Magazin #18 der Kulturstiftung des Bundes

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das magazin der kulturstiftung des bundes herbst / winter 2011

texte von lászló f. földényi tim jackson alexander kluge gerd koenen wolfgang kraushaar per leo christian meier kathrin röggla artur żmijewski


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editorial Lassen sich auch in der Kultur »Grenzen des Wachstums« feststellen oder sind wir (moralisch) verpflichtet, das Kulturerbe und seine Institutionen immer weiter zu vermehren? Unsere Kultur ist stark geprägt vom Ethos der Überlieferung, des Erhaltens und des Erinnerns. Das Sammeln, Bewahren, Restaurieren und Gedenken gehört zu den Grundpfeilern unseres kulturellen Selbstverständnisses. Dementsprechend unterliegen alle Prozesse des Vergessens, des Verlusts, des Verzichts oder der Vernachlässigung dem Verdikt der »Unkultur«. Die Kulturstiftung des Bundes will sich diesem Thema in einer mehrtätigen, interdisziplinären Veranstaltung im Juni 2012 von einer übergeordneten Warte aus widmen, denn die Frage, was wir uns in Zukunft noch leisten können oder wollen oder wovon wir uns gegebenenfalls verabschieden müssen, wird immer dringlicher. Wir wollen mit Experten darüber diskutieren, wie stark unsere Kultur von der Macht der Vergangenheit und einer forcierten Erinnerungskultur geprägt ist, inwieweit unsere kulturelle Praxis sich zugunsten unserer Zukunftsfähigkeit von der Verpflichtung auf die Tradierung lösen kann und darf. Lässt sich dem Bruch mit Traditionen, dem Ausscheren aus Erhaltungspraxen auch etwas Positives abgewinnen, lassen sich K u l t u r e n d e s B r u c h s , so der Titel der Veranstaltung, denken und demokratisch legitimieren? In der aktuellen Ausgabe unseres Magazins haben sich der Althistoriker Christian Meier und der Autor

und Filmemacher Alexander Kluge in Interviews diesem Fragenkomplex gestellt. Ein Essay des Historikers Per Leo und ein literarischer Beitrag der Schriftstellerin Kathrin Röggla runden den Themenschwerpunkt ab. Zwei ungewöhnliche Perspektiven auf die bundesrepublikanische Geschichte nehmen die Beiträge von Gerd Koenen und Wolfgang Kraushaar ein. Anlässlich der Ausstellung B I L D D i r D e i n Vol k – A x e l Sp r i nge r u n d di e Ju de n im Frankfurter Jüdischen Museum beleuchtet der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar die Reaktion der Linken auf Axel Springers pro-israelisches Engagement in den 1960er und 70er Jahren. Der Publizist Gerd Koenen widmet sich der immer noch wenig untersuchten Rezeptionsgeschichte der sowjetischen Gulags, die durch den Roman A t e m s c h a u k e l der Nobelpreisträgerin Herta Müller erstmals seit Alexander Solschenizyns A rc h i pe l G u l a g wieder einem größeren Publikum ins Gedächtnis gerufen wurden. Nun fördert die Kulturstiftung des Bundes eine Wanderausstellung, die den Spuren des Gulags 1929–1956 folgt. Gegen Ende des Kleist-Jahres und aus Anlass des 200. Todestages Heinrich von Kleists am 21. November 2011 findet im Maxim Gorki Theater Berlin ein großes, von der Kulturstiftung gefördertes Theaterfestival statt, bei dem unter anderem alle Dramen Kleists zur Aufführung kommen. Der international renommierte ungarische Schriftsteller und Kleist-Experte László F. Földényi würdigt den Dichter als K o m e t d e r L i t e r a t u r .

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Auch die Berlin Biennale, einer der von der Kulturstiftung geförderten »kulturellen Leuchttürme«, lassen wir Schatten vorauswerfen, indem wir dem Kurator der 7. B e r l i n B i e n n a l e , Artur Żmijewski, das Wort geben. Der polnische Künstler erklärt, was er unter politischer Kunst versteht. Schließlich freuen wir uns ganz besonders über ein Interview mit dem britischen Wachstumskritiker Tim Jackson, dessen Buch W o h l s t a n d o h n e Wa c h s t u m — L e b e n u n d W i r t s c h a f t e n i n e i n e r e n d l i c h e n We lt große Aufmerksamkeit in Deutschland erlangt hat. Das Interview entstand im Rahmen einer von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Veranstaltungsreihe und eines Buchprojektes des Suhrkamp Verlages zum Thema W e r d e n wir die Er de r etten? — Gespr äche über die Z u k u n f t v o n T e c h n o l o g i e u n d P l a n e t . Die siebenteilige Veranstaltungsreihe vom Dezember 2011 bis Juni 2012 gehört thematisch zu unserem Themenschwerpunkt »Nachhaltigkeit«, den wir unter anderem mit dem Festival Ü b e r L e b e n s k u n s t im August dieses Jahres gestaltet haben. Die Bilder des Fotojournalisten Sebastian Bolesch geben einen atmosphärischen Eindruck von diesem Festival wieder, dessen große Resonanz beim Publikum und in den Medien optimistisch stimmt. Hor tensia Völckers / Alexander Farenholtz

»an die zukunft denkt kein mensch« »sowie wir den blick scharf stellen, finden wir einen ausweg« am bordstein der geschichte. ein schuss solz, 20. juli 2011 die andere seite des schweigens mythen des wirtschaftswachstums der komet der literatur dauerstreit um israel »künstler sind in der lage, dieselben ereignissequenzen in gang zu setzen wie politiker.« meldungen neue projekte gremien + impressum

bilder

Die Bilder in diesem Magazin stammen von S e b a s t i a n B o l e s c h, der das Ü b e r L e b e n s k u n s t-Festival fotografisch begleitet hat. Ü b e r L e b e n s k u n s t ist ein Programm zum Thema Nachhaltigkeit der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt. 1967 im Rheinland geboren und jetzt in Berlin beheimatet, arbeitet Bolesch seit 1992 als freier Fotograf. Sein Spezialgebiet sind Reportagen aus internationalen Kriegs- und Krisengebieten (Afghanistan, Sudan, Haiti, Kongo, Irak u.a.), die er mehrfach im Auftrag des SPIEGEL und der ZEIT sowie von internationalen Hilfsorganisationen gemacht hat. Auswahl und Anordnung der Fotos in diesem Magazin erfolgten in Kooperation mit dem Graphikbüro cyan. Auf welche Kunstprojekte im Rahmen von Ü b e r l e b e n s k u n s t sich die Bilder beziehen, können Sie auf seite 38 nachlesen.

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Vorstand Kulturstiftung des Bundes

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Wohl keine andere Zeit rechnete so mit den Beständen wie unsere Gegenwart. Unsere Speicher und kulturellen Depots sind randvoll gefüllt mit den Errungenschaften und Hervorbringungen vergangener Zeiten. Wie fern liegt uns heute die einstmals avantgardistische Geste, die gerade im Abbruch, der Zäsur oder gar der Zerstörung den Boden für Gestaltung und kulturelle Innovation sah. Wir sind eine Kultur des Bewahrens und Sammelns. In einer Welt, die politisch, ökonomisch und ökologisch aus den Fugen zu geraten scheint, wird der Griff in die Register der Vergangenheit allein aber nicht mehr die Parameter zur Orientierung leisten. Gefragt sind heute Kulturen des Bruchs. Wie lassen sie sich denken – nur als Verlust oder auch als Freiheit? Der Schwerpunkt dieses Magazins spürt im Ausblick auf die Tagung der Kulturstiftung des Bundes über die Ku lt u r e n de s Bruc h s im Sommer 2012 alternativen Geschichten zur Erinnerungskultur nach. Nicht zuletzt sie erklärt unsere Neigung zum Alten und unsere Unfähigkeit, das Neue zu denken. Zwei Gespräche mit historisch versierten Erzählern und Zeitzeugen des Jahrhunderts und zwei literarische Annäherungen aus der jüngeren Generation zeigen die Macht des Vergangenen über unsere Gegenwart. Gerade die zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer standen im Zeichen forcierter historischer Selbstvergewisserung. Es waren jene Jahre, in denen die Erinnerungskultur zur geheimen Räson der sich formierenden Berliner Republik wurde und das »Gedächtnis« zur Leitvokabel der Kulturwissenschaften aufstieg. Nur der Blick zurück schien noch die Sicherheiten zu gewähren, die der Sturm auf uns einstürzender, bisher undenkbarer Ereignisse zu kassieren droht — von 9/11 bis Fukushima. Heute beginnen wir, die Vergangenheitsorientierung im öffentlichen Diskurs selbst zu historisieren. Was sind die Gründe für unsere Memoria-Leidenschaft? Und können wir im freien Feld eines neuen Jahrhunderts damit brechen? Von dem Althistoriker C h r i s t i a n M e i e r [siehe unten] lernen wir, dass von den Griechen bis zur Schwelle des 20. Jahrhunderts gerade das

Vergessen, der Bruch mit dem Vergangenen, nach Kriegen und Friedensschlüssen die Forderung des Tages war. Nicht um das Verdrängen der »schlimmen Vergangenheit« des 20. Jahrhunderts geht es Meier, sondern um die produktive Irritation der Selbstverständlichkeit unseres Erinnerungsgebotes. Auch der Erzählkosmos von [siehe S. 9] wird befeuert von der Suche nach AlA lexander K luge ternativen und scheinbar unwahrscheinlichen Konstellationen. Als Chronist der Lebensläufe verteidigt er den Eigensinn der Geschichte: Seine Geschichten im »historischen Konjunktiv« bewahren die Freiheit des Augenblicks vor dem Jargon des Unvermeidlichen. Aber was wird für zukünftige Erzähler einmal der historische Konjunktiv unserer eigenen Zeit sein? Ist die alternativlose Freude an der Präsenz der Gegenwart das Gebot der Stunde? Dass der notorisch deutschen Vergangenheit auch an der Schwelle des zweiten Jahrzehnts eines neuen Jahrhunderts so leicht nicht zu entkommen ist, zeigen die Texte der Nachgeborenen. Die Autorin K a t h r i n R ö g g l a [siehe S. 14] begegnete ihr auf einer unschuldigen Provinzpartie Ende Juli im hessischen Solz – in dem die Erinnerung an einen Attentäter des 20. Juli sich gleichsam in die Landschaft und Gesichter eingegraben hat. P e r L e o [siehe S. 12] illustriert eine andere Szene: den Einbruch eines schmutzigen Hitler-Schnappschusses in das perlende Geplauder einer jungen Berliner Intellektuellenschar. Sofort gewinnt das Gespräch an Intensität, wenn die Botschaften nicht im gleißenden Licht der bekannten Ikonen der Erinnerungskultur transportiert werden, sondern Splitter und Bruchstücke am Wegesrand aufgesucht werden: Geschichte von der Bordsteinkante erzählt wird. Alexander Kluge erinnert uns an die alte Fähigkeit des Gehirns zur Lateralisierung: Wir können die Aufmerksamkeit auf das Vergangene legen und zugleich davon trennen. Was es zu erproben gilt sind Kulturen des Bruchs: Der Vergangenheit nichts von ihrer Unmittelbarkeit und Unruhe zu nehmen, aber gleichzeitig die Zukunft für unseS t e p h a n S c h l a k , wissenschaftliche re Entscheidungen frei zu halten. Leitung des Projekts K u lt u r e n d e s B r u c h s

an die zukunft denkt kein mensch

ein gespräch mit christian meier

S t e p h a n S c h l a k Das ›Gebot zu Erinnern‹ war verbindlich für die Räson der alten Bundesrepublik. Alle zehn Jahre entzündete sich das Selbstgespräch der Nation neu — an Büchern, Filmen oder Theaterstücken. Gerade nach dem Fall der Mauer in den neunziger Jahren war die deutsche Katastrophengeschichte stets präsent. Wie erklärt sich der Aufstieg der Vokabeln E r i n n e r u n g und G e d ä c h t n i s zur Leitkultur des Landes? C h r i s t i a n M e i e r Letztlich aus der ungeheuren Erschütterung durch die Untaten des NS-Regimes. Zunächst hieß die Parole: »Vergangenheitsbewältigung« und »Vergangenheitsaufarbeitung«; in der trügerischen Hoffnung, daß das ginge. Dann drängte sich die Mahnung zur Erinnerung in den Vordergrund. Die ließ sich realisieren in einem blühenden Gedenkwesen. Erinnerung freilich zunehmend von Leuten, die sich nicht erinnern können, weil sie zu jung dafür sind. Aber sie können sich erinnern lassen und andere erinnern. An die Untaten natürlich. Ich habe früher gemeint, jede Generation der Nachwachsenden müsse vor dieser Vergangenheit einmal erschrecken. Hochhuths S t e l l v e r t r e t e r Anfang der Sechziger, dann der

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Holocaust-Film 1979, Mitte der Achtziger der Historikerstreit die Praxis nach Kriegen und Friedensschlüssen war. Was ließe und der Kampf um den 8. Mai — war es Befreiung oder Nie- sich aus diesem alteuropäischen Gebot in unsere Zeit hinüberderlage? —, in den Neunzigern kulminiert es noch einmal mit retten? der Debatte um das Buch von Daniel Goldhagen und die WehrM e i e r Die Einsicht, daß man anders in große Schwierigmachtsausstellung. Das ist jetzt alles vorbei. Es gibt auch keikeiten gerät. Man kann sich nicht ständig vergangenes Unrecht nen großen Widerstand mehr dagegen. um die Ohren schlagen. Nicht zwischen Staaten, vor allem nicht innerhalb von Gesellschaften nach Diktatur, BürgerS c h l a k Wie konnte der Glutkern des Gespräches um die krieg und Revolution. Das stiftet zuviel Unfrieden, zumal, deutsche Vergangenheit erkalten — trotz Nachhutgefechten wie wenn man sofort damit beginnt. Anders ist es, wenn gleich zu jüngst um das ›Amt‹ und die Diplomaten im Dritten Reich? Anfang blutige Rache geübt wird, etwa in Frankreich 1945. Das M e i e r Na ja, die Distanz nimmt zu, die Festlegung auf die befördert dann aber wiederum den Willen zu rascher AmnesNation ab. Anderes beschäftigt uns. Die Rituale werden langtie. weilig. Wenigen Politikern ist es gegeben, sich angemessen zu äußern. Trotzdem wird das Gedenken wachbleiben, je stärker S c h l a k Und warum funktioniert das heute nicht mehr? es dosiert wird und an Gesichtspunkten gewinnt, umso mehr. M e i e r Es funktioniert schon noch. In Spanien etwa nach dem Sturz Francos. In Polen hat man 1989 damit angefangen. S c h l a k Sie haben in einem fulminanten Essay*in Erinnerung In der jungen Bundesrepublik hat man nahezu ein Jahrzehnt gerufen, daß das Gebot zu vergessen und die Kultur des Schlußlang die Sache ruhen lassen und es anschließend sehr langsam Striches von den Griechen bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend damit anlaufen lassen. Was nach meinem Urteil vieles erleichtert hat

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Die Kulturstiftung des Bundes veranstaltet im Frühjahr 2012 in Berlin eine

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mehrtägige, interdisziplinäre Tagung zum Thema Kulturen des Bruchs. Genauer Termin und Ort werden noch bekanntgegeben.

erleich-

tert hat. 1989 hat man es bei der DDR anders gehalten. Wahrscheinlich ging es nicht anders — aber es war nicht günstig. S c h l a k Die Erinnerungskultur mit ihren drei didaktischen Geboten — »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten« — fußt auf der Prämisse, daß man aus der Geschichte lernen kann. Wie sehr kann die Geschichte noch Lehrmeisterin sein? Welche Sicherheiten bietet vor dem Horizont des 21. Jahrhunderts der Griff in die Register der alten Zeit? M e i e r Natürlich kann man aus der Geschichte lernen. Man sollte es sogar. Da man, zumindest unter demokratischen Verhältnissen, mit Menschen nicht experimentieren darf, muß man sich gleichsam die Lehren zunutze machen, die sich über dieses Wesen aus der Fülle des Anschauungsmaterials der Geschichte ziehen lassen. Wie weit man mit Freuds drei Geboten kommt, weiß ich allerdings nicht. Erinnern ja, Wiederholen auch, aber Durcharbeiten? Man kann kaum eine ganze Gesellschaft auf die Couch legen. Im Übrigen halte ich E r i n n e r u n g s k u l t u r für keinen glücklichen Begriff. Denken Sie an unsere mißratene Denkmallandschaft. Die Begriffe »Erinnern« und »Gedächtnis« sind über Jan Assmann in die Geisteswissenschaften eingewandert. Sehr zum Ärger meines Freundes Reinhart Koselleck, der immer das Recht der eigenen Erfahrung stark gemacht hat, die nicht kulturell übertragbar ist.

Hinter den Geboten zu erinnern und zu vergessen steht in Ihrem Buch das Duell der Großbegriffe G e r e c h t i g k e i t und F r i e d e n. Unsere Erinnerungskultur wird angetrieben von unserer Ungeduld der Gerechtigkeit. Die Gebote zu vergessen werden gespeist von dem Wunsch nach innergesellschaftlichem Frieden. Wie sind der Wunsch nach Frieden und der Wunsch nach Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert austariert? Läßt sich der Aufstieg des Erinnerns mit dem Aufstieg der Gerechtigkeit zur moralischen ultima ratio parallelisieren? M e i e r Die alte Regel lief in der Tat darauf hinaus, daß die Opfer ihre Ansprüche auf Rache oder Gerechtigkeit hintanstellen mußten (auch wenn sie am Ende zu den Siegern gehörten). Einen interessanten Versuch, ihnen entgegenzukommen, stellen die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, etwa in Südafrika, dar. Sie konzedieren den Opfern, daß die Wahrheit rasch auf den Tisch kommt. Das Gesetz sah auch eine gewisse Entschädigung für sie vor. Aber die Täter werden, wenn sie gestehen, amnestiert. Und der ganze Vorgang ist zeitlich eng begrenzt. Damit eben ein gedeihliches Zusammenleben zwischen Schwarz und Weiß möglich wird. Man schwenkt gleichsam nach einem nützlichen Umweg in die alte Regel ein. S c h l a k

Sie schärfen mit Ihren Beispielen aus vielen Jahrhunderten das Bewußtsein von Ausnahme und Normalfall. Der Normalfall in der Geschichte war das Vergessen, die Ausnahme im 20. Jahrhundert das Erinnern. M e i e r Ja, aber es fragt sich, ob sich nicht eine neue Regel anbahnt. Das 20. Jahrhundert hat versucht, den Krieg abzuschaffen, was uns im Großen gelungen ist, nach 1945. Und es hat eine Tendenz entwickelt, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zu bestrafen. Einige Erfolge hat es immerhin erzielt, gegebenenfalls vermittels internationaler Gerichtshöfe. Gleichzeitig ist der Sinn für die Opfer sehr viel empfindlicher geworden. Ihnen und kaum den »Tätern« baut man heute Denkmäler. Südamerikanische Diktatoren verlieren die Sicherheit des Exils. Womit, denken Sie an Gaddafi oder Assad, natürlich manches auch schwieriger wird. S c h l a k

S c h l a k Was wäre denn anders gekommen, wenn nicht die Forderung nach Gerechtigkeit, sondern der Wunsch nach Frieden die Friedensschlüsse im 20. Jahrhundert diktiert hätte?

Nach dem Ersten Weltkrieg wäre das noch eine Option gewesen. Deutschland war besiegt, man konnte ihm Gebiete wegnehmen und es zu Reparationen zwingen. So hatte man es immer irgendwie gemacht. Das Neue war, daß man ausdrücklich eine Amnestie verweigerte. Erstmals wurde einem Besiegten auch die moralische Folgelast seiner Niederlage aufgebürdet, in Gestalt des berühmten Kriegsschuld-Paragraphen. Das hätte man sich sparen können. Die weitere Geschichte hätte davon profitiert. Zumindest wäre damit der NS -Agitation ein wichtiges Argument gegen Versailles versagt geblieben. Übrigens zeigt sich hier, daß der beliebte Spruch, wer sich nicht erinnere, müsse das Verdrängte wiederholen, falsch ist. Hätten die Deutschen ihre Niederlage doch vergessen! Hätten die Alliierten doch klügere Entscheidungen getroffen! M e i e r

Da würde ich noch eine dritte Möglichkeit einführen: Sie hat fraglos sehr viel »Macht innerhalb des politischen Systems«. Die Frage ist, was dieses System noch innerhalb der Verhältnisse vermag; von Macht über die Verhältnisse ganz zu schweigen. Die Gestaltungsfähigkeit der Politik hat ja stark nachgelassen. Daß die Kanzlerin zur Zeit von Brandherd zu Brandherd eilen muß, ohne recht löschen zu können, könnte symptomatisch sein. Im Grund sind unsere Politiker nur mehr Halbstarke. Das kennzeichnet gerade auch die Lage in der EU. Kaum hat man irgendwo einen kleinen Finger gereicht, ist man schon die Hand los. Oder anders: Man ist in einem Hürdenlauf befangen, wobei die Hürden die Tische sind, über die die Kanzlerin, einen nach dem anderen, gezogen wird. Nicht ohne jedes Mal zu erklären, es wäre jetzt eine Grenze erreicht. Aber was soll sie machen, nachdem sie einmal den, wie ich fürchte, Fehler begangen hat, vertragswidrig und à tout prix den Euro retten zu wollen. M e i e r

