen / Wissenschaftler/ innen: Gisèle Vienne (FR), ­Christoph Bochdansky (AT), Salz­burger Marionetten­theater (AT), Pyroman­ Ein Fest für Puppen, Menschen und tiker s­ owie i­nternationale Mitglieder der ­Maschinen. Gemeinschaftsprojekt Leopol­dina und Filmemacher von s­ echs halleschen I­nstitutionen. Compagnie/Ensemble/Orcheter: Das Puppentheater in Halle an der Saale ­Lautten ­Compagney Berlin, hat sich in den letzten anderthalb Jahr­ ­Staats­kapelle Halle zehnten zu einem der profiliertesten En­ sembles seiner Art in Deutschland entwi­ Festival Halle (Saale) 25.4. – 4.5.2014 ckelt. Inszenierungen wie „Das Bildnis ↗ www.doppelgaenger-festival.de des Dorian Gray“ oder „Meine Kältekam­ mer“ erhielten zahlreiche Preise und führ­ ten das Ensemble auf Gastspiel­tour­neen ins In- und Ausland. Das Team um Inten­ dant Christoph Werner hinterfragt dabei kontinuierlich das Verhältnis zwischen Figur und Spieler, zwischen Puppe und Zeitgenössische Positionen zum Publikum. Thema Ernährung / Essen / Hunger(n) Diesen ästhetischen Ansatz möchte das Puppentheater 2014 anlässlich seines Nahrungsaufnahme bestimmt unser Le­ 60. Jubiläums gemeinsam mit sechs Hal­ ben. Essen ist Teil jeder menschlichen leschen Kulturinstitutionen vertiefen. In Kultur, Ausdruck ihrer Ideologien und

Doppelgänger

The Politics and Pleasures of Food

Weimar und der Halle 14 in Leipzig zeigen Positionen von zeitgenössischen Künst­ ler/innen und Künstlerkollektiven zu den Themen Essen und Ernährung, Sättigung und Genuss. Sie erzählen von Marmela­ densitzungen, Schafhirtenschulen, vom Guerilla-Kochen und der EU-Standard-­ Kartoffel. Zu den eingeladenen Künstler/innen zählt beispielsweise der aus dem Iran stammende Azad Nanakeli. Er beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit der Res­ sourcen­knappheit, der industriellen Ver­ schmut­zung und Verschwendung des Wassers, speziell im Mittleren Osten. Zu den eingeladenen Kollektiven gehören Conflict Kitchen und das Critical Art En­ semble. Conflict Kitchen ist das gemein­ same Pro­ jekt zweier amerikanischer Künstler. Sie betreiben ein (Kunst-)Res­ taurant, das Ge­richte aus Ländern anbie­ tet, mit denen sich die Vereinigten Staa­ ten im Konflikt befinden. Das Critical Art Ensemble legt in seinen Aktionen, Filmen und Publikationen den Schwerpunkt auf die Themen Biotechnologie und Gen­ technik. Künstlerische Leitung: Frank Motz Künstler/innen: Bureau d’Etudes (FR), Götz Bury, Mary Ellen Carroll (US), Conflict Kitchen (US), Critical Art Ensemble (US), Fallen Fruit (US), Fernando Garcia-Dory (ES), Arti Grabowski (PL), Laura Junka-Aikio (FI), Jani Leinonen (FI), Tom Marioni (US), Rémy Markowitsch (CH), Azad Nanakeli (IQ/IT), Lucy + Jorge Orta (Studio Orta) (UK), Naufus Ramírez-Figueroa (GT/CA), Zeger Reyers (NL), Åsa ­Sonjasdotter (SE) Halle 14, Leipzig: 21.9. –17.11.2013; ACC Galerie Weimar: 7.3. – 1.6.2014 ↗ www.acc-weimar.de

Foto: Iwan Baan, 2013, Bildrechte: Iwan Baan

BonsaiPotato (2001) by Rémy Markowitsch (Frieze Sculpure Park, curated by David Thorp, 2009)


21 Die Frauen von Troja Von Euripides. Eine türkisch-­ griechisch-deutsche Theater-­ Kooperation

Das Landestheater Altenburg entwickelt eine Neuübersetzung der antiken Tragö­ die „Die Troerinnen“ von Euripides. Es soll eine mehrsprachige Textfassung ent­ stehen, die hauptsächlich deutsche, aber auch türkische und altgriechische Passa­ gen enthalten wird. Das Theater wird die Produktion gemeinsam mit einem inter­ national besetzten Ensemble erarbeiten: An der Seite der acht deutschen Schau­ spieler/innen des Landestheaters Alten­ burg agieren sechs türkische Schau­ spieler/innen. Die Musik entwickelt der kurdische Komponist Ömer Avci. Das Stück soll in Deutschland, in der Türkei und in Griechenland im antiken Theater von Pythagorion aufgeführt werden: Die Antike und die Mythen um den Trojani­ schen Krieg stellen den kulturellen Be­ zugspunkt dar und betonen die starken gemeinsamen Wurzeln der drei Länder Deutschland, Türkei und Griechenland. Im Mittelpunkt des Projektes steht dabei die Erarbeitung einer eigenen Äs­ thetik: Neben der deutschen Tradition des Sprechtheaters sollen, vor allem über Musik und Gesang, Elemente der grie­ chisch-türkisch-kurdischen Theatertra­ dition in die Inszenierung einfließen. Ein umfangreiches Begleitprogramm besteht aus Nachgesprächen, Symposien und ei­ ner Sonderausstellung im Lindenau-Mu­ seum Altenburg. Künstlerische Leitung: Bernhard Stengele Künstler/innen: Ömer Avci (TR), ­Ulrich Sinn, C ­ elal M ­ ordeniz (TR), Erdem Şenocak (TR), Marianne H ­ ollenstein (CH), Oğuz Arici (TR), Katharina ­Weithaler (AT), Kristina Karasu (TR) Premiere Landestheater Altenburg: 4.5.2014; V ­ orstellungen Altenburg, Gera: 4.5.–30.6.2014; ­Tiyatro Bölümi der Halic Üniv. und Theater der Rumeli Hisari, Istanbul: 19.–23.8.2014; ­Tiyatro Medresesi, Sirince: 25.–26.8.2014; Theater von Pythagorion auf Samos: 28.8.–1.9.2014

© Karolina Freino

↗ www.tpthueringen.de

Die Bibel. Woran wir glauben Durational-Inszenierung

dieses Mammut-Projekt, das als langfris­ tiger Work in Progress realisiert wird, ­eigens ein internationales Ensemble als ­autonome Produktionsplattform gründen. Auch die Koproduktion mit Stadt­theatern und internationalen Festivals soll dazu beitragen, dass Mittel, Kräfte und Verant­ wortung über einen längeren Zeitraum auf mehrere Schultern verteilt werden können. In anderen Ländern bereits gän­ gige Praxis, stellt diese Produktionsweise in Deutschland derzeit einen Versuch mit Seltenheitswert und innovativem Charak­ ter dar. Das Projekt dient als Modellver­ such, dessen langfristiges Ziel es ist, eine solche Produktionsplattform dauerhaft zu etablieren.

Dance Umbrella / Johannesburg (ZA), Jay Panther, Live Art / Gordon Institute for Performing and Creative Arts / Cape Town (ZA), Gallery Momo / Johannesburg (ZA) Künstler/innen: Dance Forum / Newtown (ZA), Alfred Hinkel, Jazzart Dance Theatre / Northern Cape (ZA), The Forgotten Angle Theatre Collabo­ rative / Selcourt (ZA), Athena Mazarakis (ZA), Mmakgosi Kgabi (BW) u.a. Studio 44 u.a. Berlin: 1.9.2013–31.3.2015 ↗ www.dorkypark.org

Vot ken you mach?

Künstlerische Leitung: Nicolas Stemann Bühne: Thomas Dreißigacker Kunst, Film, Comics, Literatur, Kostüm: Marysol del Castillo Konzerte zu ­zeitgenössischer jüdischer Video: Claudia Lehmann Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel Identität in Europa Performance: Philipp Hochmair (A), „Vot ken you mach?“ bedeutet: Was kann Sebastian Rudolph, Patrycia man tun? Die Frage ist einem Lied aus Ziółkowska (PL) den zwanziger Jahren entnommen, das die Situation der in die USA eingewan­ Holland Festival, Amsterdam: derten Juden schildert. Was kann man tun, 6.–8.6.2014; Thalia Theater, Hamburg: wenn ringsherum die modernen Zeiten 10.–20.9.2014 alles verändern? Wie stark lassen sich ↗ www.thalia-theater.de ­Traditionen weitertragen, wie zeigt sich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder­ einem Kulturraum?

„Unafrikanische“ Homo­sexualität und die Rückkehr der Tradi­tion. Die Situation von LGBTI in der „Rainbow-Nation“ Süd­afrika. Internatio­nales ­Austauschprogramm mit Per­formances, Gastspielen und Workshops

Die argentinische, in Berlin lebende Cho­ reografin Constanza Macras plant ein um­ fassendes Projekt zu Themen, die in Süd­ afrika virulent sind, aber kaum öffentlich verhandelt werden. Es geht um die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transund Intersexuellen. Macras’ Augen­merk gilt dabei der gesellschaftlichen Missach­ tung insbesondere von Frauen sowie der HIV-Problematik. Das Projekt gliedert sich in zwei Teile: In der ersten Phase werden südafrikanische Künstler/innen aus den Bereichen Tanz, Theater, Perfor­ mance und Fotografie nach Berlin zu Gastspielen und zu einem Workshop ein­ geladen. Dadurch sollen dem deutschen Publikum Einblicke in wenig bekannte afrikanische Lebenswelten gegeben wer­ den, die in starkem Kontrast zu unseren Bildern von luxuriösen Resorts, noblen Weingütern und Golfurlaub am Kap ­stehen. In der zweiten Projektphase erar­ beitet die Compagnie Constanza Macras/ Dorky Park mit südafrikanischen Künst­ ler/innen eine Produktion in Johannes­ burg zum selben Themenkomplex, wobei hier die problematische Gesundheits­ politik in Südafrika im Umgang mit an HIV-Infizierten und Aids-Kranken mit Mitteln des Dokumentartheaters, der Performance und des modernen Tanz­ theaters einen eigenen Akzent bekommt.

Die Frage „Woran glauben wir eigentlich?“ steht im Zentrum einer 12stündigen The­ aterperformance, die Texte aus dem Alten und dem Neuen Testament in mehrspra­ chige „Wortkonzerte“ und „Textumset­ zungsmaschinen“ überführen möchte. Es soll eine Art theatralischer Gottesdienst entstehen. Wenn es nicht die Lehren und Mythen der Bibel sind, an die wir glauben, so faszinieren uns vielleicht die gnaden­ losen Machtergreifungs-Szenarien? Kön­ nen wir mit dem immer wieder in ihr auf­ Künstlerische Leitung: scheinenden Nihilismus etwas anfangen? Constanza Macras Der Regisseur Nicolas Stemann wird für Kurator/innen: Georgina Thomson,

Das Projekt sucht aktuelle Antworten auf diese Fragen bei einer Generation junger jüdischer Künstler/innen, Autor/ innen, Comiczeichner/innen und Musi­ ker/innen, in deren Arbeiten die Aus­ einandersetzung mit der eigenen Iden­ tität in besonderer Weise zum Ausdruck kommt. Den Kern des Projektes bildet eine Ausstellung, die in Dresden und Wroclaw zu sehen sein wird.

Künstlerische Leitung: Christiane ­Mennicke-Schwarz, Dorota Monkiewicz (PL) Kuratorisches Team: Valentina Marcenaro, Rafal Jakubowicz (PL) Künstler/innen: Amit Epstein (IL), Karolina Freino (PL), ­Eduard ­Freudmann (AU), Ruth Novaczek (GB), Eran ­Schaerf, ­Maya Schweizer (FR), Claire Waffel, Shira Wachsmann (IL), Arye Wachsmuth (AU), Elke B. Steiner u.a. Kunsthaus Dresden: 1.12.2013 – 4.5.2014; Muszeum Wspolczesne, Wroclaw: 8.6. – 25.8.2014 ↗ www.kunsthausdresden.de ↗ www.muzeumwspolczesne.pl

In Order to Join Politisch in einem historischen Moment

Das Museum Abteiberg bezieht sich mit dieser Ausstellung auf eine internationa­ le Künstlerinnengeneration, die zwischen 1947 und 1957 geboren ist. Sie erlebte den Kalten Krieg oder die Machtergreifung Indira Ghandis als Mädchen und junge Frauen. Wie haben sich die kunst- und zeithistorischen Hintergründe auf die Ar­ beiten der weiblichen Künstlergeneration der 1980er und 90er Jahre ausgewirkt? In der Ausstellung werden frühe Werke u.a. von Pushpamala N, Shirin Neshat, Astrid Klein, Shelagh Keeley und Angela Grau­ erholz präsentiert, die in Reaktion auf bedeutende Kunstbewegungen wie Mini­ malismus, Pop oder Performance Art ent­standen. Die Künstlerinnen verfolgen konzeptuelle Strategien, oftmals verbun­ den mit der Forderung nach Teilhabe an

Videostill aus Kenyan Pyramids von Karolina Freino mit James Muriuki (2011)

Sie zeigt medienbasierte, installative und zeichnerische Arbeiten von Künstler/ innen, die sich mit Identität auf zum Teil abstrakte, zum Teil sehr persönliche Weise beschäftigen. Ergänzt wird die ­ ­Ausstellung durch Lesungen, Gespräche, Konzerte, Workshops und ein Filmpro­ gramm. Eine für Schulen in Sachsen ­entwickelte mobile Ausstellung sowie ein Rechercheprojekt mit dem Malmö Kunst­ museum in Schweden zielen auf eine Strahlkraft des Projektes über seine Lauf­ zeit in Wroclaw und Dresden hinaus.

politischen und künstlerischen Prozessen. Das Werk von Rummana Hussain (1952– 1999) dient der Schau als Ausgangspunkt. Die Inderin schuf in Mumbai und New York zentrale Werke der frühen konzep­ tuellen, installativen und multimedialen Kunst. Der Ausstellungstitel bezieht sich auf ein 1997 in New York produziertes Video, in dem Hussain in traditioneller Kleidung die Queenborough Bridge über­ quert. Dieser Gang über die Brücke sym­ bolisiert das Verlangen nach Teilhabe (‚in order to join‘).


22 Kurator/innen: Swapnaa Tamhane (CN), Diversität präsentiert. In Kleve wird das Augenmerk stark auf die Wechselwirkung Susanne Titz von Bildender Kunst und experimenteller Künstler/innen: Sheela Gowda (IN) Angela Grauerholz (CN), Jamelie Hassan Musik gerichtet, wie sie insgesamt für das Werk Foulkes� prägend ist. Im Rahmen (CN), Rummana Hussain (IN), Shelagh Keeley (CN), Astrid Klein, Ana Mendieta ­eines umfangreichen Begleitprogramms sind jüngere Künstler/innen der lokalen (CU), Pushpamala N (IN) u.a. Musik­szenen eingeladen, ihre Sicht auf Museum Abteiberg, Mönchengladbach: Foulkes erfindungsreiche und unaka­de­ 1.12.2013 – 10.3.2014; Dr. Bhau Daji Lad mische Musikalität zu entwickeln. Museum, Mumbai: Herbst 2014 ↗ www.museum-abteiberg.de Künstler: Llyn Foulkes (US) Kuratoren: Ali Subotnick (US), Harald Kunde

Der amerikanische Künstler Llyn Foulkes zählt zu den großen Entdeckungen der letzten documenta (d 13). Obwohl er als einflussreiche Schlüsselfigur der Kunst­ szene der amerikanischen Westküste um Los Angeles gilt, ist er einem größeren Publikum noch weithin unbekannt. Das soll diese Retrospektive mit einer Aus­ wahl von annähernd 140 Werken ändern. Die Spanne reicht von seinen frühen As­ semblagen über seine verstörenden Por­

↗ www.museumkurhaus.de

Kafkas Prozess 2014

Ausstellungen: Literaturmuseum der Moderne, Marbach: Original und Verwandlung. 7.11.2013–9.2.2014; Literaturhaus Ausstellung und Tagung Stuttgart: 8.11.2013 – 9.2.2014; Tagung: Was kann das Original, was kann die Ver­ Deutsches Literaturarchiv Marbach: wandlung in ein anderes Medium für ­­­die 7. – 9.11.2013 Vermittlung von Literatur leisten? ­Diesen ↗ www.dla-marbach.de Fragen widmet sich eine Doppelausstel­ ↗ www.literaturhaus-stuttgart.de lung anhand des 1914 begonnenen Ro­ manfragments „Der Prozess“ von Franz Kafka. Im Deutschen Literaturarchiv

Portikus Stars and Stripes

Paul McCarthy und Mike Bouchet, Ausstellung und Publikation

Die beiden amerikanischen Künstler Paul McCarthy und der in Frankfurt lebende Mike Bouchet stehen seit ihrer gemeinsa­ men Zeit in Los Angeles miteinander im künstlerischen Dialog. Mit „Portikus Stars and Stripes“ entwickeln sie nun ein inter­ nationales Projekt speziell für die Frank­ furter Ausstellungshalle, das zum einen Analogien zwischen der Architektur mili­ tärischer Einrichtungen und moderner Museumsbauten, zum anderen Verbin­ dungslinien zwischen Macht- und Kultur­ politik aufzeigen möchte: Wie wird Kultur als manipulatives Mittel im Kontext glo­ baler Machtpolitik eingesetzt? Und wie bedient sich umgekehrt heutige Kulturpo­ litik bestimmter Taktiken dieser Politik? Dazu unterziehen McCarthy und Bouchet den Portikus einer Reihe radikaler An- und Umbauten. In seinem Inneren präsen­ tieren sie eine gemeinsam ent­wickelte skulpturale Installation militarisierter ­Kultur­­bauten, während sein Außenraum groß­maßstäblich bespielt und weithin sichtbar mit militärischen Zitaten gespickt wird. Das Projekt zielt darauf ab, mit sei­ nem global angelegten Thema ein breites Publikum anzusprechen. Neben Vorträgen und Atelierbesuchen an der Städelschule werden die beiden Künstler mit einer ge­ meinsam entwickelten Publikation das Projekt dokumentieren und in internatio­ nalen Umlauf bringen, wo sie einen Dis­ Llyn Foulkes. Who’s on Third?, 1971–73. Oil on canvas. 48 x 39 in. (121.9 x 99.1 cm). kurs unter Kulturschaffenden und in der träts (bloody heads) bis zu den kultur- Marbach wird nach hundert Jahren erst­ medialen Öffentlichkeit anregen möchten. und konsumkritischen Werken der mals das vollständige Manuskript des letzten Jahrzehnte, die die Kehrseite des „Prozess“ ausgestellt und von namhaften Künstlerische Leitung: „American Way of Life“ thematisieren und Wissenschaftlern und Künstlern kom­ Sophie von Olfers dafür materialreiche Sinnbilder finden. In mentiert. Räumlich nicht weit entfernt, Künstler/innen: Paul McCarthy (US), enger Kooperation mit dem HAMMER wird im Literaturhaus Stuttgart der Mike Bouchet (US) Museum Los Angeles und dem New Mu­ „Prozess“ in Form eines Comics der seum New York wird das Museum Kur­ beiden internationalen Künstler David Portikus, Frankfurt am Main: haus Kleve die erste europäische Station Mairowitz und Jaromir Svejdik in Szene ab 15.2.2014 ↗ www.portikus.de sein, die Foulkes’ Werk in seiner ganzen gesetzt.