Sie haben in Ihrer klassischen Studie über das Ende der Römischen Republik R e s p u b l i c a a m i s s a die politischen Folgekosten von Entscheidungen oder gerade auch des Unterlassens von Entscheidungen stets mitreflektiert. Woher ha- S c h l a k Sie scheinen kein besonderer Freund Europas zu sein. ben Sie dieses Gespür für das Politische? M e i e r Ganz im Gegenteil. Ich hänge an diesem Europa, auch M e i e r Ich weiß nicht, ob ich das wirklich besitze. So weit es daran, daß es eng zusammenrückt. Aber ich bin auch ein alter, der Fall ist, resultiert es aus lebenslanger Beobachtung von Poein leidenschaftlicher Demokrat. Ich weiß schon, daß die Völlitik. In Gegenwart und Geschichte. Wobei eine Frage mich, ker nicht viel zu sagen haben. Wenn ich jedoch sehe, wie man gerade beim Ende der Römischen (und der Weimarer) Repusie in der EU ständig vor faits accomplis stellt, sträubt sich etwas in blik besonders beunruhigt hat: Was geht in einer Zeit und was mir. Und ich kann die Weise, wie man heute in Richtung auf nicht. Wir können die Probe nicht nachträglich machen. Aber einen Einheitsstaat Europa drängt, hinterrücks und im Haues gibt zumeist viele Anhaltspunkte, um zu bestimmen, was ruckverfahren, nicht für förderlich halten. Ich fürchte, man ist die Zeitgenossen wissen, sich vorstellen wollen und dann nadabei, Europa Bärendienste zu leisten; in fröhlichem Einvertürlich tun könnten und können und was nicht — überhaupt nehmen mit den sogenannten Volksvertretern. Vielleicht fürchund in bestimmten Situationen. Man muß das immer wieder ten sie ja immer noch, was schon vor zehn Jahren kompletter zu überprüfen suchen. Gerade in der Alten Geschichte ist das Unsinn war, daß es ohne den Euro in Europa zum Krieg kommt. nötig, sich immer wieder hineinzuversetzen in Akteure und Und was entsteht dabei für eine europäische Gesellschaft? Wohl Situationen. Man versteht sie nicht, wenn man sich nicht der mit Bürger- und Konsumentenrechten ausgestattet, aber im übriGrenzen von Griechen und Römern vergewissert. Gewiß, Mengen teils untertänig, teils resistent wie einst im Königreich beischen sind frei, alles mögliche zu tun. Aber nur innerhalb beder Sizilien? stimmter Möglichkeitshorizonte. Und wenn sie sich nicht im Wege stehen. Und wenn sie sich auf bestimmte Interessen stüt- S c h l a k Sie beschreiben einleuchtend, wie sehr Ihre Studien zen können, sonst verwickeln sie sich unter Umständen in un- zur Römischen Republik auch befruchtet wurden durch das unaufhaltbare Prozesse. mittelbare Nachdenken über den Untergang der Weimarer Republik. Wie sehr begründen heute noch solche existentiellen FraS c h l a k Sie haben suggestive Formeln für die Lethargie der gestellungen historische Forschungen? späten Römischen Republik gefunden. Caesar habe »Macht in M e i e r Ich glaube immer noch. Sie können sich jedenfalls den Verhältnissen«, aber keine »Macht über die Verhältnisse« gehöchst fruchtbar und animierend auswirken. Aber die Wege, habt. Wie sehr bildet die späte Römische Republik eine Folie für auf denen das geschieht, sind nicht planbar. In der alten Unidie Nicht-Regierbarkeit unserer Zeit? versität gab es dafür viele Nischen. In der maniera bolognese M e i e r Vielleicht insofern, als am Beispiel Caesars (und der oder gar in den verantragten Formen der Forschungsförderung späten Römischen Republik) so gut wie sonst nirgends oder fast gibt es wenige Chancen dafür. nirgends die Grenzen der Politik deutlich werden. Das könnte um 1980, als manche alte Auffassungen von der Macht des S c h l a k Wir stehen heute noch so im Bann des 20. JahrhunStaates sich als fragwürdig erwiesen, besonders aktuell gewe- derts, daß wir auch schon über das 21. Jahrhundert unsere Erinnesen sein. Unter den zahlreichen Lesern, die meiner Biographie rungslandschaft aufspannen. 25 Jahre Historikerstreit, fünfzig zum Erfolg verhalfen, waren bemerkenswert viele Politiker. Jahre 1968, hundert Jahre Adolf Hitler. Aber womöglich gibt es eiGünter Gaus, den ich kurz vor seinem Tod noch im Flugzeug ne Primärerfahrung noch ungeahnter Gegenwärtigkeit und hiskennengelernt habe, sagte mir, es sei ein Buch, das für Politiker torischer Brisanz im 21. Jahrhundert, die die Präsenz des 20. Jahrwichtig sei. Anscheinend habe ich ihnen ihre eigene Lage vor- hunderts zurückdrängt? geführt. Es gibt ganze Kabinette, die den C a e s a r von eiM e i e r Sie vergessen 2014 [Erster Weltkrieg] und — besonnem ihrer Kollegen geschenkt bekommen haben. Helmut Kohl ders aktuell und wichtig — fünfzig Jahre Mauer. Aber die Juhat kurz vor seiner Regierungsbildung 1982 im »Parlament« den biläumsbezogenheit schließt natürlich nicht aus, daß sich das C a e s a r als seine Urlaubslektüre besprochen. Es schien fast, 21. Jahrhundert in schnellen Schritten vom 20. Jahrhundert entals ob er sich vor dem Betreten des Kanzleramtes noch einmal fernt. Die Frage, die sich mir stellt, ist, wie weit Geschichtsbean Caesar messen wollte. Mit dem ohnmächtigen Caesar muss wußtsein im 21. Jahrhundert noch eine Rolle spielt. Das hat ja ich wohl eine Seite berührt haben, die den Politikern nicht unmit partiellen Erinnerungsstößen nichts zu tun. Wenn Sie das vertraut war. haben wollen, müssen Sie eigentlich immer Vergangenheit und Zukunft zusammenbringen. An die Zukunft denkt bei uns S c h l a k Und was ist mit der Ohnmacht der allmächtigen Anaber kein Mensch. Seit dem 18. Jahrhundert, als der Begriff der gela Merkel? Geschichte als eines Prozesses aufkam, hatte man das Gefühl, S c h l a k

wir haben

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das Gefühl,

wir haben eine Vergangenheit hinter uns, die jedenfalls dazu beitragen kann, eine bessere Zukunft zu erreichen. Immer mehr Schichten in immer mehr Ländern werden gebildet sein, immer weniger wird man arbeiten müssen. Das geht noch bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, ob man nun dafür den Begriff Fortschritt braucht oder nicht. Demokratie, Sozialstaat, verbreiteter Besuch höherer Schulen sind das Ergebnis. Von wissenschaftlichen, technischen, medizinischen Fortschritten ganz zu schweigen. Aber wo führt das hin? Können Sie sich das ausmalen? Jedenfalls beschäftigt das die Leute kaum. Ich habe in den neunziger Jahren manchmal Seminare zur Prognose gehalten. Frühere Prognosen studiert, aber auch eigene Prognosen durch die Teilnehmer machen lassen: aufschreiben mit Datum, zumachen, in den Schreibtisch legen und später wieder lesen.

vierzehn Jahre gebraucht. Einen Begriff wüßte ich nicht. Dazu ist es auch noch zu früh. Aber eines scheint mir sehr wahrscheinlich zu sein. Die zunehmend enge Verflechtung aller Teile der Welt und die unabsehbaren Möglichkeiten, Kapital oder auch die verschiedensten Menschengruppen kurzfristig zusammenzuballen, werden zu einer Stärkung übernationaler Zusammenschlüsse führen, EU, UNO etc. Man wird versuchen ihrer Herr zu werden. Aber es wird nur unzulänglich gelingen. Vielmehr werden der Konzentration von Macht auf den obersten Ebenen viele andere auf niederen entsprechen, intermediäre Gewalten, große mafiöse Organisationen mit hohem Störungs- und Zerstörungspotential dank des Netzes. Man wird den Nationalstaaten und den in ihnen möglichen Demokratien noch nachtrauern.

S c h l a k Das Gebot zu vergessen — ist nicht nur eine alte politische Verhaltenslehre, sondern auch eine Nötigung und Begleiterscheinung unserer technisch digitalisierten Welt. Wir lagern immer mehr Erinnerungen an die Apparate aus. Schon malen Kulturkritiker das Gespenst der digitalen Demenz an die Wand. M e i e r Da ist gewiß etwas Richtiges dran. Ich spreche spöttisch gern vom Übergang vom homo sapiens zum homo telephonans. Die Leute sind ununterbrochen dabei, Nachrichten zu empfangen und wieder auszusenden. Wann denken die eigentlich? Wohl bin ich glücklich, daß es SMS gibt, denn damit ist der Geräuschpegel in den Eisenbahnwaggons geringer. Aber daß überall Leute, auch im Gespräch, auf ihre Handys sehen und an ihnen herumfummeln, hat für mich etwas Beängstigendes. Übrigens führt das auch zur Frage nach Erinnern und Vergessen zurück. Die Fülle des im Netz verfügbaren Materials könnte zu einer ähnlichen Schwächung des Erinnerungsvermögens führen wie die Navigationsgeräte den geographischen Orientierungssinn verkümmern lassen. Und wie das Erinnerungsvermögen und der Orientierungssinn könnten auch das Urteilsvermögen und die persönliche Autonomie im Rückgang begriffen sein. Da sie Abstand, Übersicht, Vergleich und anderes voraussetzen. Man spricht gern vom lebenslangen Lernen. Aber wird unseren Schülern und einer vielleicht zunehmenden S c h l a k Wie fern sind uns umgekehrt heute die achtziger JahZahl von Studenten eigentlich die Basis vermittelt, auf die das re — mit ihren Empfindsamkeiten, ihren Reserven, ihren moraaufbauen kann? lischen Energien und Skandalisierungen, die die kleinste historische These auslösen könnte? S c h l a k Das alte Schauspiel aus der vorrevolutionären Zeit M e i e r Wenn ich allein an die Erregungen im Historiker- vollzieht sich heute auf der Bühne des Internets noch einmal — streit denke. Ich habe damals als Vorsitzender des Verbandes die Moralisierung des politischen Geheimnisses. Kritik und KriTodesdrohungen erhalten. Es ist jedenfalls mit einem ganz an- se. Nur heißen die Logenbrüder heute Wikileaks. Wie sehr haben deren Ernst über Geschichte diskutiert worden. Ich halte den uns die alten Begriffe — Diplomatie, Geheimnis, Arcanum — in Historikerstreit nach wie vor für ein ganz interessantes Ereig- der digitalen Welt noch etwas zu sagen? nis — wenn auch nicht für einen intellektuellen Glanzpunkt. M e i e r Ich glaube nicht, daß zum Beispiel Politik, DiplomaEr nimmt viel Irrationales aus den achtziger Jahren auf; wissentie, aber auch Betriebe künftig ohne Geheimhaltung funktioschaftlich war er unergiebig, übrigens auch kein gutes Zeichen nieren können. Nur muß man sich gegen die Neugier anderer für die Historikerzunft. Und die Verletzungen und Kränkunzu schützen wissen. Vielleicht mit Hilfe von Papier. Vielleicht gen, die blieben, waren enorm. Mir wurde aus dem einen Lager muß man gar das Internet wieder abschaffen, wenn die daraus vorgeworfen, ich hätte die Sache zu ernst genommen, anstatt resultierenden Schäden wie der Cyper-War lebensbedrohlich von vornherein zu sagen, es interessiert uns nicht, weil Haberwerden? Für Überraschungen wird das 21. Jahrhundert jedenmas falsch zitiert hat. Mir war die Sache wichtig. Denn wir falls reichlich sorgen. müssen doch sehen, wie wir mit den entsetzlichen Teilen un- C h r i s t i a n M e i e r , geb. 1929 in Stolp (Pommern), ist einer der herausraserer Geschichte fertig werden. Wie kann eine Gesellschaft genden Historiker des Landes. Seine Bücher über C a e s a r (1982) und A t h e n (1993) waren Bestseller. 2010 erschien im Siedler Verlag D a s G e b o t z u damit verantwortlich umgehen? Das war mein Punkt. Das hat V e r g e s s e n u n d d i e U n a b w e i s b a r k e i t d e s E r i n n e r n s . Das Gespräch führte S t e p h a n S c h l a k . meine Kollegen kaum interessiert.

Und was haben Sie in Ihren Papieren prognostiziert? Wie haben Sie auf unsere Zeit vorausgesehen? M e i e r Ich erinnere mich noch, was ich nicht bedacht habe, was aber Studenten vorbrachten: etwa zur zukünftigen Rolle der Türkei — und damit zum verstärkten Einbezug des gesamten vorderen Orients in die Weltpolitik. Meine eigene Prognose zielte vornehmlich dahin, daß an die Stelle der alten Fortschrittsweise zu Gunsten immer breiterer Schichten eine Tendenz zu Gunsten immer kleinerer Eliten treten wird, und zwar reiner Funktionseliten. Ich habe auch daran gedacht, daß Länder der Dritten Welt mit dem Export größerer Menschenmengen drohen könnten. Interessanterweise habe ich neulich zufällig einen Zeitungsausschnitt aus dem Jahre 1989 gefunden, in dem berichtet wurde über die ein Jahr zuvor erfolgte Gründung eines Instituts für Wirtschaftskriege. Die Studenten sollten lernen, wie man sich im Computer-Zeitalter »offensiv Daten beschafft«, etwa von einem ehemaligen Hacker. Zugleich ging es um Schutz vor der Neugier anderer. Ich wüßte gern, ob ich das bei meinen mündlichen Prognosen berücksichtigt habe. Interessiert hat es mich, sonst hätte ich es nicht ausgeschnitten. S c h l a k

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Wir stehen unter dem Eindruck der Klopfzeichen eines neuen Jahrtausends — 9/11, der Arabische Frühling, Fukushima, die Finanzkrise. Läßt sich das 21. Jahrhundert schon auf den Begriff bringen? M e i e r Mit dem 11. September 2001 ist es jedenfalls gleich in die Vollen gegangen. Das zwanzigste Jahrhundert hat dazu S c h l a k

Auf Wunsch von Prof. Meier wurde dieses Interview in alter Rechtschreibung gesetzt.

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sowie wir den blick scharf stellen, finden wir einen ausweg ein gespräch mit alexander kluge

S t e p h a n S c h l a k Lieber Herr Kluge, es gehört zum Reiz Ihrer Geschichten, dass Sie die Geschichtsphilosophie unserer Jetztzeit hinterfragen, die Zeit immer wieder anhalten und der historischen Situation die Freiheit der Entscheidung zurückgeben. A l e x a n d e r K l u g e Das ist der historische Konjunktiv, die Möglichkeitsform, die in der Realität steckt. Wenn Sie davon ausgehen, dass ich da etwas erfinde, ist das ein Irrtum, weil ich ja nur der Geschichte zuhöre. So wie den Erzählungen meines Vaters über die Marne-Schlacht. Ich höre da genau zu und merke plötzlich, dass meine politischen Wünsche durchaus nichts Unrealistisches haben gegen sogenannte Wahrscheinlichkeiten und Fakten. Dass man gegen die Normativität des Faktischen angehen kann. S c h l a k Die Zeit spielt in Ihren Geschichten eine besondere Rolle. Man gewinnt den Eindruck, viele Katastrophen und viel Unheil hätten vermieden werden können, wenn man vergangenen Zeiten, die unter Entscheidungsdruck standen, eine Infusion an Zeit gegeben hätte. K l u g e Das können Sie — ohne zu übertreiben — wie ein nachträglicher Alchemist sagen. Wenn Napoleon in der Schlacht bei Leipzig mehr Zeit gehabt hätte, gäbe es ein anderes Europa. Das können Sie alles denken — und manchmal ist es auch wahr. Sobald Sie aber vergangene Zukunftsräume vermessen, müssen Sie sehr behutsam vorgehen, weil Sie ja eigentlich gar nichts wissen können. Sie müssen Indizien sammeln und mikroskopisch nachschauen. Gerade beim historischen Konjunktiv braucht es extrem viel Zeit für jede einzelne Bewegung. Hätte es im Herbst 1914 vor Weihnachten Frieden geben können? Sie müssen ganz genau in die Köpfe der Referenten auf allen Seiten des Krieges hineinschauen. Wenn hier verantwortungsvolle Leute mit Max Weberscher Ernsthaftigkeit ›gebohrt‹ hätten — dann hätten sie einen Frieden haben können vor Weihnachten, der für Europa die absolute Wende gewesen wäre. Denn da war noch nicht alles vermasselt.

Ihr historischer Konjunktiv schärft das Bewusstsein für die Kontingenz von Lebensläufen. Was wäre aus Weimar geworden, wenn Max Weber nicht 1920 von der Spanischen Grippe hingerafft worden wäre? Wie würden wir Literaturgeschichte schreiben, wenn Kafka das Methusalem-Alter von Ernst Jünger erreicht hätte? K l u g e Ich bin ein großer Freund von solchen Gedankenspielen. Es gibt aber keine Möglichkeit zu sagen, Mozart, Büchner oder Kafka hätten physisch noch länger leben können. Wir haben teure Tote. Die Unnützen werden älter als die Wunderbaren. Daran würde ich nicht rühren. Ich glaube nicht, dass Alexander der Große hätte älter werden können. Oder in die Zeit dreißig Jahre nach seinem Tod wirklich gepasst hätte. Aber S c h l a k

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wir können ihre Gedanken und Argumente, indem wir uns in sie hineinversetzen, verlängern. Und dann kann ich etwas schreiben aus dem Geiste Max Webers.

des Parlamentarischen erhalten bleibt. Wenn nun die europäischen Staatsführer immer öfter in informellen Runden Schnellentscheidungen treffen, dann ist das sehr weit vom Parlament entfernt, wird aber zur Folge haben, dass das Parlament sich wehrt — was ja neulich schon zu merken gewesen ist. Sie müssen das als dynamischen Prozess sehen.

Und was wäre etwa aus Weber geworden? Er wäre in den zwanziger Jahren eine Art akademisches Verfassungsgericht gewesen — ohne Amt. Er hätte Stellung bezogen, und die Stellung bezieht sich bei ihm auf einen S c h l a k Sie beschreiben gleich auf der ersten Seite Ihres BuChor. Wenn er etwas sagt, sagt der andere etwas dagegen. Das ches Da s B o h r e n h a r t e r B r e t t e r das Politische als »InKonzert der zwanziger Jahre wäre dadurch deutlich reicher ge- tensitätsgrad«. Dieser Begriff des Politischen verbindet Sie mit worden. Und zwar um eine entschlossene Person. dem konservativen Staatsrechtler Carl Schmitt, der durch viele Ihrer politischen Geschichten vagabundiert. S c h l a k In der Nachfolge von Max Weber denken Sie LeidenK l u g e Als Scout und Beobachter habe ich Carl Schmitt schaft und Sachlichkeit zusammen. gerne. Max Weber ist deutlich weniger abenteuerlich. Aber K l u g e Ich bin ein großer Anhänger dieser Formulierungen nehmen Sie mal die Liebesgeschichten von beiden: Da sind sie von Max Weber. Das ist die ernsthafte Methode: Sachlichkeit einander wieder sehr verwandt. Sie kennen den Spruch: »Sie als Leidenschaft zu bestimmen. Die Ratio beruht bei Weber nährten das Herz mit Fantasien, die Kost verhärtete das Herz.« auf einem tiefen leidenschaftlichen Gefühl. Wenn ich sachBei Carl Schmitt ist die Fantasiemöglichkeit der Feind seiner lich bin, mich hingebe, meine ganze Person in die Waagschapolitischen Betrachtungen. Es muss immer gleichzeitig spanle werfe, dann bin ich subjektiv. Entscheidend bleibt immer nend und gleichzeitig real sein. Und das spielt ihm dann einen die Frage, aus welchem subjektiven Feuer die Sachlichkeit geStreich. schmiedet wird. Intensität ist die Objektivierung von etwas, was in der Person steckt, eine Leidenschaft. Bei Adorno müs- S c h l a k Wir stehen an der Schwelle des zweiten Jahrzehnts sen Sie die Musik hinzufügen, dann sehen Sie das Feuer. Und eines neuen Jahrtausends. Was können wir aus den alten poliden Umgang mit diesen Feuern müssen wir lernen. Wir müs- tischen Geschichten noch lernen? Wie sehr fesselt uns noch der sen sie an unseren Charakteren studieren. Alle diese Feuerma- moralisch-politische Komplex des 20. Jahrhunderts? cher brauchen wir, um mit den objektiven Verhältnissen unK l u g e Das 20. Jahrhundert bildet ein Moratorium an Erserer Gesellschaft, mit den Zufallswolken, die sich Wirklichfahrungen, das wir zwingend brauchen, wenn wir mit dieser keit nennen, umzugehen. ungeheuren Stoff-Fülle des 21. Jahrhunderts fertig werden wollen. Wir gewinnen quasi Zeit. Wenn wir jetzt die Irrtümer von S c h l a k Aber werden die politischen Apparate heute noch 1914 analysieren, haben wir eine Fülle von Erfahrungen, da wir befeuert von Leidenschaft? Sie selbst suchen das Politische in Ihmanches schärfer sehen können als die Zeitgenossen. Das ist ren Geschichten auch jenseits der Bannmeile der Macht — auf ein großer Vorteil, wenn man vor vermeintliche Sachzwänge dem Bierdeckel von Heiner Müller oder in der Szenerie der Beergestellt wird. Es ist eine ganz einfache Frage: Was tue ich für digung von Christoph Schlingensief? Welche Adresse hat das Pomein Kind, wenn ich nicht weiß, ob das Jahr 1914, in dem alles litische heute? entgleiste, im Jahr 2025 wiederkehrt? Ein Jahrhundert kann entK l u g e Es hat im politischen Apparat seinen Platz und koegleisen — das ist die Lehre von 1914. Und darum stellen wir die xistiert bei ernsthaften Politikern immer mit dem, was sie im Frage: Woran könnte unser 21. Jahrhundert entgleisen? Man Tagesgeschäft tun müssen, um sich verständlich zu machen. kann sich nicht in Sicherheit wiegen und sagen: Das wird schon Der Ernst von Max Weber ist auch in all den Worten von Jürnicht schiefgehen. gen Habermas enthalten. Er will in Europa wie ein guter Arzt tätig werden. Die Gefahr, dass das Politische aus den Institutio- S c h l a k Wenn ein zukünftiger Erzähler in dreißig Jahren seinen auswandert, existiert, seit es die Institutionen gibt. Das Po- ne Sonde noch einmal auf unsere Zeit, den Herbst 2011, legen litische hat eine Phönix-Natur. Ich würde aber nicht die Tren- würde: Was würde er sehen? Die Hauptticker-Nachrichten — nung parlamentarisch/außerparlamentarisch machen. Mitten Fukushima, Arabischer Frühling, Finanzkrise — die in den Jahresim Parlament gibt es etwa die Stenografen, die sind ganz auf- rückblicken laufen? Oder würde er Agenten und Bewegungen ausrecht und parteiisch — Patrioten des Parlaments; ein jedes Wort machen, die für uns noch verdeckt sind? wird geehrt, halten sie fest. Das ist sehr intensiv. Äußerlich ist K l u g e Ich glaube nicht, dass sich Bewegungen unserer Zeit das nicht politisch. Es gehört aber dazu, dass die Sorgsamkeit tarnen können. Wir müssen nur diese Geschichten vollständig S c h l a k

K l u g e

erzählen,

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vollständig

erzählen, ohne eine Ereignisfolge, wo eins das andere erschlägt. S c h l a k Wird die Entthronung des Primats der Wirklichkeit, Wir müssen einen Verzögerungsblick hineinbringen. Und dür- die Rückgewinnung von Alternativen die Aufgabe des 21. Jahrfen die Geschichten am Wegesrand nicht vergessen. Da ist eine hunderts sein? Meldung von einem Fischerboot, das Forschungsschiffe der K l u g e Davon bin ich fest überzeugt. Das hat zwei Seiten. Vietnamesen an den Spratly-Inseln stoppt. Diese Inseln sind Man kann Dinge ändern, man kann Freiheiten wiedergewinumstritten — es geht um die Suche nach Höhenrücken, die nen. Silicon Valley ist ein Beispiel. Aber die andere Seite ist die Territorialforderungen unter Wasser begründen. Die Meldung Anarchie, es kann auch wieder Rückfälle, entfesselte Gewalt geist für unsere Zeit ein Menetekel wie der Untergang der Titanic. ben. Wir müssen sie nur mit der Nordpolarstellung verbinden. Dann haben Sie plötzlich die Frage nach den Ressourcen der S c h l a k Mit Max Weber der Forderung des Tages standzuUnterwasserrücken und der Eroberung des noch nicht Erober- halten, heißt die Folgekosten unseres Handelns zu bedenken. ten. Land unter dem Meer — das würde Carl Schmitt jetzt sehr K l u g e Wenn ich an meine Kinder denke, bin ich verantinteressieren. Die EU würde es momentan gut haben, wenn sie wortlich und Subjekt, und fange an zu denken: Kann ich eine weniger Gebiete hätte. Nicht Landnahme, sondern UnterwasStiftung begründen, kann ich mich mit anderen verbünden, ser-Nahme. Besitznahme an der noch nicht verpfändeten Zuum die Folgekosten zu isolieren und zu vermeiden? Trotzdem kunft. Hier ist etwas zu finden, was noch nicht beliehen ist. Sie sind wir keine Kassandra ohne Mehrheit. Es wäre falsch, wenn müssen erzählen, wie Griechenland, Portugal oder Irland mit wir nichts wagen. Dann verkapseln wir und verlieren die besPressionen versehen werden. Die Menschen müssen dort jetzt ten Eigenschaften, unsere eigenen prismatischen Fähigkeiten, erneut wieder auswandern. Aber wohin kann man noch ausdie Kosten unseres Handelns überhaupt wahrzunehmen. Und wandern auf unserem Planeten? wenn wir das wahrnehmen, dann können wir auch wahrnehmen, dass wir in uns sehr alte Kräfte besitzen, die wir nicht beS c h l a k Aber müssen wir uns nicht auch emanzipieren von herrschen können, die aber mehr Glück als Verstand geben. den historischen Erfahrungen? Sie selbst erinnern an die altröDas etwa würde ich in einer Geisterbesprechung mit Max Wemische clementia — die Fähigkeit zu vergessen. ber erörtern wollen. Die Verbindung zwischen der starken BeK l u g e Das würde nicht bedeuten vergessen, sondern latewusstseinsform des Denkens und der Schwarmintelligenz, das ralisieren. Das kann unser Hirn. Ich kann Verbrechen, die im Fliegen überhaupt — die Freiheit des Gedankens, wie Schiller 20. Jahrhundert begangen worden sind, nicht einfach vergesdas nennen würde, was Ernst Jünger unter Drogen gelegentsen wollen. Gleichzeitig aber muss ich, während ich es noch lich in Anspruch nimmt. Diese Seite hat uns schon ein paar erinnere, schon etwas anderes denken können — und die AufMal bewahrt, wo wir uns hätten umbringen können. Systemerksamkeit zugleich darauf konzentrieren und davon trennen. misch hätte der Kalte Krieg dazu genügt. In uns sind Potentiale Lateralisieren kann unser Kopf von jeher. Und man nimmt soversteckt, die dazu führten, dass die sehr prekäre Kuba-Krise gar an, dass unsere zwei Hirnhälften genau dazu da waren. Die 1963 nicht zu einer Katastrophe führte. Wir haben auch den rechte, stumme Hirnhälfte war der Ort für die Stimmen der Umgang mit Unwahrscheinlichkeiten gelernt: wo es wider ErGötter. Von dort kamen früher zu Homers Zeiten die Warnunwarten gut geht. gen — »das Herz bellt dem Odysseus im Leibe …«. Was da bellt, ist eine Stimme, die nicht subjektiv ist. Da spricht Athene. S c h l a k Die hässliche Schwester der Sachlichkeit ist der Sachzwang — das Diktat der Wirklichkeit, unter dem wir leben. Das S c h l a k Aber wie kam es zum Göttersturz im Hirn? Warum Gebot der Leidenschaft ist unter diesem Regime sinnlos verpulist dieser leidenschaftliche Pol des Einspruches gegen die Welt verte emotionale Energie. mit der Zeit verstummt? K l u g e Die Behauptung, die Sachzwänge seien real, beruht K l u g e Das hängt unmittelbar zusammen mit dem Entstenur darauf, dass wir es nicht prüfen. Dass wir den Umgehungshen des modernen Bewusstseins. Auch mit der Rasanz, mit der möglichkeiten, bei Odysseus angefangen, nicht nachgehen. Wir die Wirklichkeit sich zur Königin aufgeschwungen hat. Die müssen unsere eigenen Kapazitäten nutzen. Sowie wir den Blick Jahre von 1789 bis 1815 — das war ein Jahrhundert für sich. Da scharf stellen, finden wir einen Ausweg. marschieren die französischen Grenadiere doppelt so schnell wie die russischen oder preußischen. Alles geht rasant schnell S c h l a k Aber können unsere Parameter aus der historischen — die Industrialisierung, die gesellschaftliche Entwicklung, die Welt — Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft — heute noch als Musik. Nach dem Wiener Kongress wird die Entwicklung par- Orientierungsmarken dienen? tiell wieder angehalten. Ein quasi chinesisches System. Aber K l u g e Mit allen drei können Sie umgehen. Die drei Zeiten die Akzeleration ist so wie die Gründung von Shanghai in den gemeinsam sind wirklich, aber wenn Sie eine dieser Zeiten wegletzten zwanzig Jahren. Der Popanz Wirklichkeit hat die Stimlassen, ist es unwirklich. Carl Schmitt würde heute die Frage men der Götter weitgehend zum Verstummen gebracht. Aber stellen: Inwiefern sind ja alle künftigen Reiche schon mal so sie sind nach wie vor da und entstehen bei jedem Kinde neu. überschuldet, dass man eigentlich Reiche daneben gründen Sobald wir für einen Moment bei uns sind, sind die Stimmen muss? Ökonomisch ist die Zukunft ja weitgehend verkauft. auch wieder da. S c h l a k Abseits dieser Hypothek haben wir unsere Zukunft S c h l a k Nach dem Philosophen Hans Blumenberg ist der Ab- kolonialisiert mit unseren Ängsten — vom Atom bis zur Alterssolutismus der Wirklichkeit unerträglich. Von Anfang an bear- versorgung. Sie erscheint uns weniger als Raum der Verheißung, beiten wir ihn mit unseren Mythen und Geschichten. denn als schwarze Wand. K l u g e Auch Spinoza könnte Ihnen das jetzt mit seinen VoK l u g e Die schwarzen Löcher bestehen aus lauter Materie, kabeln schön aufschlüsseln, was die Wirklichkeit kann, desaus Gravitation. Die hellsten Lichterscheinungen an den Ränhalb muss man sie sehr ernst nehmen: Sie ist kein Papiertiger. dern sind gewaltig. Aber auch, was sie nicht kann, die Wirklichkeit ist löcherig wie ein Schwamm. Den Sieg der Gegenwart über alle übrige Zeit S c h l a k Was sehen Sie als diese Lichtränder an? machen Menschen gar nicht erst mit. Insofern sind wir objekK l u g e Das Überraschende. Wenn Sie so etwas wie Ägypten tiv längst wieder lateralisiert. haben, ist das ein Flash. Es ist keine Revolution in meinen Au-

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gen — man weiß gar nicht, was es ist, aber es ist auf jeden Fall sehr überraschend. Das Unvorhergesehene als erster Bote der Zukunft ... Das Unvorhergesehene, das Ausgegrenzte erscheint als Jet. Man darf solche kosmischen Gleichnisse nicht beliebig verwenden, aber die Metapher ist recht treffend. Die Verschuldung der Zukunft beruht auf der Massenhaftigkeit des Beliehenen. Und auch auf der Wichtigkeit, die das Leben für uns alle hat. Und eben auch darauf, dass 7 Milliarden Menschen mehr Gewicht und Gravitation ausüben als 3 Milliarden, die Weltbevölkerung von 1960.

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Wie sehr können wir auch im 21. Jahrhundert mit unserem Vertrauen auf Rationalität durch die Welt navigieren? K l u g e In der lateralisierten Welt ist die Rationalität ein Element unter vielen. Aber wenn sie systematisch angewendet wird wie beim Weltwährungsfonds, dann leidet sie darunter, dass eben der Chef vom Weltwährungsfonds sich in so einem Hotel den Fuß bricht. Das hätten Sie ja auch nicht vorausgesehen.

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Ist das noch eine Episode aus der Wirklichkeit oder schon Literatur? K l u g e Das sind diese Ränder. Oder was die Kanzlerin Restrisiko nennt. Dass ein so wichtiger Mann auch Erpressungen ausgesetzt sein kann. Dass man ihn ohne Bewachung am Samstag zu einem privaten Geschlechtsverkehr lässt. Das würden die Institutionen im Mittelalter nicht gemacht haben! Den König möchte ich sehen, der seiner Leibwache entkommt. Das ist aber plötzlich möglich. Das zeigt uns nur auf eine eigene Weise, wie wetterwendig, mehrschichtig, prismatisch die wirklichen Verhältnisse sind. Die Wirklichkeit ist keine Substanz, sie ist eine Summe von Spiegelungen. Auch die Massenmedien erzählen eine Realität, die wir am Ende für die Wirklichkeit halten. Sie ist am 11. September 2001 für einen kurzen Moment zerrissen. Es gibt auch noch andere Fälle, in denen sich zeigt, dass sie in dem Sinne nicht existiert.

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Wie können wir die Stimmen der Lateralisierung wieder hörbar machen, die Freiheit der Entscheidung zurückgewinnen? Wie muss hierfür der neue Mensch im 21. Jahrhundert beschaffen sein? K l u g e Bei Perry Rhodan gibt es die Figur eines doppelköpfigen Adlers, da zanken sich die beiden Köpfe. Man kann sich auch eine Hydra vorstellen, mehrere weitere Köpfe. Wenn die untereinander streiten, dann hätten Sie ein modernes Lebewesen des 21. Jahrhunderts, wie wir es brauchen. Indem wir lesen, können sich in einer Stunde gleichzeitig Max Weber, Carl Schmitt, Habermas, Adorno in einem Kopf zu einer Diskussion treffen. Und wenn wir dann noch Alban Berg dazurufen, haben wir auch die Musik dabei. Diese Facetten sind das Gegenteil eines Übermenschen, es ist im Grunde das Kellergeschoss des alten Menschen. Und dieser Keller, in dem man unanständige Spiele gespielt hat, wo die Vorratsgläser der Hausfrauen aufbewahrt werden, der einen Bombenangriff aushielt — so einen Keller kenne ich aus Halberstadt —, das ist der moderne Mensch, der gebraucht wird.

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A l e x a n d e r K l u g e , geb. 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor und Filmemacher. 2011 ist erschienen Da s B o h r e n h a r t e r B r e t t e r . 1 3 3 p o l i t i s c h e G e s c h ic h t e n. 2012 erscheint Da s f ü n f t e Buc h . Ne u e L e b e n s l ä u f e . 4 9 9 G e s c h i c h t e n. Das Gespräch führte S t e p h a n S c h l a k.


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am bordstein der geschichte. ein schuss von per leo

Geht es uns nicht allen mit Hitler ein wenig wie mit den Beatles? Mal abgesehen davon, dass man die einen nicht hassen und den anderen nicht lieben kann, gibt es vor beiden kein Entrinnen. Ist doch so. Man besuche eine Durchschnittsparty in einer Durchschnittsstadt auf einem proteinhaltigen Durchschnittsplaneten und nach durchschnittlich 23 Minuten hört man: genau. Man zappe an einem Freitagabend mit zehnsekündiger Frequenz durchs Fernsehprogramm und nach durchschnittlich 23 Minuten sieht man: eben. Es gibt Dinge, um die muss man sich nicht bemühen. Also sollte man sie kommen lassen. Es mag Jahre her sein, dass man seine drei Beatles- CDs das letzte Mal auch nur entstaubt hat; aber an einem Sonntagmorgen, die Landstraße so leer wie der Kopf noch voll von der vergangenen Nacht, hört man im Autoradio Her e Comes t he Sun, und plötzlich ist er wieder da: der taufrische Zauber des Unvergänglichen. Es wäre nun leicht zu zeigen, dass sich über gute Ehen Ähnliches sagen ließe. Aber über Hitler? Ja, auch über Hitler. Sofern Sie sich an folgende Regeln halten. Sehen Sie möglichst wenig fern. Wählen Sie einen Beruf, der Sie nicht zwingt, die deutsche Außenpolitik zu rechtfertigen. Gönnen Sie sich, es sollte bis dahin bezahlbar sein, 2033 ein Jahr Urlaub im Weltall. Und vor allem, googlen Sie niemals den Namen Bruno Ganz. Meiden Sie, kurz gesagt, alle inneren und äußeren Zustände, in denen Hitler schon auf Sie wartet. Warten Sie lieber auf ihn. Lassen Sie sich von Hitler überraschen, dann wird er Sie nicht enttäuschen. Es muss um den 20. April im Jahr 75 nach der Machtergreifung gewesen sein, ein echter Frühlingstag, die Fenster standen offen, als sich in unserem Wohnzimmer eine aufgeweckte Runde zum Sonntagsfrühstück versammelt hatte. Je ein Redaktionsmitglied der FAZ , der Berliner Zeitung und der Bild, zwei akademische Enkel des großen Thomas Nipperdey, ein Princeton-Stipendiat und ein Trendforscher sorgten, inmitten einer munteren Schar kürzlich entbundener oder gezeugter Kinder, für ein ebenso prickelndes wie thematisch schwangeres Gesprächsklima. Jedenfalls lag es nicht nur am Champagner, dass wir vom Designflash des Biedermeier zu Blumenbergs geschichtsphilosophischer Gnosisdeutung hüpften, von Heinz von Foersters Erzählstimme zur Wiedergeburt des Tante-Emma-Ladens aus dem Geist der Kybernetik, von ewiger Frage zu ewiger Frage, von T h e W i r e oder K i r R o y a l zu Brandt oder Schmidt, und von dort wie von selbst zu Schnappschüssen prominenter Zeitgenossen. Unser Nachbar, einer der Journalisten, eilte in seine Wohnung und kam mit einer formvollendeten Trashperle wieder: einem vergilbten Polaroid, das Boris Becker, kratzig und frontal, vor kahlem Hintergrund zeigte. Es war ihm aus einem antiquarisch erworbenen Buch buchstäblich in die Hände gefallen. Muss ich erwähnen, dass uns sein Anblick bannte? Wir ahnten allerdings nicht, dass der Anblick des ewigen Wimbledonsiegers nur die epiphanische Vorband des eigentlichen Sonntagskonzerts sein sollte. Sicher wäre Boris Becker ungehalten, würde man ihn einen Steigbügelhalter Hitlers nennen. Aber normative Kraft des Kontrafaktischen! — dieses eine Mal war er es tatsächlich: anachronistisch, vollkommen schuldlos und so zufällig wie alles, worum es nun gehen soll. Denn hätte meine Frau sich ohne dieses kleine Beckerleuchten je der Pappschachtel erinnert, die ihr ein älterer Herr vor vielen Jahren mit dem schelmischen Hinweis übergeben hatte, sie »als Geschichtsstudentin« wisse sicher etwas damit anzufangen? Ein Bild wie tausende, ein beliebiges Sandkorn aus der Jugendzeit der mobilen Fotografie. Die Beiläufigkeit des abgebildeten Moments, der knappe weiße Rand um das in vielfachem Grau erscheinende Sujet, das Miniaturformat lassen einen Amateur als Urheber vermuten. Doch ebenso gut könnte es ein professio-

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nell abgefeuerter Schnappschuss sein, einer von unzähligen, die ihr Ziel verfehlten: Schärfe, Kontrast und das ungewöhnliche Maß von 8 × 5,4 cm sprechen für eine an Kamera und Vergrößerungsgerät geübte Hand. Ist es je in einem Album archiviert worden? Auf der Rückseite findet sich kein Abriss am Papier, der auf die Verwendung von Klebstoff schließen ließe; nur eine mit hartem Bleistift schnell gesetzte 19. Nicht auszuschließen ist allerdings die Verwendung von durchsichtigen Fotoecken, die — 1926 vom Etikettenhersteller Herma entwickelt — 1931 unter dem Namen Tr a n s pa r o l in den Handel gekommen waren. Auch ohne Datierung ließ sich nämlich genau sagen, wann und wo dieses Foto entstanden ist, ganz zwanglos gab es die Umstände seiner Entstehung preis. Ein Bild wie keines, ein Goldkorn im kalten Strom technisch reproduzierbarer Wirklichkeit. Schon dass Hitler Cut und Zylinder trägt, lässt keinen Zweifel über Ort und Datum der Aufnahme zu. Wir brauchten das Internet gar nicht erst zu bemühen, um sicher zu sein, dass es am 21. März 1933 in Potsdam aufgenommen wurde, einem Sonntag, wie hätte es anders sein sollen am ersten Frühlingsanfang nach der nationalen Erhebung. Selbst die Aufnahmezeit ließe sich annäherungsweise ermitteln, denn wir wissen, dass es gleich, unmittelbar nach dem abgebildeten Moment, zu einer historischen Szene kommen wird. Jedes bundesrepublikanische Schulbuch hat diese Szene verewigt; da konnte es nicht verwundern, dass sich in unserer Bibliothek allein sieben Druckerzeugnisse fanden, die sie in den heiligen Kanon der von den Deutschen »niemals« zu vergessenden Anblicke aufgenommen hatten: eine Handreichung für den nordrhein-westfälischen Geschichtsunterricht, ein Ausstellungskatalog, zwei Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus sowie drei politische Bildungsschriften der dafür zuständigen Bundeszentrale, alle zwischen 1981 und 1993 erschienen. Das Bild zeigt den Moment, in dem der kürzlich ernannte Reichskanzler seinen Ernenner, den soeben eingetroffenen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, mit devoter Verbeugung empfängt. Huldvoll, in ordenbehangener Uniform, Pickelhaube und schwarzem Handschuh nimmt dieser Hitlers nackt zum Gruß entbotene Hand entgegen, im Hintergrund scheint ein Gardesoldat den Akt bewachen und bezeugen zu sollen. Erst im Lichte dieses berühmten Fotos, einer Ikone des Jahres 1933, erhellt sich das Geschehen auf dem kleinen Foto aus der Pappschachtel. Eine Atmosphäre angespannter Erwartung. Die Menschenansammlung, deren Ausschnitt wir sehen, steht an einer Bordsteinkante. Schon hat sie sich als Ganzes nach halblinks orientiert, die Richtung, aus der in Deutschland Autos kommen. Die Hindenburgrichtung. All die soeben noch mit sich selbst und einander beschäftigten Einzelnen scheinen von einer plötzlichen Sammlung ergriffen, wie eine Schulklasse, die im Gang den Schritt des Lehrers hört, ein Orchester, das kurz vor dem Auftakt, im Übergang von träger Ruhe zu höchster Konzentration, ein letztes nervöses Zucken durchzieht. Noch sieht man Köpfe von vorne und von hinten, noch suchen Nachzügler in der zweiten und dritten Reihe ihre Plätze, noch wirken die Gendarmen wie ungeduldige Theaterdiener nach dem letzten Pausenläuten. Allein Hitler hat sich schon in Positur gebracht, den Rücken durchgedrückt, die Augen über dem fast karikaturhaft anmutenden Ensemble aus strengem Mundbogen und schwarzem Oberlippenblock starr in die Ferne gerichtet, als sehe er dem Schicksal entgegen, das dieser Tage wieder einmal Gericht über seine Zukunft hält.

buch und an ein Programm hält. Nur Sekunden nach dem verstohlenen Schnappschuss wird sich das gesamte Arsenal der zeitgenössischen Speichertechnologien zu einem nie dagewesenen Sturm erheben. Deutschland und die Welt sollen in die Geiselhaft der nun kühl kalkuliert entstehenden Bilder genommen werden, vor allem jenes einen, das die heuchlerische Unterwerfungsgeste des Gefreiten vor dem Marschall zeigt. Es ist die erste Schlacht des Propagandagenerals Goebbels, und er besteht sie mit Bravour. Die Farce gelingt, der Brückenschlag zum alten Reich, zu Adel, Militär und Kirche, wird geglaubt; sie hinter sich wissend, kann Hitler zwei Tage später im Parlament den Dolchstoß gegen Weimar wagen. Ansichten dieser Art sind nicht alltäglich. Wie oft kommen sich privater Blick und kollektives Bildgedächtnis schon so nah, dass ein anonymes Bild all seine Geheimnisse abwirft und im Licht des Offenbaren zu strahlen beginnt? Man kann sich Ähnliches eigentlich nur in den verstaubten Archivkisten eines Sportfotografen vorstellen, eines Protokollanten annoncierter Geschichte. In hellblauer Trainingsjacke, ein grauer Himmel glotzt durch das gläserne Zeltdach, beugt sich Franz Beckenbauer zu einem Fan im Rollstuhl herunter — solche Bildkontakte, in denen das Historische und das Kontingente sich berühren, liegen bestimmt in manchem Keller verborgen. Es ist der Zufallsmoment v o r dem berühmten Großereignis, den nur die Fotografie selbst zum Ereignis machen kann. Dass wir es mit einem solchen zu tun hatten, war uns sofort klar, als das kleine Schwarzweißbild seine Runden um den Frühstückstisch drehte. Und es war ebenso klar, dass hier nicht nur der Zufall vom Licht der Geschichte erfasst wurde. So stark wie geheimnisvoll ahnten wir nämlich auch die gegenläufige Bewegung — die Verschmutzung der Geschichte durch die Macht der Kontingenz. Es schien, als habe der Zufall durch das kleine Foto nicht nur seine Anwesenheit in Goebbels’ Geschichtsposse bekunden, sondern sie auch in lästerlicher Absicht durchkreuzen wollen. Je länger wir diesen bis vor kurzem verschollenen Schnappschuss betrachteten, desto ehrfürchtiger wurde uns bewusst, dass hier ein genialer Geist Regie geführt hatte. Der Zufall musste das berühmte Bild, das wenige Augenblicke später entstehen und kurz darauf um die Welt gehen sollte, bis ins Detail gekannt haben! Wie sonst hätte er dem Schnappschuss eine Ordnung geben können, die nichts anderes ist als eine kongeniale Travestie der Goebbelsschen Propaganda, eine der verlogenen Inszenierung untergejubelte Epiphanie der Wahrheit. Das beginnt schon beim Wetter, einer echten Schicksalsgröße für Freiluftaufführungen. Der Handschlag zwischen Präsident und Kanzler wird in gleißendem Licht stattfinden: Auf der Memorialikone wirft Hindenburgs Ohrläppchen einen scharfen Schatten auf seine Wange, heller Pomadenglanz verdoppelt Hitlers Scheitellinie. Noch kurz zuvor aber ist die Sonne von Wolken verhangen: Licht und Stimmung unseres Bildes sind düster, eher einem nicht enden wollenden Winter entsprechend als einem gerade beginnenden Frühling. Doch mehr noch: Hat der Zufall die demiurgische Inszenierung nicht sogar mit einem eigenen Bildprogramm unterwandert? Man möchte es fast glauben, wenn man die präzise Komik des Fotos auf sich wirken lässt.

Es liegt in der Natur von Massenfotos, Menschen verdeckt und beschnitten zu zeigen. Umso auffälliger, dass im Gewusel der Menschenfragmente vier Personen in unversehrter Gänze zu sehen sind. Es sind dies Hitler, ein Nachbar zu seiner Rechten und zwei Unser Wissen um das, was da gerade geschieht, verleiht der His- zu seiner Linken. Wo steht Hitler? Natürlich zentral, schließlich torizität des Anblicks freilich einen zutiefst ironischen Zug. Den hat sein Anblick den Fotografen gelockt. Aber je länger man dem zufälligen Moment können wir ja nur deshalb so unwahrschein- routinierten Voyeursreflex widersteht, immer wieder nur auf den lich genau lesen, weil er sich in den Kulissen einer historischen scharfen Schnäuzer glotzen zu wollen, desto spürbarer wird die Freiluftbühne ereignet. Weil sich das Geschehen an ein Dreh- Macht, mit der hier jemand anderes in die geometrische Mitte gerückt wurde.

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Mitte

gerückt wurde. Es ist das Blumenmädchen links von Hitler. Und fast penetrant drückt uns der Zufall aufs Auge, dass diese Mitte bedeutsam ist. Ein ganzes Feuerwerk von Alleinstellungsmerkmalen brennt er ab, um die Besonderheit dieses Mädchens zu markieren. Es wird zunächst als solches betont: durch ihr Geschlecht, durch ihr Alter, durch ihre Größe, vor allem aber durch ihre Kleidung sticht sie aus dem grau-schwarzen Haufen der Männermäntel hervor. An diesem bitterkalten Frühlingsanfang — eingekeilt von einem Zweifrontenhoch über Frankreich und Russland herrscht in Deutschland am 21. März 1933 strenger Frost — trägt dieses Mädchen nichts als ein helles, luftiges Sommerkleid! Aber es scheint nicht zu frieren; im Gegenteil, sein Anblick strahlt eine ruhige Wärme aus, wie eine Erdquelle im isländischen Stein. Aber der Zufall hat auch mit allen Mitteln des räumlichen Arrangements gearbeitet. Das Bildzentrum wird verstärkt durch die symmetrische Anordnung der vorderen Personen: Zusammen bilden sie einen Pfeil, an dessen Spitze das Mädchen steht. Sein Nachbar zur Linken gehört zwar zu dem Quartett der ganz sichtbaren Personen, aber als einziger von ihnen dreht er den Kopf nach hinten, und zwar nach halbrechts unten — und auch das ist bedeutsam. Dank dieser Bewegung wird das Mädchen nämlich zur einzigen aller abgebildeten Personen, die in der Sichtachse einer anderen Person steht. Und das in einem Bild, das Hitler und eine Menschenmenge zeigt! Schließlich markiert der Zufall die scheinbar unscheinbare Hauptperson auch noch durch ein Programm von Dingsymbolen. Inmitten all der Zylinder, Gendarmenhelme, Nonnenhauben, Wollmützen, Schirmkäppis und Hüte sind nur die drei Köpfe in der Bildmitte unbedeckt. Gleichzeitig sind die Träger dieser drei Köpfe die einzigen, die etwas in der Hand haben. Während aber die beiden Männer ihren Zylinder vor der Körpermitte halten, hat das Mädchen den Hindenburg zugedachten Blumenstrauß bis unter das Kinn gehoben. Damit sind die Proportionen des Rahmenarrangements in dessen Zentrum auf den Kopf gestellt: Die Blumen des kleinen Mädchens sehen auf die Zylinder der großen Männer herab als wären es die Füße ihres Throns.