© M+M

Eine Retrospektive

Museum Kurhaus, Kleve: 8.12.2013–2.3.2014

Der Stachel des Skorpions

Der Stachel des Skorpions

Tobias Zielony wird sich mit der An­ fangsszene des Films beschäftigen – in der auf fast dokumentarische Weise die Lebensbedingungen von Skorpionen dar­ gestellt werden – und eine Analogie mit der giftigen Selbstzerstörung von Heroin­ abhängigen ziehen. Die australisch-­amerikanische Künst­ lerinnengruppe „Chicks­on Speed“ ent­ wickelt ihre Version heutiger Gruppen­ selbstdarstellungen als Antwort auf die Banditenszene im Film. Das deutsch-­ luxemburgische Duo M+M taucht ein in die Mysterien des alten Rom. Die Video­ künstlerin Keren Cytter aus Israel knüpft an die Liebesszenen des Films an, die der Berliner Julian Rosefeldt ­aus seiner Per­ spektive weiterführt. Den Abschluss bil­ det John Bock, der die verschiedenen Sequenzen zu einem begehbaren Film in sechs Räumen miteinander verbindet. Die international anerkannten Künst­ ler/innen schaffen für die Ausstellung ein Gesamtkunstwerk, das skulpturale, per­ formative, filmische und musikalische An­sätze miteinander vereint. Vor dem Hin­tergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen entsteht ein künstleri­ sches Manifest, das den Begriff des „gol­ denen Zeitalters“ mit zeitgenössischen Arbeiten auf die Probe stellt. Künstlerische Leitung: Marc Weis, ­Martin De Mattia (M+M) Künstler/innen: Tobias Zielony, ­Chicks on Speed (ES), M+M, ­Keren Cytter (IL), Julian Rosefeldt, John Bock Museum Villa Stuck, München: ­ 20.3. – 9.6.2014; ­­Institut Mathildenhöhe Darmstadt: 22.6.– 5.10.2014 ↗ www.villastuck.de

© John Jones Collection

Llyn Foulkes. Music is my joy, painting is my angst

Eine umfangreiche Publikation und eine internationale Tagung unter Leitung des renommierten Kafka-Biografen Rainer Stach behandeln die Chancen sprachüber­ greifender künstlerischer Vermittlung und Ein Cadavre Exquis nach Buñuels die Erfahrungen beim Aus­stellen von Li­ „L’Age d’Or“, filmischer Ausstellungs­ teratur, speziell den Werken des Welt­ parcours autors Kafka. Der Film „L’Age d’Or“ (1930) des Surre­ alisten Luis Buñuel gilt als wegweisend Künstlerische und wissenschaftliche Leitung: Marcel Lepper, Heike Gfrereis für den Einzug des Mediums Film in die Bildende Kunst. In verschiedenen Szenen (Deutsches Literaturarchiv Marbach), werden die bürgerliche Gesellschaft und Erwin Krottenthaler (Literaturhaus ihre Doppelmoral kritisiert. Das Projekt Stuttgart) „Der Stachel des Skorpions“ sieht vor, das Konzeptidee Tagung: Reiner Stach Werk durch sechs zeitgenössische inter­ Künstler/innen und Wissenschaftler/ nationale Künstler/innen neu zu interpre­ innen: Louis Begley (US), Hans Ulrich tieren – sie reagieren mit ihren eigenen Gumbrecht (US), David Zane künstlerischen Ausdrucks­formen auf ei­ Mairowitz (US), Jaroslav Rudiš (CZ), nes der filmischen Motive. Jaromír Švejdík (CZ)


23 Fiktion Internationales Modellprojekt zur Erforschung und F ­ örderung neuer Formen literarischer Distribution

Mit ihrem zunächst auf zwei Jahre ange­ legten internationalen Modellprojekt re­ agieren der Autor Ingo Niermann und der Verleger Mathias Gatza auf die Herausfor­ derungen der Digitalisierung, die den Buchmarkt in eine tiefe strukturelle Kri­ se gestürzt hat. Mit einer Vielzahl an Maß­ nahmen möchten sie die sich neu erge­ benden Chancen für die Distribution von Literatur weiterentwickeln. Gemeinsam mit Schriftstellerkollegen, IT-Spezialisten und Grafikern soll ein grundlegend neues, konzentrationsför­ derndes Leseformat entwickelt werden, das über eine bloße Kopie des gedruckten Buches hinausreicht und als kostenlose Open Source-Vorlage Verlagen und Platt­ formen zur Verfügung gestellt wird. Die Autoren publizieren ihre Texte in dem neuen digitalen Format kostenlos, ­wodurch anspruchsvolle Literatur ver­ suchsweise von den sich verschärfenden ­Notwendigkeiten der Verlagsbranche ab­ gekoppelt wird. Außerdem werden die Texte zweisprachig (deutsch/englisch) veröffentlicht, damit sie mehr internati­ onale Sichtbarkeit erhalten. Ergänzend reflektiert „Fiktion“ in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität zu Berlin das bestehende Urheberrecht, entwickelt neue Vertragsmodelle und stellt sie zur Diskussion. Und es soll ein internationa­ les Autorennetzwerk aufgebaut werden; angestrebt sind Kooperationen mit inter­ nationalen Literaturfestivals, Literatur­ zeitschriften und Onlineplattformen. Projektleitung Programm: Mathias Gatza, Ingo Niermann Projektleitung Kommunikation: ­Henriette Gallus Programmierung und New-­Media-­ Design: Harm van den Dorpel Graphik: Vela Arbutina Künstlerischer Beirat: Rajeev Balasub­ ramanyam (GB), Douglas Coupland (CA), Elfriede Jelinek (AT), Tom McCarthy (GB), Ben Marcus (US), Ou Ning (CN), Thomas Pletzinger, Stephan Porompka, Verena Rossbacher (AT), Sabine Scholl (AT) Lesungen und Präsentationen Haus der Kulturen der Welt, Berlin: 12.9.2013 – Februar 2015; Kongress Haus der Kulturen der Welt, Berlin: 21. – 22.3.2014; Konferenz/Workshop CCCB, Barcelona: November 2014; Konferenz und Lesungen GoetheInstitut, New York: Mai 2014 ↗ www.fiktion.cc

Zur digitalen Zukunft unserer Literatur „Fiktion“ und das Haus der Kulturen der Welt haben im Frühjahr 2013 mehrere Workshops ausgerichtet, in denen Autorinnen und Autoren mit Experten der Verlagsbranche und der Humboldt Law Clinic Internetrecht diskutiert haben, welche Chancen das digitale Zeitalter gerade auch für eine besondere Konzentration erfordernde Literatur bietet. Mit der folgenden Deklaration soll diese Diskussion öffentlich fortgesetzt werden. Nie wurde so viel gelesen und geschrieben wie heute. In den letzten vierzig Jahren hat sich der Anteil der Analphabeten an der Weltbevölkerung auf unter zwanzig Prozent halbiert, und er sinkt weiter. Kinder aller Milieus führen eine rege Privatkorrespondenz, was früher einer Elite vorbehalten war. Noch vor zwei Jahrzehnten drohte sie aufgrund des Telefons gänzlich zu verschwinden. Heute wird das, was sich weiterhin Telefon nennt, vor allem zum Schreiben und Lesen genutzt. Das alltägliche Schreiben lässt die Schwelle, auch selbst Gedichte, Geschichten und Romane zu verfassen, sinken. Fast jeder kann seine Texte weltweit anbieten und sich über sie austauschen. Wer damit größeren Erfolg hat, kann anschließend auch in traditionellen Verlagen reüssieren. So wunderbar das ist, geraten doch unsere besondere Konzentration erfordernden literarischen Texte beim Konkurrieren um eine insgesamt begrenzte Aufnahmefähigkeit zunehmend ins Hintertreffen. Dieser Prozess hat schon vor der Einführung des E-Books begonnen. Sich diesem Medium zu verweigern kann darum nicht die Lösung sein, sondern wir müssen neue Methoden entwickeln, mit denen wir unsere Literatur den Lesern digital vermitteln. Bisher waren wir bestrebt, uns von kommerziellen Verlagen umfassend betreuen zu lassen: Sie lektorierten unsere Bücher, setzten, druckten, vertrieben und bewarben sie, verwerteten auch die Nebenrechte und beteiligten uns an den Erlösen – im besten Fall Buch für Buch, bis irgendwann die Zeit gekommen war für eine kritische Gesamtausgabe. Je weniger Umsatz unsere Literatur macht, desto weniger Aufwand wird für unsere Bücher betrieben, und in vielen Buchhandlungen sind sie von vornherein nur auf Bestellung lieferbar. Viele ältere Titel werden nicht einmal als E-Book angeboten. Die kommerziellen Verlage haben auf die Herausforderungen durch das digitale Zeitalter vor allem defensiv reagiert: ihr

Die Stadt steht vor dem größten ökono­ mischen und sozialen Wandel seit der Schließung der Zechen in den sechziger Jahren. Das Detroit Projekt möchte sich ab Oktober 2013 ein Jahr lang künstlerisch und wissenschaftlich mit Fragestellungen auseinandersetzen, die sich aus dem ver­ änderten Gefüge von Arbeit und Stadt ­ergeben. Künstler, Architekten, Stadtpla­ ner, Designer und Wissenschaftler wer­ den die sozialen Veränderungen kom­ mentieren, die durch die Schließung der Opelwerke an den vier genannten Stand­ orten ausgelöst werden.

Das Detroit Projekt gliedert sich in mehrere Phasen. Am Beginn steht eine Fotografie-Ausstellung: Portraits von Ein Projekt von Schauspielhaus Opel­mitarbeitern aus den Werken in Bo­ Bochum und Urbane Künste Ruhr chum, Gliwice, Zaragoza und Ellesmere Opel-Werke in Polen, Spanien, England Port blicken von öffentlichen Gebäuden und Deutschland sind von der endgülti­ in Bochum. Ein Forschungsprojekt lässt gen Schließung bedroht. Bereits Ende Design-, Architektur- und Kunsthoch­ 2014 soll der Opel-Standort in Bochum schulen in einem Wettbewerb die Frage geschlossen werden, und tausende Mit­ beantworten: „Was muss passieren, damit arbeiter verlieren ihren Arbeitsplatz. Bochum die interessanteste Stadt der

Das Detroit Projekt

Programm verkleinernd, fusionierend, Mitarbeiter einsparend und sich auf Bestseller konzentrierend. Auch den sich für unsere Literatur aufopfernden Kleinverlagen fällt es in dieser Situation immer schwerer, sich am Buchmarkt zu behaupten. Der Eindruck, dass das Verlegen von Büchern, die sich nicht sofort gut verkaufen, einem karitativen Akt gleichkommt, hat unser Schreiben beeinträchtigt. Es ist an der Zeit, dass wir nicht länger nur zusehen, wie sich die Bedingungen für unsere Literatur verschlechtern, sondern selbst nachzudenken und zu erproben, welche Chancen die Digitalisierung auch für die Verbreitung unserer Werke bietet: – Da E-Books unabhängig von ihrem kommerziellen Erfolg weltweit bereitgestellt werden können, müssen nicht mehr die ersten Wochen nach Erscheinen über Erfolg oder Misserfolg eines Titels entscheiden, sondern die Aufmerksamkeit kann sich langsam und unter Ausschluss der Massenmedien entwickeln. – Um E-Books zu vertreiben, ist es nicht zwingend erforderlich, sie zu verkaufen. Auch wir bevorzugen, von der Verwertung unserer Bücher zu leben, statt uns auf eine Weise zu verdingen, die uns vom Schreiben abhält. Aber wir wollen bei jedem unserer Bücher frei sein zu entscheiden, ob und wann wir es nicht besser verschenken. Dass Lesen Geld kostet, ist ein Übel, dessen Notwendigkeit es immer neu zu beweisen gilt. – Die gängigen E-Book-Formate imitieren das gedruckte Buch und erweitern es um Zusatzfunktionen, die für Sachbücher von Vorteil sein mögen, vom Lesen unserer Literatur aber eher ablenken. Es fehlt ein digitales Leseformat, das die technischen Möglichkeiten nutzt, um die Konzentration auf unsere Literatur zu erleichtern. Die existierenden Internetportale und -foren mögen für den Selbstverlag von Genre-Literatur ausreichend sein. Unsere Werke hingegen benötigen eine intensive individuelle Betreuung und ein Neugier weckendes Umfeld. Darum müssen wir uns zusammentun – ob als Genossenschaft, Stiftung, Verein oder Initiative, ob mit Hilfe von Einlagen, Spenden, Beiträgen, Sponsoring oder Förderung. Nur indem wir gemeinsam unsere Rolle als Autorinnen und Autoren neu bestimmen, kann unsere Literatur insgesamt wieder an Bedeutung gewinnen.

Unterzeichnerinnen und Unterzeichner: Marcus Braun, Jan Peter Bremer, Nina Bußmann, Mathias Gatza, Katharina Hacker, Elfriede Jelinek, Ingo Niermann, Urs Richle, Michael Schindhelm, Sabine Scholl u.a.

Welt wird?“, und ein Kunstfestival im Frühjahr 2014 verwandelt Bochum vier Monate lang in eine Plattform für künst­ lerische Interventionen im Stadtraum. Ar­ chitekten, Künstler und Performer zeigen Arbeiten, die sie gezielt für Bochum und seine Bewohner/innen entwickelt haben. Die Ergebnisse des Forschungs­projekts, Installationen, Stadt-Insze­nier­ungen und Theaterproduktionen mit Bochumer Opel­ mitarbeitern und ihren Familien werden fallweise punktuell, einige aber auch dau­ erhaft, in ganz Bochum, im Schauspiel­ haus und den Partner-­Institutionen ge­ zeigt. Der bildende Künstler Chris Kondek, das Architektenkollektiv modulorbeat, die Künstler Monika ­Strzepka­ & Pawel Demirski, das Kreativkollektiv basurama u.v.m. haben be­reits ihre Teilnahme am Festival zugesagt. Vier Ausgaben der Schriftenreihe „Bochumer Positionen“, gestaltet von vier unterschied­ lichen Künstlern, begleiten und dokumen­tieren das Projekt. Durch die verschiedenen Aktionen werden die Stadtbewohner und Opelmit­ arbeiter miteinander in Kontakt gebracht

und bekommen die Möglichkeit, als Ver­ bündete und nicht als Konkurrenten ein gemeinsames Gespräch über die Zukunft der Stadt zu führen. .

Künstlerische Leitung: Olaf Kröck, Sabine Reich Künstler/innen: Tim Etchells (UK), basurama (ES), Kristina Buch, ­modulorbeat, Umschichten, ­Hofmann&Lindholm, ­Mirjam Strunk, Ari Benjamin Meyers (US), Pawel ­Demirski & M ­ onika Strzępka (PL), ­Wojtek Ziemilski (PL) u.a. Schauspielhaus und Stadtgebiet ­Bochum: Oktober 2013 – Oktober 2014 ↗ www.schauspielhausbochum.de


Keep Me in Mind

Fidelio im Zuchthaus ­Cottbus

Odyssee: Klima Transdiszi­plinäres Festival

Der Zuschauer begibt sich an diese Orte zu Fuß, mit dem Fahrrad oder per Schiff. In einer Klima-Zelt-Stadt auf dem zentralen Platz vor dem Theater findet ein wissenschaftlicher Diskurs statt, in dem die Themen der Produktionen mit Wissenschaftlern der beteiligten Institute diskutiert werden. Daran angebunden ist ein Labor für Visionen einer nachhaltigen Stadt. Geplant sind auch ein öffentliches, kostenloses Essen aus den Lebensmittel­ resten der Supermärkte sowie weitere künstlerische Interventionen im Stadt­ raum. So zeigt die Künstlerin Anna Men­ delssohn ihren Ein-Frauen-Klimagipfel „Cry me a river“, das Stadttheater Bremer­ haven bringt Ilja Trojanows Klimaroman „Eistau“ auf die Bühne und internationale Theaterschaffende stellen ihre Klima-­Pro­ jekte per Skype vor. Künstlerische Leitung: Natalie Driemeyer Künstler/innen: Friedrich von Borries, Jens Carstensen, Nora Mansmann, Anna Mendelssohn (AT), Eva Meyer-Keller, Tobias Rausch, Anna Pleschke, ­Ilija Trojanow (BG), Sergej Vanaev (RU), Diana Wesser Stadtraum, Stadttheater, Alfred-­ Wegener-Institut für Polar- und Meeres­forschung, Potsdam-Institut ­f ür Klimafolgenforschung, Bremerhaven: 7.–9.6. und 14.–16.6.2013 ↗ www.stadttheaterbremerhaven.de

World of Matter Über den Umgang mit globalen ­Ressourcen

Das vom Hartware MedienKunstVerein Dortmund initiierte Forschungs-, Ausstel­ lungs- und Onlineprojekt „World of Mat­ ter“ erkundet die komplexen Ökosysteme und Kreisläufe von Rohstoffen wie Wasser, Erdöl, Baumwolle und Gold. Ziel des Pro­ jekts ist es, innovative und künstlerische Ideen im Umgang mit Ressourcen zu ent­ wickeln und diese öffentlich zu diskutieren. Die internationale Projektgruppe setzt sich aus Künstler/innen, Architekt/innen, Fotograf/innen, Programmierer/innen und Wissenschaftler/innen zusammen. „World of Matter“ nähert sich dem Thema dabei nicht aus anthropozentri­ scher Perspektive, die den Menschen und ­dessen Handlungen in den Mittelpunkt rückt, vielmehr versucht das Projekt, ei­ nen nicht-hierarchischen Blick auf die fragilen Kreisläufe und Interaktionen von Leben, Materie und Technologie zu wer­ fen. Acht Künstler/innen sind eingeladen, neue Arbeiten für „World of Matter“ zu produ­zieren, darunter Elaine Gan, Lon­ nie van Brummelen und Paulo Tavares. Herzstück des Projekts ist eine dyna­ mische Website, auf der Fotos, Kartogra­ fien, Videoclips und Texte präsentiert wer­ den. Über ein System vorab festgelegter narrativer Cluster auf der Site ergeben sich beim Navigieren immer neue, unerwarte­ te Zusammenhänge zwischen den einzel­ nen Themenfeldern. Im Herbst 2013 geht die Website zu Beginn eines geplanten Symposiums online. Ab 2014 werden die künstlerischen Produktionen in Aus­ stellungen in Dortmund und Stockholm