Man sieht, für den aufmerksamen Betrachter weisen tausend Finger auf diesen geheimen Mittelpunkt. Allein das Paar, das Hitler mit dem kleinen, aber mit allen Mitteln der Kunst erhöhten Mädchen bildet, dieser versteckte Biss ins Gesicht aller kinderküssenden Diktatoren, ist hinreißend gelungen. Doch es gibt ja noch einen zweiten Nachbarn Hitlers, und zieht man ihn hinzu, geht man endgültig in die Knie vor dieser Zufallsmeisterschaft. Weniger markiert als das Blumenmädchen, ist er doch ihr präzises Pendant. Alt, groß und unendlich verloren steht er da. Genauso steif wie Hitler, aber nicht eben erst zu Haltung gekommen, sondern wie hineingestellt in diese Szene. Selbst unter dem zugeknöpften Mantel scheint er zu frieren; die Augen irgendwo in den beiden tiefschwarzen Höhlen versunken, verliert sich der Blick im Inneren; wie eine Schmähung hockt ihm der Zylinder auf dem Kopf, man denkt an einen Buchhalter um 1830, den ein sardonisches Schicksal auf die Duellwiese geschoben hat; ein lebendiger Toter. Aber all das ist noch nicht der Höhepunkt. Neben der geometrischen Bildmitte gibt es nämlich noch ein weiteres Aufmerksamkeitszentrum. Es befindet sich, wiederum so angemessen wie präzise, genau in der Mitte von Hitlers Körperachse. So wie der Zufall alle erdenklichen Mittel der Ikonografie aufgeboten hat, um die Bildmitte neben Hitler zu besetzen, so hat er auch einen genialen Einfall, um die Aufmerksamkeit von Hitlers exoterischem Körperzentrum — dem Schnäuzer — auf seinen geheimen Mittelpunkt abzulenken. Die rechte Hand Hitlers, die Hindenburghand — ausgerechnet! möchte der Fußballkommentator in uns schreien, ausgerechnet das Gravitationszentrum der gleich einsetzenden Goebbelsschen Handshakefarce! —, ist extrem unscharf. Weil

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sie sich ruckartig an der Zylinderkrempe bewegt, ist sie nur als verschwommener Schemen zu erkennen. Angesichts der gravitätischen Entschleunigungstendenz der gesamten Szene und der Tiefenschärfe des Bildes ein geradezu lächerlich brutaler Kontrast. Und nur die Hand! Noch der Ärmelsaum und die Manschette, die sich durch ihr hartes Weiß von der angrenzenden Hautfarbe abhebt, sind weitgehend scharf zu erkennen. Was hat sich der Zufall nur dabei gedacht? Doch halt — bietet der Zylinder, den die linke Hand wie zufällig vor die Lenden hält, nicht maßgenau Platz für genau ein aus der Kette gesprungenes Stahlglied? Denn was rubbelt die Hand da rum? Scheuert sie wirklich ziellos an der Krempe? So sicher sie Hindenburgs Handschuh gleich sanft umschließen wird, könnte sie nicht eben noch unter dem Zylinder gewütet haben? Kann sie sich vielleicht einfach nicht beruhigen? Ist sie der menschliche Preis für eine derart übermenschliche Ganzkörperversteifung? Und wenn es so wäre — war dann der Parkinsontremor im Führerbunker vielleicht nichts anderes als ein letzter Wiedergänger des Zuckens von Potsdam? Kehren wir noch einmal zum Anfang zurück. Nachdem unsere Runde das kleine Foto ausgiebig bestaunt und gedeutet hatte, stellte sich nun wie von selbst die Frage nach seinem weiteren Schicksal. Schließlich ist es ein Ding, und als solches hat es Anspruch auf seinen Platz in der Welt. [Wäre es ein Unding, dürfte es vernichtet werden.] Wo aber konnte der sein? Für Bilder aus dem Dritten Reich gibt es leider nur geweihte Orte: Schautafeln, Schulbücher, Dokumentarfilme; und alle diese Bilder stammen von den Nazis, sagte Nipperdeys akademischer Enkel und wirkte dabei etwas ratlos. Es ist wirklich absurd, sagte Princeton nickend, die Propaganda des Dritten Reichs hat dessen Untergang ziemlich unbeschadet überlebt; Goebbels hätte seine Freude an uns. Wie immer begriff die Bildzeitung am schnellsten. Rundfunkräte, Lehrplankommissionen, Kuratoren — alles Priester eines Goebbelsschen Reliquienkults! Aus eigener Erfahrung wisse sie allerdings, dass man die manipulative Macht von Bildern nicht überschätzen dürfe. Genau das tun wir aber doch, entfuhr es der FAZ , die damit das Senkblei der Ambivalenz in unsere nassforsche Intuition geworfen hatte. Die Zeitgenossen hätten schließlich die Propaganda zwangsläufig mit ihrer Lebenswirklichkeit verglichen: Wer Angst hatte und trauerte, der wusste, dass Goebbels log; wer meinte, es gehe ihm unter Hitler besser als vorher, dem bestätigte Goebbels nur, was er ohnehin wusste. Nur wir Nachgeborenen, vollendete dankbar die Berliner Zeitung den Gedanken, nur wir nehmen die Propaganda für bare Münze! Wir glotzen die immer gleichen Glasperlen aus Goebbels’ Illusionsfabrik an, als würden aus schönen Lügen schlimme Wahrheiten, wenn man nur das moralische Vorzeichen austauscht. Wir meinen uns im Recht, bestätigte Nipperdeys Enkel, wenn wir aus dem Engel der Vorsehung den Dämon des Bösen machen. Dabei ist beides gleich falsch. Frohlockend schwante der Bildzeitung Unheil. Hieße das nicht, fragte sie, dass es ein Akt des moralischen Widerstands wäre, Brandsätze in den Bildbestand des Bundesarchivs zu werfen? Nein, ganz im Gegenteil, warf — subtil wie immer — das German Department Princeton ein: Wir müssen die Bilder bis zur Unkenntlichkeit beschmutzen, sie bis zur Auflösung verflüssigen. Läuft doch aufs Gleiche hinaus, schnodderte die Bild zurück. Nein, korrigierte sie Princeton sanft, Bilder ließen sich nicht so einfach aus der Welt schaffen; aber wie ihre Makellosigkeit von der fortdauernden Macht der Bilder über uns, so zeuge deren Befleckung von unserer Macht über sie. Flecken aber seien Ereignisse in der Zeit, und als solche dürfe man sie nicht in das museale Streulicht der Ewigkeit zerren. Um Epiphanien zu bleiben, denn nichts anderes seien große Fotos: die paradoxe Möglichkeit einer Gegenwartsdauer, müssten sie wohnen. Am besten in einer Wohnung, wo es einmal mehr dem Zufall überlassen bleibe, ob man ihren Winkel findet oder, wie der Blick der Men-

ge, am herrlichen Jugendstilstuck hängen bleibt. Da lächelte die FAZ , beugte sich zart zu Princeton hinüber und hauchte ihm ein

Praktikumsangebot ins Ohr. Schluss mit dem Gesäusel, Aufhängen! Die Aufforderung des Trendforschers sprach uns allen aus der Seele. Und so besitzt das Foto neben den historischen Indices — Cut, Zylinder, Bordsteinkante — auch einen Index seines gegenwärtigen Gebrauchs: ein kleines Loch in der Mitte des oberen Randes. Eine Wohnspur, wenn man so will. Sie rührt von der Reißnadel her, die es seit über drei Jahren an unserer Wohnzimmerwand befestigt. Kommen Sie uns also ruhig besuchen, wenn Sie es mal sehen wollen. Fragen Sie beiläufig, ob wir zu den Ehepaaren zählen, die ihr Hochzeitsfoto aufgehängt haben. Haben wir, da hinten, gleich neben dem Führer. P e r L e o , geb. 1972, lebt als freier Autor und Historiker in Berlin. Demnächst erscheinen D e r W i l l e z u m W e s e n . W e l t a n s c h a u u n g s k u l t u r , char akterologisches Denken und Judenfeindschaft in D e u t s c h l a n d 1 8 9 0 – 1 9 4 0 (Matthes & Seitz), sowie B r ü d e r o h n e L a n d . Z w e i d e u t s c h e L e b e n i m 2 0. J a h r h u n d e r t (Klett-Cotta).


solz, 20. juli 2011

von kathrin röggla

eine Weise züchten, dass diese als Häuser heranwachsen und zu ganzen Dörfern werden »für die Zeit nach dem Atomschlag«. Der Betreiber hat es aus den Antiatomachtzigern hierher geschafft, wie genau, wissen wir nicht. Es gibt Kommunitäten, religiöse Lebensgemeinschaften, mit ausgetretenen Mönchen und Nonnen, es gibt heilende Hände, von Öko-Bindestrichen zusammengehaltenes Landwirtschaften mit alten Kulturtechniken, es gibt Revitalisierungen genauso wie Strohmänner, die für Industrielle Landbesitz kaufen, es gibt Starkstromleitungen, die verhindert wurden und Windräder, die nicht verhindert wurden, ihr Brummen und Fluten ist zu hören, als wir auf die Solzer Höhe gelangen, auf die wir uns aufgemacht haben, denn auch hier ist man Überbürgerlich kann man sie nicht nennen, da hin und wieder unterwegs. von anderem Stand, aber man würde solche Leute mit ihren drei Zeitungsabonnements, den The- Wo bleibt der Bruch, frage ich mich, den Bolleraterbesuchen, dem Bemühen, sich in die kirchli- wagen den Feldweg entlangziehend, auch in dieche Gemeinschaft einzubringen, landläufig so ser Familie muss es doch einen Bruch geben wie bezeichnen. ›Landläufig‹ oder ›Landadel‹? Das in jeder anständigen, die können doch nicht so ist hier nicht ganz zu entscheiden, doch »bei den im zwanzigsten Jahrhundert herumgehen, als wäKriegsleuten« heißt ein Wald, der ihnen gehört. re nichts — ja, bruchlos erscheint mir deren ExisJa, es gibt Grundbesitz, aber nicht der Rede wert, tenzform, die reine Kontinuität mit ihrem Heralso wirklich nicht. renhaus und ihrem Landbesitz, der nun langsam abbröckelt. Eine Kontinuität, die bei näherer Nein, das ist nicht meine Familie, und doch Betrachtung schon länger nicht stimmt. Da gab sitze ich in deren Wohnzimmer herum und be- es die Bodenreform der zwanziger Jahre, Pleiten, obachte den Umgang mit Kleinkindern, die hin kaufmännische Fehlstarts schon um die Jahrhunund wieder die meinigen sind. Ich sitze da und dertwende. Und doch: Eine gewisse materielle höre das Gebet vor dem Essen. Fromme Men- Sicherheit wird sie wohl hineingetragen haben schen sind selten geworden, auch wenn mir der in diese Freundlichkeiten, die mir von Anfang entBibelkanal im Be s t w e s t e r n I m pe r i a l a m gegengebracht wurden und mich so irritierten. Pa l m e n g a r t e n noch anderes suggerierte, in Schließlich stand es auch um meine Ursprungsfadessen Foyer ich Menschen in leuchtenden Kos- milie materiell über weite Strecken nicht schlecht, tümen über Gott sprechen hörte, Verse aus der doch sie brachte nur Bruchlandungen zustande, Bibel zitierend, natürlich das Alte Testament: störrisches Abreißen, nicht einmal nur durch »Lass deine Kinder heiraten, wen sie mögen, aber die Geschichtsläufe, sondern durch privates Versie sollen ihren Partner aus dem Stamm ihres sagen, Unvermögen, Streitereien in der Familie Vaters [Abraham] wählen.« — Ob das ein Witz um scheinbare Kleinigkeiten, Erbzwistigkeiten, sei, habe ich den Kellner gefragt. — Nein. — Al- langwieriges Schweigen zwischen den Geschwisso ob das hier Programm sei oder Zufall? Er wirk- tern, kommunikatives Stolpern, das sich bis in te irritiert, entschied sich aber nach längerem mich hineinzieht. Man kennt das ja. Zutiefst Nachdenken für »Zufall«. Am nächsten Tag wird menschlich, wird man sagen, doch zutiefst der Bibelkanal verschwunden sein, aber am nächs- menschlich, diese Eigenschaft möchte man viel ten Tag bin auch ich weg, zurückgekehrt auf das mehr den Leuten hier zuschreiben. Menschlich Land, in the middle of nowhere oder auch hessi- im Umgang miteinander, menschlich in politischer Mezzogiorno genannt, Provinz eben. Von schen Fragen. Es sind Menschen, die permanent hier aus ist ein guter Ausblick zu haben, sage ich ein humanistisches Weltbild aus sich herausschaumir, nicht nur über die Hügel und Felder. Nein, feln können, und doch die Humangenetik ihres gleich über ganz Deutschland. Ja, gleich ganz Vorfahren im Nacken haben, die ganz und gar Deutschland glaube ich hier einsacken zu kön- inhuman war, ja sogar verheerend, vom heutinen mit dieser Familiengeschichte, mit dieser Fa- gen Standpunkt aus betrachtet, aber vom heutimilienanbindung, die mir zur Verfügung steht, gen Standpunkt aus ist ja vieles leicht zu beurteiich glaube, ein gesamtdeutsches Panorama zu er- len, kommt reflexartig aus meinem Inneren, als halten an dieser ehemaligen Zonengrenze, was hätte sich da etwas fix eingerichtet. diese Leute ganz und gar nicht bestätigen würden, nicht nur aus Bescheidenheit, einer jener Nichts könnte von meiner eigenen Familie entanachronistischen Tugenden, von denen man fernter sein, überlege ich aber schon weiter, und hier so viele findet. Als hätten sich alle Anachro- wir waren ja nicht einmal Nazis, was nicht ganz nismen Deutschlands hier versammelt, um ein stimmt, außerdem waren sie hier auch keine richtiges Zeitknäuel zu erzeugen, einen Knoten, Nazis, was auch nicht ganz stimmt, wie es nie den niemand so leicht auflösen kann. Da gibt es ganz stimmt. Sichtbar ist hier nur, wie einer KarrieMenschen, die noch nie etwas von H&M gehört re gemacht hat unter den Nazis, und was für Karhaben, genauso wie Menschen, die Bäume auf riere, aber als Christ. Er ist immer Christ geblieDas ist nicht meine Familie, aber sie kommt hier trotzdem vor. Ich beobachte sie seit langem, ich habe sie sozusagen kritisch im Visier. Anfangs ein Erstaunen: So haben sie das zwanzigste Jahrhundert verbracht, so geht das also. Ja, im Gegensatz zu anderen haben sie das zwanzigste Jahrhundert verbracht, sie sind nicht darum rumgeschlichen oder gar rasch durchgehuscht, sie haben es direkt in die Länge gezogen. Gehört sich das denn? Ja, gehört sich das denn wirklich? Ich weiß es nicht. Gerade an seinem Ende haben sie eine Familienaufarbeitung begonnen, die sie im zwanzigsten Jahrhundert festhält, Korrespondenzen werden da aufgearbeitet, Historiker eingeladen, Familienkonferenzen einberufen.

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ben, und das ist schon was, sage ich mir, wie ich so langsam dem Trottenkreuz entgegenschwanke auf dem Hügel am Ende der Solzer Höhe, auf dem sich schon eine Menschenmenge versammelt hat, mitsamt der berühmten Pastorin. Denn auch diese Familie grenzt an andere Familien, an Nachbarsfamilien und Gegenüberfamilien, Familien, die es besser gemacht haben, die es besser wissen, Familien aus gutem Grund. Und manchmal treffen sie sich und reden miteinander, und manchmal treffen sie sich und kaufen sich Güter ab, und manchmal sehen sie sich einfach nur zu, wie sie Gedenkfeiern machen für einen Vorfahr, der beim Zwanzigsten Juli dabei war, auf einem eirigen Hügel mit einem Kreuz drauf, das mich spontan an Mostar erinnert, wenn auch als Kleinversion. Es ist aber kein Kampfkreuz, lasse ich mir sagen, wie wir so mit Kind und Kegel und Bollerwagen auf die Zeichen einer Gegenwart zuschwanken, die auch hier dann und wann vertreten sein müssen. In diesem Fall in Form eines Fernsehteams, vor dem die berühmte Pastorin steht, als wäre es ihr angestammter Ort. Nur ein wenig später wird sie die Gedenkrede halten, ihren Merchandisingsegen hat sie längst der örtlichen Buchhandlung gegeben, mehr ist ihr an Gegenwärtigkeit nicht möglich. Zuviel moralischen Pauschalismus enthält ihre Rede für diese Ansammlung an Menschen, die direkt aus dem Gras herauszuwachsen scheinen und nicht im Wind schwanken, der die Worte der berühmten Pastorin über die F r e i h e i t e i n e s Christenmenschen zerfleddert. Auch das ist immer noch Deutschland, denke ich mir, Kleinadel, kleinteiliges Land, daneben Kirche, und Lutheraner gegen Katholiken. Aber das kommt mir nur in den Sinn, weil die hessischen Kartoffelgesichter hier fehlen in ihren Sportdresses, die diesen armen Landstrich eigentlich bevölkern.

geregt die BZ dazu, in Wirklichkeit sind es Retrofamilien, Fernsehfamilien, Telefonfamilien, Firmenfamilien oder gar Entführtenfamilien, die die realen abgelöst haben. Die Live-Familien gibt es kaum noch, bei all der Familienbesessenheit, die uns entgegenschlägt. Ihr lebt doch ganz im Jetzt, unterbricht man mich an dieser Stelle, eure Generation ist ganz im Hier und Jetzt verschwunden, das wird doch heute großgeschrieben. Ihr seid doch total auf eure Jugend, auf eure Kinder fixiert, sucht euch einzig in der Gegenwart den Anker, als gebe es sie nicht, die Vorgänger, Vormaligen, Ehemaligen, Gewesenen, die eure Jetztzeit eingerichtet haben, eure verzweifelt bürgerliche Gegenwart, die ihr zu erhalten sucht, und doch daran scheitern müsst, weil sie einer anderen, stärkeren Gegenwart ausgeliefert ist, einer Gegenwart, die einem im ICE auf dem Weg nach Berlin mit seinen Business-Mienen im Bordbistro entgegenschlägt, in dem sich Unternehmensberater und Controller gute Nacht sagen und die mich viel mehr verschlucken können, als es einer Familienschicht möglich ist. Doch das sind Worte, die mich nicht mehr recht erreichen.

Ja, nur ein wenig später werde ich vorbeifahren an den deutschen Hügeln und Wäldern durch das ICE -Kernland. Praktisch auf jeder Erhebung steht ein Fernsehturm, die Städte wie weggesaugt oder nur kurz in ein Hügeleck hingespuckt. Der Wald um Fulda, der Wald um Kassel, der Wald um Göttingen, durch den schon die Grimmschen Märchenfiguren streifen durften. Als könnten wir vergessen, dass es den Wald um Fulda, den Wald um Kassel, den Wald um Göttingen überhaupt noch gibt, man hält sie vielleicht ebenso für Anachronismen auf dem Weg nach Berlin, dieser absolut unadeligen und unbürgerlichen Stadt, in der ich heimisch bin. Meine Antwort steht also noch aus, doch »Alle Wege führen zum Stoffhans«, so die Aufschrift an der BahnIch sitze in der Wiese, ein Babyface vor mir, ein strecke kurz nach Kassel, das sind doch HinweiKleinkind auf dem Schoß, mein Sohn mit sei- se genug! nem kugelrunden Kopf, der auf einen anderen K a t h r i n R ö g g l a , geb. 1971 in Salzburg, lebt als Familienhintergrund hindeutet als auf den des Autorin und Dramatikerin in Berlin. 2010 erschien d i e a l a r m b e r e i t e n , 2011 wurde die Wiener Inszenierung Humangenetikers. Die Nachkommen des Hitler- von d i e b e t e i l i g t e n zum Theatertreffen eingeladen. attentäters hingegen sähen alle so aus wie er, sagt man mir, überall sieht man in ihnen Adam von Trott, als wäre eine störrische Genetik am Werk, die hochgewachsene Männer mit hohen Denkerstirnen hervorbringt. Nein, das ist nicht meine Familie, aber ich neige auch nicht dazu, von Familien verschluckt zu werden, mich verschluckt man überhaupt nicht, das macht man mit mir nicht, sage ich, auch wenn man das Gegenteil denken möge, das schafft auch nicht der Familienrhythmus, der dieses Land zu überziehen scheint und den Kitt zwischen Zukunft und Vergangenheit verspricht. In diesem Land, in dem Familien real immer mehr auseinanderfallen, in Nord- und Südrichtungen, in Westund Ostrichtungen. Jede dritte Mutter sei alleinerziehend in Berlin, titelte kürzlich etwas unauf-


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die andere seite des schweigens lager, hunger und terror im blick des westens

von gerd koenen

»Obwohl es so lange existierte wie die Sowjetunion selbst [. . .], war die Geschichte des sowjetischen Lagersystems bis vor kurzem kaum bekannt. Sie ist es in gewissem Maße noch immer.« Das schrieb Anne Applebaum noch 2003 in der Einleitung ihres Buchs G u l a g : A H i s t o r y . Überblickt man die lange Liste von Büchern und Lebenszeugnissen, die das Schattenreich der sowjetischen Lager seit seiner Entstehung immer wieder eindrücklich beschrieben und spätestens mit Alexander Solschenizyns epischer Dokumentation D e r A r c h i p e l G u l a g (1973) ins Licht einer breiten Weltöffentlichkeit gerückt haben, erscheint Applebaums Behauptung weit übertrieben, geradezu abwegig. Und doch ist sie nicht ganz falsch. Es ist eben eine Frage, was man außerhalb der Sowjetunion wissen konnte, und eine andere, was man wirklich wissen wollte und was sich dem allgemeinen Bewusstsein eingeprägt hat, nicht zuletzt angesichts der Krisen und Katastrophen der eigenen Lebenswelt. Es waren im Übrigen nicht erst St a l i n s Ve r b r e c h e n , sondern es war bereits der in seiner Totalität vollkommen neuartige Macht- und Gestaltungsanspruch der Bolschewiki, der von 1917 an sowohl ihre internen Gegner wie alle auswärtigen Beobachter mit einer eigentümlichen Mischung aus Furcht und Faszination erfüllte. Der physische und soziale Terror, den die zur Macht gekommene Partei unter der Ägide Lenins und Trotzkis offensiv und sogar demonstrativ einsetzte, führte ab 1918/19 zu einer ersten Flut von Schreckensmeldungen, die im Pulverdampf des andauernden Welt- und Bürgerkriegs jedoch nicht verifiziert werden konnten und in den westlichen und mitteleuropäischen Öffentlichkeiten teils dämonisch überhöht, teils als »Tatarenmeldungen« abgetan wurden. Es zeigte sich aber früh schon etwas anderes: Nämlich dass dieser Terror nicht nur abstieß, sondern auch anzog. Selbst wo man die exzessive Gewalt und rücksichtslose Diktatur der Bolschewiki ›an sich‹ verurteilte, bewunderte man die absolute und finale Entschlossenheit, die sich darin ausdrückte. Für viele war der vorangegangene Weltkrieg Ausdruck einer wahren M e n s c h h e i t s d ä m m e r u n g (so der Titel einer Anthologie deutscher Expressionisten von 1919), die nach fundamental neuen Lösungen verlangte. Die sich in den frühen 1920er Jahren in das »neue Russland« aufmachten, waren jedenfalls nur zum Teil eingefleischte Sozialisten oder frisch gebackene Parteigänger der entstehenden Moskauer Internationale. Es kamen einzeln oder in Gruppen Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Journalisten, Philanthropen und Pazifisten, Wirtschaftskapitäne und Militärs in besonders

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dichter Folge aus dem besiegten und in Versailles »geknebelten« als »Socialismus asiaticus« auf sozialdemokratischer Seite oder Deutschland. Und meistens fanden diese Reisenden genau das, als »jüdischer Bolschewismus« in den antisemitischen Milieus. Aufwas sie suchten. fällig aber war von Anfang an, dass die verzweifelten Stimmen der geflüchteten Menschewiki, Sozialrevolutionäre und LiberaDer Reiseschriftsteller und linke Wirtschaftsjournalist Alfons len, die die ganzen 1920er Jahre hindurch die präzisesten InforGoldschmidt etwa sah 1920 in den Bolschewiki »Disziplinierfrak- mationen über die Lage ihrer verfolgten Anhänger in den sowjetionen«, gleichsam Fagozyten, die die feudale und kapitalistische tischen Gefängnissen und Eismeerlagern [den Solowki-Inseln] »Sozialfäule« wegfraßen, damit die träge russische Arbeit »sozusa- lieferten, kaum durchdrangen. Nicht viel anders erging es den exigen germanisiert« und die riesigen Ressourcen Eurasiens erschlos- lierten Schriftstellern [wie dem späteren Nobelpreisträger Iwan sen werden könnten. Gar nicht so viel anders der frühere Mitar- Bunin], den eminenten Künstlern oder Wissenschaftlern, die aus beiter Ludendorffs im Generalstab, Oberst Max Bauer, der 1923/ Sowjetrussland geflüchtet oder vertrieben worden waren und die 24 im Rahmen der geheimen Rüstungszusammenarbeit von Reichs- fast alle — sofern sie sich nicht völlig von ihrer Herkunft lösten wehr und Roter Armee das L a nd der rot en Z a r en besuch- — das erstickende Gefühl hatten, im Westen wie in einem luftte und das bolschewistische Russland neidvoll als einen durch- leeren Raum leben zu müssen. militarisierten, jenseits aller internationalistischen Rhetorik von nationalem Geist erfüllten Großstaat mit planwirtschaftlich ge- Das war nicht nur in Deutschland der Fall, das seit dem Sonderführtem Industrieaufbau und politischer Massenmobilisierung vertrag von Rapallo 1922 mit Sowjetrussland politisch und militäschilderte — lauter Eigenschaften, die er im liberal und demo- risch, wirtschaftlich und kulturell vielfältig verbunden war. Erkratisch verseuchten Weimarer Deutschland vermisste. staunlicherweise galt das auch für die Siegermächte des Westens, deren Politik und Öffentlichkeit sehr viel antibolschewistischer Der expressionistische Dichter Arthur Holitscher wiederum such- gestimmt war, sich jedoch mit der scheinbar realpolitisch gete und fand in Sowjetrussland eine »neue Religion«, verkörpert milderten Parteidiktatur nach Lenins Tod zunehmend abfand durch eine Partei, die um des Heils der Menschen willen »ein Sys- und trotz aller periodischen Spannungen nach neuen Geschäftstem des eisernen Zwanges« errichtet hatte. Nur um dieser mensch- anbahnungen mit der UdSSR Ausschau hielt. heitlichen Mission willen sei ein so sanfter und kultivierter Mann wie der Gründer der Geheimpolizei, Felix Dsershinski, bereit, So vollzog sich der Schwenk zu einer politischen Entspannung gleich einem Franz von Assisi »das Niedrigste für alle anderen zu nicht zufällig gerade in dem Moment, in dem die 1930 ausbrebesorgen«: die Entsorgung des »Unrats« der alten Gesellschaft chende Große Depression der kapitalistischen Weltwirtschaft mit »mit einer raschen Kugel« auf den Müllhaufen der Geschichte. dem Großen Umschwung in der Sowjetunion, d.h. mit dem Übergang zu einer Politik der gewaltsamen Kollektivierung und InDas sind nur wenige, kleine Ausschnitte aus einem breiten Strom dustrialisierung zusammenfiel — obwohl es zwischen beiden von Literatur. Darin scheinen Interpretationsmuster auf, die auch Phänomenen keinen direkten Zusammenhang gab. Alle skeptispäter immer wieder dazu dienten, gerade dem Gewaltsamen des schen oder anklagenden Berichte über die menschenverachtenProzesses und den dabei erbrachten Menschenopfern eine höhe- den Methoden und katastrophalen Auswirkungen dieser stalinisre Weihe zu verleihen. Nicht nur der angeblich hohe Zweck hei- tischen Revolution von oben stießen jetzt auf eine mindestens ligte die Mittel; sondern umgekehrt: Die blutigen Mittel waren ebenso starke Stimmung, die angesichts des erwarteten Untergangs ihrerseits Ausweis einer höchsten Motivation, wie sie zum Bei- der ›alten Welt‹ des anarchischen und individualistischen Kapispiel Thomas Mann in seiner Würdigung des toten Lenin 1924 talismus des Westens von einer komplementären Begeisterung salbungsvoll unterstellte: »Lenin war [. . .] ein Mensch-Regent neu- für die ›neue Welt‹ eines disziplinierten planwirtschaftlichen Kolen, demokratisch-gigantischen Stils, eine kraftgeladene Verbin- lektivismus sowjetischen Stils erfasst wurde. dung von Machtwille und Askese, ein großer Papst der Idee, voll vernichtenden Gotteseifers. Man wird seiner gedenken wie jenes Die neuen Bewunderer der Sowjetunion Stalins kamen jetzt vor Gregor [. . .], [der] selbst gesagt hat: ›Verflucht sei der Mensch, allem aus der angelsächsischen Welt, in der — als intellektuelle der sein Schwert zurückhält vom Blute.‹« Stimmung wie als soziales Phänomen — sich fast über Nacht das entwickelte, was man später [nach dem polemischen Buch von Natürlich gab es auch ganz andere, scharf negative Bewertungen Eugene Lyons] The R ed Decade genannt hat: ein linkes und und Beschreibungen des bolschewistischen Experiments, sei es liberales Sympathisantentum der sog. Fellow Traveller, die sich tatsächlich

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Der Begriff Gulag hat sich spätestens seit Erscheinen von Alexander Solschenizyns Buch D e r A rc h i pe l Gu l ag als Name des umfassenden sowjetischen Repressionssystems aus Zwangsarbeitslagern, Straflagern, Gefängnissen und Verbannungsorten im öffentlichen Bewusstsein eingebürgert. Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora präsentiert, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes, in Kooperation mit dem von Andrei Sacharow 1988 gegründeten Menschenrechtszentrum Memorial Moskau und in enger Zusammenarbeit mit weiteren Experten eine umfassende Wanderausstellung über jene Orte des sowjetischen Repressionssystems im Zeitraum von 1929 bis 1956. Dafür stehen in der Sammlung von Memorial Moskau bisher nicht gezeigte, wichtige Realien und Dokumente zur Verfügung, darunter Zeitzeugenberichte, Fotografien, Filme und im Gulag entstandene Kunstwerke, die ab den späten 1980er Jahren an den Standorten ehemaliger Lager geborgen wurden. Ergänzt wird dieser Bestand durch Leihgaben aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation und der Forschungsstelle der Universität Bremen [Nachlässe Evgenija Ginsburg und Lev Kopelev]. Bisher ist die Rezeptionsgeschichte der Gulags immer noch wenig wissenschaftlich erforscht. Der Publizist Gerd Koenen wirft hier ein Licht auf die Resonanzen der westlichen Welt auf die Gulags. Es ist kein Ruhmesblatt — weder der europäischen noch der amerikanischen Geschichte.

, die sich

tatsächlich erstaunlich hartleibig gegen alle harten Fakten oder moralischen Einwände zeigten. Wieder waren es keineswegs nur und nicht einmal in erster Linie die frisch bekehrten Parteigänger im Umfeld der kommunistischen Parteien und der Internationale, sondern Politiker, Wirtschaftsleute, Journalisten oder Schriftsteller, die als sozialdemokratische Reformer, bürgerliche Liberale oder religiöse Menschenfreunde dem Bolschewismus leninistischer Prägung meist kritisch gegenübergestanden hatten, nun aber ausgerechnet der Politik und Propaganda Stalins und seiner Gefolgsleute sehr weit zu folgen bereit waren.

allerdings eine etwas frommere Beschreibung vorzogen. Im Nachwort ihres voluminösen zweibändigen Werks S o v i e t C o m m u n i s m : A N e w C i v i l i z at i o n von 1935 verkündeten sie: »Gottesdienst ist hier ersetzt worden durch den Dienst am Menschen«.

Diese Wahrnehmung war wesentlich mitgeprägt durch die Art und Weise, wie unter der Ägide des zum Hohenpriester des Stalinismus mutierten Weltschriftstellers Maxim Gorki die 1930–32 zum Bau des Ostsee-Weißmeer-Kanals eingesetzte Zwangsarbeit einer Armee von Hunderttausend ehemaliger Kulaken, Priester oder Beamter, wegen »Schädlingsarbeit« verurteilter Ingenieure und gewöhnlicher Krimineller als großartige Form einer humanen Resozialisierung unter dem Regime der Geheimpolizei GPU gepriesen wurde. Im literarischen Gemeinschaftswerk B e l o m o r , an dem 34 sowjetische Schriftsteller mitgewirkt hatten und das 1935 auch in englischer Sprache in einem renommierten US Verlag erschien, war dieses assyrische Unternehmen — das den eigentlichen Anfang des Gulag-Systems markierte — in eine »Folge exquisit beobachteter, manchmal komischer, manchmal tragischer Erzählungen von lebendigen individuellen Erfahrungen« überführt, die auch für westliche Leser zu den »aufregendsten, jemals im Druck erschienenen Geschichten« zählen dürften [so das amerikanische Vorwort].

Später wurden alle diese zahlreichen euphemistischen oder skandalösen Positionen in den großen, schützenden Mantel des Antifaschismus gehüllt. Aber der Aufstieg der Nationalsozialisten spielte gar keine Rolle, als 1932/33 westliche Korrespondenten in Moskau, angeführt vom prominenten New Yor k Times-Korrespondenten Walter Duranty, die sich verdichtenden Informationen über eine menschengemachte Hungerkatastrophe mit Millionen Toten in der Ukraine, dem Nordkaukasus und Kasachstan zuerst leugneten, dann herabspielten; nur um schließlich bereitwillig die Erklärungen der sowjetischen Führung zu kolportieren, wonach die Hungersnot dem Widerstand der verhungernden Bauern selbst geschuldet gewesen sei und die Regierung um ihrer großen Kollektivierungs- und Industrialisierungspläne willen die Getreideeintreibungen nicht habe reduzieren können. Somit war aus der [fahrlässigen oder sogar absichtsvollen] Inkauf- Natürlich rückten in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre der Einnahme des Hungertods von Millionen Menschen ein heroischer fall japanischer Armeen in Zentralchina, die kolonialen ExpediAkt des Durchhaltens geworden. tionen des faschistischen Italien in Libyen und Äthiopien sowie die erkennbaren Kriegsvorbereitungen Hitler-Deutschlands, das Auch für den ehemaligen Labour-Minister Sidney Webb und sich in die Rolle eines Vorkämpfers gegen den Bolschewismus seine Frau Beatrice war keineswegs der Aufstieg des Nationalso- warf, immer stärker in den Mittelpunkt der internationalen Aufzialismus, sondern die Krise des eigenen Landes der Bezugspunkt, merksamkeit und spielten der Sowjetunion als neuem Mitglied als sie in einer scharfen Revision früherer Ansichten 1930/31 ent- des Völkerbunds die reziproke Rolle eines Bollwerks der internadeckten, dass sie angesichts der globalen Alternative US -Kapita- tionalen Ordnung zu. Die Wendung der Kommunistischen Inlismus vs. russischer Kommunismus eindeutig auf der Seite des ternationale zu einer Politik der antifaschistischen Volksfront 1935 Letzteren stünden. Ihr Freund, der Dramatiker und Fabier-Sozi- sowie die sowjetische Unterstützung der legitimen spanischen alist George Bernard Shaw, war »erregt von seinem Aufenthalt in Republik gegen den von Italien und Deutschland unterstützten Russland« zurückgekommen, wo er auch von Stalin empfangen Putsch des Generals Franco erhöhte ihren Nimbus noch weiter. worden war, »mitgerissen von der Neuheit und der Gewalt der er- Der Spanische Bürgerkrieg, in den Brigaden von Freiwilligen alrungenen Veränderungen: hier findet sich Tragödie, Komödie, ler Länder [so mutig wie vergeblich] eingriffen, gab diesem weltweiMelodram, alles großartig auf gewaltiger Bühne inszeniert. Es ten Ringen zwischen Faschismus und Demokratie einen Zug ins m u s s richtig sein!« Die bolschewistische Partei sei »eine Be- Romantische und zugleich ins Verzweifelte, zumal angesichts der kenntnis-Oligarchie aus zwei Millionen Gläubigen, die ein Volk Passivität der westlichen Regierungen. von 120 Millionen Gleichgültigen, Halbherzigen oder aktiv Feindseligen beherrscht«. Gerade diese [vermeintliche] Wohlfahrtsdik- Nur, wie passte der neue, scheinbar demokratische Antifaschistatur über die stumpfen Massen gefiel Shaw, der bis zu seinem mus des stalinistischen Regimes zu den parallelen Hetz- und VerTod 1949 ein Bewunderer Stalins blieb. So auch die Webbs, die nichtungskampagnen gegen die Trotzkisten und die gesamte Gar-

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de der Altbolschewiken, aber auch gegen einen Großteil der Flüchtlinge aus eben diesen Ländern des Faschismus, allen voran Deutschland? Wie konnte der gemeine Menschenverstand sich überhaupt einen Reim auf die wahnwitzigen Anklagen der Moskauer Schauprozesse und des Großen Terrors machen, worin es von Attentätern, Saboteuren, Schädlingen und Volksfeinden nur so wimmelte, kaum dass die neue Verfassung der UdSSR das Ende der Klassengegensätze proklamiert hatte? Als Leo Trotzki von seinem Exil in Mexiko aus, wo er bereits zum Objekt mehrerer Mordanschläge geworden war, mit Hilfe einiger prominenter US -Intellektueller, allen voran John Dewey, 1938 versuchte, ein antistalinistisches Gegentribunal in New York zu organisieren, standen er und seine Verteidiger in der Öffentlichkeit der westlichen Länder auf verlorenem Posten.

Auch der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und die Teilung Europas zwischen den beiden Großdiktatoren änderte an dieser Grundstimmung wenig. Hitler betrieb fieberhaft und mit maßlosem Zerstörungs- und Vernichtungswillen die Gründung eines neuen germanischen Weltreichs; Stalin schien ›nur‹ damit beschäftigt, seinen eigenen Machtapparat zu säubern und das historische Erbe des alten Russischen Reiches mit eiserner Faust neu zu arrondieren. Als sich im Juni 1941 die Armeen Hitlers gegen den zeitweisen Verbündeten richteten und ihn beinahe in den Zusammenbruch trieben, nur um im Großen Vaterländischen Krieg der Völker Sowjetrusslands ihren entscheidenden Gegner zu finden, schienen alle unmenschlichen Opfer und Härten der Vorkriegsjahre sogar nachträglich irgendwie gerechtfertigt. Als Churchill in Teheran Stalin [interessehalber] nach den Opfern der Kollektivierung fragte und dieser ihm stumm zehn Finger zeigte, für zehn Millionen, war der Chef des britischen Empire, der im Umgang mit ›Eingeborenen‹ seine eigenen Erfahrungen hatte, mehr beeindruckt als schockiert. Es bedurfte des Ausbruchs des Kalten Kriegs 1947, damit der schon 1940 in winziger Auflage gedruckte Roman Arthur Koestlers S o n n e n f i n s t e r n i s , der die Geständnisse der Altbolschewiki in den Moskauer Schauprozessen psychologisch zu entziffern versuchte, eine breite Öffentlichkeit erreichte. Oder bis der faktengesättigte Lebensbericht des abgesprungenen Sowjetfunktionärs Ivan Kravchenko — worin von der Hungerkatastrophe in der Ukraine, der millionenfachen Zwangsarbeit im Gulag, dem Rasen des Großen Terrors wie der erstickenden Unfreiheit im Alltagsleben berichtet wurde — zu einem Weltbestseller wurde.

Aber selbst als im »Prozess des Jahrhunderts«, den Kravchenko 1949 gegen die Verleumdungen einer französischen KP -Zeitschrift anstrengte,

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KP-Zeitschrift

anstrengte, über zwanzig aus deutschen DP -Lagern herbeigeschaffte sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene die Schilderungen über den Hunger, die Zwangsarbeit, den Terror der dreißiger Jahre eindrücklich bestätigten, blieben die zynischen Gegenattacken der Verteidiger nicht ohne Wirkung, wonach es sich ausschließlich um deutsche Kollaborateure oder CIA -Agenten handele. Simone de Beauvoir hat in ihrem 1954 veröffentlichten Schlüsselroman D i e M a n da r i n s v o n Pa r i s die Debatten in der Pariser Intelligentsia um die Bücher von Koestler und Kravchenko nachgezeichnet und lässt ihren Held Dubreuilh [alias Sartre] gegenüber Perron [Camus] erklären: »Du meinst, wenn ich schweige, mache ich mich an den Lagern mitschuldig [. . .] Wenn ich aber rede, geselle ich mich zu den Feinden der UdSSR [. . .] Allein wichtig ist die Entscheidung, ob man durch die Denunziation der Lager für die Menschheit oder gegen die Menschheit arbeitet.« Er, Sartre, war »für die Menschheit« und zog es daher vor zu schweigen.

Die moralischen Dilemmata derer, die sich weder zum Schweigen verurteilen noch als Kronzeugen der Hexenjagden des Senators McCarthy in den USA oder der postkolonialen Politik der Westmächte in Vietnam, Korea, Algerien oder anderswo missbrauchen lassen wollten, sind freilich nicht zu leugnen. So klagte selbst der ganz auf eine offensive Selbstbehauptung der westlichen Zivilisation »gegenüber der orientalischen Despotie« des Ostens eingestellte Franz Borkenau 1950 im Nachwort zum Sammelband D e r G o t t d e r k e i n e r wa r , in dem prominente Ex-Kommunisten über ihre Erfahrungen berichteten: »Obwohl es schwerlich irgend einen denkbaren Gräuel gibt, den der Kommunismus nicht begangen hat, hat die gelbe Lügenpresse es doch fertig gebracht, jahrzehntelang den Anti-Kommunismus durch ihre Schauermärchen so zu diskreditieren, dass die schreckliche Wahrheit über das russische Regime keinen Glauben fand.«

Und schließlich war da auch das Problem, dass die Diskussionen unter den sowjetischen Dissidenten und Ex-Häftlingen selbst hoch dissonant und mit den westlichen Diskursen weder nach links noch nach rechts so recht kompatibel waren. So entwickelte sich gerade Alexander Solschenizyn, der in einem Anklage- und Enthüllungsbuch von beispielloser Wucht, dem 1974 in allen Weltsprachen verbreiteten Archipel Gulag, das sowjetische Zwangssystem in seiner ganzen historischen Tragweite sichtbar gemacht hatte, nach seiner erzwungenen Exilierung binnen kurzem zu einem fundamentalistischen Kritiker der westlichen Lebensformen und Ideen. Gerade diese, den Russen fremden, materialistischen Ideen seien es gewesen, die — ob in Gestalt des klassenkämpferischen Marxismus oder eines enthemmten Marktliberalismus — für das Unglück seines Landes eigentlich verantwortlich seien. Alle, die — wie Stéphane Courtois, der Initiator des Pariser Sch wa r z buch de s Kom m u n ism us, oder wie Ann Applebaum — beklagen, dass »Stalins Verbrechen bei vielen Menschen nicht dieselbe instinktive Reaktion hervor[rufen] wie die Hitlers« und die deshalb dem Stalinismus oder sogar dem Kommunismus insgesamt eine Art posthumen Nürnberger Prozess ma-

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G e r d K o e n e n , Jahrgang 1944, ist freiberuflicher Publizist und Historiker mit den Schwerpunkten Geschichte des Kommunismus und deutsch-russische Beziehungen im 20. Jahrhundert. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit schreibt Koenen für Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Daneben arbeitete er unter anderem an Forschungsprojekten wie »West-östliche Spiegelungen« von Lew Kopelew mit. Sein Buch D e r R u s s l a n d - K o m p l e x (C.H. Beck München, 2005) wurde mit dem »Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2007« ausgezeichnet. 2008 bis 2010 war er Senior Fellow der School of History des Freiburg Institute for Advanced Studies. Aus dieser Arbeit ging zunächst sein Buchessay Wa s wa r d e r K o m m u n i s m u s ? (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010) hervor. Zurzeit arbeitet Gerd Koenen an einer vergleichenden Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert. Eine größere monografische Darstellung ist unter dem Arbeitstitel D e r K o m m u nism u s i n s e i n e m Z e i t a l t e r bei C.H . Beck, München, für das Jahr 2013 geplant.

ausstellung spuren des gulag 1929–1956, schloss neuhardenberg, frühjahr 2012 Prof. Dr. Irina Šcerbakova [Memorial Moskau]

Wissenschaftliche Leitung:

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Prof. Dr. Volkhard Knigge

[Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora]. Im Anschluss an die Station in Neuhardenberg wird die Ausstellung im Schiller-Museum Weimar gezeigt. Weitere Stationen im Ausland sind in Planung.

Das Problem der Funktionalisierung der Wahrheit über den Massenterror und über das Leben und Sterben im Gulag dauerte eine ganze Epoche des Kalten Kriegs hindurch an, weit über die offizielle und selektive Enthüllung der Verbrechen Stalins auf dem XX . Parteitag der KPdSU im Frühjahr 1956 hinaus. Westliche Wissenschaftler haben auch in diesen ersten Nachkriegsjahrzehnten großartige Arbeiten und Analysen über Geschichte und Gegenwart der Sowjetunion und des »sozialistischen Lagers« geschrieben, ob als Totalitarismustheoretiker, die das politische System und die Ideologie ins Zentrum stellten, oder als eher sozialwissenschaftlich orientierte ›Revisionisten‹. Aber was von diesem Wissen und diesen Diskussionen in eine breitere Öffentlichkeit durchdrang, blieb immer gebrochen durch das Prisma der aktuellen Weltkonflikte und der Differenzen über die eigene, westliche Politik, die mal auf Konfrontation und mal auf Entspannung setzte.

chen möchten, verkennen das zutiefst Ahistorische eines solchen Wunsches. Wenn die Weltgeschichte [frei nach Nietzsche] das Weltgericht ist, dann hat sie ihr Urteil über das stalinistische Zwangs- und Terrorregime schon lange gesprochen. Alles Übrige muss einer sorgfältigen historiografischen Aufarbeitung und ansonsten dem langwierigen Kampf um die Erinnerung der Menschen in den Ländern überlassen werden, um deren ureigene Geschichte es in allererster Linie geht.

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mythen des wirtschafts Was haben Ökonomen, Städteplaner, Soziologen, Politikwissenschaftler, Umwelthistoriker, Philosophen und Schriftsteller zur Diskussion um die Transformation der Welt in ein nachhaltiges Zeitalter beizutragen? Zukunftsszenarien der Ressourcenknappheit und des Klimawandels verdichten sich zur großen Katastrophen- und Weltrettungserzählung unserer Zeit.