Foto: Siegfried Teller

(PL/IL/CA), Miriam Kremin (PL/IL), Das Staatstheater Cottbus erarbeitet Sara Zamir (BE/IL), Siegfried Teller „Fidelio im Zuchthaus Cottbus“ mit So­ (AT/GB/IL), Eyal Dinar (IL), Brigit Naef listen des Hauses und Gästen, die eigens Ein dialogischer Transit (CH), Jörg Jeshel, Ludger Henning für die Hauptrollen gewonnen werden europäischer Geschichte konnten. Den Part der Leonore (Fidelio) Stiftung Neue Synagoge Berlin – übernimmt die deutsche Sopranistin Wer erzählt die Shoa, wenn die Zeugen des Evelyn Herlitzius, die in dieser Rolle 1997 ­Centrum Judaicum, Berlin: ­ Geschehens nicht mehr vor Ort sind? Fast an der Sächsischen Staatsoper Dresden 15.–17.9.2013; Contemporary Art siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Center CAC/SMC, Vilnius: ­ Weltkrieges sucht das Projekt „Keep Me 4.–10.10.2013; Brüssel: März 2014; in Mind“ nach einer neuen Vermittlungs­ ­Warschau: Frühling 2014; Marseille: form und stellt die individuellen Lebens­ Frühling 2014 läufe von sieben Überlebenden in einer ↗ www.centrumjudaicum.de Performance in den Mittelpunkt. Die Re­ ↗ www.keepmeinmind.net gisseurin Christina Friedrich hat andert­ halb Jahre mit sieben Überlebenden der Shoa – Miriam Kremin, Leakadia Szlak, Siegfried Teller, Benjamin Ginzburg, Josef Künstlich, Sara Zamir und Ester Liber – gearbeitet und ihre Geschichten in Form Freihof der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus von Zeichnungen „geborgen“. Dort, wo Sieben Aufführungen von Beethovens die Sprache nicht hinreicht, wo Traumata Freiheitsoper debütierte. Sie gastierte bisher an renom­ gegenwärtig sind, hat sie die Beteiligten Im Sommer 2014 veranstaltet das Men­ mierten europäischen Opernhäusern, wie zeichnen lassen. Jede/r der sieben Erzäh­ schenrechtszentrum Cottbus e.V. ein z.B. der Staatsoper Wien und der Mailän­ ler/innen gab die Bilder zusammen mit zweiwöchiges Friedens- und Demokratie­ der Scala. Der US-amerikanische Tenor persönlichen Gegenständen, Erinnerungs­ fest in der Gedenkstätte Zuchthaus Cott­ Craig Bermingham, der u.a. als Solist am stücken und Fotografien aus Familienal­ bus. In verschiedenen Veranstaltungsfor­ Stadttheater Dortmund tätig war, tritt als ben in eine „Lebensschachtel“, die zen­ maten wird sich das Festival mit Themen Florestan auf. Insgesamt wirken zirka 200 trales Vehikel für die Performance ist. wie Krieg und Frieden, Zivilcourage und Künstler/innen bei dem Projekt mit. Bewohner der jeweiligen Stadt, die mit Die Übertragung der Premiere im AR­ Aufarbeitung der SED-Diktatur ausein­ der Biografie der Überlebenden vertraut andersetzen. Höhepunkt des Festes sind TE-Fernsehen wird angestrebt. sind, fungieren als „Boten“. Sie vermit­ sieben Open-Air-Aufführungen der Oper teln die Geschichten der persönlichen „Fidelio“ von Ludwig van Beethoven in Musikalische Leitung: Evan Christ (US) Gegenstände und Zeichnungen, die in Kooperation mit dem Staatstheater Cott­ Regie: Martin Schüler den jeweiligen Lebensschachteln zusam­ bus. Das Projekt ist eingebunden in das Künstler/innen / Besetzung: Evelyn mengeführt sind. Die Gegenstände er­ Europäische Jahr der Zeitgeschichte, das Herlitzius (Leonore) angefragt, Craig zählen gelebte Geschichte. die Bundesstiftung Aufarbeitung für 2014 Bermingham (Florestan) (US), Andreas ins Leben gerufen hat (100 Jahre Erster Jäbel (Don Pizarro), Jörn E. Werner Weltkrieg, 65 Jahre Grundgesetz, 25 Jahre (Rocco), Heiko Walter (Minister), Friedliche Revolution). Zudem feiert die Cornelia Zink (Marzelline), ­Hardy Uraufführung der endgültigen Fassung Brachmann (Jaquino) von „Fidelio“ 2014 ihren 200. Jahrestag. Mitte des 19. Jahrhunderts als König­ Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus: liches Zentralgefängnis erbaut, war das 28.6.–10.7.2014 Zuchthaus Cottbus eines der größten Ge­ ↗ www.menschenrechtszentrum-cottbus.de fängnisse für politische Häftlinge in der ↗ www.staatstheater-cottbus.de DDR. Bis 1989 saßen hier mehr als 20.000 Menschen u.a. wegen versuchter Repub­ likflucht und so genannter staatsfeindli­ cher Hetze ein. Viele von ihnen wurden durch die Bundesrepublik gegen Waren­ lieferungen in Höhe von rund 3,5 Milliar­ den DM frei gekauft. Der 2007 gegründete Verein Menschenrechtszentrum Cottbus, Klima-Parcours, Klima-Kapsel-Lounge, dem überwiegend ehemalige polit­ische Klima-Zelt-Stadt, Filmvorführungen, Gefangene angehören, erwarb den Bau Gastspiele, Welt-Klima-Theater-­ Die Zuhörer nehmen Umschläge mit den und setzt sich seitdem für die Sanierung Symposium, Labor für nachhaltige Zeichnungen an sich und werden selbst und den Ausbau der Gedenkstätte als Er­ Stadtentwicklung, Ausstellung zu Boten. Auf diese Weise werden Topo­ innerungs- und Ausstellungsort ein. grafie und Biografie als Signum eines Die Aufführung von Beethovens gro­ Für das Festival „Odyssee: Klima“ lädt das Kontinents erlebbar und berührbar. ßer Rettungs- und Befreiungsoper „Fide­ Stadttheater Bremerhaven Künstler/in­ lio“ in der Gedenkstätte konfrontiert das nen und Wissenschaftler/innen aus vielen In Haifa begann die Reise der Lebens­ Publikum auf eindrückliche Weise mit der Bremerhavener Einrichtungen wie dem geschichten im November 2012 in Anwe­ Geschichte und Architektur der Haftan­ Klimahaus oder dem kommunalen Kino senheit der Überlebenden. Im Herbst stalt. Der Innenhof und weitere Teile des sowie Fachleute aus den bundesweit füh­ 2013 findet die europäische Eröffnung im Geländes fungieren als Bühnenbild für die renden wissenschaftlichen Instituten ein, Centrum Judaicum in Berlin statt. Weite­ Inszenierung des Staatstheaters Cottbus. sich künstlerisch und wissenschaftlich mit re Stationen sind in Vilnius, Brüssel, War­ Die künstlerische und musikalische Lei­ dem Thema Klima auseinanderzusetzen. Das Herzstück des Festivals ist ein schau und Marseille geplant – Orte, die tung haben Intendant Martin Schüler bzw. in den einzelnen Biografien verwurzelt Generalmusikdirektor Evan Christ inne. Klima-Parcours: Vier Teams, bestehend sind. An jedem Ort wird ein neues En­ Der Opernchor wird durch Chöre der aus einem Wissenschaftler und einem semble von Boten zusammengestellt, das ­Region und interessierte Bürger/innen Künstler, widmen sich gemeinsam je ei­ die Geschichten der Überlebenden in die ­verstärkt, es ist außerdem geplant, ehe­ nem Phänomen des Klimawandels: der Welt hinausträgt. malige politische Häftlinge in den ‚Ge­ Temperaturerhöhung, dem Anstieg des fangenenchor‘ der Oper einzubinden. Der Meeresspiegels, der Trockenheit und den Auftritt des ‚Gefangenenchors‘ stellt ein Auswirkungen auf die Biodiversität. Sie Künstlerische Leitung: Christina berühmtes musikalisches Motiv der entwickeln eine Puppentheater-, Musik­ Friedrich, Michael Brauchli (CH) Opern­geschichte dar und gilt als Sinn­ theater- oder Tanzproduktion für einen Künstler/innen: Lida Barner (LU), bild für die Befreiung von Tyrannei und besonderen, so genannten „Klima-Ort“, Judith Siepmann, Benjamin Ginzburg Willkür sowie für die Rettung eines un­ etwa ein Windkanal oder ein Off­shore(PL/LT/IL), Ester Liber (PL/IL), Trainingswasserbecken. Josef Künstlich (PL/IL), Leakadia Szlak schuldigen Helden.

Foto: Sylvia Wähling

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25 gezeigt. Eine begleitende Publikation in deutscher und englischer Sprache liefert ausführliche Hintergrundinformationen. Künstlerische Leitung: Inke Arns Künstler/innen: Ursula Biemann (CH), Mabe Bethonico (BR), Elaine Gan (US), Uwe H. Martin, Peter Mörtenböck (GB), Helge Mooshammer (AT), Emily Eliza Scott (US), Paulo Tavares (BR), Lonnie van Brummelen (NL), Siebren de Haan (NL) Website online: 17.10.2013– 31.12.2014; Symposium / Workshop Argos, ­Brüssel: 17.–20.10.2013; Hartware ­MedienKunstVerein, Dortmund: ­ 15.2.–25.5.2014; Tensta Konsthall, Stockholm: 19.9.–6.12.2015 ↗ www.worldofmatter.org

Outside the Box!

Foto: Paolo Gasparini / Archivo Fundación Gego © Fundación Gego

Recherche- und Performance­­projekt mit sechs Kunstinstitutionen aus vier Ländern

Sechs Kunstinstitutionen aus vier Län­ dern haben gemeinsam das grenzüber­ schreitende Austauschprojekt „Outside the Box!“ entwickelt. Mit ihm suchen sie Antworten auf die Frage, wie sie sich mit ihrer Arbeit im Bereich Live-Art und Per­ formancekunst dieser ästhetischen Posi­ tion Geltung im gesellschaftlichen und politischen Diskurs verschaffen können. Dazu entsendet jede Institution für zwölf Tage ein Team aus Künstlern und Kul­ turakteuren in das Haus eines ausländi­ schen Partners, um vor Ort die jeweils spezifischen Produktionsbedingungen des anderen zu analysieren und mit un­ voreingenommenem Blick neue Formate, Konzepte und Produktionen für ihn zu entwickeln. Nach der Recherchephase präsentieren die Teams ihre Ergebnisse auf einem gemeinsamen Forum, das zum einen als Informations- und D ­ iskursbörse für ein internationales Fachpublikum dient, zum anderen als Publikumsfestival und Stückemarkt für Gastspiele. Eine ausführliche Dokumentation und Evalu­ ierung machten die Ergebnisse des Pro­ jektes für Kulturakteure und Publikum verfügbar. Ziel von „Outside the Box!“ ist ein interkultureller und interdisziplinärer Dialog, der es den Projektpartnern er­ möglicht, sich zu vernetzen und ergeb­ nisoffen über Methoden und Inhalte, Produktionsästhetiken wie auch über Pu­ blikumsentwicklungen und -ansprache auszutauschen. Künstlerische Leitung: Gabriele Oßwald, Wolfgang Sautermeister, Tilo Schwarz, Kathrin Tiedemann, Bojana Mladenović (NL), Paul Smelt (NL), Priit Raud (EE), Magda Grudzińska (PL) Projektentwicklung / Präsentation der Partner in Düsseldorf, Mannheim, Tallinn, Amsterdam, Warschau und Groningen: November 2013 –Mai 2014; Markt in Mannheim: 4. – 6.6.2014 ↗ www.zeitraumexit.de

Gego. Line as Object

Sind noch Lieder zu singen?

Ausstellung

Ein Projekt um das Lied in Deutschland (Ost und West) nach 1945. Gertrud Goldschmidt (1912–1994), ge­ Konzerte, Workshops, Vorträge, nannt „Gego“, zählt zu den bedeutendsten Podiumsdiskussionen, Urauf­ Künstlerinnen Südamerikas. In Hamburg führungen, Kompositionswettbewerb

aufgewachsen, studierte sie in Stuttgart Architektur bei Paul Bonatz, um dann we­ gen ihrer jüdischen Abstammung schließ­ lich nach Venezuela emigrieren zu müssen, wo sie zunächst als Architektin, dann als freie Künstlerin lehrte und arbeitete. Mit ihren großen, rhizomartig angelegten Ob­ jekten aus Draht und Seilen stellte Gego das traditionelle Verständnis von Skulptur in Frage, ebenso mit reduzierten Zeich­ nungen, bei der sie die Linie als Objekt einsetzte. Ihre revolutionäre und zugleich experimentelle Auffassung von Skulptur und Zeichnung im Raum wurde in Süd­ amerika wegweisend für eine junge Ge­ neration von Künstlern und hat die zeit­ genössische Kunst weit über Venezuela hinaus geprägt. In Europa hingegen fand Gegos Werk bislang wenig Beachtung, weshalb die in­ ternationale Ausstellungstournee seine Bedeutung für die europäische und nord­ amerikanische Kunst her­vorheben möch­ te. Die drei Häuser zeichnen in Hamburg, Stuttgart und Leeds mit jeweils spezifisch ausgerichteten Ausstellungen wichtige Stationen in Gegos Lebenslauf nach. ­Viele bislang selten gezeigte Arbeiten – d­ arunter Skulpturen, Rauminstallationen und Gra­ fiken – und ein umfangreiches Begleit­ programm vermitteln einen umfassenden Überblick über Gegos Œuvre.

Die Internationale Hugo-Wolf-Akademie für Gesang, Dichtung und Liedkunst in Stuttgart setzt sich für den Erhalt und die Förderung der Liedkunst ein, die im 19. und 20. Jahrhundert ihre Blütezeit erleb­ te. Wie hat sich das Lied als Kunstform weiterentwickelt? Welchen Platz nimmt es zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Kultur- und Musiklandschaft ein? Diesen Fragen begegnet die Internationale Hugo-­ Wolf-Akademie mit einem viertägigen Lied-Festival, um eine neue Beschäfti­ gung mit der Gattung Lied bei Akteuren und Publikum anzuregen. Das Projekt „Sind noch Lieder zu singen?“ untersucht in Workshops, Vorträgen, Podiumsdiskus­ sionen und Konzerten die heutige Bedeu­ tung des Kunstliedes. Mit einer Auswahl von Kompositionen u.a. von Aribert Rei­ mann, Paul Dessau oder Wolfgang Rihm reflektiert das Festival die Entwicklungs­ linien des Liedes in Deutschland von 1945 bis heute. Außerdem werden zehn bis zwölf Liedkompositionen in einer Beset­ zung für Stimme und Klavier und wahl­ weise ein weiteres Instrument (Bratsche oder Klarinette) in Auftrag gegeben. Die eingeladenen Komponist/innen, wie z.B. Iris ter Schiphorst, Martin Smolka, Jan Masanetz und Steffen Schleiermacher verkörpern verschiedene Generationen

Künstlerische Leitung: Steffen ­Schleiermacher, Axel Bauni, ­ Salome Kammer, Alexander Muno, Dorothea Bossert Künstler/innen: Claudia Barainsky, Matthias Klink, Holger Falk, ­ Salome Kammer, Axel Baumi, Steffen ­Schleiermacher u.a. Komponist/innen: Iris ter Schiphorst, Jan Masanetz, Oscar Strasnoy (FR/AR), Bernhard Lang (AT), Alexander Muno, ­Steffen Schleiermacher u.a. Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Stuttgart: 12.–15.3.2015 ↗ www.ihwa.de ↗ www.liedprojekt2015.org

Choreographie des Klangs – ­Zwischen Abstrak­tion und Erzählung Entwicklungslinien ­multimedialer Kunst. Ein Symposium, eine Hörspielproduktion

2013 feiern die ARD-Hörspieltage, die jährlich am ZKM in Karlsruhe ausgerich­ tet werden und mit der Verleihung des Deutschen Hörspielpreises ihren Höhe­ punkt finden, ihr zehnjähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass geht das diesjäh­ rige Programm des bedeutendsten Festi­ vals für Hörkunst im deutschsprachigen Raum über die bisher außerordentlich erfolgreichen Formate hinaus, indem es außer der Reihe ein internationales Sym­ posium veranstaltet. Es geht so grund­ sätzlichen Fragen nach wie den ästheti­ schen Möglichkeiten des Akustischen in der Begegnung mit anderen Künsten oder der Frage, inwieweit technische Innova­ tionen wie Computer, Speichermedien und Kopierverfahren die Audio Art heut­ zutage prägen. Außerdem wird der für seine Experi­ mentierfreude bekannte US-amerikani­ sche Regisseur Robert Wilson mit einem Hörspiel-Projekt beauftragt, in dem un­ terschiedliche Kunstformen miteinander verknüpft und zum Radioereignis werden sollen, das sich live während der Hörspiel­ tage erleben lässt.

Künstlerische Leitung: Ekkehard Skoruppa Kurator/innen: Gaby Hartel, Marie-Luise Goerke Projektleitung: Frank Halbig Organisation Symposium: Mareike Maage Künstler/innen: Anne Katrin ­ Gego, Reticulárea (ambientación) 1969, Museo de Bellas Artes, Caracas, Maße variable, Dolven (NO), John Giorno (US), ­R eticulárea-Ausstellung Peter ­Sloterdijk, Daniel Teruggi (FR), Markus Popp, Peter Weibel (AT), Künstlerische Leitung: Brigitte Kölle, und stehen für vielfältige ästhetische Tra­ Robert Wilson (US) u.a. Petra Roettig ditionen der Liedrezeption. In fünf Fes­ Künstler/innen: Gertrud Goldschmidt, tivalkonzerten werden jeweils ein bis zwei Symposium, Staatliche Uraufführungen neuer Werke gemeinsam Hochschule für Gestaltung gen. Gego mit historischen Liedkompositionen prä­ & Zentrum für Kunst und sentiert. Projektbegleitend wird ein Kom­ ­Medien­technologie Karlsruhe: Hamburger Kunsthalle: positionswettbewerb für junge Kompo­ 5.–7.11.2013; 29.11.2013–2.3.2014, Kunstmuseum Stuttgart: 29.3.–29.6.2014, Henry Moore nist/innen bis 30 Jahre ausgeschrieben, Live-Aufführung Hörspielprojekt deren Werke ebenfalls während des Fes­ Robert Wilson: 9.11.2013 ­Institute, Leeds: 24.7. –19.10.2014 ↗ www.hamburger-kunsthalle.de ↗ www.hfg-karlsruhe.de/www.zkm.de tivals uraufgeführt werden.


26 Sasha Waltz Installationen. Objekte. Performances Ein besonderes Merkmal der Arbeiten der Choreografin Sasha Waltz ist das Zusam­ menspiel von Bild, Körper und Raum. In ihren Choreografien finden sich Elemente, die über die Aufführungen hinaus installa­ tiv angelegt sind. Der Bühnenraum wird zum Ausstellungsraum und die zeitlich vor­übergehende Form des Tanzes verwan­ delt sich in eine dauerhafte Installation. Im Jüdischen Museum Berlin, im Neu­ en Museum Berlin sowie im MAXXI in Rom haben sich Sasha Waltz und ihre Compagnie die Ausstellungsräume be­ reits tänzerisch erobert und mit fast un­ beweglichen hängenden Körpern gezeigt, dass ihr Tanz sich knapp an der Grenze zur unbewegten Skulptur befindet. Im ZKM wird ihr nun ein Raum zur Verfü­ gung gestellt, der von ihren choreografi­ schen Experimenten abgeleitete Installa­ tionen zeigt. Zu sehen sind bildnerische und mediale Elemente aus den Arbeiten der neunziger Jahre, große (Bühnen-) ­Objekte, die während der Zeit an der Schaubühne entstanden sind, sowie Vi­ deo-Installationen, die anlässlich großer Opernprojekte entwickelt wurden. Performances, die an der Schnittstelle zwischen Bewegung und Bild agieren, beleuchten den Dialog zwischen zeitge­ nössischer Kunst und zeitgenössischem Tanz. Das ZKM möchte auf der Basis seiner langjährigen Recherchen zur Entwicklung des Tanzes und der Performance die Po­ sition von Sasha Waltz und ihrer Compa­ gnie zwischen Kunst und Tanz zeigen. An­ lass ist ein Doppeljubiläum: Sasha Waltz feiert 2013 ihren 50. Geburtstag sowie das 20jährige Jubiläum ihrer Compagnie „Sasha Waltz & Guests“. Die Stadt Karls­ ruhe spielt eine besondere Rolle – hier wurde Sasha Waltz geboren und erhielt ihre erste tänzerische Ausbildung. Künstlerische Leitung: Peter Weibel (AT) Künstlerin: Sasha Waltz Zentrum für Kunst und Medien­technologie, Karlsruhe: 28.9.2013–2.2.2014

Totaltheater12 Erste Arbeit von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen im G ­ roßen Haus der Volksbühne am ­Rosa-Luxemburg-Platz

Das Künstlerteam um Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen hat bis­ her sehr erfolgreich einzelne Ibsen-­Dra­ men aufgeführt. So war ihre Inszenierung von „John Gabriel Borkman“ 2012 zum Theatertreffen eingeladen und die Zeit­ schrift „Deutsche Bühne“ sprach von dem Theaterereignis der „letzten 10 Jah­ re“. Den Ausgangspunkt für ihre Produk­ tion in der Berliner Volksbühne bilden die Sozialdramen Henrik Ibsens, deren Fi­ guren mit ihrem Streben nach Höh­erem und Visionärem und ihren familiären Ver­

„Dialoge 09 – MAXXI “ von Sasha Waltz

Momente ohne das Davor und Danach Die Choreografin Sasha Waltz über ihre Ausstellung „Installa­ tionen. Objekte. Performances“ im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Liebe Sasha Waltz, das Zentrum für Kunst und Medientechnologiein Ihrer Heimatstadt Karlsruhe will Sie in den kommenden Wochen in einer großen Ausstellung als Bildende Künst­lerin zei­ gen. Wer hatte die Idee zur Schau? Peter Weibel hatte mich schon vor Jahren eingeladen, etwas zu zeigen. Anlässlich des zwanzigsten Jubilä­ ums von „Sasha Waltz & Guests“ in diesem Jahr ist dann die Idee ent­ standen, aus verschiedenen Objek­ ten, die mich schon seit Jahren begleiten, eine Ausstellung zusam­ men­zu­stellen. Meine Arbeit wird oft als Skulpturen in Bewegung be­ schrieben – die Herausforderung ei­ ner Ausstellung ist, Bewegung in eine Skulptur zu verwandeln. Was für Objekte werden Sie zeigen? Und können diese die Stimmung Ihrer Choreografien in eine Ausstellungs­ situation transportieren? Es gibt Objekte aus meinen Choreo­ grafien, Arbeiten, die ich zu Video­ installationen fortentwickele und live auch einige Sequenzen aus meinen Stücken, die, wie beschrieben, Bewe­ gung zur Skulptur formen und fest­ halten. Ich habe versucht Elemente auszuwählen, die an dieser Grenze

wicklungen gewissermaßen ein „Ibsen-­ Universum“ bilden. Als weiterer Ausgangs­ punkt dienen die bisher nie rea­lisierten Visionen Erwin Piscators von einem „To­ taltheater“. Piscator wollte dem Zuschau­ er eine unmittelbare Erfahrung ermög­ lichen und plante die Abschaffung der räumlichen Trennung zwischen Bühne und Publikum. Für die Produktion „Totaltheater12“ erarbeitet das Künstlerteam ein eigenes Stück, in das Motive aus 12 Sozialdramen Ibsens einfließen. Die Stücke werden auf Kernsätze reduziert und ihre Figuren in

zwischen Tanz und Bild, Körper und Installation entlang angesiedelt sind. Dabei habe ich versucht, die Objek­ te – wie zum Beispiel das Wasserbe­ cken aus „Dido & Aeneas“ oder die Glaswand aus Körper – auch vom Bühnenraum erzählen zu lassen. Ich wollte, dass man ihr Volumen, ihre Funktion, ihre Herkunft spürt. Ich zei­ ge sie zum Teil mit der Ori­ginal­musik der Stücke und bin gespannt, inwie­ weit sie auch ohne Tänzer die Stim­ mung vermitteln. Viele ihrer Choreografien verwandeln szenische Handlung in beinahe stati­ sche Bilder, weiter in Installationen, häufig mit den Mitteln des Videos aber auch mit dem fast bewegungs­ losen Körper. Wie kommt es zu diesem Prozess? Ich reagiere immer stark auf die Räu­ me, in denen wir arbeiten, ich ver­ messe und befrage sie gemeinsam mit den Tänzern, passe mich an, ­mache ihnen Komplimente oder set­ ze ihnen etwas entgegen, eine Ge­ schichte, ein Bild. Die Architektur solcher großen Museen wie bei­ spielsweise die des Jüdischen Muse­ ums Berlin von Daniel Libeskind, d ­ es von David Chipperfield restaurierten Neuen Museums Berlin oder die von Zaha Hadids MAXXI Museum in Rom stellt mir neues Material an Bewe­ gungen zur Verfügung, das ich zu Bildern, ­zu Raumstrukturen, einer eigenen ­Architektur aus Körpern for­