Das Interviewbuch des Physikers und Bioinformatikers Roman Brinzanik und des Schriftstellers Tobias Hülswitt We r d e n w i r d i e E r d e r e t t e n ? — G e s p r äc h e ü b e r d i e Z u k u n f t vo n Te c h n o l o g i e u n d P l a n e t, erscheint im Dezember 2011 in der edition unseld bei Suhrkamp. Die Autoren führen darin Gespräche mit Experten aus unterschiedlichen Disziplinen wie dem Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen, dem Schriftsteller T.C. Boyle, dem Pionier der Synthetischen Biologie George Church, dem Umwelthistoriker Joachim Radkau oder dem Klimaforscher und Intergovernmental Panel on Climate ChangeLeitautor Stefan Rahmstorf. Die Kulturstiftung des Bundes organisiert eine partizipative, multimediale Veranstaltungsreihe in mehreren deutschen Städten, bei der die Autoren mit weiteren führenden Wissenschaftlern, Künstlern und Philosophen Fragen und Thesen des Buches erörtern. Der Filmemacher Gunther Kreis erstellt zu We r d e n w i r d i e E r d e r e t t e n ? einen interaktiven Film, dessen

Clips in den auf die Beteiligung des Publikums abzielenden Veranstaltungen als Diskussionsgrundlage dienen. Im Format einer Korsakow-Show, entwickelt von dem Medienkünstler Florian Thalhofer, kommen neben den Live-Experten in Videoeinspielungen die interviewten Gesprächspartner zu Wort, das Publikum bestimmt den Fortgang des Gesprächs und kann eigene Beiträge liefern. Im Zentrum der Veranstaltungsreihe steht die Frage, wie ein relevanter, partizipativer und interdisziplinärer Austausch über unsere Zukunft angestoßen werden kann. Im Folgenden veröffentlichen wir vorab Auszüge aus einem Interview, das Roman Brinzanik und Tobias Hülswitt mit Tim Jackson, dem Autor des auch in Deutschland viel gelesenen Buches Wo h l s t a n d o h n e Wa c h s t u m — L e b e n u n d Wi rtsc h a f t e n i n e i n e r e n dl ic h e n We lt (Oekom Verlag, München 2011), geführt haben. Jackson ist Professor für Nachhaltige Entwicklung im Zentrum für Umweltstrategien an der Universität Surrey.

tim jackson interviewt von roman brinzanik H ü l s w i t t Herr Jackson, in Ihrem Buch Wohl- R o m a n B r i n z a n i k Warum kann ein globales Wirtschaftsstand ohne Wachstum schreiben Sie, der Mythos des Wachs- wachstum das nicht erreichen, wenn wir ihm einfach mehr Zeit tums habe uns im Stich gelassen. Warum ist das so? geben? P r o f . T i m J a c k s o n Aus den verschiedensten Gründen. J a c k s o n Wenn man sich überlegt, was nötig wäre, um das Der erste ist, dass von der Explosion materiellen Wohlstands dazu erforderliche Wachstum zu erzielen, gelangt man zu unseit der Industrialisierung und insbesondere nach dem Zweirealistischen Ausmaßen des Rohstoffverbrauchs und zu katasten Weltkrieg nur ein Teil der Weltbevölkerung profitiert hat. trophalen Auswirkungen auf die Umwelt. In unserem gegenDieser Wohlstand wird zwar für immer mehr Menschen real, wärtigen wirtschaftlichen Modell von Wohlstand und Fortbeispielsweise in China und Indien, aber es gibt immer noch schritt auf globaler Ebene soll theoretisch jeder an diesem zwei Milliarden Menschen in Afrika und Teilen Südostasiens wundervollen materiellen Wohlstand teilhaben, aber wenn und Lateinamerikas, die chronisch unterernährt sind und besman nachrechnet, geht es nicht auf. Es gibt kein realistisches tenfalls am Existenzminimum leben. Das WirtschaftswachsSzenario, bei dem wir unsere heutige Form des Wachstums tum hat die Ärmsten nicht von der Armut befreit und es nicht ausgeweitet auf neun Milliarden Menschen, die wir im Jahr vermocht, einen gleichmäßig verteilten Wohlstand zu schaf2050 sein werden, aufrechterhalten können, ohne dabei im Wifen. Es hat globale Spaltungen, Einkommensunterschiede derspruch zu den Limitierungen unserer Umwelt und der glound Unterschiede im Zugang zu Ressourcen und Lebensqualibalen materiellen Ressourcen zu stehen. Dieses »Unmöglichtät erzeugt, die moralisch nicht hinnehmbar sind. Und die keits-Theorem« ist die Motivation für das, was ich mit meiner Vorstellung vom nach unten durchsickernden Wachstum beForschungsarbeit zu erreichen versuche. Also, zweitens, um ziehungsweise von der »Flut, die alle Boote hebt«, wie John F. auf die vorherige Frage zurückzukommen, Wachstum ist auch Kennedy es in den 60er Jahren formulierte, dieser Gedanke ökologisch gesehen gescheitert. des sozialen Fortschritts ist auch gescheitert. Wir haben immer eine Vielzahl von Zukünften vor uns, doch eine mögliche ist H ü l s w i t t Warum brauchen wir überhaupt Wachstum? die, in der ein zunehmend kleiner Anteil der Weltbevölkerung J a c k s o n Der Bedarf des Systems an Wachstum und unser weiterhin auf einem sehr hohen materiellen WohlstandsniBedarf an Wachstum sind zwei eng verknüpfte und häufig als veau lebt, und eine andere ist eine solche, in der wir eine andeidentisch betrachtete Umstände. W i r brauchen Wachstum, re Vorstellung von Wohlstand entwickeln und die materiellen weil es uns gute Dinge bringt, es verhilft uns zu mehr Nahrung, Ressourcen so teilen, dass ein Gemeinwohlstand entsteht. einem gesünderen Leben, besseren Technologien und mehr Rei-

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zen. Und das Wirtschaftssystem braucht Wachstum, weil in der Art von Ökonomie, die wir haben, soziale Instabilitäten entstehen, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Wachstumsrücknahme ist instabil, zumindest unter den gegenwärtigen Bedingungen. Warum kommt es zu diesen Instabilitäten? Die grundsätzliche Dynamik dreht sich um Wachstum und Beschäftigung. Politiker verkünden immer wieder, dass Wachstum gleichbedeutend ist mit Beschäftigung. Diese Behauptung ist wirklich bizarr, denn Wachstum schafft und vernichtet Arbeitsplätze gleichzeitig. Durch technischen Fortschritt und durch die Struktur einer wachstumsorientierten Gesellschaft gibt es ständig Anreize, die Arbeitsleistung, die jeder Arbeiter in einem Jahr erbringt, zu erhöhen. Das bedeutet, dass man im nächsten Jahr weniger Menschen für die Arbeit benötigt, die in diesem Jahr geleistet wurde, um die gleiche Wirtschaftsleistung zu erzielen. Und wenn die Wirtschaft nicht wächst und keine neuen Arbeitsplätze schafft, werden die Menschen arbeitslos. Der Anreiz, fortwährend der steigenden Arbeitsproduktivität hinterherzulaufen, ist genau der Grund, warum die Wirtschaft wachsen muss, wenn man Beschäftigung sichern will. Wenn die Arbeitsproduktivität nicht steigen würde, bräuchte man auch kein Wirtschaftswachstum, um Arbeitsplätze zu erhalten. Ich würde argumentieren, dass dies die zentrale Langzeit-Dynamik ist, die uns immer abhängiger vom Wachstum macht. Doch es gibt natürlich auch andere. Im Besonderen ten-

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swachstums ten-

dieren schuldenbasierte Finanzsysteme ohne Wachstum zu Instabilität. Ob Regierung, Unternehmen oder Privataushalt — wenn das Einkommen nicht wächst, wirkt sich die Rückzahlung von Schuldzinsen negativ auf die Kaufkraft und womöglich auch auf das Wohlergehen aus.

neudefinition des wohlstands H ü l s w i t t Werden wir uns von einem Teil unseres Reichtums trennen müssen, um zu einer nachhaltigen Wirtschaft zu kommen? J a c k s o n Wir müssen Wachstum in den reichen Ländern hinterfragen, und wir müssen damit beginnen, neu zu definieren, was wir unter Reichtum und Wohlstand verstehen. Dann werden wir sehen, dass eines der wichtigsten Dinge, die wir überprüfen müssen, unsere Vorstellung von Fortschritt ist.

ren Menschen verbringe anstatt so hart zu arbeiten, damit ich diese Dinge kaufen kann, die mir so viel versprechen, dies aber irgendwie nie einlösen und am Ende nur mein Haus vollstopfen und meine Zeit rauben.« Wir haben genau deshalb eine Logik des Konsums entwickelt, weil sie es ist, die das System funktionieren lässt. Politiker wehren sich mehr als gegen alles andere dagegen, dass es ihre Aufgabe ist, die soziale Logik zu ändern. Realität ist, sie haben es getan. Indem sie institutionelle Rahmenbedingungen für eine wachstumsorientierte Wirtschaft geschaffen haben, haben sie systematisch eine bestimmte soziale Logik gefördert, nämlich die des Konsums. Schauen Sie sich nur die Nachrichten während der Krise von 2008 an. Ein Politiker nach dem anderen erscheint auf dem Bildschirm und animiert die Leute dazu, Geld auszugeben, und stellt es sogar als moralische Pflicht dar, shoppen zu gehen, denn das sei es, was uns die wirtschaftliche Stabilität zurückgeben werde. Es macht keinen Sinn, diese soziale Logik zu ändern, während man noch ein Wirtschaftssystem betreibt, das auf Konsumsteigerung basiert. Doch wenn man eine Ökonomie schaffen kann, die sich nicht mehr auf dieses untragbare Wachstum gründet, dann kann man auch eine soziale Logik entwickeln, die widerspiegelt, was wir Menschen wirklich sind. Wie ist das zu bewerkstelligen? Zum einen müssen wir systematisch nachvollziehen, wie wir diese gesellschaftliche Logik des Konsums geschaffen haben, und sie demontieren. Und der andere Weg ist, solche Ziele zu identifizieren und in sie zu investieren, die uns befähigen, auf weniger materialistische und dafür sinnvollere Art zu gedeihen. Das ist also meine erste Empfehlung: Ve r ä n d e r t die gesellschaftliche Logik.

B r i n z a n i k Was könnten heutzutage denn echter Wohlstand und echter Fortschritt sein? J a c k s o n Welche sind die Bereiche, die wir in unserer Vision von Fortschritt bewahren möchten? Ich beschreibe Wohlstand als unsere Befähigung, ein würdiges Leben zu führen. Dabei beziehe ich mich auf Amartya Sens und Martha Nussbaums Konzept der »Befähigungen zum Gedeihen« und konzentriere mich darauf zu definieren, was »gedeihen« bedeutet. Ich habe den Eindruck, es gibt einige materielle Werte, die wir absichern möchten. Zum Beispiel die Möglichkeit, ein gesundes Leben zu führen, sicherlich ausreichend und gesunde Ernährung, menschenwürdige Lebensbedingungen und Obdach. Es ist unsinnig, über Wohlstand zu reden, ohne diese materiel- B r i n z a n i k Was braucht es noch, um eine nachhaltige Wirtlen Größen in den Mittelpunkt zu stellen. Doch darüber hin- schaft zu schaffen? aus geht es um sozialen und psychologischen Fortschritt. SoJ a c k s o n Als Zweites müssen wir die ökologischen Grengar die Allgegenwärtigkeit und Anziehungskraft beispielsweise zen, die materiellen und umweltbedingten Beschränkungen des iPhones als Konsumgut ist größtenteils psychologischer des Systems identifizieren. Hier geht es um eine belastbare Biund sozialer Natur. Bei seinem Nutzen geht es um Kommunilanzierung von Ressourcen und darum herauszufinden, welkation und Reize; darum, soziale Verbindungen und Bindunche wirtschaftliche Aktivität wir uns mit unterschiedlichen Resgen herzustellen. Diese Vision des Fortschritts existiert minsourcenabhängigkeiten leisten können und welche nicht. Und destens schon seit Aristoteles. Die Bedingungen für ein gutes wie eine gerechte Verteilung dieser Ressourcen in einer wachsenLeben sind die Gestaltung und Erhaltung unserer Identität, den Welt aussehen könnte, in der jeder das gleiche Recht auf eiein sinn- und zielbewusstes Leben, unser Gefühl der Verbunne angemessene Lebensqualität hat. Das ist also Nummer zwei: denheit mit anderen Menschen, unserer Familie und FreunDef iniert die Grenzen. den, und ein Gefühl der generationenübergreifenden Kontinuität der Menschheit. Kurzum, die Befähigung, frei am gesell- H ü l s w i t t Was ist mit der Ökonomie selbst? J a c k s o n Es ist offensichtlich, dass die existierende ökonomischaftlichen Leben zu partizipieren. Diese Voraussetzungen sche Struktur ernsthaft beschädigt ist, sogar gemessen an ihbilden den Stoff, der dem Fortschritt zugrundeliegt. ren eigenen Ansprüchen. Es gibt in ihr keinen Stabilitätsmechain richtung nismus außer der kontinuierlichen Steigerung des Konsums. Die Bestrebungen, dies zu erreichen, haben eine Krisenanfälligeiner nachhaltigen keit erzeugt, die das gesamte System beinahe zu Fall gebracht wirtschaft B r i n z a n i k Was sind die Konsequenzen dieser Vision von Wohlhat. Meine dritte Empfehlung ist also: B r i n g t d i e W i r t stand für unsere reichen Gesellschaften mit unserem hohen mas c h a f t i n O r d n u n g . Ich spreche hier von Wirtschaft teriellen Lebensstandard? Was müssen wir verändern? sowohl als akademischer Disziplin als auch als gesellschaftliJ a c k s o n Wir müssen die gesellschaftliche Logik ändern. Und cher Institution. Der ökologische Ökonom Herman Daly hat dazu müssen wir uns damit auseinandersetzen, was wir wollen, für eine stationäre Wirtschaft im Rahmen der Belastbarkeit wie wir es erreichen und wie wir es gerecht verteilen. Dies erforder Ökosysteme plädiert. Diese Pionierarbeit bietet ein tragfädert einen öffentlichen Raum, in dem wir uns darüber austauhiges Fundament, um die Wirtschaft in Ordnung zu bringen. schen können, welche Dinge von Bedeutung sind und wo sie Tatsächlich haben sogar Ökonomen wie John Stuart Mill und das sind. Das ist die erste Stufe: zu sagen, ja, durch WirtschaftsJohn Maynard Keynes über genau diesen Wandel geschrieben, wachstum wird unser Leben gesünder, wir bekommen eine besüber den Übergang von einer Ökonomie, die sich auf die Schafsere Bildung und bessere und attraktivere Technologien — doch fung der materiellen Voraussetzungen für ein gutes Leben grünes geht einher mit diesem schnellen materiellen Durchfluss in det, hin zu einer Ökonomie, in der diese Aufgabe erfüllt ist einem überfrachteten Leben, von dem wir uns befreien möchund in der wir uns nicht mehr über Wirtschaftswachstum Geten. Können wir diese beiden Aspekte voneinander trennen? danken machen müssen. Gegenwärtig besitzen wir keine MaDenn genau genommen traf es nie zu, dass mehr immer gleichkroökonomie, deren Stabilität nicht von einer kontinuierlibedeutend mit besser ist. Wir erleben eine Art Übersättigung chen Steigerung des Konsums abhängt. Natürlich könnte ich an Dingen, und die Menschen beginnen allmählich zu denhier auch erwähnen, dass die Mainstream-Ökonomie — fälschken: »Ich will weniger Krempel in meinem Leben, ich will entlicherweise, wie ich meine — auf der Wirkung miteinander rümpeln. Meine Lebensqualität wird zu sehr von Materiellem konkurrierender Kräfte beharrt, die rational individuelle Eigenbeeinträchtigt. Und vielleicht kann ich sie verbessern, indem interessen verfolgen. Die psychologische Realität sieht jedoch ich mehr Zeit mit meinen Freunden, meiner Familie und andeanders aus, denn die individuelle Identität wird durch unse-

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re Beziehungen zu anderen Menschen konstruiert. Deswegen funktionieren die Modelle der Mainstream-Ökonomie nicht richtig, die Maximierung des Gemeinwohls stimmt im Ergebnis nicht, die externen gesellschaftlichen und die Umwelt betreffenden Effekte werden nicht richtig eingerechnet. Einige Menschen haben den Gedanken eines ökologischen Ichs angeregt, ein Ich, das Schaden nimmt, wenn die Ökologie Schaden nimmt. Doch selbst, wenn man so weit nicht gehen will, bleibt es eine Tatsache, dass die Ökonomie eine Art gesellschaftliche Falle hervorgebracht hat, in der individuelles Eigeninteresse zur Zerstörung des sozialen Wohls führt und unsere Fähigkeit schwächt, uns in einem sozialeren Sinne zu definieren. Selbstverständlich sollten mit der Reparatur der Wirtschaft auch einige grundlegende Dinge wie das Ausbessern der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung einhergehen. Es ist mittlerweile wohl bekannt, dass das Bruttoinlandsprodukt einfach kein gutes wirtschaftliches Maß dafür ist, was Wohlbefinden ausmacht und was Fortschritt bedeutet. Dies sind also meine Empfehlungen: V e r ä n d e r t d i e g e s e l l s c h a f t l i c h e L o g i k , def iniert die Grenzen, bringt die Wirtschaft in Ordnung.

technologische entkopplung Viele Menschen glauben, dass es möglich sein wird, die Wirtschaftsleistung von den negativen Umwelteinflüssen und der Erschöpfung der materiellen Ressourcen mithilfe des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu entkoppeln, beispielsweise durch ständig zunehmende Effizienz. J a c k s o n Es ist wahr, wir werden immer effizienter, aber wir machen auch immer mehr. Das ist der Skaleneffekt des Wachstums, der immer dazu tendiert, die Effizienzsteigerungen zu überwiegen. Die Kohlenstoffintensität, also die Kohlendioxidemission pro Dollar, ist beispielsweise seit 1990 durchschnittlich pro Jahr um 0,7 Prozent gesunken, und gleichzeitig ist der weltweite Kohlendioxidausstoß um etwa 40 Prozent gestiegen. Indem also die Wirtschaft expandiert, geht dies letztlich mit einer größeren Einwirkung auf die Umwelt einher, und wenn man sich vorstellt, dass im Jahr 2050 neun Milliarden Menschen einen westlichen Lebensstil anstreben, kommt man zu recht heroischen, völlig unrealistischen Annahmen, welchen technischen Fortschritt man erzielen und wie viel Effizienz man erreichen müsste. Lassen Sie uns ein Szenario entwerfen, in dem die voraussichtlich neun Milliarden Menschen Mitte dieses Jahrhunderts westliche Einkommen anstreben. Nehmen wir an, dass alle diese Einkommen um zwei Prozent pro Jahr steigen, es also auch in den Industrienationen weiterhin Wachstum gibt. Und nehmen wir weiter an, dass wir dennoch unsere CO2-Emissionsziele einhalten wollen — also eine Reduzierung der weltweiten Emissionen um etwa 80 Prozent bis zum Jahr 2050, um das Stabilisierungsziel des IPCC von 450 ppm [Teilen pro Million] zu erreichen und die globale Erwärmung unter 2°C zu halten. Durch dieses einfache Gedankenexperiment wird deutlich, dass die Dekarbonisierung der wirtschaftlichen Aktivitäten eine riesige Aufgabe darstellt. Man benötigt eine 130-fache Reduktion der Kohlenstoffintensität innerhalb der nächsten 40 Jahre! Und auch danach muss man diese Dekarbonisierung natürlich immer schneller vorantreiben, denn die Wirtschaft wächst ja weiter.

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B r i n z a n i k Sind Sie also der Meinung, dass wir einen Fehler machen, wenn wir uns auf technologische Lösungen wie ein umfassendes Erdsystem-Management, eine drastische Effizienzsteigerung, eine Hinwendung zu nachwachsenden Rohstoffen oder die Schaffung geschlossener Ressourcenkreisläufe verlassen? J a c k s o n Im Gegenteil, erneuerbare Energien, Ressourceneffizienz, Reduktion der Materialflüsse und möglicherweise ökologisches Enhancement und CO2-Abscheidung und -speicherung sind unerlässlich — mit oder ohne Wachstum. Wir brauchen einen massiven technologischen Wandel. Aber ich denke, wir fordern technischen Fortschritt in einem Umfang, der un-realistisch

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realistisch ist, zumindest in einem Wirtschaftssystem, in dem wir nicht die zugrunde liegende Architektur geändert haben. Ich glaube nicht, dass die von Ihnen angesprochene Entkopplung technisch völlig unmöglich ist. Sie ist jedoch unmöglich in unserem Wirtschafts- und Sozialsystem. Mein beruflicher Werdegang begann genau da, bei dem Gedanken, dass es all diese regenerativen Energietechnologien bereits gab, und sie in naher Zukunft zur Anwendung kommen konnten — was sich aber nicht einstellte. Denn was dem im Wege steht, sind die institutionellen Strukturen, die wirtschaftlichen Anreize und in gewisser Weise auch die Organisation unseres Lebens, die gesellschaftliche Architektur. Der Mythos der technologischen Entkopplung ist die Behauptung, dass sie zwangsläufig ökologische Ziele verwirklichen wird. Das ist märchenhaftes Wunschdenken. B r i n z a n i k Wie sollte unsere technologische Strategie also ausgerichtet sein, abgesehen davon, dass sie grün ist? J a c k s o n Technik existiert seit der Steinzeit, und breit gefasst ist sie nichts anderes als menschliche Anpassung der materiellen Umwelt zum Zwecke des Wohlergehens. Selbstverständlich brauchen wir Technik. Und ebenso sehr Innovation. Wir haben mithilfe von Technologie, insbesondere durch die Verbesserung des Gesundheitswesens, Großes erreicht. Wissen Sie, für mich hat das tatsächlich sehr viel mit meinem eigenen Leben zu tun, denn mein Sohn wurde mit einem Loch im Herzen geboren, und vor 50 Jahren wäre die Medizintechnik wohl nicht so weit gewesen, dies rechtzeitig festzustellen. So aber hatte er eine kleine Operation, in der ein Stück Gore-Tex an sein Herz angenäht wurde, und nun hat er ein im Großen und Ganzen normales Herz und eine normale Lebenserwartung. Was immer Sie mir also von den Vorteilen all dieser Fortschritte erzählen mögen, ich bin d’accord. Aber letztlich unterstreicht diese Erfahrung für mich unsere enorme Fähigkeit, diejenigen Dinge zu bewahren, die wirklich von Bedeutung für uns sind. Nur ist das Verhältnis zwischen Innovation und Bewahrung und Tradition aus dem Gleichgewicht geraten. Wir haben aus verschiedenen Gründen dazu tendiert, technologische Innovation zu fördern. Zum einen, weil sie aufregend und sexy ist, zum anderen, weil sie es ermöglichte, die Arbeitsproduktivität zu steigern. Doch wie ich bereits erwähnte, birgt dies Probleme. Eines ist das Tempo, mit dem der Rohstoffdurchsatz erhöht wird, ein weiteres unsere Abhängigkeit von den Technologien selbst und der daraus entstehende Mangel an Resilienz oder Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft. Beispielsweise sind Schulen in ihrem Unterricht zunehmend auf Informationstechnologien angewiesen. Es gibt keine Wandtafeln mehr, sondern Touchboards und das dazugehörige Equipment. Wir sind mit der Zeit abhängig geworden von Technologien, die unter allen Umständen, die von den optimalen Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum abweichen, Fragilität mit sich bringen werden. Wenn Investitionen einzubrechen beginnen, sind dies die Systeme, die nicht mehr funktionieren werden. Die Schranken an Bahnstationen, die Computer in Klassenzimmern, die Abhängigkeit der Haushalte von der allgegenwärtigen Technologie, die immer in Betrieb ist. All diese Dinge erzeugen einen Mangel an Resilienz. Brauchen wir also Technologie? Ja. Brauchen wir eine Strategie, die uns vor einem blinden Vertrauen auf anfällige Technologien bewahrt, die wir uns nicht leisten können? Absolut. Wir müssen uns in einer Weise über die Entwicklung unserer Bildungssysteme, unserer Gesundheitssysteme, unseres Transportsystems, unseres Energiesystems und unserer innerstaatlichen Systeme Gedanken machen, die die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit angesichts verschiedener Zukünfte berücksichtigt.

J a c k s o n Wie ich bereits erwähnt habe, ist es in dem bestehenden System schwierig, Schulden zu tilgen, wenn das Einkommen nicht steigt. Zumindest drohen sie dann das Wohlstandsniveau zu unterminieren. Und zurzeit haben wir ein Geldsystem, das sich extensiv auf Schulden gründet und in dem mehr als 90 Prozent des innerhalb des Systems geschaffenen Geldes direkt aus Schulden generiert ist. Es gibt überzeugende Argumente dafür, das Geldsystem umzugestalten und dem öffentlichen Sektor, der Regierung ein Maß an Kontrolle der Geldmenge zurückzugeben. Und ja, es ist auch wichtig zu berücksichtigen, wie Investitionen funktionieren. Natürlich sind Investitionen nötig, um Erträge für Investoren zu generieren. Doch ist es legitim, dass diese Investoren Erträge von 25 oder 30 Prozent beanspruchen in Wirtschaftssystemen, die bestenfalls um zwei oder drei Prozent wachsen? Ich glaube nicht. Was wir stattdessen brauchen, ist ein Konzept für ökologische Investitionen, das langfristiger ausgerichtet ist, das niedrigere Renditen, die möglicherweise sogar gegen null tendieren, in Kauf nimmt, im Austausch für das Erreichen längerfristiger ökologischer und gesellschaftlicher Ziele. Würden wir die Zukunft ebenso oder mehr wertschätzen als die Gegenwart, könnten wir sogar negative Ertragsraten akzeptieren. Viele normale Menschen treffen täglich diese Art von Entscheidung. Im konventionellen Sinn ist es beispielsweise unwirtschaftlich, dass Eltern Zeit und Geld in ihre Kinder investieren. Sie tun es, weil sie die Zukunft ihrer Kinder wertschätzen, manchmal sogar mehr als ihre eigene.

visionen der zukunft

die Geschehnisse in der arabischen Welt und anderswo hervorrufen. Und eine Unsicherheit rund um die Gasversorgung aus Osteuropa, und möglicherweise etwas Umweltbedingtes — obwohl ich denke, dies wäre hier das schwächste Element — könnten die Bedingungen für eine Art Öko-Rebellion schaffen. Es gibt immer Gegenreaktionen und Gegenreaktionen auf die Gegenreaktionen, daher ist es schwierig vorherzusehen, wie es sich gestalten wird. Aber es wäre eine sehr interessante Entwicklung.

imagination Welche Rolle spielen utopisches und dystopisches Denken bei der Gestaltung unserer Zukunft? J a c k s o n Ich denke, beide sind recht wichtig. Aber keines von ihnen ist unproblematisch. Sie sind keine Ziele um ihrer selbst willen. Man sollte sich und seine Imagination nicht zu sehr darin verlieren, sie sind nur Leitsterne, um eine Route durch weitgehend unbekanntes Terrain aufzuzeigen und unterschiedliche mögliche Zukünfte ansteuern zu können. Ich denke, das ist ihre Aufgabe. Brinzanik

H ü l s w i t t Ich habe kürzlich Lady Chatterley gelesen. Es ist eine Liebesgeschichte, aber auch eine Geschichte über die Liebe zur Natur und eine fundamentale Gesellschaftskritik. Und es gibt eine Szene, in der Lady Chatterley in die nächste Bergarbeiterstadt fährt, sie schaut aus dem Wagenfenster und sieht: »Der Schlamm schwarz von Kohlenstaub, die Bürgersteige feucht und schwarz. Es war, als hätte die Düsternis alles durchtränkt.« Es war eine Ahnung, die der Autor, D. H. Lawrence, offensichtlich hatte, als er eine Landschaft und Städte betrachtete, die durch die Industrialisierung entstellt waren, dass diese Entstellung völlig unrecht war. Könnte eine solche Intuition ein vertrauensvoller Leitfaden sein, oder eher nicht? J a c k s o n Hätten wir es anders tun können, hätten wir einige der Vorteile der damaligen Technologien ohne die enormen Nachteile und großen Risiken erreichen können? Ich vermute, in gewisser Hinsicht ist Lawrences Reaktion auf die Bergbaustädte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, diese intuitive Reaktion, nützlich als Orientierungshilfe. Es ist eine Erkenntnis, dass wir unseren Nutzen mit enormen Kosten vermischen. Und es gibt Unmengen von Literatur zu diesem Thema, Menschen, die den Gang der Entwicklung seit der Industriellen Revolution kritisch betrachtet und auf einer anderen Vorstellung dessen beharrt haben, was es bedeutet, Mensch zu sein. Und das ist für mich, was Literatur vermag. Sie speichert diese Möglichkeiten, auf andere Art Mensch zu sein. Sie erforscht, was durch den sogenannten gesellschaftlichen Fortschritt geschieht. Und sie stellt sehr legitime Fragen darüber, ob es sich tatsächlich um Fortschritt handelt und was die Entwicklung des menschlichen Herzens sein sollte. Einigen Elementen dieser kulturellen, künstlerischen Antworten sollten wir als Einblick in unser Befinden trauen.

Der Philosoph Peter Sloterdijk schreibt, dass eine der Auswirkungen der gegenwärtigen Umwelt- und Klimakrise ein neues Zeitalter des materiellen Minimalismus sein könnte, das er »ökologischen Puritanismus« nennt. Denken Sie, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts könnte ein hedonistisches Intermezzo gewesen sein, nach dem wir wieder zur Bescheidenheit zurückkehren? J a c k s o n Meine Forschungsgruppe hier an der Universität Surrey hat sich eingehend mit Menschen beschäftigt, die sich bewusst in dieser materiellen Bescheidenheit üben. Selbstauferlegte Einfachheit, nachhaltige Lebensentwürfe und diese Art von Initiativen auf privater oder lokaler Ebene sind äußerst interessant, denn sie entwerfen eine Gegenkultur. Es gibt einige faszinierende Hinweise darauf, dass Menschen, die so leben, ein nachweislich größeres Wohlbefinden zeigen. Doch sind die Verhältnisse derart, dass dieser Lebensstil sich auf breiter Ebene von alleine entwickelt? Mein Gefühl sagt mir, eher nicht, denn die Umstände sind momentan zu schwierig. Wenn man sich diese Initiativen anschaut, sieht man, dass die Menschen, die sich auf diese Gegenkultur einzulassen versuchen, kontinuierlich gegen den institutionellen Rahmen und die strukturellen Bedingungen ankämpfen, die man ihnen auferlegt. Könnte dieser Lebensstil aber die Zeit überdauern und in nachhaltigkeitsErscheinung treten, sobald sich die Gegebenheiten ändern, transformation entweder zwangsweise oder durch gesellschaftlichen Wandel? B r i n z a n i k Befinden wir uns heute, historisch betrachtet, nach Ich denke, ja. der Neolithischen und der Industriellen Revolution in einem Übergang in eine neue Ära der Nachhaltigkeit? H ü l s w i t t Halten Sie es für möglich, dass es zu irgendeinem J a c k s o n Wenn wir den sozialen Wandel hin zu einer robusZeitpunkt so etwas wie eine von Ungeduld angetriebene Öko-Reteren Gesellschaft mit einem ökologischen Gewissen vollziebellion geben wird? hen wollen, ist dies das Ausmaß an Revolution, das wir brauJ a c k s o n Von Menschen, von Ungeduld, ja. Ich denke, es gibt chen. Können wir bereits eine Transformation in auch nur anBedingungen, unter denen das tatsächlich geschehen könnte. nähernder Größenordnung beobachten? Ich fürchte nein. Als Konsequenz dessen, was in Japan geschehen ist, werden wir Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von C h r i s t i n e R e n n e r t , ein ausgesprochenes Unbehagen an der Nukleartechnik erleben, R o m a n B r i n z a n i k und To b i a s H ü l s w i t t . und somit fällt sie als Ausweich-Technologie für fossile Ener- roman brinzanik, tobias hülswitt: werden wir die B r i n z a n i k Brauchen wir nicht ein gewisses Wachstum des Brutgiequellen weg. Dies vollzieht sich auf der Basis sehr schwer erde retten? — gespräche über die zukunft von toinlandsproduktes, nicht nur aufgrund des Geldsystems und um kontrollierbarer öffentlicher Wahrnehmungen und Reaktio- technologie und planet ca. 300 Seiten ca. 12 Euro ISBN: 978die bereits bestehenden Schulden zu begleichen, sondern auch nen. Hier haben wir also Umstände, die ein Gefühl der Öko- 3-518-26040-1 edition unseld Suhrkamp Verlag Berlin Erscheinungsfür notwendige Investitionen in die kostspielige Entwicklung und Rebellion schüren könnten. Sie müssten einhergehen mit ei- termin: 12.12.2011 Medienpartner der Veranstaltungsreihe: DRadio Wissen Umstellung auf umweltfreundliche und andere Technologien? nem weiteren Ölschock, den wir vielleicht momentan durch und Deutschlandradio Kultur. Brinzanik

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der komet der literatur Vor zweihundert Jahren starb der Dichter Heinrich von Kleist. Im Gedenken daran wird in Deutschland das Jahr 2011 als K l e i s t - J a h r gefeiert. Die Kulturstiftung des Bundes fördert dazu mit 2,1 Mio. Euro vielfältige Projekte und Veranstaltungen. Den Abschluss bildet ein Theaterfestival im Maxim Gorki Theater Berlin vom 4. bis 21. November 2011, Kleists Todestag, bei dem alle Dramen des Dichters einschließlich des R o b e r t G u i s k a r d - Fragmentes aufgeführt werden. Der ungarische Schriftsteller László F. Földényi, ein Bewunderer und versierter Kenner von Kleists Werk, würdigt den jung verstorbenen Dichter als Ausnahmepersönlichkeit der Literaturgeschichte. Wo ich sein Werk auch aufschlagen mag, K leist trifft mich wie ein Stromschlag. Wenn man sich im Mittelalter etwas prophezeien lassen wollte, öffnete man die Bibel oder Vergils A e n e i s und zeigte mit geschlossenen Augen auf irgendeine Zeile. Die Bedeutung dessen, was man dort las, wurde niemals angezweifelt. Ich will nun, während ich diese Zeilen schreibe, dasselbe mit Kleist versuchen. Ich will mir nicht prophezeien lassen, ich will wissen, ob ich wirklich einen Stromschlag verspüre. Ich schlage den zweiten Band der letzten Kleist-Ausgabe von Sembdner auf, und mein Zeigefinger hält auf der Zeile: »Sie wandte sich, und hob ihr Jüngstes auf, das hinter ihr auf dem Boden spielte ...« Der Satz, genauer Satzteil, stammt aus M i c h a e l K o h l h a a s und setzt sich noch fort, und zwar immer verschlungener: »... Blicke, in welchen sich der Tod malte, bei den roten Wangen des Knaben vorbei, der mit ihren Halsbändern spielte, auf den Roßkamm, und ein Papier werfend, das er in der Hand hielt.« Es ist Lisbeth, die Frau von Kohlhaas, die ihren Mann so anschaut, als sie erfährt, dass er, ohne sie vorher davon unterrichtet zu haben, seinen Besitz zu verkaufen beabsichtigt. Aber nicht nur der Blick der Frau bedroht in diesem Moment den Mann, auch die Sprache steht am Rand des Abgrundes. Noch ein untergeordneter Satz, noch ein Verb oder Adjektiv, und das Ganze würde in Unverständlichkeit ausarten. Es balanciert ohnehin schon am Rand des Verständlichen und Erträglichen. Und stürzt doch nicht ab. Schließlich trifft der Satz mit der Genauigkeit einer Gewehrkugel ins Ziel. Er ist tödlich genau, genauso tödlich wie die Blicke der Frau. Und genauso versengend. Er verbrennt nicht den Sinn, nicht die Verständlichkeit, sondern das An-den-Dingen-Vorbeireden, die Höflichkeitsfloskeln. Deshalb lässt sich trotz der Komplexität des Satzes keinen Augenblick von Umständlichkeit sprechen. Wie auch Kleist nie umständlich war — was nicht heißt, dass er unkompliziert gewesen wäre. Dieser beliebig gewählte Satz ist wie Kleists ganzes Werk. An welcher Stelle man es auch aufschlägt, auf welchen Satz man auch zeigt, nie findet man ein überflüssiges Wort. Als hätte Kleist im Voraus gewusst, dass ihm nur ein kurzes Leben beschieden sein würde: Er machte keine Zugeständnisse, schloss keine Kompromisse mit der Allgemeinverständlichkeit. Er hörte ausschließlich auf das, was ihn im Innersten bewegte. Deshalb lodert die Leidenschaft auch in seinen kältesten, berechnendsten Sätzen noch mit höchster Intensität. Und er lässt nie zu, dass sie erlischt. Das verleiht seinen Sätzen, aber auch den Handlungen seiner Geschichten ihr dichtes Gewebe. Alles daran ist versengend. Als Gegenprobe genügt es, ein Wort oder auch nur eine Komma, einen Gedankenstrich auszustreichen. Der Satz bricht kraftlos in sich zusammen. Kleists Herausgeber strichen die vermeintlich überflüssigen Kommata, Strichpunkte und Gedankenstriche zu Hunderten aus. Die Geschichten blieben zwar verständlich, aber sie

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wirkten wie Papier, das man seines Wasserzeichens beraubt hatte. Sie verloren ihre Spannung. Als hätte man sie glattgebügelt. Sie begannen, den Erzählungen Fontanes oder des jungen Thomas Mann ähnlich zu werden. Nicht als ob die in ihrer Art nicht vollkommen wären. Aber sie ähneln einander. Ihnen ist gemeinsam, dass nicht Kleist sie geschrieben hat. Kleist ähnelt nämlich niemandem sonst. Im Vergleich zu ihm bilden die anderen Schriftsteller ein großes Heer — das Heer der Literaten. Kleist steht außerhalb dieses Heeres. Manch ein zeitgenössischer Kritiker bezweifelte sogar, ob man bei ihm überhaupt von einem Schriftsteller sprechen konnte. Wenn die Literatur ein riesiges Planetensystem darstellt, in dem das Gesetz der Gravitation alle Planeten, und mögen sie noch so unterschiedlich sein, in einer festgelegten Bahn hält und kein Ausscheren aus ihrem harmonischen Zusammenspiel erlaubt, dann ist Kleist mit einem Kometen vergleichbar. Auch ein Komet hat eine streng bemessene Bahn — aber er richtet sich nach nichts anderem. Er beschreibt seine eigene Bahn, bis er schließlich verglimmt. Sein Anblick verursacht begreiflicherweise stets größere Aufregung als der von Planeten. Natürlich gibt es auch viele Kometen; aber sie sind alle einsam, einmalig, besonders. Wie Kleist. Oder Kafka. Oder Trakl. Woher diese schreckliche Spannung? Ich denke, dass Kleist etwas Großes vorhatte. Er wollte zwei fundamental unterschiedliche, unvereinbare Ziele miteinander in Einklang bringen. Einerseits versuchte er wie Goethe zu schreiben, die Welt als ein großes Ganzes festzuhalten, das Ganze zu erfassen. Er wollte dasselbe wie sein Zeitgenosse Hegel: Ganzheit erlangen, Werke schreiben, in denen alles enthalten ist. Ihm schwebte die Totalität vor. Wie dem Kurfürsten in P r i n z F r i e d r i c h v o n H o m b u r g . Er war sich andererseits aber auch im Klaren darüber, dass das Denken im großen Ganzen, in der Totalität einen schrecklichen Preis hat. Der Teil, das Einzelne wird im Getriebe der Totalität meist zu einem Krümel, geht verloren, löst sich in etwas anderem auf, wird zermahlen, verliert sein Recht auf Endgültigkeit. Kleist war mit jeder Faser seines Herzens bestrebt, dem Individuellen, dem Zerbrechlichen, dem Flüchtigen ihr endgültiges, unveräußerliches Recht zukommen zu lassen. Er bestand darauf, dass Homburg genauso Recht bekommt wie der Kurfürst. Er versuchte dem Augenblicklichen Endgültigkeit zu verleihen. Sein Schaffen stand im Bann des Ganzen, sein Interesse hingegen galt ganz und gar dem Teil, dem Einzelnen, dem Persönlichen, dem Individuellen, dem Unwiederholbaren. Er wollte die Ordnung und das Außerordentliche so miteinander in Einklang bringen, dass dabei beide unbeeinträchtigt blieben. Aus der Perspektive Goethes oder Hegels betrachtet untergräbt, zertrümmert Kleist alles. Er ist der Terrorist der Literatur. Goethe fand Kohlhaas »beängstigend« und Kleist als Person natürlich ebenso. Für Kleist hingegen muss Goethes Bemühen am beängstigendsten gewesen sein, alles

mit allem zu versöhnen. »Versöhnungsgeschäft«. Kleist selbst erfand dieses schreckliche Wort in seiner Erzählung Da s E r dbe be n i n Ch i l i . Vielleicht hatte er dabei Goethe im Sinn, der — wenn auch lange nach Kleists Tod — in seiner Schrift N a c h l e s e z u A r i s t o t e l e s ’ P o e t i k (1826) — Katharsis mit »aussöhnende Abrundung« übersetzte. Nichts stand Kleist ferner. Goethe oder Hegel mögen Kleist wie Friedensrichter vorgekommen sein. Wie Adam in D e r z e r b r o c h n e K r u g . Jene dagegen erblickten in Kleist vermutlich einen KamikazeFlieger. Mehr Glück hatte Kleist aber auch mit der Gegenseite nicht. Den Romantikern mochte es ein Dorn im Auge gewesen sein, dass Kleist stets alles abschließen, zu Ende führen, stets irgendeine Lösung finden wollte. Es wäre ihm gar nicht eingefallen, mit Bruchstücken zu experimentieren; er hatte spätestens während seiner Kant-Krise, die für ihn die Schwelle zur Schriftstellerlaufbahn bedeutete, gelernt, stets nach dem Maximum zu streben — aus allem irgendeine Gewissheit herauszuquetschen, auch um den Preis, dass alles andere unter diesem Willen litt oder gar zugrunde ging. Selbst die schreckliche Geschichte des Michael Kohlhaas drehte und wandte er so lange, bis seinem Helden das versöhnende Wissen zuteilgeworden war, dass es sehr wohl eine Gewissheit gab — und so fehlt denn auch das HappyEnd nicht. Wen kümmert es schließlich, dass Kohlhaas hingerichtet wird, wenn es ihm selbst nichts ausmacht: Nichts glich »der Ruhe und Zufriedenheit seiner letzten Tage«. Dort, wo infolge des radikalen Charakters seiner Figuren alles explodieren müsste, rettet Kleist die Situation (D i e M a r q u i s e v o n O . . . , P r i n z Friedrich von Homburg, Das K äthchen von Heilbronn, Die Hermannsschlacht). Aber selbst dort, wo er die Ereignisse ausarten lässt, sorgt er noch dafür, dass den Leser oder Zuschauer am Ende eine tiefe Ruhe überkommt (Di e Fa m i l i e Sc h rof f e ns t ei n, P ent hesi l e a , D i e Ve r l obu ng i n St. D om i ngo, D e r F i n d l i n g ). Womöglich ist A m p h i t r y o n sein einziges Werk, das er offen enden lässt. Aber wer weiß. Man kann Alkmenes letzten Seufzer — »Ach!« — auch als einen Aufschrei verstehen, in dem das Universum als G a n z e s in B r u c h s t ü c k e zerfällt. Es gibt nur das Ganze — während es doch nur das Fragment gibt. Kleist vereinte das Feuer und das Wasser und löste damit ein, was der alte Wieland von ihm erhofft hatte: dass er jenen leeren Platz einnehmen möge, den nicht einmal Goethe oder Schiller hatten ausfüllen können — das schmerzhafte Fehlen der Griechen oder eines Shakespeare in der deutschen Literatur. Mit persönlicher Abneigung allein ist Goethes grundsätzlich negative Meinung über Kleist nicht zu erklären. Viel eher schon mit seinem untrüglichen Sinn für Qualität. Er wusste genau, wer Kleist war. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass nur ein Shakespeare oder ein Racine ähnlich wie Kleist in der Lage waren, sowohl die

von lászló f. földényi Ganzheit unablässig im Blick zu behalten als auch ihre ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten, die zerbrechlichen Einzelheiten zu hüten. Kleist war ein Komet, der am liebsten das Kreisen des ganzen Sonnensystems nach seiner eigenen außergewöhnlichen Bahn gerichtet hätte. L á s z l ó F . F ö l d é n y i , geboren 1952 im ungarischen Debrecen, arbeitet als Schriftsteller und Kunsttheoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer. Er lehrt an der Universität Budapest und zählt zu den bedeutendsten Intellektuellen seines Landes. Er übersetzte Stücke zeitgenössischer Dramatiker, unter anderem von Edward Bond, Max Frisch und Heiner Müller, in das Ungarische und ist Mitherausgeber einer ungarischen Ausgabe der Werke Heinrich von Kleists. Für seine kunstphilosophischen, literatur- und kulturgeschichtlichen Werke erhielt er zahlreiche Preise. Kürzlich (September 2011) veröffentlichte Matthes & Seitz Berlin sein Buch S t a r k e A u g e n b l i c k e . Die Übersetzung aus dem Ungarischen stammt von A k o s D o m a .

zum 200. todestag kleists veranstaltet das Maxim Gorki Theater Berlin vom 4. bis 21. November 2011 ein Festival, bei dem sich in über 20 Premieren und weiteren Veranstaltungen Künstler aus den unterschiedlichsten Bereichen mit Kleist beschäftigen. Neben den Inszenierungen des Maxim Gorki Theaters Der zerbrochne Krug, Penthesilea, Amphitryon und Prinz Friedrich von Homburg werden Der Krieg mit dem Fragment Robert Guiskard und Die Hermannsschlacht, zwei Gastspiele der Münchner Kammerspiele in der Regie von Armin Petras nach Berlin kommen. Festival-Premiere hat Die Familie Schroffenstein in der Regie von Antú Romero Nunes, zur Eröffnung des Festivals feiert Das Käthchen von Heilbronn in der Regie von Jan Bosse Premiere. Der Kleistspezialist László F. Földényi begleitet das gesamte Festival mit einer Gesprächs- und Vortragsreihe zu Kleists Leben, seinen Werken und ihrer Rezeptionsgeschichte. Der hier veröffentlichte Beitrag Der Komet der Literatur erscheint auch im Programmheft zum Kleistfestival [mehr Informationen unter www.gorki.de]. Während des Kleistfestivals am Maxim Gorki Theater Berlin wird ein Hörspiel-Parcours, ein akustisches KleistDenkmal in der Regie von Paul Plamper, am Kleinen Wannsee installiert, wo Kleist gemeinsam mit Henriette Vogel in den Tod ging. Der Parcours beginnt an der Ausgabestelle für Kopfhörer und Audioplayer am S-Bahnhof Wannsee, Premiere ist am 11. November, 15 Uhr. Zu hören sind die Vernehmungsprotokolle zu den Todesfällen sowie die letzten Briefe, in denen hastig notierte Aufträge an die Nachwelt neben seltsam euphorischen Abschieden stehen. — »… in dieser Stunde, da unsere Seelen sich, wie zwei fröhliche Luftschiffer, über die Welt erheben ...« Die Kulturstiftung des Bundes fördert das akustische Kleist-Denkmal über eine Laufzeit von fünf Jahren.