Beziehung zueinander gesetzt. Für die Inszenierung wird ein eigenes, internati­ onales Ensemble zusammengestellt, be­ stehend aus Schauspielern, Akrobaten, Opernsängern und Musikern. Die Künst­ ler bewegen sich streng choreografiert, wie in einem Computerspiel, abhängig von eingespielten Sprach- und Sound­ samples. Vegard Vinge agiert als Spiel­ meister, der die Szenen live neu anordnet und die von Ibsen und Piscator behan­ delten Themen auf aktuelle politische und ästhetische Debatten bezieht. Für die Volksbühne, die ehemalige Wirkungs­

Auch wenn es wie ein Widerspruch klingt: Wie organisieren Sie diese Of­ fenheit in Ihrer Arbeit? Es ist wichtig, Zuversicht und Zweifel in eine Balance zu bringen, das­ heißt seiner Idee von einem Bild zu vertrauen, ihr den richtigen Platz im Stück zu geben und sie in eine Be­ ziehung zu den Tänzern zu setzen. Bei „Dido & Aeneas“ hatte ich zuerst ein Bild vom Blau des Wassers, den Wellen des Meeres, und wollte eigent­lich ein Video drehen, dann wurde daraus ein Objekt, eben das Wasserbecken, weil es mir noch le­ bendiger erschien, und daraus ent­ stand dann die Szene mit den Tän­ zern im Becken. Umgekehrt ist aus „Allee der Kosmonauten“ ein eigener Film entstanden; ein Film, der das Stück nicht einfach dokumentiert, sondern die Choreografien in eine neue Dramaturgie übersetzt. Der Film wird in Karls­ruhe auch gezeigt werden. Das ZKM zeigt nicht nur Filme, son­ dern in einem eigenen Archivraum auch Entwürfe, Zeichnungen, Foto­ grafien. Haben Sie nicht auch ein we­ nig Angst vor soviel Musealisierung? Das ZKM ist ja ein unglaublich le­ bendiger Ort. Es ist für mich die Mög­ lichkeit, den Schwerpunkt auf einen Aspekt meiner Arbeit zu legen, der in allen Stücken existiert, aber weniger wahrgenommen wird. Im Tanzthea­ ter arbeiten wir mit der Zeit, die wir mit vielen intensiven Momenten fül­ len, die man gar nicht alle festhalten kann. In Karlsruhe kann ich einige Momente ausstellen, den Blick auf jene Bilder richten, die für mich wie Ikonen meiner Stücke sind, indem man aus dem Zeitstrahl des Stücks das Davor und das Danach einfach abschneidet. Tanz ist eine ephemere Kunst. Im Museum können wir die Zeit anhalten. Ich empfinde das als eine große Chance.

Die Fragen stellte Tobias Asmuth.

stätte Piscators, wird das Künstlerteam einen sehr großen, handgemalten Bühnen­ raum aus Pappe konstruieren, dessen labyrinthartige Kammern als Filmset zu verwenden sein werden. Künstlerische Leitung: Vegard Vinge (NO), Ida Müller, Trond Reinholdtsen (NO) Volksbühne am Rosa-Luxemburg-­ Platz / Großes Haus, Berlin: 1.12.2013–31.1.2016 ↗ www.volksbuehne-berlin.de

Foto: Bernd Uhlig

men kann. Das ist der eine starke Im­ puls. Der andere ist sicherlich, dass ich mich nicht an Genregrenzen hal­ ten möchte. Da will ich in meiner Ar­ beit offen bleiben, immer und über­ all Mittel und Medien aufzunehmen oder sie wieder zu verwerfen.


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27 1938. Kunst – Künstler – Politik Ausstellung anlässlich des 75. Jahrestags der Pogromnacht

© VG Bild-Kunst

Im Jahr 2013 jähren sich zum 75. Mal die Novemberpogrome des Jahres 1938 – dem Jahr, als der Kunstbetrieb im Deut­ schen Reich bereits fast vollständig „ari­ siert“ war. Aus diesem Anlass möchte das Fritz Bauer Institut einen Querschnitt des deutsch-österreichischen Kunstbetriebes aus jener Zeit abbilden. Neben der „Gro­ ßen Deutschen Kunstausstellung“ – der alljährlichen Leistungsschau nationalso­ zialistischer Kunst – oder der Propa­ gandaausstellung „Entartete Kunst“ soll insbesondere auch die Rolle der kulturel­ len Akteure dargestellt werden. Entlang der Biografien und Arbeiten von Künst­ lern, Sammlern und Galeristen, Kunst­ kritikern und Museumsangestellten sucht die Schau Antworten auf Fragen wie: Wer durfte seine Arbeiten ausstellen? Wer sie sammeln und verkaufen? Wie hießen die Gewinner, wie die Verlierer? Darüber hi­ n­aus wird die Schau ihre Exponate ästhe­ tisch und kunstgeschichtlich mit dem Ziel analysieren, sich gegen die verbrei­ tete Annahme stark zu machen, die NS-Kulturpolitik habe sich vorwiegend über stilistische Kriterien definiert und prinzipiell gegen avantgardistische Kunst gerichtet. Anhand aktueller Forschungs­ ergebnisse zeigt sie, dass es dem Natio­ nalsozialismus an einer eigenen konsis­ tenten Kulturtheorie mangelte und seine Kulturpolitik sich überwiegend rassen­ ideologisch begründete. Künstlerische Leitung: Julia Voss Gestaltung: Tobias Rehberger Künstler/innen: Hannah Ryggen, Wer­ ner Peiner, Lotte Laserstein, Heinrich Ehmsen, Elfriede Lohse-Wächtler Jüdisches Museum, Frankfurt am Main: 27.11.2013 – 23.2.2014 Vortragsreihe: 4.12.2013 –19.2.2014 ↗ www.juedischesmuseum.de

Postwar Art between the Pacific and the Atlantic, 1945–1965

„Postwar“ bildet den Auftakt zu der Tri­ logie „Postwar – Postcolonialism – Post­ communism“, einem internationalen For­ schungs- und Ausstellungsprojekt, das unter Federführung des Münchner Hau­ ses der Kunst in Zusammenarbeit mit der Londoner Tate Gallery und dem Centre Georges Pompidou, Paris, realisiert wer­ den soll. Von 2013 bis 2019 befasst es sich mit den wesentlichen ideologischen Para­ metern, die seit 1945 die Weltgeschichte geprägt haben: die Nachkriegszeit (1945 –1965), die Phase nach Ende des kolonialen Imperialismus (1960 –1980) und die noch nicht abgeschlossene Peri­ ode des Postkommunismus (seit 1989). Zentrales Anliegen des Vorhabens ist es, diese drei historisch-ideologischen Einflussgrößen in ihrer Bedeutung für Kunst und Kultur zu beschreiben: Die Konfrontation gesellschaftlicher Systeme spiegelt sich häufig in den gegensätz­

„Das Jahr 1938 war das Schicksalsjahr für den Kunst­betrieb“ Fragen an Prof. Dr. Raphael Gross, ­ Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt, zur Ausstellung „1938. Kunst – Künstler – Politik“:

Was interessiert ein Jüdisches Muse­ um daran, einen Querschnitt durch das Kunstleben im Nationalsozialis­ mus des Jahres 1938 zu geben? Erst wollte ich eigentlich, da ich dazu gerade für den Beck Verlag ein kleines Buch darüber geschrieben habe, eine Ausstellung über den November 1938 machen – über die Katastrophe vor der Katastrophe. Aber dann wurde mir klar, dass dies schwer zu zeigen wäre. Ich sprach mit Julia Voss und so entwickelte sich mit ihr die Idee, dass man anhand der Kunstwelt, die ja ein Teilsystem der Gesellschaft ist, ein Mikrokosmos im Makrokosmos, besonders anschaulich zeigen lässt, was im Jahr 1938 passierte. In der Kunstgeschichte spielt bisher 1937 eine weitaus größere Rolle, da in diesem Jahr die Ausstellung „Entartete Kunst“ in München eröffnete. Wir halten 1938 für entscheidender. Die historischen Großereignisse betrafen nicht nur zahlreiche Individuen der Kunstwelt, sie veränderten sie nachhaltig: Denken Sie etwa an den „Anschluss“ und den organi­ sierten Kunstraub von jüdischen Sammlungen in Österreich. Spätestens nach dem November 1938 wurde schließlich klar, dass die Epoche der deutsch-jüdischen Ge­ schichte beendet war. Für die deut­schen Juden gab es nur noch einen Weg, die sofortige Flucht. Insofern hieß es für einen jüdischen Künstler etwas völlig anderes, wenn Werke als „entartet“ diffamiert wurden, als für einen Künstler, der einen Ariernachweis erbringen konnte und wieder Aufnahme in die Reichskammer der bildenden Künste fand. 1937 ist nur der Anfang, wer, wie verfolgt wurde, zeigt sich erst von 1938 an. Für politische, jüdische Künstler und auch für solche, die in Heilanstalten einsaßen, wurde es nun lebensbedrohlich.

Der Kunstbetrieb wurde besonders schnell und tiefgreifend von den Nationalsozialisten umgestaltet. Gleichzeitig florierte der Kunst­ handel, sowohl Alte Meister als auch die Moderne. Ein Widerspruch? Kein Widerspruch, es ist die not­ wendige Folge. Den entscheidenden Unterschied macht die Formulierung: Der Kunstbetrieb wurde zuerst nicht „von den Nationalsozialisten“ um­ gestaltet, sondern „im Nationalsozialismus“. Die jüdischen Kunsthändler verloren nämlich ihre Lizenzen, bevor

es eine gesetzliche Grundlage dafür gab. Die Veränderungen wurden also nicht befohlen, sie wurden vom Kunsthandel selbst vorangetrieben. Kunsthändler witterten die Chance, Konkurrenten auszuschalten, und nutzten diese. Die Lücke, die von den jüdischen Kunsthändlern hinter­ lassen wurde, füllten nun solche, die als „arisch“ galten. Sie profitierten doppelt: Sie übernahmen die Geschäfte und verkauften zahlreiche Sammlungen, die zuvor Juden gehört hatten. Die Führungsspitze der Nationalsozialisten gab Unmengen von Geld für Kunst aus. Wie kürzlich Studien gezeigt haben, gab es auch weiterhin einen deutschen Markt für Kunst der Moderne. Mehr noch: 1938 und 1939 stiegen sogar die Preise.

ausgetauscht, er wurde komplett umgebaut. Jedem dieser Teile wid­men wir einen eigenen Raum. Dabei treffen natürlich Gegensätze aufeinander: „Entartete“ und gefeierte Kunstwerke, Verfolgte und Meinungsführer, Opfer und Täter.

„Entartete Kunst“ verstand sich als Kampfansage an den sogenannten „jüdischen Kulturbolschewismus“. Die Avantgarde wurde als Symptom eines korrumpierten Kunstlebens diffamiert, als Wurzel galt das Juden­ tum. Es ging den Nazis weniger um Stilfragen. Zugespitzt gesagt: weniger um die Kunst. Welche Kunst zeigen Sie in Ihrer Ausstellung? Widersprüchliche Kunst. Wie sah „entartete Kunst“ aus? Wie linientreue? Bei der Antwort auf diese Frage wird es einige Überraschungen in unserer Ausstellung geben. „Ent­ artet“ ist in der Nachkriegszeit einfach ein Synonym für „modern“ geworden. Im Nationalsozialismus lauteten die Synonyme „verjudet“ und „kulturbolschewistisch“, oder es wurde von „Verfallskunst“ gesprochen. Aus einem rassebiologischen Begriff wurde also in der Nachkriegszeit ­ ein Stilbegriff. Einige Kunstwerke in unserer Ausstellung entsprechen dieser Erwartungshaltung, viele aber wird man auf den ersten Blick nicht zuordnen können.

Die Ausstellung will also zeigen, wer 1938 ausstellen, verkaufen oder sammeln durfte. Welche Künstler, Kunsthändler, Kunstkritiker und Kunstsammler stellen Sie vor?

Porträt Georg Swarzenskis von Max Beckmann, Radierung, ­Jüdisches Museum Frankfurt

In München wurde 1938 zum zweiten Mal die jährliche Leistungsschau nationalsozialistischer Kunst gezeigt, die „Große Deutsche Kunstausstel­ lung“. Die Propagandaausstellung „Entartete Kunst“, die 1937 ebenfalls in München eröffnet hatte, wanderte durch das Deutsche Reich. Wie will ihre Ausstellung diese Gegen­ sätze präsentieren? Wir freuen uns sehr, dass es uns ge­lungen ist, das Studio Tobias Rehberger dafür zu gewinnen, die Ausstellungsarchitektur zu entwerfen. In diesem Fall ist die Architektur besonders wichtig, da die Räume nicht einfach neutrale Behälter sind, in denen Kunstwerke hängen. Der Besucher betritt ein geschlossenes System, das er sich beim Gang durch die Schau erschließt. Die Kunstwelt setzt sich wie ein Motor aus verschiedenen Teilen zusammen, sie müssen zusammenwirken, damit das Ganze funktioniert: Künstler, Händler, Kritiker, Sammler, Museumsleute. In diesem Motor wurden 1938 zahlreiche Teile

Wir zeigen die Kunstwelt, die sich erhebt, und die, die untergeht. Wir zeigen Werke von kritischen und verfolgten Künstlern wie Hannah Ryggen, Lotte Laserstein, Elfriede Lohse-Wächtler oder Jankel Adler. Wir zeigen Künstler, die von den Nationalsozialisten gefördert wurden, wie etwa Werner Peiner oder Gerhard Löbenberg. Wir stellen das Werk der jüdischen Kunstkritikerin Luise Straus-Ernst vor, das Auktionshaus des jüdischen Kunsthändlers Hugo Helbing; ihnen stellen wir Vertreter des Kunstsystems gegenüber wie die völkische Kunstkritikerin Bettina Feistel-Rohmeder oder den Münchner Kunsthändler Adolph Weinmüller, der Helbings Haus übernahm. Bei den Sammlern beschränken wir uns auf die nachweislich finanzkräftigsten Sammler – die Spitze der NSDAP: Adolf Hitler oder Hermann Göring. Wir stellen also Einzelpersonen in den Vordergrund, die stellvertretend für das System sind, die Kunstmaschine, die 1938 vollendet wird – und übrigens auch nach dem Nationalsozialismus in vielen Hinsichten weiterlief. Eine Ausstellung kann allerdings nur eine Auswahl zeigen, sonst wird es unübersichtlich. Zu der Ausstellung gibt es einen Katalog. Dort kann weiterlesen, wer noch mehr wissen möchte.

Interview: Tobias Asmuth


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Die Forschungsergebnisse werden in Publikationen sowie auf einem mehrtägi­ gen internationalen Kongress präsentiert und zusammengeführt. Sie bilden die ­Basis für die Erarbeitung des Ausstel­ lungskonzepts sowie die Auswahl von Po­ sitionen und Exponaten für die Schau, die ab 2015 im Münchner Haus der Kunst zu­ sehen sein wird. Sie wird gerahmt von ­einem umfangreichen Begleitprogramm, das in einer Vielzahl von Veranstaltungen die verschiedenen Themenschwerpunkte zur Diskussion stellt und vertieft. Ein In­ ternetauftritt sowie eine umfassende Pub­ likation dokumentieren und kommentie­ ren den Gesamtkomplex des Projektes. Künstlerische Leitung: Okwui Enwezor Regionale Expert/innen: Patrick D. Flores (PH), Hal Foster (US), Andrea Giunta (US), Boris Groys (US), Salah M.

Hassan (US), ­Cuauhtémoc Medina (MX), Künstler/innen: Jane Alexander (SA), Alexandra Munroe (US), Chika Okeke-­ Fernando Alvim (AO), Ghada Amer (ET), Agulu (US), Mari Carmen Ramirez (US), Kader Attia (FR), Kendell Geers (SA), Terry Smith (AU), Reiko Tomii (JP) Frances Goodman (SA), Julie Mehretu Künstler/innen: Lygia Clark (BR), Gutai (ET), Wangeshi Mutu (KE), Lamia Naji (JP), Tadeusz Kantor (PL), Wifredo Lam (MA), Yinka Shonibare (UK) u.a. (CU), ­Ernest Mancoba (SA), Tayyabb (Tyeb) Mehta (IN), A. R. Penck, Rent MMK Museum für Moderne Kunst, Collection Courtyard (CN), Gerhard Frankfurt am Main: 1.3. – 6.7.2014 ↗ www.mmk-frankfurt.de Richter, Gerard Sekoto (SA), ­Andrzej Wróblewski (LT) u.a.

Dagmara Kraus, Martin Fritz (AT), Anja Kampmann, Sophie Reyer (AT), Eva Seck (CH), Reinhard Lechner (AT), Tim Holland, Patrick Savolainen (CH), Yevgeniy Breyger, Michelle Steinbeck (CH), Christiane Heidrich

Seminare Haus der Kunst, München: 1.6.2013 – 31.10.2014; Konferenz Haus der Kunst, München: 5.– 8.2.2015; Ausstellung Haus der Kunst, München: 1.9.2015 – 31.1.2016

↗ www.literaturwerkstatt.org

↗ www.hausderkunst.de

Babelsprech Junge deutsch­sprachige Dichtung

In den vergangenen Jahren ist Bewegung in die deutschsprachige Dichtung gekom­ men – eine neue Generation erobert die literarische Bühne. Das Projekt „Babel­ sprech. Junge deutschsprachige Dichtung“, initiiert von der Literaturwerkstatt Berlin und dem Literaturhaus Wien, möchte über drei Jahre eine Diskussion anregen, die zur Selbstverständigung des Dichtens im deutschsprachigen Raum führt.

Symposium Lana, Südtirol: 26. – 29.9.2013; Literaturwerkstatt Berlin, Literaturhaus Wien, Kaufleuten, Zürich, Robert-Walser-Zentrum, Bern: 1.11.2013–14.5.2015

Sounds no Walls Klezmer, Jazz und Kammermusik

In Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde sollen die unterschiedlichen Fa­ cetten jüdischen jazzmusikalischen Schaf­ fens zwischen Tradition und Innovation, Klezmer und Kammermusik gezeigt sowie Die Göttliche Komödie aus der Sicht prominente Vertreter der deutschen Jazz­ ­afrikanischer Gegenwartskünstlerr szene eingeladen werden. Die wichtigsten Dantes „Göttliche Komödie“ ist ein Klas­ Akteure der „Radical Jewish Culture“ wie siker der Weltliteratur. In der Darstellung Das Projekt startet mit einem ersten Steve Bernstein, David Krakauer, Uri Cai­ der menschlichen Gesellschaft von der Netzwerktreffen in Lana (Südtirol): ne werden in mehreren Konzerten vorge­ Antike bis zum Mittelalter verknüpft sie Durch das Poesiefestival, den Lyrikpreis stellt. Diese Bewegung nahm ihren Anfang christliche Glaubensvorstellungen mit an­ und das Literaturstipendium stellt die in den neunziger Jahren in New York und tik-heidnischen Motiven, die sich letztlich Stadt einen zentralen Ort lyrischer Be­ befasste sich mit dem Zusammenhang einem genuin europäischen Wertehorizont gegnung über nationale Grenzen hinweg zwischen jüdischer Identität und musika­

Himmel, Hölle, Fegefeuer

© Kudzanai Chiurai / courtesy: The Artist and the Goodman Gallery

lichen Funktionen, die der Kultur darin zukommen – etwa in der unversöhn­ lichen Auseinandersetzung um Realismus und Abstraktion zwischen kommunis­ tischem und kapitalistischem System. Wie übertrugen sich militärische Konflik­ te, das aggressive Ringen um Einflusssphä­ ren oder der Wettbewerb um die Demon-­ stration von systemischer Über­legenheit in Wirtschaft und Wissenschaft auf die Kultur? In welcher Form strahlte die Rhe­ torik des Kalten Krieges auch auf die Ent­ wicklungen der Kunst und ihrer Diskurse ab? Solche Fragen versucht das Ausstel­ lungsprojekt jenseits etablierter west­ europäischer Erklärungsmodelle zu be­ antworten – in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, Autoren und Künstlern in osteuropäischen Ländern, China, Ja­ pan, in den USA, Indien sowie in afrika­ nischen Ländern. Unter der großen An­ zahl an Künstlerinnen und Künstlern, die das Projekt berücksichtigt, seien genannt – für Ost-Europa: Ivan Kozaric, Edward Krasinski, Tadeusz Kantor; für die USA: Willem de Kooning, Jackson Pollock, ­Robert Rauschenberg; für Japan: On­ ­Kawara, die Gutai Group und andernorts viele weitere mehr. „Postwar – Postcolonialism – Post­ communism“ möchte die bislang vorherr­ schenden, weitgehend vom westlichen Standpunkt aus formulierten Perspek­ tiven auf die politische, wirtschaftliche und kulturelle Landschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um globale Aspekte erweitern. Das Projekt setzt aus einer Perspektive an, die unseren Blick aus seiner eurozentristischen Fokussie­ rung löst. Entwicklungen und Regionen, die in der westlichen Welt bislang bloß am Rande wahrgenommen wurden, sollen da­ durch in den Vordergrund rücken. Die Umsetzung von „Postwar“ beginnt 2013 mit einer umfassenden Recher­ chephase, die die jeweils unterschied­li­ chen kulturgeschichtlichen Ent­wick­lun­ gen der Nachkriegszeit in den Ländern Osteuropas und Vorderasiens, Ostasiens und Indochinas, Afrikas sowie der beiden Amerikas identifiziert. Lokale und trans­ nationale, interdisziplinäre Diskurse sol­ len einbezogen werden und in Kolloquien, Seminaren und Konferenzen mit Fachleu­ ten aus den angesprochenen Regionen münden. Parallel dazu werden Projekt­ skizzen zu „Postcolonialism“ und „Post­ communism“ entwickelt.

Filmstill aus Iyeza von Kudzanai Chiurai (2011)

verdanken: Auf seiner Jenseitswanderung lässt sich Dante vom antiken Dichter Ver­ gil und seiner Muse Beatrice durch die drei Jenseitsbereiche Hölle, Fegefeuer und Pa­ radies leiten, in denen sich irdische sozia­ le und politische Verhältnisse widerspie­ geln. Genau dieser Einteilung folgt das kuratorische Konzept der Ausstellung, die die eurozentristische Perspektive auf die­ ses Werk überwinden möchte: 60 afrikani­ sche Künstler aus 22 afrikanischen Län­ dern aus unterschiedlichen künstlerischen Bereichen (Malerei, Fotografie, Skulptur, Video, Performance, Installation) zeigen ihre eigene kulturelle, ethnische oder re­ ligiöse Interpretation von Hölle, Fegefeu­ er oder Paradies. So entsteht ein differen­ ziertes und neu akzentuiertes Bild der menschlichen Gesellschaft, das den euro­ päischen Deutungshorizont aufbricht. Ku­ rator der Ausstellung im Museum für Mo­ derne Kunst Frankfurt am Main (MMK) ist der in der Schweiz geborene Simon Njami, dessen Eltern aus Kamerun stammen. Künstlerische Leitung: Simon Njami (FR)

dar. Das Treffen dient der Selbstveror­ lischem Ausdruck. In Tel Aviv und Berlin tung einer neuen Generation von Dich­ hat die Bewegung neue Zentren gefunden tern, der Vernetzung von bislang getrennt – Hamburg soll durch „Sounds no Walls“ agierenden Lyrikszenen der Schweiz, ein weiteres werden. 2013 ist außerdem Öster­reichs und Deutschlands sowie der das Jahr der Jubiläen im deutschen Jazz: Vorbereitung eines Webblogs, der als Ernst Ludwig Petrowsky wird 80 Jahre, Plattform junger Lyrik dienen soll. Conny Bauer und Günter Baby Sommer Gleichzeitig ist das Treffen der Auftakt feiern ihren 70. Geburtstag. und das Zen­ der Lesereihe „Babelsprech. Live“, die in tralquartett spielt seit 40 Jahren zusam­ vier Durchgängen von 2013 bis 2015 in men. Sie und weitere wichtige Protagonis­ Wien, Berlin und der Schweiz stattfinden ten der deutschen Jazzszene – Ulrich wird. Zum Abschluss der dreijährigen Gumpert, Alexander von Schlippenbach, Projektphase führt die Sammlung „Lyrik Uschi Brüning u.v.a. – sind eingeladen, von Jetzt3“ die wichtigsten neuen Stim­ diese Anlässe würdig zu begehen. Gäste men aus dem deutschsprachigen Raum aus Indien, Kuba und Südafrika bereichern das Programm mit ihren Rhythmen und zusammen. Der Verein Literatur Lana, der Veran­ Spielarten. stalter Kaufleuten Zürich, das Robert-­ Walser-Zentrum sowie der Wallstein Künstlerische Leitung: Ulli Blobel ­Verlag konnten als Kooperationspartner Komponist: Leon Gurvitch von „Babelsprech. Junge deutschsprachi­ Künstler/innen: David Krakauer ge Dichtung“ gewonnen werden. Madness Orchestra (US/IL), The Globe Unity Orchestra (GB/US u.a.), Künstlerische Leitung / Kuration: Zentralquartett, Han Bennik (NL), Max Czollek, Michael Fehr (CH), Robert Uschi Brüning, Uri Caine (US), Dave Prosser (AT) Liebman (US), Ernst-Ludwig Petrowsky, Künstler/innen, Autor/innen: Uwe Kropinski, Julie Sassoon (GB)


29 Talmud-Tora-Schule, Hamburg: 2.10.2013–12.6.2014 ↗ www.sounds-no-walls.de

Kinder­königreich Ein Projekt von ­Paweł Althamer im ö ­ ffentlichen Raum

Responsive ­Subjects Über die Gestaltung von kollektiven ­Handlungen

Wie können Erfahrungen verschiedener Künstler/innen an einem Ort und in ei­ nem konkreten Zusammenhang gebün­ delt und unterschiedlichen Öffentlichkei­ ten zugänglich gemacht werden? In dem interdisziplinär und partizipativ angeleg­ ten Projekt „Responsive Subjects“ der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig stellen drei junge, international erfolgreiche Künstler/innen ihre Arbeits­ weise vor: die Künstlerin Kateřina Šedá, die (Performance-)Kuratorin Joanna Warsza und der Designer James Langdon setzen sich mit der Gestaltung von sozia­ len Prozessen im lokalen Leipziger Kon­ text auseinander und entwerfen gemein­ sam verschiedene Handlungsformate. Der Projekttitel bezieht sich dabei so­ wohl auf die Interaktion der Teilnehmer/ innen als auch auf die Bezüge zwischen den Disziplinen, Methoden und Themen der Künstler/innen. Ideen und Formate werden miteinander verknüpft, um ver­ schiedene Öffentlichkeiten, wie z.B. Kin­ der und Jugendliche, zu aktivieren und zu vernetzen. Die Galerie wird dabei zur Produktionsstätte und zum zentralen Austragungsort. Im Mittelpunkt steht das kollektive Handeln, das gemeinschaftli­ ches Lernen und Arbeiten ermöglicht und sich idealerweise im Alltagsleben der Menschen fortsetzt. Ziel ist auch, ein an­ deres Verständnis dafür zu wecken, was zeitgenössische Kunst bedeuten und be­ wirken kann. Die Künstler/innen arbeiten u.a. mit Studierenden der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, der Hoch­ schule für Musik und Theater Leipzig und der Burg Giebichenstein in Halle/Saale zusammen.

auf Festivals vor. Alle Dichtungen werden in ihrer Originalsprache sowie in ukraini­ scher Übersetzung gelesen, alle ukraini­ schen Dichtungen werden auch ins Deut­ sche übersetzt. Bei den Lesungen treffen immer Ukrainer und internationale Lyri­ ker/innen in unterschiedlichen Kombina­ tionen aufeinander. Die Auswahl der deut­ schen Teilnehmer/innen – Ann ­Cotten, Jan Wagner, Marion Poschmann und Hans Thill – ist handverlesen. Zum Abschluss der Tournee lesen ukrai­nische und deutsche Dichter/innen in Berlin und Bremen.

Die Stadt Aachen steht 2014 ganz im Zei­ chen des 1200. Todesjahres Karls des Großen. Gemeinsam mit dem Ludwig Fo­ rum für Internationale Kunst entwickelt der polnische Künstler Paweł Althamer ein Projekt mit jungen Teilnehmern. Er Künstlerische Leitung: Iryna Vikyrchak möchte ein „Kinderkönigreich“ errichten, (UA) das sich über Garten und Hof des Ludwig Künstler/innen: Jurij Andruchowytsch Forums, die gegenüberliegende Elisa­ (UA), Michael Donhauser (AT), Nora bethkirche und den öffentlichen Raum Gomringer (CH), Nora Iuga (RO), Amir dazwischen erstreckt. Or (IL), Igor Pomerantsev (GB), Andrzej Althamer lädt alle Kinder aus Aachen und Sosnowski (PL), Yōko Tawada, Jan unmittelbarer Umgebung dazu ein, krea­ ­Wagner, Serhij Zhadan (UA) tiv tätig zu werden. In mehreren Work­ shops sollen sie herausfinden, ob und was Art Cluster EMSA, Kiew: 4.9.2013; sie an ihrer Umgebung ändern möchten Zug Kiew-Czernowitz: 5.–6.9.2013; und dazu angeregt werden, den öffentli­ Czernowitz: 6.–8.9.2013; Zug chen Raum nach ihren Vorstellungen zu Czernowitz-Lemberg: 9.9.2013; gestalten. Unter künstlerischer Anleitung Lemberg: 10.–13.9.2013; Kultur­ können sie ein Monument erschaffen, brauerei, Berlin: 23.9.2013; Fassaden und Gebäude entwerfen, Stra­ Stadtbibliothek, Bremen: 25.9.2013 ↗ www.meridiancz.com/poetychne-turne/ ßenkonferenzen abhalten oder in der Eli­ sabethkirche Zeremonien organisieren. Die Kinder haben dabei den Freiraum, die Czernowitz 2012 Projekte ganz nach ihren eigenen Visio­ Einen Monat ist es heute schon, dass ich in Deutschland bin. nen umzusetzen. Ganze vier Wochen! Basierend auf den Ideen des in Treb­ Vier Wochen, die ich nicht bemerkt habe, linka ermordeten Autors und Arztes Kein einziges Mal wollte ich alles hinwerfen ­Janusz Korczak greift Althamer auf die Ein Rückticket kaufen oder mich einfach teleportieren Idee einer Kinderrepublik zurück, die den Vier Wochen – genau für diese Zeit reichen Diskurs über Freiheit und Macht, Orga­ Ein Shampoo und eine Zahnpasta nisation und Politik sowie die Umkehrung Und eben weil heute Morgen die Zahncreme aus war, des Verhältnisses zwischen Erwachsenen Merkte ich, dass ich schon einen Monat in Deutschland bin. und Kindern zum Thema hat. Als zeitge­ Gott allein weiß es und vielleicht auch der Händler am Kiosk, nössischer Kommentar stellt das Projekt Wie oft ich morgens einen Kaffee mitgenommen habe, „Kinderkönigreich“ Fragen nach der Be­ Kofi tu go, für einen Euro. Auch der Blumenverkäufer an der Ecke weiß wohl, deutung der Jüngsten in unserer Gesell­ Wie viele Tulpensträuße ich mir in dieser Zeit gekauft habe schaft, deren Existenzbedingungen, Wün­ Und wie lange sie halten. schen und Ideen von Freiheit. Künstlerische Leitung: Julia Schäfer, Es war schwer zu erkennen, dass ich Berlin nicht mehr sehe Franciska Zólyom Wie man manchmal denn geliebten Mann im Haus nicht mehr sieht Kurator/innen: Julia Schäfer, Zwei Jahre nach der Hochzeit Franciska Zólyom Wie man das Frühstück nicht mehr sieht, das die Mutter zubereitet Künstler/innen: Kateřina Šedá (CZ), Bis sie nicht mehr ist ­Joanna Warsza (PL), James Langdon (GB) Wie man nicht sieht, welches Glück ein Haus und alles darin bedeutet Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig: 20.9.2013–12.1.2014

Courtesy: Foksal Gallery Foundation, W ­ arsaw

↗ www.gfzk.de

Lyrik-Tournee Kiew–Czernowitz– Lemberg–Berlin– Bremen Lesungen im Zug, ukrainischen Städten, Berlin und Bremen Paweł Althamer, Golden Knight, 2010.

Künstlerische Leitung: Brigitte ­Franzen, Paweł Althamer (PL) Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Esther Boehle (kuratorische Assistenz) Künstler/innen: Paweł Althamer (PL) Ludwig Forum für Internationale Kunst, Aachen: 19.6.–7.9.2014 ↗ www.ludwigforum.de

Ukrainische Lyrik kennen wir kaum, und auch unter Lyriker/innen gilt sie immer noch als ein Geheimtipp. Das soll sich än­ dern. Drei Wochen lang reisen siebzehn Dichterinnen und Dichter aus der Ukrai­ ne zusammen mit Kolleg/innen aus Isra­ el, Polen, Rumänien, der Schweiz, Öster­ reich und Deutschland durch die Ukraine. Sie tragen ihre Lyrik zum Teil in den ­Zügen, zum Teil an ukrainischen Unter­ wegsstationen in Literaturhäusern und

Bis der Blick den trifft, der kein Haus hat. Wie man Füße und Hände für gegeben hält und nicht auf sich achtet, Bis man einen Krüppel aus der Nähe sieht… Ich sehe dich nicht mehr, Berlin, Berlin, dein Komfort ist so unerschöpflich, Dass man sich allzu schnell daran gewöhnt, Bis plötzlich die Paste in der Tube ausgeht. Es gibt nur hier und jetzt, aber Die Tage überlagern sich, Jeden Tag drückst du Zahncreme aus der Tube, Die Tage überlagern sich, Die Tube leert sich langsam, Aber du merkst es nicht, Wie du auch nicht merkst, dass die Kinder wachsen – Jeden Tag ein Stück. Bis du plötzlich eines Morgens deine Zähne nicht mehr putzen kannst. Ich muss dich von mir losreißen, muss mich von hier losreißen Irgendwann zurückkehren, wenn ich ordentlich entwöhnt bin, Um mich wieder an dich zu gewöhnen. Mach’s gut, mein Liebes, mein Bequemes, Mein Funktionales, ich kann nicht mehr mit dir. Wozu einen Koffer? Berlin, ich packe meine Sachen Ich fahre zurück zu meinen Eltern nach Czernowitz. Übersetzung aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Iryna Vikyrchak, 1988 in Galizien geboren, ist Absolventin der Fakultät für Fremdsprachen der Nationalen Jurij-Fedkowytch-Universität in Czernowitz. Sie veröffentlichte Gedichte in verschiedenen Almanachen und Zeitschriften und ist Direktorin des 2010 ins Leben geru­fenen internationalen Lyrikfestivals „Meridian Czernowitz“.


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Was heißt schon Fremdsein und wo beginnt eigentlich das Exil ?

Immer wieder gerät die ungarische ­Politik unter Minister­präsident Viktor Orbán in ­ die interna­tionalen Schlagzeilen. ­Orbán baut Ungarn seit ­seinem Wahlsieg 2010 machtpolitisch ­ und ideo­logisch radikal um.

Dabei lässt seine ­Regierung keinen Zweifel daran, dass eine unbequeme ­Kulturszene nicht erwünscht ist. Viele Künstlerinnen und Künstler stellen sich immer öfter die Frage: Bleiben oder gehen?

Wir haben Teil­ nehmerinnen und ­Teilnehmer am ­UngarnProjekt des Berliner Theaters HAU ­ Hebbel am Ufer ­gefragt: Spielen Sie mit dem Gedanken, ­Ungarn ­zu verlassen?


31 Leaving is not an option. Leaving is a fact. Árpád Schilling Theaterregisseur

Mitten in Europa gibt es einen Staat, der nominell zwar demokratisch, aber in Wirklichkeit längst autori­ tär ist. Wie ist das möglich? Es liegt an geschichtlichen, soziologischen und kulturellen Faktoren; der Einzelne pocht auf seine Vorrechte, und er weist als Teil der All­ gemeinheit einen völligen Mangel an Solidarität auf, so ließe sich die in Ungarn herrschende Mentalität noch am ehesten charakterisieren. „Deins ist, was du essen kannst“, lehrte mich mein Vater. Und wunderte sich, als ihm später bei seinem Rauswurf aus der Firma nur Käl­ te widerfuhr. Ungarn als Gemeinwesen existiert nicht. Clans, Fa­ milienunternehmen, parteipolitische Allianzen halten das öffentliche Leben im Würgegriff. Eine „einheitliche Nation“ existiert ebenso wenig, denn es gibt nichts, was die partikulären Interessen auf höherer Ebene symbo­ lisch und zugunsten eines Gemeinwohls pragmatisch koordinieren würde. Nach dem Regierungswechsel habe ich mich in mei­ ner Rede am 15. März 2011, unserem Nationalfeiertag, gegen die Ausgrenzung von linken, liberalen und un­ abhängigen Intellektuellen ausgesprochen und für die Notwendigkeit der Zusammenarbeit plädiert. Eine ad­ äquate Reaktion auf meinen Vorstoß ist bis heute aus­ geblieben, hingegen hat die Regierungswalze die de­ mokratischen Mindeststandards in einem Ausmaß aus dem Weg geräumt, das wir uns bis dahin nicht einmal vorstellen konnten. So hat Minister Zoltán Balog dieses Jahr mehrere Personen mit Staatspreisen bedacht, deren homophobe, antisemitische und rassistische Ansichten ungehindert in aller Öffentlichkeit kursieren. Seitdem ich das in meiner diesjährigen Rede am 15. März zur Sprache gebracht habe, betrachtet mich die Regierung in meiner Heimat als ihren Feind. Oben erwähnter, für die Kultur zuständiger Minister hat in einem von der Regierungspartei mitfinanzierten privaten Fernsehsen­ der zum Einwurf des Reporters, man solle die finanzi­ elle Unterstützung von übermäßig regierungskritischen Künstlern einstellen, erklärt: „Ich bin einverstanden.“ Es ist zutiefst bedauerlich, dass Bundespräsident Jo­ achim Gauck ausgerechnet denjenigen als Helden der Roma-Integration ehrt1, der als Mitglied der ungari­ schen Regierung bei der Verabschiedung des Gesetzes für Segregation in Schulen – das Gegenteil von Integ­ ration – tatkräftig mitgewirkt hat. Anlässlich eines Ge­ richtsprozesses, der von einer Schule in Ostungarn ge­ gen die Segregation angestrengt worden war, ver­teidigte der Minister Anwälten gegenüber seine Strategie eines „liebevollen, gleichwohl durch Segregation angleichen­ den“ Schulsystems. Zoltán Balog leitet eine riesige un­ sinnige Spitzenorganisation mit der reichlich euphemis­ tischen Bezeichnung Ministerium für Humane Ressourcen (wörtlich: Ministerium für menschliche Kraftquellen; ein vielmehr entlarvender als euphemistischer Ausdruck … Anm. d. Ü.), in welchem die Ressorts Gesundheits­wesen, Bildung, Beschäftigungspolitik, Soziales und Kultur zu­ sammengefasst sind. Zoltán Balog ist evangelischer Pfar­ rer, und er hat keinerlei Vorkenntnisse oder Erfahrungen auf den genannten Gebieten. Zudem ist er eindeutig verantwortlich für den Anstieg von Diskriminierung, An­ tisemitismus und Rassismus in Ungarn. Des Weiteren trägt er unmittelbare Verantwortung für die Sozialpoli­ tik der Regierung, die eine seit der Wende nie erlebte Armut und gesellschaftliche Ungleichheit in Ungarn zur Folge hat. Vor allem die Roma des Landes sind von die­ ser Politik in extremer Weise betroffen. Joachim Gauck hätte gut daran getan, sich gründlicher zu informieren

und eine Person in den Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit zu stellen, die wir zu Recht als Schutz­ patron der Roma-Emanzipation hätten feiern können. Aufgrund ihrer jahrzehntelangen Arbeit hätte ich – wäre jemand an meiner Meinung interessiert gewesen – die Kunstpädagogin Nóra L. Ritók oder den Schulleiter Tibor Derdák vorgeschlagen. 1 Zoltán Balog erhielt am 28. Mai 2013 das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland.

„Die weite Welt gibt anderswo nicht Raum noch Heimat dir“ * Kornél Mundruczó Theater- und Filmregisseur

Die Zahl der Menschen, die das Land verlassen ha­ ben, liegt heute bei mehreren Hunderttausend. Diese Zahl enthält auch Bekannte von mir. Ich zähle nicht zu ihnen. Es gibt keine Familie, in der der Gedanke an Arbeits­ suche im Ausland nicht erörtert würde. Wie die Zahl der eigenen Toten, so wächst mit der Zeit auch die Zahl der Auswanderer im eigenen Bekanntenkreis exponenziell. Doch ist die Sehnsucht fortzugehen, bei Weitem keine so beglückende Vision, wie man sich’s denken könnte. Jene europäische Idee, die uns eine gemeinsame Identi­ tät zu geben oder über Wasser zu halten vermag, scheint auch nach vielen Jahren nicht zu greifen. Die Ekstase des freien Grenzverkehrs, die Romantik des paneuropä­ ischen Traums, die Hoffnung, dass die gemeinsamen Werte es schon richten würden, sind heute passé. Es ist eine Generation herangewachsen, der es nicht mehr darauf ankommt, nach Wien zu düsen und in der Mariahilfer Straße Kühlschränke zu ergattern. Sie träumt auch nicht davon, dass überall, sobald man die Karpa­ ten hinter sich lässt, Milch und Honig fließen. Anstelle von Neubeginn, Erfolg und Schwärmerei von anderen Ländern entscheidet sie sich für ein Leben, das ihr zwar aufopferungsvolle Arbeit, Einsamkeit und Verluste ab­ verlangt, dafür aber würdevoller und kalkulierbarer ist. Diesen Weg geht sie, solange die Beine sie tragen. Es ist ein Leben ohne Illusionen. Wer heute das Land verlässt, wird nach der in Ungarn herrschenden Rhetorik zum Vaterlandsverräter. Warum ist der Emigrierende ein Verräter? Weil er sich mit den Dableibenden nicht solidarisiere, heißt es. Denn „wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ – so die heute übliche Umkehrung der Kádárschen Maxime. Paradoxerweise enthält die Anschuldigung die unfreiwillige Einsicht: In der Heimat geht es schlechter zu als anderswo. Wie so viele andere Europäer, bringt auch einen Un­ garn die schreckliche Erkenntnis, dass es ohne Verant­ wortung keinen Fortschritt gibt beziehungsweise der ­Begriff „nationale Zusammengehörigkeit“ irgendwann einmal auch hinterfragt werden muss, in eine Zwick­ mühle. Er ficht den sinnlosen Kampf zwischen seinem nationalen Selbstbewusstsein und der Abkehr von seiner Heimat. Ich finde mich weder im einen noch im anderen wie­ der. Im Westen fühle ich mich wie einer aus dem Osten, im Osten wie ein Westler. Unter Weißen bin ich schwarz, unten Schwarzen weiß. Wer in seinem Land fremd ist, bleibt auch unter Fremden fremd, Heimat ist schließlich keine Frage der Wahl, sie ist in einem selbst. Heimatlos sein ist Fremdsein. So befinde ich mich in aussichtsloser Lage. Und eine Entscheidung ist nicht möglich. In dieser Stille nach dem großen Lärm denke ich: Es gibt keine glückliche geschichtliche Epoche, der nicht irgendein Grauen vor­ ausgegangen wäre. Ich stehe herum. Offen gestanden mag ich Grenzgebiete. Beim Aufeinandertreffen zweier Kulturen, dort, wo die Frontlinien liegen, ist die geistige


32 hier sein möchte, zu Hause, in dieser Straße, in diesem Haus, in diesem Außenbezirk von Budapest. Mich zieht es nicht fort, lieber möchte ich die Dinge verändern, möchte selbst Veränderung sein. Denn ich lebe vom ungarischen Wort. Mit dem ungarischen Wort verdie­ ne ich mein Brot. Deshalb wünsche ich mir, dass auch das kritische Wort Aufmerksamkeit bekommt und Geld Es könnte aber so kommen, dass man keine Lust einbringt. Ich bin eine ungarische Schriftstellerin. Auch mehr hat zu kämpfen, sich und seine Unabhängigkeit jetzt, da ich mein Einkommen hauptsächlich außerhalb zu verteidigen. Wenn einen das Gefühl einholt, Würde meiner Heimat verdiene. Und ich wünsche mir, dass die bedeute, in Ruhe zu leben und zwischen Lebensformen ungarische Sonne hier auf mich scheint, auch wenn sie wählen zu können. Und man die Waffen streckt. Entwe­ nicht wie die spanische ist. Doch dafür, dass der Weizen der kollaboriert oder gezwungen ist zu gehen. Das ist reift, reicht es allemal. der Moment, da einen nichts mehr bindet. Man tut den Schritt. Auch wenn der Abgrund vor einem liegt. Fallen aber kann die größte Freiheit sein. Erregung stärker als in den sanfteren Gefilden landein­ wärts. Freilich hätte ich es nicht im Traum für möglich gehalten, dass die Freiheit derart leicht liquidiert werden kann, wie das hier und jetzt geschieht. Künstler darf man bleiben. Diesseits und jenseits der Grenze ist das meine einzige Möglichkeit.

Leaving is not an option? Aktuelle künstlerische Positionen aus Ungarn

Das Berliner Theater HAU Hebbel am Ufer präsentiert mit dem Festival „Lea­ ving is not an option?“ zeitgenössische künstlerische Positionen aus Ungarn. Ei­ nen besonderen Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit den politischen und ökonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahre: Zum einen mit den Auswirkungen der Finanzkrise, denn Un­ garn war von der 2007 einsetzenden Ent­ wicklung an den Finanzmärkten beson­ ders stark betroffen, zum anderen mit dem Erstarken rechter Kräfte und der zu­nehmenden Ausgrenzung von Minder­ heiten. Zu den Leidtragenden fremden­ feindlicher Übergriffe durch rechte Ex-­ tremisten zählen insbesondere Roma und Juden. In den vergangenen Jahren haben sich auch die Bedingungen der unabhängigen ungarischen Kunstszene verschlechtert und zugespitzt. Das Festival möchte da­ her explizit die Situation der ungarischen Kulturschaffenden im europäischen Rah­ men thematisieren: Wie produzieren sie angesichts zunehmend prekärer Bedin­ gungen? Wie greifen sie die politischen und gesellschaftlichen Prozesse in ihren Arbei­ten auf? Eine zentrale Produktion des Pro­gramms ist „The day of my great happiness“ des ungarischen Theater- und Filmregisseurs Kornél Mundruczó. Die Protagonisten der Inszenierung suchen nach Möglichkeiten des Überlebens in ­einer von der Krise geprägten Gesell­ schaft. Eingeladen ist auch die Gruppe Kretakör aus Budapest. Sie entwickelt seit 2008 insbesondere unkonventionelle Projekte mit Kindern und Jugendlichen. Im Rahmen eines Filmprogramms wer­ den Arbeiten junger Regisseure zu sehen sein, das Musikprogramm gewährt einen Einblick in die elektronische Musikszene Ungarns. Künstlerische Leitung: Aenne Quiñones Künstler/innen: Kornél Mundruczó / Proton Cinema + Theatre (HU), Árpád ­Schilling / K ­ retakör (HU), Béla Pintér (HU), Adrienn Hód / Hodworks (HU), Péter Kárpáti / Secret Company (HU), FÜGE Productions (HU), Csaba Polgár / HOPPart Company (HU), More techno to the Parliament (HU), Little Warsaw (HU) u.a. Festival Hebbel am Ufer, Berlin: 7.–16.3.2014 ↗ www.hebbel-am-ufer.de

* Mihály Vörösmarty (1800–1855); Zitat aus dem Gedicht: „Mahnruf“, quasi die inoffizielle Hymne der Ungarn

Mich zieht es nicht fort Andrea Tompa Schriftstellerin, Theaterwissenschaftlerin, Theaterkritikerin

Ich glaube nicht, dass ein Schriftsteller mehr an sei­ ner Heimat hängt als ein Klempner. Patriotische Gefühle hängen nicht von dem Beruf ab, den man ausübt, sie sind komplexer. Nur dass wir die Gefühle eines Schriftstel­ lers und seine Gedanken über die Heimat besser ken­ nen, weil seine Stimme besser zu hören ist als die des Klempners. Ich glaube nicht, dass es dem Schriftsteller – im Vergleich zum Klempner – leichter fiele zu gehen und im Ausland zu leben, das heißt, sein Geld zu verdie­ nen, denn beide Berufe sind konvertibel, wenn man nur gut genug ist: Der gute Schriftsteller wird im Ausland gute Stipendien kriegen, der gute Klempner gute Arbeit – falls sie sich zum Gehen entschlossen haben. Ich glaube nicht, dass die Heimat von ihren Apologe­ ten mehr geliebt wird als von ihren Kritikern, auch wenn man uns einreden will: Wer dieses Land kritisiert – diese Heimat heute mit dieser unserer Regierung, denn sie ist unsere, auch meine, selbst dann, wenn mir ihr Handeln oft nicht gefällt –, der liebt dieses Land nicht. Und nicht nur, dass er es nicht liebe, er mache es mit seiner Kritik geradezu kaputt. Obschon die Kritiker nichts anderes tun, als die Führer dieses Landes davon zu überzeugen, dass es nicht sie und uns gibt, sondern nur ein Wir, wir zusammen sind diese Heimat, wir arbeiten gemeinsam an und in ihr, und dass auch die Kritiker das Recht auf einen Platz haben, einen Platz unter der ungarischen Sonne. Wir alle, ungarische Roma, ungarische Juden, un­ garische Schwule, ungarische Mütter, ungarische Singles, ungarische Konservative und ungarische Liberale. Ich glaube nicht, dass wir keinen Platz in der gro­ ßen weiten Welt haben könnten, wie es Vörösmartys Mahnruf aus dem 19. Jahrhundert behauptet, ein Ge­ dicht, das jedes Kind in Ungarn kennt und deklamiert. Wenn man jung genug ist, gibt es auch genug Platz – ich selbst war zwanzig, als ich mir eine neue Heimat gesucht habe; zwanzig ist das Alter der Wanderschaft. Oder wenn man alt genug ist und seine Rente überall überwiesen bekommt, so wie der Engländer an der stets sonnen­ beschienenen spanischen Küste. Es kann natürlich sein, dass zwischen diesen beiden Lebensaltern doch nirgends Platz für mich ist, es sei denn, ich bin in dem, was ich tue, sehr gut, herausragend, großartig. Nach weiteren zwanzig Jahren weiß ich aber auch, dass für mich wirklich kein Platz ist in der großen wei­ ten Welt, denn die große weite Welt bin ich selbst ge­ worden, nachdem ich sie mir auf vielen Reisen gut an­ geschaut habe. Ich habe lang genug gesucht und genug gesehen, um nun sagen zu können, dass ich endlich

Die Angst ist am schlimmsten György Szabó Leiter des Budapester Trafó Theaters

Ich habe drei Kinder, eines von ihnen, meine Toch­ ter, wird 18. Ich frage sie, was sie nach dem Abitur ma­ chen möchte. Sie sagt, sie wolle mit vier anderen nach Wien gehen, um zu arbeiten und später zu studieren. Sie möchte für ihr Leben selbst sorgen, sie möchte für sich selbst entscheiden. Sie möchte eine von den Hun­ derttausenden sein, die in den vergangenen drei Jahren das Land verlassen haben. Die Zahl wächst rasant. Dass meine Tochter gehen will, macht mich traurig, und doch auch wieder nicht. Ich verspüre Stolz, dass sie ihr Le­ ben in die Hand nehmen will und drücke die Daumen, dass es ihr gelingen möge. Ich frage sie, warum sie und ihre Schulkollegen diese Entscheidung getroffen haben. Die Antwort ist einfach, und sie ist mir bekannt. Das Hochschulstudium sei neuerdings völlig undurchschau­ bar. Sie suche deshalb nach einer Lösung, denn ihr sei bewusst, dass man mit einer guten Ausbildung besser durchs Leben kommt. Ich bin 54 Jahre alt. Die Regierung hat mich raus­ geschmissen, und nun, nach einem Jahr, darf ich wieder arbeiten, noch dazu an meinem ursprünglichen Arbeits­ platz, den ich übrigens selbst gegründet habe. Wie es mir ergangen ist, so ergeht es heute vielen. Das heißt, sie fliegen einfach raus. Neue Leute beanspruchen den Platz im Land. Wissen, Fachkenntnisse, Erfahrung zäh­ len nicht. Ihr müsst gehen, lautet das Verdikt. Ich hatte Glück, denn ich durfte zurück. Den meisten ist eine solche Möglichkeit verwehrt. Zwar bin ich in einer nied­ rigeren Position, doch letztendlich zählt, dass ich ar­ beiten kann. Die Angst ist am schlimmsten, sie lähmt jetzt die Menschen. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Di­ alog, Meinungsbildung, Diskussion, fachliche Argumen­ tation – all das ist verschwunden. Es ist nicht das, was die meisten nach 1989 wollten. Auf beiden Seiten, links und rechts, herrscht totale Enttäuschung. Meine konser­ vativen Freunde sind verstört, rechtfertigen sich, winden sich. Noch immer versuchen sie – ohne sich selbst glau­ ben zu können – an den Träumen festzuhalten, derent­ wegen sie zuletzt zur Wahl gingen. Doch Schadenfreude ist fehl am Platz. Auch von den Linksliberalen sind viele enttäuscht. Die Gesellschaft steckt in einem großen Di­ lemma. Was auch die Zukunft bringt, rosig wird sie nicht. Die jetzige Regierung hat das Land tief gespalten. Da wieder herauszufinden wird höllisch schwer. Wie sollen die getretenen Menschen zu gemeinsamen Lösungen finden? Zur gemeinsamen Sprache? Zum gemeinsamen Willen? Werden sie je wieder einem charismatischen Po­ litiker Glauben schenken? Was ist Demokratie? Die Ver­ störung ist groß, die Probleme sind immens. Doch wir selbst müssen sie lösen, nicht das Ausland. Wir werden das Land verlassen, sagen viele. Sie wollen kein Chaos mehr, sie haben genug vom Dilettantismus. Sie wollen ein Land finden, wo das Wort Gewicht hat und die in ihm formulierten Wahrheiten nicht ständig


33 relativiert werden. Sie wollen den Worten glauben und sich nicht zwischen politischen Fronten zermalmen lassen. Ruhe ist die Grundlage für die Existenz und den Unternehmungsgeist, in Ungarn fehlt sie vielen von uns. Hier ändert sich jeden Tag etwas, völlig unvorher­ gesehen. Und trotzdem: Gehen oder bleiben? Viele denken, man müsse bleiben, wir trügen Verantwortung. Wir möchten in einem Land leben, an das man wieder glau­ ben kann, wo die politischen Ansichten kein Hindernis sind. Wo gemeinsame Ziele möglich sind. Warum ich bleibe? Ich bleibe, weil ich dreißig Jahre investiert habe, damit es in Budapest kulturelle Inno­ vation gibt. Die alternative Spielstätte Trafó ist entstan­ den, eine Einrichtung, welche die lokale Kunst mit der Welt verbindet. Meine Existenz besteht darin zu wis­ sen, was ungarische Kunst ist. Meine Wurzeln bestehen darin, dass ich mit meiner Arbeit Josef Nadj, Frenák, Mundruczó, Schilling, Bodó, Pintér, Hudi, Yonderboi, Feri Fehér unterstützen konnte und wieder unterstüt­ zen kann. Ich versuche wichtige Künstler aus aller Welt herzuholen. Ich bin ständig im Dialog und helfe unse­ rem Publikum, diese Sprache zu verstehen und dadurch die Welt besser zu verstehen. Was ich jetzt tue, ist sehr wichtig, vielleicht sogar wichtiger als in den achtziger Jahren. Damals hatte ich manchmal Angst, aber nicht meine Umgebung. Die Zeiten ändern sich. Und doch habe ich angefangen, Deutsch zu ler­ nen. Ich bin Anfänger, ich besuche den Sprachkurs im Goethe-Institut, ausgerechnet jetzt. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es eine Art Vorbereitung auf etwas. Habe ich vielleicht kein Vertrauen in die Zukunft? In meine Zukunft? Ich weiß es nicht, doch ich denke viel darüber nach, was danach kommt. Beim Sprachkurs sind die anderen im Vergleich zu mir unverschämt jung. Sie könnten meine Söhne oder Töchter sein. Sie lernen leicht, manche von ihnen sprechen schon fließend zwei Fremdsprachen. Eine andere Welt. Ich beneide sie, da­ bei sind viele nur im Kurs, um das Land verlassen zu können. Soll ich sie beneiden?, frage ich mich. Ich weiß es nicht. Wir alle schauen auf die Realitäten – mit un­ sicherem Blick.

Zuvor gab es Geld für Kultur, jetzt gibt es Arbeits­material Béla Pintér Autor, Theaterregisseur, S ­ chauspieler

Zur Politik hatte das Theater, wie die Kunst über­ haupt, immer schon ein antagonistisches Verhältnis. Politiker wünschen sich Lob, Bejahung, Popularität, das Theater hingegen verhält sich, wenn es gut ist, kri­ tisch-analytisch. Ihm geht es um die Fehler, Irrtümer, Konflikte, Verwundbarkeit des Einzelnen, der Gesell­ schaft wie auch seiner selbst, es geht ihm um Konfron­ tation. Das Theater macht nicht unbedingt Politik, in jedem Fall aber reagiert es auf gesellschaftliche Proble­ me. Direkt und im übertragenen Sinn. In die Ensemblearbeit bringe ich mich als Autor, Re­ gisseur und Schauspieler ein. Ich reagiere auf das, was um mich herum geschieht, mit einer eigenen Geschichte, einem Text, einer Aktion. Primär Politik zu machen lag nie in meinem Interesse, für mich sind Objektivität, die Erforschung von Motivationen, das Begreifen der „an­ deren Seite“ wichtig. Nuancierungen. Über viele Jahre erfüllte es mich mit Freude, dass „Söhne und Töchter“ beider Lager meiner politisch stark gespaltenen Hei­ mat gern in unsere Vorstellungen kamen. Die Begeiste­ rung und Unterstützung dieser Zuschauer war die wich­ tigste Bestätigung unserer Arbeit – neben der von Jahr zu Jahr bescheiden steigenden staatlichen finanziellen Förderung. Bei der Gründung einer Theatergruppe gibt es nur eine geringfügige finanzielle Zuwendung, der jun­

ge Künstler am Anfang seiner Karriere muss sich erst beweisen. Auch wir waren damals jung, standen nicht in der Verantwortung für Familie und Kinder. Mit der Zeit erfuhr unser Ensemble mehr und mehr Anerkennung, die finanzielle Unterstützung stieg, das war so bis zum Jahr 2010. Dank des Wahlsieges von Fidesz und seiner neuen „kulturpolitischen Konzeption“ geht sie nun von Jahr zu Jahr zurück und hat sich seit 2010 halbiert. Den Auswirkungen der Wirtschaftskrise kann sich zwar niemand entziehen, doch ist offensichtlich, dass die freien Gruppen und Künstler von der jetzigen Regierung als überflüssig, Amateure, mitunter sogar als gefährlich bezeichnet werden. Während sie gewisse, ihr naheste­ hende Künstler, ungeachtet deren Kompetenz und Qua­ lität, in besonderer Weise fördert. Eine politische Vorge­ hensweise, die unsere Existenz direkt bedroht, während unsere Besucherzahlen weiter ansteigen. Das Publikum steht in jeder Hinsicht hinter uns, selbst die Erhöhung der Kartenpreise konnte unsere bei hundert Prozent liegende Auslastung nicht beeinträchtigen. Durch die Nutzung von Steuervergünstigungen und den Umstand, dass wir beispielsweise keinen Cent für Werbung ausge­ ben müssen, können wir unser Budget zu fünfzig Prozent selbst aufbringen. Auftritte unseres Ensembles im Ausland bedeuten nicht nur künstlerische Anerkennung, sie tragen auch zur Stärkung unserer finanziellen Situation bei. In letz­ ter Zeit aber, seit wir auf den politischen Druck und die gegenwärtige ungarische Kulturpolitik immer direk­ ter, konkreter, schneller und schärfer reagieren, geht die Zahl der Einladungen empfindlich zurück. Dem ungari­ schen Zuschauer bedeutet jede konkrete Reaktion, jedes Zitat, jeder Satz, jede Anspielung auf die aktuelle politi­ sche Lage ungemein viel – dass sie im Ausland dieselbe Aussagekraft haben, dürfte man eher bezweifeln. Innerhalb des eigenen geschichtlichen und kultu­ rellen Umfeldes zu agieren und auf es mit all der uns gegebenen Wahrnehmungsfähigkeit zu reagieren, war seit jeher das Hauptmerkmal unserer Arbeit. Was wir nun versuchen, nämlich die Gegenwart unmittelbar und scharf zu kritisieren, ist nicht so sehr das Resultat einer lang und breit abgewogenen Entscheidung, sondern ge­ schieht infolge einer inneren Notwendigkeit. Allgemein­ gültige menschliche Geschichten sind für uns nach wie vor außerordentlich wichtig, doch zur Zeit ist es erfor­ derlich, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Emigration wie auch Koproduktionen mit auslän­ dischen Künstlern wären mit meiner Arbeitsweise nicht vereinbar. Die neue Umgebung würde langwierige Pro­ zesse der Umstellung und des gegenseitigen Kennen­ lernens voraussetzen, das lange Herumprobieren mit mir unbekannten ausländischen Kollegen würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen und so den Rahmen der von mir entwickelten, in Ungarn nur für unser Ensemble ty­ pischen Arbeitsmethode sprengen. Darüber hinaus hat sich bei uns auch eine ganz spezielle Praxis herausgebil­ det, indem wir den ensuite-Spielbetrieb mit dem Reper­ toiresystem mischen. Zwar kommen die jeweils neuen Produktionen am häufigsten auf den Monatsspielplan, aber es werden – wie gerade in diesen Wochen auch – 15 ältere Aufführungen wieder aufgenommen und ge­ spielt. Die älteste ist, nebenbei bemerkt, vor 14 Jahren entstanden. Dieses System ist dem Werkstattcharakter unserer Arbeit sehr zuträglich: Durch das Spielen älterer und neuer Stücke erfahren die Schauspieler fortwäh­ rend neue Inspirationen, und auch unseren Zuschauern macht es sichtlich Spaß, die gesamte Geschichte des Ensembles mitzuerleben oder zurückzuverfolgen. Das Interesse, die Anerkennung, die Hilfe aus dem Ausland sind für uns eminent wichtig, aber ein Neube­ ginn mit zweifelhaftem Ausgang würde naturgemäß das Ende der bisherigen, 15 Jahre währenden, erfolgreichen Arbeit bedeuten, und somit das Ende von „Pintér Béla und seinem Ensemble.“ Alle Übersetzungen aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer


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Windows of a Brave New World

Privatsphäre im digitalen Zeitalter

W

Abhörskandale und Datenklau: Was ist heute im Internet eigentlich noch ein Geheimnis? Und was bedeutet Privatheit im digitalen Zeitalter? Für Inter­ netbewohner Christoph Kappes ist die Privatheit auch im Netz ein soziales Konstrukt und nimmt im digitalen Raum neue Formen an. Macht und Diskriminierung, vor denen Privatheit schützen soll, müssen in der analogen und digitalen Welt immer wieder eingehegt werden. Auch das Internet braucht Vorhänge vor den Fenstern.

Christoph Kappes

er in Zeiten der Prism- und Tempo­ ra-Programme und anderer Massenana­ lyse von Internetkommunikation über neue Sphären der Privatheit nachdenkt, muss verrückt sein: Es ist ja nicht Zufall, sondern System, dass vernetzte Compu­ tertechnologie global Daten kopiert und damit technische, rechtliche und soziale Sphären überschreitet. Überdies erhöht sich in allen Bereichen des Lebens – ob öffentlicher Raum, Verkehr, private Haus­ halte oder Umgang mit dem eigenen Kör­ per, um nur einige zu nennen – exponen­ tiell die Zahl der ununterbrochen Daten sammelnden und sendenden Apparate. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht ab­ sehbar, statt mehr Privatheit kann man also eher deren Totalverlust erwarten. Dennoch bewegen sich Millionen Bür­ ger im Internet und gehen dabei so ver­ traut miteinander um, als befänden sie sich in der Küche einer Wohngemeinschaft. Der Grund hierfür ist, dass das Internet nicht ein einziger öffentlicher Raum ist, sondern aus Millionen Räumen besteht:

in Deutschland aktuell aus mindestens 200.000 Blogs, rund 16 Millionen Domains und mindestens 100 Millionen Profilseiten in sozialen Netzwerken. Dies sind atoma­ re Einheiten, die sich durch Verlinken, ­Zitieren und Verteilen zu Abermillionen komplexen Räumen verbinden, welche wiederum Häuser, Straßen und Plätze verschiedener Größe bilden. Nimmt man noch die zeitliche Dimension in den Blick, wonach sich ein großer Teil dieser Räume durch neue Inhalte fast täglich neu bildet (neue Blogbeiträge, neue Postings auf Fa­ cebook, neue Artikel in Online-Medien, die das Vorherige verdrängen und aus dem Blick geraten lassen), wird klar, dass die Internet-Öffentlichkeit die Komplexität einer digitalen Gigastadt hat, die sich per­ manent neu organisiert wie ein Organis­ mus, dessen Zellen sich neu bilden. Auf die Idee einer permanenten Welt­ öffentlichkeit kann nur kommen, wer al­ lein die technischen Aspekte des Internets in den Blick nimmt. Webseiten im Inter­ net basieren auf einigen wenigen, standar­ disierten Protokollen und Forma­ten; da­


35 rum kann potenziell jeder von jedem Ort aus auf alles zugreifen und interpretieren, was im Internet gespeichert, also: „veröf­ fentlicht“ wird. Aus einer sozialen (statt einer technischen) Sicht hingegen verteilt sich Kommunikation in nie gekanntem Ausmaße auf Einheiten unterschiedlicher Größe, die mal mehr, mal weniger beob­ achtet sind. Man darf die große, einheit­ liche technische Infrastruk­tur nicht ver­ wechseln mit den sozialen Strukturen, die kommunikativ zusammengehörige Ein­ heiten bilden, in denen sich die mensch­ lichen Interaktionen in je eigener Weise aufeinander beziehen. Fast alle Kommu­ nikation außerhalb der Online-Tagespres­ se findet so innerhalb eines kleinen, be­ grenzten Personenkreises oder zunächst unbeobachtet statt, wovon sich jeder ver­ gewissern kann, indem er einen mona­ tealten Beitrag neu kommentiert. Hier entsteht der Eindruck eines altbekannten Raumes, den man mit einer Gruppe Gleich­ gesinnter schon einmal betreten hat und deren Beziehun­gen man nun reaktiviert.

Räume entstehen durch Betrachtung Doch auch das Bild einer sich perma­ nent neu organisierenden Gigastadt passt nicht hundertprozentig, denn in der digi­ talen Welt ist Information nicht einfach etwas, das wir als gegeben vorfinden wie Publikationen, die seit Jahrhunderten hie­ rarchisch organisiert sind, z.B. nach Sei­ ten, Abschnitten, Regalen und Bibliothe­ ken. Vielmehr kommt die Information durch menschliche „Datenpflege“ zu uns, und Ordnung entsteht häufig erst durch unsere Suchabfragen. Über die von uns be­ stimmten Verbindungen in sozialen Netz­ werken kann manchmal etwas kaum Beob­ achtetes zu uns gespült werden, manchmal weisen uns Ketten von tags (Schlagwör­ tern) den Weg. Ob also ein Ort „privat“ ist oder nicht, bestimmen andere Menschen und Algorithmen durch ihr Verhalten, nicht wir selbst.

Kritikkultur beharrt auf Öffentlichkeit Das mag streng genommen in der phy­ sischen Welt nicht anders sein, dort ha­ ben wir aber soziale Regeln entwickelt, was sich gehört und was nicht: Man guckt eben nicht in anderer Leute Fenster. Viel­ leicht entwickeln sich solche Regeln im noch jungen „Digitalien“, auch wenn mo­ mentan eher das Gegenteil zu beo­bachten ist: Tweets werden kopiert und Screen­ shots gemacht, weil Öffentlichkeits-Ex­ tremisten es nicht für legitim halten, dass einmal Veröffentlichtes durch einen Lösch­ vorgang der Allgemeinheit wieder entzo­ gen, „de-publiziert“ wird. Insofern nagt an der Privatheit auch eine Kultur, die im ständigen Modus von Kritik, Anklage und Empörung pharisäerhaft auf Öffentlich­ keit beharrt und schriftliche Alltagskom­ munikation noch immer nicht von Mas­ senmedien unterscheiden will. Legitim kann das Beharren auf andauernder Ver­ öffentlichung eines Kommunikationsak­ tes nur sein, wenn sich andere auf ihn be­ ziehen und durch das Löschen ihr Kon­text

beschädigt oder ein übergeordneter Sinn­ wegen. Sie haben sich zwar freiwillig in zusammenhang zerstört oder verschoben die Öffentlichkeit begeben, erwarten je­ würde. doch, dass niemand sie dabei auf­zeichnet. So ist also Privatheit nicht einfach nur Maschinen als pan­optische gegeben oder nicht, sondern sie ist eine soziale Erwartung, die je nach Kontext Beobachter? und Regeln unterschiedlich sein kann („kontextuelle Integrität“). Und sie wer­ Das Besondere der Web-Kommuni­ den kulturell weiterentwickelt, beispiels­ kation besteht darin, dass Maschinen die weise als gemeinsam genutzte Benutzer­ Web-Kommunikation kopieren (crawlen), konten (shared bogus accounts) oder durch nach Anweisung auf bestimmte Merkma­ die Abspaltung eines Kommunikations­ le durchsuchen und strukturieren. Das ist modus in die Anonymität (z.B. rage ackein Merkmal nur von Geheimdiensten, counts). Jedermann kann sich im Internet sondern das tut jede Suchmaschine, und auf diese Weise in eine Schutzzone bege­ sie tut das ganz in der Tradition der ersten ben. Webdienste wie Google Drive erzeu­ Presse-Clipping-Dienste des 19. Jahrhun­ gen Links auf öffentliche Dokumente, die derts. Jeder, der im Internet öffentlich anders nicht zugänglich und nur wenigen kommuniziert, setzt sich Suchmaschinen bekannt sind. Eine Avantgarde nutzt zu­ und Aggregatoren aus, diesen panopti­ nehmend Aufzeichnungen, die – wie ab­ schen Beobachtern. Man darf jedoch Ma­ wischbare Tafeln – kulturell vereinbart ei­ schinen oder Algorithmen keine Beobach­ nen zeitlich begrenzten Charakter haben ter-Subjekteigenschaft zusprechen; Men­ (Etherpads). Hinzu kommen weniger üb­ schen handeln mit Maschinen, sie bilden liche Techniken wie das Verschleiern von eine soziotechnische Einheit. So wie das Identität, das Verschlüsseln von Inhalten Werkzeug Hammer formgewordene „Ar­ und das Verstecken von Daten in Bildern beits-Kultur“ ist und eine bestimmte Arm­ (Steganografie). bewegung nur mit Hammer Sinn macht. Paradox: Je mehr Such- und Moni­toringVerschlüsselung ist Zugriffe Dritter tatsächlich bekannt wer­ den, desto weniger kann Privatheit ver­ zweite Wahl letzt werden, weil sie niemand überhaupt beansprucht. Das Wissen ums Beobachtet­ werden erzeugt erwünschtes, angepasstes Das alles kann aufgedeckt und letzt­ Verhalten, wo aber Verhalten immer erwar­ lich doch entschlüsselt werden. Da gibt es tungskonform ist, kann sich Vertrauen keine großen prinzipiellen Unterschiede nicht entwickeln. Durch Beobachtung zur analogen Welt. Mit dem Verfahren des ero­dieren soziale Beziehungen, der gesell­ Verdeckens wird zwingend das Verfahren schaftliche Preis ist also hoch. des Aufdeckens geboren, mit der Dose wird auch der Dosenöffner erfunden. Bei­ Außerdem ist Monitoring eine Ein­ de bilden zusammen mit den Handelnden bahnstraße, denn dass ein Erfasster je­ und deren ‚Verdosungs‘- und Öffnungs­ mals wieder aus dem Raster fällt, ist ohne wissen eine soziotechnische Einheit. Und gesetzliche Regulierung unwahrschein­ es liegt in der Natur der Sache, dass die lich, denn es kostet nichts, ihn weiter zu Kräfte, derentwegen das Verstecken ge­ erfassen. Besonders fatal ist, wenn eine schah, auch danach noch fortbestehen – Maschine aus impliziten Daten Schlüsse mehr noch, jede Privatisierungstechnik zieht, etwa aus Gruppenstrukturen auf zieht weitere Aufdeckungstechnik gera­ die sexuelle Orientierung, oder in den dezu an. Statt Privatheitstechnik, der das Fällen der sog. Re-Personalisierung etwa Risiko des Scheiterns immanent ist, ist durch Autorenerkennung, welche die daher eine soziale Lösung immer vorzu­ Identität des Urhebers mehrerer Texte ziehen, die den erwünschten Zustand gleich erreicht. Verschlüsselung ist nur erkennen kann. zweite Wahl.

Neue Räume von Privatheit Zeitgleich entstehen aber auch vie­ le neue Varianten von Privatheit, die un­ ter Leuten, die sich nicht kennen, bisher nicht möglich waren. Da sind die vielen geschlossenen Communities, in denen sich Menschen austauschen können, und da sind zugleich Möglichkeiten von Ano­ nymität und Pseudoanonymität. Sie sind in Deutschland zum Teil sogar gesetzlich vorgeschrieben (§ 13 VI TelemedienG). In dieser Öffentlichkeit kann etwas ganz Ei­ genartiges entstehen, wenn zwischen den Personenkreisen von Beobachteten und Beobachtern keinerlei Beziehung besteht: der Anspruch auf Privatheit, „Privacy in Public“, wie es die New Yorker Medienund Computerwissenschaftlerin Helen Nissenbaum einmal genannt hat (www. nyu.edu/projects/nissenbaum/papers/ privacy.pdf). Man kann sich das etwa so vorstellen wie Menschen, die sich durch ihnen unbekannte Menschenmengen be­

Das Private wird sichtbarer als zuvor Scheinbar paradox wirkt, dass mit der Internet-Öffentlichkeit das Private besser sichtbar wird als je zuvor: Alleror­ ten sind im Internet Menschen zu sehen, die ihre Interessen preisgeben, ihr Essen foto­grafieren und über ihre Krankheiten sowie Berufsprobleme klagen. Wie konn­ ten wir jemals etwas über das Private an­ derer Menschen sagen, wo wir doch nur das eigene Private kannten? Wie kann noch privat sein, was wir schon über an­ dere wissen?

Privatheit als Für-Sich-Sein Wir kennen das Private als Schutz­ raum, in dem wir vor den Zumutungen der Welt sicher sein können. Man muss das Private aber auch als eine Art Hand­ lungsraum für unseren Persönlichkeits­ kern begreifen, der sich durch Entäuße­ rungen seiner selbst findet und entfaltet. Unter diesem Gesichtspunkt bietet die Online-Kommunikation viele neue Chan­ cen, sich auszuprobieren, Resonanzen wahrzunehmen und den eigenen Facet­ tenreichtum zu erforschen wie ein Kind, das spielt. Das Netz hilft auch, Vertrau­ ensbeziehungen im Sinne einer Erwar­ tung des Verhaltens anderer zu entfalten. Durch neue Interaktionsformen, zeitlich gestrecktes Agieren und durch Nutzung der Netzbeziehungen zu anderen Perso­ nen kann Vertrauen zeitlich und inhaltlich ständig neu ausbalanciert werden, kann Privatheit in einem Prozess geübt werden. Durch mediale Vermittlung kann emoti­ onale Bindung unter Abwesenden entste­ hen („parasoziale Interaktion“). Ver­trauen wird so ständig erneuert oder abgelehnt, und das mit einer größeren Personenzahl als ohne Internet.

Soziotechnische Reaktionen auf Bedrohung der Privatheit Google StreetView und Millionen öf­ fentlicher Familienfotos sind in kurzer Zeit normal geworden, und dies steht für eine neue Praxis. Aber hat sich durch das Internet auch das Konzept von Privatheit verändert? Manche, wie 1999 schon der Sun-Chef Scott McNealy (www.wired.com/ politics/law/news/1999/01/17538) und heu­ te der SZ-Journalist Hans Leyen­decker, glauben, dass diese Errungenschaft ver­ schwindet. Doch so einfach ist es nicht, soziale Systeme reagieren auf Eingriffe von außen. Ist mehr Privatheit sozial er­ wünscht, wird sie durch Kulturtechnik und Maschinentechnik kommen, beide durch Menschen entwickelt. Da sind zum einen neue Normen wie die EU-Datenschutzverordnung sowie die rechtliche Forderung nach Löschungs­ rechten. Zum anderen sieht auch, wer sich in der Internetszene umtut, jetzt schon erste Anzeichen von Privat­sphärefreundlicher Technik: Lösungen wie Path sind auf eine Nutzerzahl limitiert und veröffentlichen nichts, App.net geht der Ursache von Datensammlung nach (Be­ zahlmodelle statt Werbefinanzierung), Browser-Plugins wie Trackmenot verwirren Suchmaschinen, Snapchat hat einen Fo­ to-Selbstzerstörungsmechanismus, Ding­ Dong erlaubt Fotoangebote in geschlos­ senen Gruppen und ZenMate bietet Ver­ schlüsselung.

Die Antwort ist: Der Begriff der Pri­ Menschen kopieren vatheit ist vieldeutig: Mal meinen wir die Öffentlichkeit einer Information, mal ­Massenmedien sprechen wir von bestimmten Sphären, mal verbinden wir mit einer Handlung das Private. So halten wir Veröffentlichtes Und kann es nicht auch sein, dass das, trotzdem für „privat“, beispielsweise Sex was an Online-Veröffentlichtem privat er­ scheint, in Wirklichkeit eine Inszenierung auf einem Paparazzifoto.


36 von Privatheit ist, eine Schein-Privatheit? Warum sollten denn ausgerechnet sensi­ ble Daten auf Facebook an den Personen­ kreis gegeben werden, der schon heute aus durchschnittlich 250 Kontakten besteht, zu denen überwiegend nur lose Bindun­ gen (loose ties) bestehen? Privates, das nicht privat ist, kommuniziert an Freunde, die keine sind: Das wäre ein gutes Beispiel für eine soziale Reaktion auf Technik. Der beste Beschützer eigener Daten tarnt sich als Poser. Vor allem junge Menschen neh­ men eine Rolle ein, ganz spielerisch als homo ludens, manche kehren ihr Inners­ tes nach außen, sie posten lieber selbst, als Kontrolle zu verlieren. Die meisten berichten von sich im News-Modus oder reichen Unterhaltung weiter und kopie­ ren so die Massenmedien. Was keine An­ erkennung bringt, etwa der Blick ins ­eigene Schlafzimmer, das Klagen über Krankheiten und der Schmerz einer Tren­ nung, findet auf Facebook kaum statt, sondern wird als Quasi-Literatur wie in alten Zeiten auf Blogs verarbeitet. Was unter dieser Schicht aus News und Un­ terhaltung liegt – Familiengeheimnisse, unerfüllte Liebe, Alkoholismus und De­ pression –, bleibt unartikuliert oder wird maskiert, ganz wie auch sonst bei analo­ gen losen Bindungen. Die Privatheit verschwindet nicht durch Veröffentlichung von Hausfassaden, Urlauben, CD-Käufen und Tellergerich­ ten. Privatheit ist ein soziales Konstrukt, und als solches nimmt sie auch im digi­ talen Raum langsam neue Formen an. Macht, Bedrohung und Diskriminierung hingegen, vor denen die Privatheit schüt­ zen soll, sind Grundkonstanten mensch­ lichen Lebens, die digital wie analog im­ mer wieder eingehegt werden müssen.

Christoph Kappes, geboren 1962, studierte Rechtswissenschaft und Informatik und gründete Anfang der 1990er eine der ersten deutschen Internetagenturen. Seit ihrem Verkauf ist er sowohl als Online-Manager als auch als Medienunternehmer mit der E-Book-Plattform Sobooks tätig. Über die soziale, kulturelle und politische Seite der Digitalisierung schreibt er in FAZ, Zeit Online, Merkur und anderen Publikationen sowie in seinem Blog unter www.christophkappes.de.

I

n diesem Sommer bereiste Barack Obama den afri­ kanischen Kontinent. Für den Präsidenten der Vereinig­ ten Staaten wurde es höchste Zeit. „Wenn die Vereinig­ ten Staaten in Afrika nicht die Führung übernehmen, werden wir in einer sehr wichtigen Region der Welt zu­ rückfallen“, sagte der stellvertretende Nationale Sicher­ heitsberater Ben Rhodes. Die USA dürften sich bei den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen nicht durch ande­ re Wirtschaftsnationen, allen voran China, Konkurrenz machen lassen. So wenig uns dieser Gedanke behagt: Es sind geo­ strategische und besonders wirtschaftliche Interessen, die den jeweiligen Fokus der Weltpolitik bestimmen. Wie so oft entwickelt sich aber in ihrem Windschatten auch die Reflexion über die kulturellen Folgen ökonomi­ scher Gefechtslagen, die die Tektonik der Gesellschaften und heutzutage auch das globale Gefüge verschieben. Darin unterscheiden sich afrikanische Gesellschaften nicht von europäischen: Gesellschaftliche Verände­ ru­ngen werden ein Fall für die Kultur und prägen ihre Themen. Hierzulande steigt das Interesse an Wissen über die zeitgenössische Kultur in den afrikanischen Ländern in dem Maße, wie wir umdenken müssen angesichts neuer Tendenzen und Trends auf dem afrikanischen Konti­ nent. Insbesondere jüngere und gebildetere Schichten verstehen sich längst nicht mehr in erster Linie als Opfer ­kolonialer Praktiken, sondern vertreten selbstbewusst und auch selbstkritisch eine „Post-Independent“-Iden­ tität. Vielleicht haben wir auch deshalb das Gefühl, „in einer sehr wichtigen Region der Welt“ zurückzufallen, auch wenn wir den Anspruch auf eine postkoloniale He­ gemonie ablehnen. Gleichwohl drängt sich die Frage auf, ob es auch auf dem Feld der internationalen Kultur Kon­ kurrenz gibt, und die Sorge, den Anschluss zu verlie­ ren. Wir spüren, in Afrika tut sich was! TURN markiert eine Wende: Wir suchen Orientierung in afrikanischen Kunstszenen und wären beschämt, würden wir uns als kulturelle Entwicklungshelfer aufführen.

Einbruch der Dunkelheit Internationale Konferenz zu Theorie und Praxis der Selbstermächtigung in Zeiten digitaler Kontrolle. Eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes.

Die Konferenz „Einbruch der Dunkelheit“ behandelt die Folgen einer rund um die Uhr in allen Lebensbereichen betriebsamen Ausleuchtungsgesellschaft: Wann ist Trans­ parenz gut, wann wird sie schlecht? Ist das Verlangen nach Geheimnis und Dunkelheit angesichts der technischen Entwicklung nur ein anachronistischer Reflex? Oder er­ fordert eine demokratische Kultur freier In­ dividuen nicht gerade die Einrichtung von Schutzräumen des Privaten und Ungeteil­ ten? In einem großen Dreischritt unter­ nimmt die Konferenz eine Kritik der Wach­ samkeit, untersucht Gegenstrategien wie eine Politik des Schlafs und fragt schließlich nach Neudefinitionen von Freiheit und Sicherheit in der digitalen Welt. Auf Ein­ ladung der Kulturstiftung des Bundes präsentieren und diskutieren Philosophen, Künstler, Sozialwissenschaftler, Schrift­ steller und Programmierer. Mit Bruce Sterling, Evgeny Morozov, Marina Weisband, Dietmar Dath oder dem Theaterkollektiv andcompany&Co. u.v.a. Konzept und Leitung: Krystian Woznicki Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin: 25./26.01. 2014 ↗ www.berlinergazette.de

Unbestreitbar ist jedenfalls, dass bei Kunst- und Kulturinstitutionen in Deutschland ein kontinuierlich steigendes Interesse an der Kooperation mit afrikani­ schen Partnern zu verzeichnen ist. Es scheint, als prob­ ten wir am Beispiel Afrikas die Öffnung oder die Inter­ nationalisierung unserer bisher fast hermetisch national oder bestenfalls europäisch aufgestellten Kulturinstitu­ tionen. Die Beschäftigung mit afrikanischen Künstl­er­ innen und Künstlern und deren Themen erweist sich für eine längst überfällige Kritik des Eurozentrismus als außergewöhnlich fruchtbar. Die Kulturstiftung des Bundes hat vor gut einem Jahr einen Fonds für künstlerische Kooperationen mit Part­ nern aus afrikanischen Ländern eingerichtet („TURN“), der zunächst mit 2,1 Mio. Euro ausgestattet war und nun noch einmal um 4,4 Mio. Euro erhöht wurde. In der ersten Jurysitzung im April dieses Jahres wurden zu­ nächst zwölf Projekte verabschiedet. Es handelt sich größtenteils um Kooperationen im Bereich zeitgenös­ sischer Kulturprojekte. Genauer gesagt sind es Projek­ te, die von einer Generation junger Künstlerinnen und Künstler aus afri­kanischen Ländern verantwortet wer­ den, die erst nach Ende der Kolonialzeit, in den 1960er und 1970er Jahren, geboren und postkolonial sozialisiert wurden (Afrika in Solitude, die Akademie Schloss Soli­ tude in Stuttgart lädt junge Stipendiatinnen und Sti­ pendiaten (Theater, Performance, Tanztheater) aus ver­ schiedenen afrikanischen Ländern für mehrere Monate nach Stuttgart ein. Um Lyrik als Performance geht es in dem Projekt SPOKEN WOR:L:DS, eine Kooperation zwischen der Literaturwerkstatt Berlin und der Maono Cultural Group Nairobi Kwani Trust Nairobi)*. Die Kolonialzeit und die Jahrzehnte danach sind für viele der Jüngeren eine Frage der – wie wir wohl sagen würden – Erinnerungskultur. Wie wollen Afrikanerinnen und Afrikaner ihre Geschichte erinnern und weiterge­ ben? Zwei der geförderten Projekte befassen sich denn


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Was ist da los? Die Kunst in Afrika ist im Aufbruch. TURN, ein Fonds für künstlerische Kooperationen mit Partnern aus afrikanischen Ländern, will diesen Wandel in den kommenden Jahren begleiten. Sein Motor: Neugier!

auch mit dem Thema „Archivierung“ (Acting Archives, eine Kooperation zwischen dem Institut für Raumexpe­ rimente der Berliner Universität der Künste und der Alle School of Fine Arts and Design, Addis Ababa University; Visionary Archive, eine Kooperation zwischen dem Ber­ liner Arsenal – Institut für Film- und Videokunst e.V. und der Cimatheque – Alternative Film Centre Cairo sowie weiteren Partnern aus Johannesburg, Khartum und Guinea-Bissau).

den Kolonialismus und seine Auswirkungen beziehen lassen. Dazu gehören Themen wie der Umgang mit Ho­ mosexualität und Geschlechteridentitäten (Giving Contours to Shadows, eine Kooperation des Berliner Savvy Contemporary e.V. und des Neuen Berliner Kunstver­ eins), das Gefühl des Fremdseins unter den Bedingun­ gen der Globalität (FIN DE MACHINE /EXIT.HAMLET, eine Kooperation des Theater kainkollektiv Bochum mit dem OTHNI-Laboratoire de Théâtre de Yaoundé / Compagnie Les Ménestrels von Martin Ambara). Auch Das Interesse vieler neuer Kunstinstitutionen gilt die panafrikanische Zeitschrift CHRONIC Chimurenga, zunehmend – auch das ein Kennzeichen der jüngeren die wir in deutscher Ausgabe unserem nächsten, im Früh­ Generation – Themen, die gesellschaftspolitische Kon­ jahr erscheinenden Magazin beilegen werden, zeugt da­ flikte widerspiegeln, welche sich nicht unmittelbar auf von, dass „afrikanische Themen“ nicht mehr auf die

37 ­ ritik an kolonialen Hinterlassenschaften fixiert sind, K sondern gesellschaftspolitische Gegenwartsthemen auf­ greifen, wie Fremdenfeindlichkeit in den eigenen Län­ dern, Demokratieversagen, Kleptokratie oder aktuelle städtebauliche Herausforderungen. Die Planungen für das Humboldt Forum im neu­ en Berliner Stadtschloss zeigen exemplarisch, wie weit entfernt wir noch davon sind, schlüssige Konzepte für angemessene Präsentationsformen von ethnologischen Objekten vorlegen zu können, die dem Ganzen nicht (wieder) einen eurozentrischen Stempel aufdrücken. In dieser Hinsicht versprechen zwei Ausstellungsprojekte im Fonds TURN spannende Ergebnisse. Einmal werden Sammlungsstücke außereuropäischer Kulturen von afri­ kanischen Kurator/innen präsentiert (Künstliche Tatsachen, Kunsthaus Dresden und Center for Historical Re­ enactments Johannesburg, École de Patrimoine Africain Porto-Novo, Universität Abomey-Calavi Cotonou), zum anderen werden Objekte aus europäischen Sammlun­ gen von Kurator/innen aus Äthiopien, Kenia und Süd­ afrika kommentiert. In KEHRWERT/Reciprocal Value kuratieren die drei Kurator/innen Ausstellungen aus der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden und der Nati­ onalgalerie Berlin. Es geht bei diesen Interventionen um nicht weniger als den praktischen und konkreten Versuch, eurozentrischen Perspektiven einen kulturell anders geschulten Blick entgegenzusetzen. Eine Reihe von Projekten im Fonds TURN beschäf­ tigt sich mit künstlerisch-ästhetischen Entwicklungen in Afrika. Wir wissen immer noch recht wenig von den Innovationen zum Beispiel in den Sparten Musik, Tanz oder Theater. Erst in jüngster Zeit wurden vor allem Festivalmacher aufmerksam auf neue Formensprachen aus den afrikanischen Ländern. Beispiele dafür sind sicher­lich die Erfolge, die der kongolesische Choreograf Faustin Linyekula oder der Regisseur Dieudonné ­Niangouna (Republik Kongo) neuerdings auf deutschen und europäischen Bühnen erleben. Seit längerem schon arbeiten die Choreografen Gintersdorf/Klaßen mit ivorischen Tänzerinnen und Tänzern zusammen und aktuell für die Theaterproduktion La nouvelle pensée noire / Das neue schwarze Denken auch mit Performerinnen und Performern aus der Demokratischen Republik Kongo und R ­ uanda. So aufschlussreich es ist, sich mit neuen künstleri­ schen Formensprachen aus afrikanischen Ländern ver­ traut zu machen, so wenig sollen populärere Formate zu kurz kommen. So präsentiert Deutschlands größtes Festival für Weltmusik, das Tanz&Folk Festival Rudol­ stadt, mit Mambo Moto Moto – Musik aus Tansania im nächsten Jahr neueste Strömungen der urbanen Musik­ szenen aus Dar es Salaam und Sansibar. Außerdem wer­ den eigens für das Festival deutsch-tansanische Ensem­ bles gegründet. TURN entspringt der Neugier auf Unbekanntes und rechnet durchaus mit Widerständen und Befrem­ den gegenüber Unvertrautem. Die Projekte im Fonds TURN, betrachtet man sie in ihrer Gesamtheit, entwer­ fen zunächst einmal ein eindrucksvolles Bild kraftvolll­ebendiger Kunstszenen in afrikanischen Ländern. Es konterkariert die Vorstellungen von einem Kontinent, den wir fast automatisch mit Armut, Hunger, Gewalt, ­Naturkatastrophen, Flüchtlingsproblematik usw. assozi­ ieren. Diese Kalamitäten kann und darf keine noch so avancierte Kunst- und Kulturpolitik vergessen machen. Aber wir dürfen unser Bild vom afrikanischen Konti­ nent auch nicht von denen imprägnieren lassen, die ihn zum global attraktiven Absatzmarkt oder lediglich zur Ressource billiger Rohstoffe zurichten wollen. Kunst stört unsere geopolitischen Raster und ökonomischen ­Denkmuster und, blicken wir auf Afrika, auch unsere saturierten Standards zeitgenössischer Kunst. (TaHo) *  Ausführliche Beschreibungen aller einzelnen Projekte im Fonds TURN so­ wie entsprechende Termine finden Sie auf unserer Website www.kulturstif­ tung-bund.de.


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Die Gremien der Kulturstiftung des Bundes

„Sleep #03“, ortsbezogene Videoprojektion ohne Ton 1h 16‘ 30“, Loop

„Sleep #3“ von Sebastian Stumpf für den Neubau der Kulturstiftung des Bundes, Halle an der Saale Die Videoprojektion „Sleep“ ist nachts und von außen durch die Glasfassade des Neubaus zu sehen. Bildträger ist die Stirnwand im Eingangsbereich. Die Figur im Film schläft auf einem Stuhl vor der Fensterfassade im Eingangsbe­reich. Diese Aktion wird vom Innenraum aus mit Blick nach außen gefilmt und an­schließend passgenau auf die Stirnwand pro­ jiziert. Hinter der schlafenden Person ist die Glasfassade mit ihrer horizon­ talen und vertikalen Strukturierung zu sehen. Es ergibt sich eine Art Spiegelsituation durch die Umkeh­ rung der Blickrichtung der Betrach­ ter/innen in Bezug auf die Perspekti­ ve des projizierten Bildes. Außerdem finden zeitliche Über­ tragungen auf verschiedenen Ebenen statt: zum einen durch den Kontrast zwischen der Zeit der schlafenden Figur und der Zeit, in der sich der Betrachter befindet. Zum anderen durch den Wechsel zwischen Tag (im Bild) und Nacht (Zeitraum der Präsentation). Ein ähnliches Wechselspiel ergibt sich im Hinblick auf körperliche Aktivität, bzw. auf An- und Abwesen­ heit: Die Passant/innen halten in einem Moment der Bewegung inne, um die stille Figur im Bild zu betrach­ ten. Diese befindet sich alleine und reglos in einem Raum, der tagsüber

von Dynamik und Arbeit geprägt ist. Der Stuhl, auf dem die Figur schläft, ist als Teil des Mobiliars, mit dem der Eingangsbereich aus­ gestattet ist, wiedererkennbar. Die Stimmung ist kontemplativ und auf die schlafende Figur konzent­ riert. Die mini­malen Bewegungen der Figur verstärken das Absurde und den slapstickartigen Humor dieser Intervention. Die Figur scheint in mehrfacher Hinsicht deplatziert und ist doch zentral und in sich ruhend aufgehoben. Im Film sind immer wieder Reaktionen – oder eben ein Nicht-Reagieren – der Passanten auf der Straße zu erkennen. Eine Rolle, in der sich auch die Betrachter/innen wiederfinden, und die die Projektion ihnen vorspiegelt. Die „Aktion“ im Bild thematisiert Grundfunktionen von Architektur: die Trennung von Innen und Außen sowie das Gebäude als Arbeits- und Privatraum und die Ambiva­lenz von Transparenz bei Glasfassaden.

Thomas Fischer

Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwer­ punkte der Förderung und die Struktur der Kultur­ stiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungs­ rat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Die folgende Übersicht entspricht der Zusammensetzung des Stiftungsrates bei seiner 24. Sitzung am 24. Juni 2013.

Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.

Stiftungsrat Vorsitzender des Stiftungsrates Bernd Neumann Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien

Jurys und Kuratorien Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter www.kulturstif­ tung-bund.de bei den entsprechenden Projekten.

für das Auswärtige Amt Cornelia Pieper Staatsministerin

Die Stiftung

für das Bundesministerium der Finanzen Steffen Kampeter Parlamentarischer Staatssekretär

Vorstand Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin

für den Deutschen Bundestag Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident Dr. h.c. Wolfgang Thierse Bundestagsvizepräsident Hans-Joachim Otto Parlamentarischer Staatssekretär

Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor

als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund als Vorsitzende des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder Christine Lieberknecht Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Durs Grünbein Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

Stiftungsbeirat Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten. Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Vorstands der Deutsche Bank Stiftung Jens Cording Beauftragter der Gesellschaft für Neue Musik e.V. Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vostitzender des Stiftungsbeirates Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Dr. Volker Rodekamp Präsident des Deutschen Museumsbundes e.V. Dr. Dorothea Rüland Generalsekretärin des DAAD Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats e.V.

Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di e.V. Prof. Klaus Zehelein Präsident des Deutschen Bühnenvereins e.V.

Sekretariate Beatrix Kluge / Beate Ollesch (Büro Berlin) / Christine Werner Team Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche Justitiariat / Vertragsabteilung Dr. Ferdinand von Saint André ( Justitiar) / Susanne Dressler / Doris Heise / Anja Petzold Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung) / Tinatin Eppmann / Juliane Köber / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier Förderung und Programme Kirsten Haß (Leitung) / Ursula Bongaerts / Kristin Duda / Marcel Gärtner / Katrin Gayda / Dr. Marie Cathleen Haff / Teresa Jahn / Dr. Alexander Klose / Antonia Lahmé / Christiane Lötsch / Anne Maase / Uta Schnell / Karoline Weber / Barbara Weiß Allgemeine Projektförderung Torsten Maß (Leitung) / Bärbel Hejkal / Steffi Khazhueva Projektprüfung Steffen Schille (Leitung) / Marius Bunk / Antonia Engelhardt / Franziska Gollub / Berit Koch / Kristin Madalinski / Fabian Märtin / Antje Wagner Verwaltung Andreas Heimann (Leitung) / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe

Courtesy: Sebastian Stumpf und Galerie Thomas Fischer, Berlin © Sebastian Stumpf, 2012

als Vertreterinnen der Länder Eva Kühne-Hörmann Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst Prof. Barbara Kisseler Kultursenatorin im Hamburger Senat

Johano Strasser P.E.N. Deutschland


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Tanzschritte und Marschspuren Peter Malnikow

Impressum Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 2 06110 Halle an der Saale T 0345 2997 0, F 0345 2997 333 info@kulturstiftung-bund.de ↗ www.kulturstiftung-bund.de Vorstand Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz (verantwortlich für den Inhalt) Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Beratung Tobias Asmuth Schlussredaktion Christoph Sauerbrey Gestaltung Neue Gestaltung, Berlin Hersteller BUD, Potsdam Redaktionsschluss 15.8.2013 Auflage 26.000 Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes – alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes. Das Magazin Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter: ↗ www.kulturstiftung-bund.de/magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, erreichen Sie uns auch telefonisch unter +49 (0) 345 2997 131. Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf! Die Website Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der Stiftung, die Förderanträge und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter: ↗ www.kulturstiftung-bund.de ↗ facebook.com/kulturstiftung ↗ twitter.com/kulturstiftung

Cover Illustration: Andree Volkmann / Foto: Igor Stravinskys ‚Rite of Spring‘ (The Adoles­cents) – Originalproduk­tion am Théâtre des Champs-Élysées, Paris, 1913. Ballets Russes de Diaghilew. IS: Russian composer, 1882–1971. Foto: Charles Gerschel. Le Sacre du Printemps. Colour­ ised version. © culture-­image

Der Ordnung des Heftes wird die Unordnung der Stempelmotive übergeholfen. Wie sich farblose Schwärme ergießen, so versammeln sich alle Motive der Stempel über die Seiten, umfassen die Texte und überranden sie. Nur noch in den Spuren des vervielfältigenden Druckens ist der Krieg der Formen, von Seite zu Seite, Motive ge­ gen Worte, das Chaos der wilden Schritte zu bemerken. Und zerfurcht und grundlos, schwingt sich von ihr im Bogen gegen die Hügel der nächsten umschlagenden Seite ein neuerlicher Versuch das Chaos dieser wilden Schritte in die Ordnung des laufenden Bandes zu bringen. Den Stempeln, den grauen, laufenden, stürzenden, vorwärts getrommelten Kameraden – von Amts wegen serielle Indi­ vidualität verordnend – geht durch die Choreographie der Hand mit wachsender Zahl die Bestimmung verlo­ ren. Denn wollte man nicht die Stiefel verlieren, mit denen die Spuren auf unfestem Untergrunde noch so lange zu sehen sind, so muss man fest und sicher den Stempel ergreifen, so dass wieder neue Formen als Ornamente entstehen und unter den grau bespannten, verschobenen Helmen, dem Klischee eines Kriegers, eine Ahnung von Leben noch vermutbar wird. Und immer wieder: Sie müssen als Nachschub mit ihren Bajonetten den Sturm auf die Gräben, die Lücken der Texte vereinzelt eröffnen und am Ende zeigt sich ein wimmelnder Verband, eine scheinbare Atomisierung des Geschehens, dass sich doch wieder zu Mustern, zu Ostinati verbindet. Auf der nächsten großen Seite reihen sich mit jungsprödem Mutgeschrei die Moti­ ve aneinander, geraten aus dem Glied und wie ein neu­ erlicher Versuch selbst Figurinen zu bilden, bleiben sie wie ein Hinterkopf in den Grund gebohrt, im folgenden Blättern am Grund des fallenden liegen. Auch wenn in stierer, gedankenloser Erregung sich hier der Text dem Stempel anschmiegt, bleibt ein ekelhafter Zuckerhut des

Abgrunds zwischen beiden und bleibt es nicht, bei all der feinhändigen Prägung des Paginierten: Das Produkt einer verwilderten Wissenschaft, ein amtlicher Vorgang, das Siegel des Bürokraten, des Formalisierers, eine Erleich­ terung seiner ordnenden Schreibarbeit. Also nicht zart mit der Fingerspitze den Augenwinkel zu tupfen, sondern behände und gleichmäßig sta rk setzt das Farblichfeuch­ te wieder und wieder seinen Schritt auf papiernen Grund. Und das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen? Und gegen Ende, wenn die Spuren sich auf den letzten Seiten langsam verlieren, und wieder erkennbar, trotz unzähligem Wiederholens zu Bildern werden verweilt für einen Moment und fragt ... Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal ...

Scare of Printemps Für diese Ausgabe des Magazins entwarf Andree Volkmann Stempel mit Kriegs­ motiven. Einige Motive sind dem color­ierten „Sacre du Printemps“-Foto von der Uraufführung 1913 in Paris ent­ nommen, wie z.B. die Zopfperücken und die Schuhe mit den langen Bändern. Peter Malnikow erläutert das Stempelver­ fahren mit Zitaten aus dem Schluss­ kapitel von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, den der Dichter 1913 zu schreiben begann. Andree Volkmann arbeitet seit 1998 als Freier Künstler und Illustrator in Berlin. Peter Malnikow lebt als Autor in Meilen bei ­Zürich.


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