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dauerstreit um israel Zwanzig Jahre nach dem Holocaust verschrieb sich Axel Springer (1912–1985) einer pro-israelischen Haltung, die ein persönliches Anliegen für ihn wurde. Wie kam er dazu und wie war seine Haltung zu Israel und den Juden? Die Kulturstiftung des Bundes fördert die Ausstellung B I L D D i r D e i n Vo l k — A x e l S p r i n g e r u n d d i e J u d e n, die diesen Fragen nachgeht. Die Ausstellung behandelt das deutsch-israelische Verhältnis, wie es aus der Perspektive der größten deutschen Boulevard-Zeitung thematisiert worden ist. Die BI L D -Zeitung hat einen Prozess beschleunigt, so die These der Ausstellung, der bis heute zu den bemerkenswertesten Vorgängen der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört: Die deutsche Bevölkerung, die zwischen 1933 und 1945 die radikalste antisemitische Politik bis hin zur Vernichtung erlebt und betrieben hat, scheint ihre Einstellung gegenüber Juden sukzessive geändert zu haben. Springers Philosemitismus war aber nicht zuletzt den Linken der 68er Generation ein Dorn im Auge. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar beleuchtet im Folgenden die ideologischen Konstellationen einer prekären Gegnerschaft zwischen dem Medienmogul und der linken Polit-Szene.

In der Rangliste linker Hassobjekte rangiert der vor einem Vierteljahrhundert verstorbene Verleger Axel Springer immer noch ziemlich weit oben. Das hängt nicht nur, aber auch — und zwar nicht zuletzt — mit dessen Verhältnis zu Israel, dem Judentum und den Juden insgesamt zusammen. Als die RAF im Mai 1972 in Hamburg einen Bombenanschlag auf das Springer-Hochhaus verübte, wurde das unter anderem damit begründet, dass der Verleger »seine propagandistische und materielle Unterstützung für den Zionismus — die imperialistische Politik der herrschenden Klasse Israels« einstellen solle. Verfasserin der Botschaft war die Ex-Journalistin und von nicht wenigen immer noch als linke Ikone angesehene Ulrike Meinhof. Es kann nicht überraschen, dass bereits damals erhebliche Anstrengungen unternommen worden sind, Springer als insgeheimen Nazi und Antisemiten zu entlarven. Insbesondere in jenem Teil der außerparlamentarischen Linken, der sich mit der DDR als dem vermeintlich antifaschistischen Staat identifizierte, wurde mit einem nicht unerheblichen Aufwand versucht, braune Flecken in Springers Biografie ausfindig zu machen. So schrieb etwa der spätere Kabarettist Martin Buchholz 1970 im B e r l i n e r E x t r a - D i e n s t in höhnischem Tonfall: »Der bundesrepublikanische Chef-Wiedergutmacher, der sich schon 1933 mit Hakenkreuz-Armbinde und NSKK-Uniform als strammer JungNazi ablichten ließ, ist in philosemitischen Enthusiasmus verfallen, seit die Israelis 1967 den Deutschen zeigten, wie man auch ›mit unseren Arabern‹ fertigwerden kann.« Auf dem Titelbild wurde der Leserschaft obendrein gezeigt, wie der 21jährige unter den Mitarbeitern der B e r g e d o r f e r Z e i t u n g als einziger in NS Uniform zu sehen ist. Aber dieser Eindruck täuscht. Denn Springer war, nach allem, was bislang über seine Biografie bekannt geworden ist, weder ein Nazi noch ein Antifaschist, am ehesten war er ein Unpolitischer. Allerdings scheint er — wie etwa die Fälle des ehemaligen SS -Sturmbannführers Giselher Wirsing und des völkisch eingestellten, langjährigen We lt -Chefredakteurs Hans Zehrer beweisen — keinerlei Bedenken gehabt zu haben, ehemals überzeugte Nazis und Antisemiten in Organen seines Verlags schreiben zu lassen oder gar sie einzustellen und ihnen wichtige Aufgaben anzuvertrauen. Das mag zu Bedenken Anlass geben, berechtigt aber nicht dazu, Springer zum Objekt der eigenen Vorurteilsbildung zu missbrauchen und über ihn Pauschalurteile zu fällen.

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Von dem einstigen Bundespräsidenten Gustav Heinemann stammt der bedenkenswerte Satz, wer mit ausgestrecktem Zeigefinger auf jemanden deute, der solle immer daran denken, dass in derselben Hand zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen würden. Dieser Gedanke könnte vielleicht auch für das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Axel Springer, seinem Verlag und dessen Publikationen auf der einen und der Linken auf der anderen Seite Gültigkeit besitzen.

I.

Das Wort Antisemitismus ist zweifelsohne eine scharfe Klinge. Aus naheliegenden Gründen gilt das für Deutschland mehr als für jedes andere Land. Wer hier als Antisemit entlarvt werden kann, der ist in der Öffentlichkeit so gut wie erledigt. Um einen derartigen Vorwurf nicht nur vorbringen, sondern ihn auch aufrechterhalten zu können, bedarf es jedoch einer eindeutigen, möglichst unwiderlegbaren Klarheit der Fakten. Doch genau daran mangelt es häufig. Wenn erst einmal — wie zuletzt im Zusammenhang mit einer Partei, die die Stirn hat, sich usurpatorisch als »Die Linke« zu bezeichnen — ein Streit um einen tatsächlichen oder vermeintlichen Antisemitismus ausgebrochen ist, dann stellt sich nur allzu oft der Eindruck eines Unbehagens ein. Was stimmt an dem vom Zentralrat der Juden vorgebrachten Vorwurf, in dieser Partei würde ein »geradezu pathologischer, blindwütiger Israel-Hass« ausgelebt? Eine Reihe von Indizien, die eindeutig in diese Richtung gehen, sind gewiss nicht von der Hand zu weisen. Die Bundestagsabgeordnete der ›Linken‹, Inge Höger, war etwa auf einer Palästina-Konferenz mit einem Schal aufgetreten, auf dem eine Karte des Nahen Ostens abgebildet war, in der es kein Israel mehr gab. Und der Duisburger Kreisverband der Partei hatte auf seiner Homepage zu einem Boykott israelischer Waren aufgerufen und zudem ein Logo verbreitet, in dem der Davidstern eine Symbiose mit dem Hakenkreuz eingegangen war. Reicht das jedoch aus, um behaupten zu können, dass in der aus einem Zusammenschluss von PDS und WASG hervorgegangenen Organisation israel- und judenfeindliche Positionen »innerparteilich immer dominanter« würden? Das jedenfalls ist das Ergebnis einer von zwei Sozialwissenschaftlern der Universitäten Gießen und Leipzig verfassten Studie. Könnte das aber nicht nur Munition für den ohnehin üblichen Streit zwischen Parteien

von wolfgang kraushaar

sein, die einen unliebsamen Konkurrenten auf Distanz halten wollen? Der Antisemitismusvorwurf eingesetzt als probates Mittel der Diskreditierung? In der jüngeren Vergangenheit ist sogar von einem »alarmistischen Anti-Antisemitismus« gesprochen worden. Gemeint ist damit, dass das, was er zu bekämpfen vorgibt, überhaupt erst konstruiert werde. In Schutz genommen werden sollen damit offenbar vor allem Exponenten der Linken. Während Alarmsignale in Richtung auf die Rechte durchaus angemessen seien, lautet die kaum kaschierte Botschaft, wären sie auf Seiten der Linken unangebracht. Im »Anti-Antisemitismus« würde sich häufig nichts anderes als ein Alarmismus äußern, nach Möglichkeit in jedem x-beliebigen Fall Alarm zu schlagen. Im Grunde gehe es nicht nur darum, ein ubiquitäres Feindbild zu konstruieren, sondern damit letztlich einen Popanz aufzubauen. Diese Haltung ist von jener nicht sonderlich weit entfernt, mit der Martin Walser 1998 bei seiner denkwürdigen Dankesrede für den F r i e d e n s p r e i s d e s D e u t s c h e n B u c h h a n d e l s in der Paulskirche hervorgetreten war. Er sprach damals von der »Auschwitz-Keule«, mit der angeblich auf die Deutschen eingeprügelt werde. Ignatz Bubis, der seinerzeitige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatte den Preisträger deshalb als »geistigen Brandstifter« beschimpft und damit — obwohl er diesen Vorwurf schon bald darauf zurückzog — eine Debatte über die Maximen einer Erinnerungs- und Gedenkkultur in Deutschland ausgelöst.

II.

Doch wie definiert sich linker Antisemitismus und woran lässt sich seine Virulenz erkennen? Wie lauten die Kriterien, um die Virulenz eines als linker Antisemitismus klassifizierten Phänomens bestimmen zu können? Einerseits geht es ja um eine objektivierbare Vorurteilsstruktur, andererseits aber um deren Verdecktheit — ein Phänomen, das zumeist nicht unmittelbar, sondern häufig nur indirekt und undeutlich hervortritt. Die Diagnose wird nicht zuletzt zu einer hermeneutischen Aufgabe. Wie lässt sich den naheliegenden ideologischen Fallstricken entgehen und analytisch größere Klarheit gewinnen? Diese Frage zielt vor allem auf das Verhältnis von Implikation und Explikation ab. Und dahinter wiederum steht das Problem der Entkoppelung von Begriff und

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das prekäre verhältnis zwischen axel springer und der linken von

Begriff und Phänomen, der tendenziellen Entgrenzung des Begriffsgebrauchs und der Gefahr pauschalisierender Schlussfolgerungen. Kritik an einer Nation ebenso wie an der Gründungsidee zum Aufbau einer Nation mag legitim erscheinen, zumal dann, wenn dieser Prozess vor allem auf Kosten der dort ansässigen Bevölkerung — in diesem Fall den Palästinensern — gegangen ist und noch immer geht. Die Gegner- bzw. Feindschaft gegenüber Israel, den Juden inner- wie außerhalb Israels sowie dem Judentum in seiner Gesamtheit erfüllt dagegen die Kriterien für eine klassische Vorurteilsbildung. E n t s c h e i d e n d i s t d e s h a l b e i n e g e n a u e r e B e s t i m m u n g d e s Ve r h ä l t n i s s e s v o n A n t i z i o n i s m u s u n d A n t i s e m i t i s m u s . Insbesondere ist zu fragen: Verbirgt sich im Antizionismus nur ein politisch ummäntelter Antisemitismus? Und wenn ja: Wie hoch ist der Grad an Antisemitismus, der sich im Antizionismus versteckt? Das Hauptaugenmerk muss deshalb darauf gelegt werden, diese Relation genauer auszuloten. Die seitens verschiedener Strömungen der Linken immer wieder verwendete Verteidigungsformel lautet: Antizionismus als solcher sei legitimationsfähig und nicht, jedenfalls nicht umstandslos — wie das der Lyriker Erich Fried bereits 1973 angemahnt hat — mit Antisemitismus gleichzusetzen. Die sich als antiimperialistisch begreifende Linke dürfe sich, wird immer wieder betont, das Recht auf eine grundlegende Kritik am Staat Israel und dessen Wurzeln in der zionistischen Ideologie nicht nehmen lassen. Und wer dennoch behaupte, dass der Antizionismus mit dem Antisemitismus gleichgesetzt werden könne, der führe — wie von der SpringerPresse immer wieder vorgemacht — nichts anderes im Schilde, als die Linke zu diskriminieren. So lautet im Übrigen auch der Vorwurf gegenüber der Partei gleichen Namens. Wie weit handelt es sich dabei nun aber um das Insistieren auf einer sachlichen Differenz oder aber nur um eine wortreich in Szene gesetzte Camouflage? Der vor wenigen Monaten im Alter von über hundert Jahren verstorbene niederländische Psychoanalytiker Hans Keilson hat dazu eine ganz eindeutige Haltung. F ü r ihn ist die Unterscheidung z w ischen A nt isemit ismus und A nt izionismus nichts a nderes als eine ling uistische Finte, eine A rg umentationsfalle, die vor allem dazu diene, Aggressionspotentiale bei Ausk lammer ung des tabuis i e r t e n Wo r t e s » J u d e « b z w . » j ü d i s c h « p o l i t i s c h ausbeuten zu können. Die Tatsache, dass es so lange gebraucht hat, bis überhaupt möglichen Zusammenhängen zwischen Antizionismus und Antisemitismus nachgegangen worden ist, liegt vermutlich darin begründet, dass die Linke geglaubt hat, durch ihre antifaschistische Gesinnung antisemitischen Tendenzen gegenüber per se gefeit zu sein. Der Schriftsteller Gerhard Zwerenz war seinerzeit sogar davon überzeugt, wie er 1976 in der Wochenzeitung D i e Z e i t postulieren durfte, dass sich Antisemitismus und Linkssein kategorisch ausschließen würden. Der Publizist Henryk M . Broder war einer der ersten, der auf diese politische Lebenslüge hingewiesen hat. Die gesellschaftliche Wirksamkeit antisemitischer Stereotypen beschränkt sich gerade nicht auf bestimmte politische Lager. Sie tauchen in der Rechten wie der Linken und — wie nicht

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vergessen werden sollte — ebenfalls in der Mitte auf. Auch die beiden Volksparteien sind nicht gänzlich davor gefeit.

bürgen schienen, beabsichtigte man, sich gegen naheliegende Vorwürfe, dass es beim Antizionismus in Wirklichkeit um nichts anderes als die Wiederauferstehung des Antisemitismus gehe, immunisieren zu können. I m K e r n g i n g e s a b e r d a r u m , Israel das E x istenzrecht zu ver weiger n. Diese Ein Blick zurück kann zeigen, warum es in der alten Bundesre- We i g e r u n g s t e h t i n s g e h e i m i m Z e n t r u m a l l e r publik überhaupt zum antisemitischen Verdacht gegenüber Lin- Va r i a n t e n d e s A n t i z i o n i s m u s . ken gekommen ist. Das hängt vor allem mit einer historischen Zäsur zusammen, dem von Israel gewonnenen Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967, einem Krieg, von dem Springer später scherzhaft erzählte, dass er für sechs Tage aus den Blättern seines Verlages Rückblickend sind es mehrere Stationen gewesen, die im Laufe israelische Zeitungen gemacht habe, allerdings ohne sie auf heb- eines knappen Jahrzehnts, genauer in den Jahren von 1967 bis räisch erscheinen zu lassen, weil das dem Verkauf zu abträglich ge- 1976, einen grundlegenden Positionswandel markiert haben. Die wesen wäre. Danach, nach dem Juni 1967, erschien das Land, das antizionistische Ausrichtung bildete zunächst das einheitsbildenden Opfern des Holocausts mehr als nur Zuflucht geboten hatte, de und kontinuitätsstiftende Grundelement. Sie durchlief dabei vielen als Aggressor und Eroberer. Aus Opfern schienen nun plötz- aber ganz unterschiedliche Aggregatzustände. Sie ging zunächst lich selbst Täter geworden zu sein. Unter dem Eindruck dieses ge- von einer pauschalen Israel-Kritik im SDS aus, der einst wichtigswandelten Bildes hatte sich die Einstellung vieler Linker, insbe- ten Organisation der radikalen Linken, schälte sich innerhalb sondere aber des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes der Westberliner Subkultur als antijüdische Anschlagspraxis her(SDS ), Israel gegenüber schlagartig verändert. Die pro-israelische aus, manifestierte sich am 9. November 1969 im Bombenanschlag Haltung verschiedener linker Studentenorganisationen, die sich auf das Jüdische Gemeindehaus in der Form eines zwar missbis dahin in zahlreichen Kontakten, insbesondere Besuchsdele- glückten, aber offenbar doch intendierten Terroraktes, nahm mit gationen und Kibbuz-Aufenthalten, niedergeschlagen hatte und der RAF eine dauerhafte Kooperationsbeziehung mit strikt antizum Teil auch in Israel selbst jahrelang als Vorreiter für eine Po- israelisch eingestellten Terrorgruppen wie denen der Palästinenser litik der Aussöhnung verstanden worden war, wich genau in der an und rückte 1976 in Entebbe mit der von den Revolutionären Zeit, in der sich, ausgelöst durch die tödlichen Schüsse auf Benno Zellen im Zusammenhang mit einer Flugzeugentführung durchOhnesorg, eine bundesweite Studentenbewegung herauskristal- geführten Selektion jüdischer Geiseln in die Nähe des von den lisierte, einer mehr als nur kritischen, häufig grundsätzlich ableh- Nazis praktizierten eliminatorischen Antisemitismus. Als Axel nenden, sich mehr und mehr in einer einseitigen Parteinahme Springer, der sich genau zu dieser Zeit zufällig in Jerusalem auffür die Sache der Palästinenser manifestierenden Position. hielt, von dem geglückten israelischen Kommandounternehmen So wie mit dem SDS die Hochschulgruppe der SPD seit Anfang zur Befreiung der Geiseln hörte, ging er nachts um halb eins in der fünfziger Jahre eine Vorreiterrolle für die Wiedergutmachung die Lobby des K i n g Dav i d - H o t e l s und legte dort — nur der Nazi-Verbrechen am jüdischen Volk und die Anerkennung mit einem Schlafrock bekleidet — vor Erleichterung einen Freudes Staates Israel gespielt hatte, so nahm sie nun — nachdem sie dentanz hin. 1961 aus der Mutterpartei hinausgeworfen worden war — die Während sich zum einen das judenfeindliche Moment immer Aufgabe einer Avantgarde für die um staatliche Unabhängigkeit schärfer herauskristallisiert hatte, war das Bezugsfeld zunehmend kämpfenden Palästinenser wahr. Für den Positionswechsel gab es geschrumpft. So verbreitet die Israel-Kritik und der Antizioniszwei vordergründig rationalistische Argumentationsfiguren: Die mus als Weltanschauung einerseits auch waren, so wollten andeKritik an dem in der frühen Bundesrepublik besonders ausgepräg- rerseits doch nur wenige mit unmittelbaren Angriffen auf Juden ten Philosemitismus als einer bloß reaktiven Antwort auf den und Anschlägen auf jüdische Einrichtungen etwas zu tun haben. Antisemitismus und die Einbeziehung Israels, das immer aus- Je mehr sich der antijüdische Kurs verfestigte, umso stärker isolierschließlicher als machtpolitischer Vorposten der USA im Nahen ten sich deren Protagonisten. Gerade weil sich der Antizionismus Osten angesehen wurde, in die klassische Imperialismuskritik der nicht in antisemitischen Formen einer auch weiterhin öffentlich Linken. agierenden Bewegung zuspitzen und funktionalisieren ließ, wurSeit dem Sommer 1967 lauteten die entsprechenden Stichworte de der Kern dieser judenfeindlichen Tendenz in den Untergrund zur Charakterisierung der israelischen Politik: Aggression und Ex- der sich in ihrer Formationsphase befindlichen bewaffneten Gruppansion. Zionismus wurde unter Abstrahierung von seinen his- pierungen abgespalten und vermochte sich dort in terroristischen torischen Entstehungsbedingungen mit Kapitalismus, Kolonia- Praxisformen zunehmend zu etablieren. lismus und Imperialismus gleichgesetzt. Das war eine an Eindeutigkeit kaum noch zu überbietende Feinderklärung an den Staat Israel und die dort lebenden jüdischen Bürger. Hier lag bereits in Grundzügen das Repertoire vor, das, mit einem marxistischen Wie lässt sich nun aber der radikale, im Sommer 1967 vollzogene Vokabular pseudo-theoretisch aufgeladen, mit dazu beigetragen Wandel von entschiedenen Israel-Befürwortern zu expliziten Israelhat, einen nur notdürftig ummäntelten linken Antisemitismus Gegnern sowie Parteigängern der Palästinenser und seine Zuspitmöglich werden zu lassen. Unter dem Schutzschild abstrakter Groß- zung neun Jahre später im Menetekel von Entebbe überhaupt erkategorien, die eine programmatische Herrschaftskritik zu ver- klären? Wie ist vorstellbar, dass aus erklärten Antifaschisten im

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Handumdrehen

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im

Handumdrehen überzeugte Antizionisten, wenn nicht gar Antisemiten werden konnten? Als rätselhaft muss vor allem ein doppelter Vorgang erscheinen: Zunächst die emphatisch vollzogene Hinwendung zu den Ländern der Dritten Welt und die damit einhergehende Glorifizierung nationalrevolutionärer Guerillaorganisationen, dann die Wahl des Nahostkonflikts als zentraler Krisenregion und die damit verbundene Identifikation mit den verschiedenen palästinensischen, als Befreiungsbewegungen idealisierten Terrororganisationen. Mit dieser doppelten Wahl wurden zwei Ausblendungen vollzogen: Zum einen die als tabuisiert angesehene Frage der deutschen Nation und zum anderen die für die deutsche Spaltung verantwortliche Blockkonfrontation zwischen Ost und West. Beide Aussparungen, die für das Selbstverständnis einer westdeutschen Linken hätten zentral sein müssen, haben ihre Wurzel in der NS -Vergangenheit und der auf den Trümmern des Nationalsozialismus errichteten Nachkriegsordnung. Sie waren offenbar so massiv, dass sie durch den Internationalismus im Allgemeinen und die Identifikation mit den Palästinensern im Besonderen überblendet werden mussten. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Korrelation zwischen Antiimperialismus und Antizionismus. Als 1972 etwa der RAF -Begründer Horst Mahler von einer »Symbiose zwischen Zionismus und Imperialismus« sprach, gab er Israel im Grunde zum Angriff frei. Zumindest in dieser Hinsicht kann es nicht verwundern, dass aus dem einstigen Linksterroristen später ein überzeugter Faschist hat werden können. Auf einer supranationalen Ebene ging es um die Herrschaft des Kapitals, die Ausbeutung und die Verfügung über das Geld. Mit Israel — so wurde suggeriert — habe die Figur des »Geldjuden« eine staatliche Form angenommen. Der jüdische Staat wurde nun als Statthalter des imperialistischen Systems im Nahen Osten betrachtet. Darin aber spiegelt sich das alte antisemitische Klischee wider — der jüdische Repräsentant des internationalen Kapitals hat danach einen Staat errichtet, um die Vormachtstellung des US -Imperialismus zu sichern und weiter auszubauen. Der Gedanke, dass der seit Gründung 1948 in seiner Existenz fortwährend bedrohte Staat Israel seine Verteidigung organisieren muß, hat hier keinen logischen Ort mehr. Der Topos vom »zionistischen Imperialismus«, der in seiner Wirksamkeit auf fatale Weise aktuell geblieben ist, erfüllt die Kriterien einer wahnhaften Ideologie. Unter dem vermeintlichen Schutz marxistisch-leninistischer Kategorien wird damit implizit an die antisemitischen Klischees der NS -Zeit angeknüpft und ein längst in Abrede gestellter Wirkungszusammenhang zwischen NS - und Nachkriegsgeneration wieder hergestellt. Bei alldem spielen psychologische Faktoren eine große Rolle. Die Solidarisierung mit den Palästinensern etwa bot jungen Deutschen die Möglichkeit, die Verbrechen des eigenen Landes entweder zu neutralisieren oder aber ganz zu überblenden. Je martialischer Israel bei seinen militärischen Aktionen in Erscheinung trat, umso leichter wurde es und ist es noch immer, das Land als solches als Aggressor abzustempeln und die Erinnerung an den Holocaust und die jüdischen Opfer in den Hintergrund zu drängen. Das alles hat für die Generationen der Nachgeborenen zweifellos eine entlastende Funktion. Daher ist es auch so verbreitet, Israel mit dem NS -Regime und sein Militär mit der Deutschen Wehrmacht

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oder gar der SS auf eine Stufe zu stellen. Im Zentrum der Palästinabegeisterung könnte so eine heimliche Selbstrechtfertigung stehen, nach dem Motto: Seht her, was in unserem eigenen Namen an Verbrechen begangen worden ist, kann so schlimm nicht gewesen sein, wenn das Land, das die Opfer des Holocausts als Kollektiv vertritt, selbst Verbrechen begeht. In der Psychoanalyse, die besonders eingehend Abwehrmechanismen, die dem Subjekt zur Bewältigung innerer Konflikte zur Verfügung stehen, untersucht hat, ist deshalb auch von einer Verschiebung die Rede. In ihrem Erkenntnismodell gehört die Abwehr zu den Ich-Funktionen. Mit ihr sollen unlustvolle und angsterzeugende Vorgänge aus dem eigenen Bewusstsein verbannt werden. Damit wird eine Auseinandersetzung mit den Ursachen eines Konflikts umgangen und notdürftig ein Gleichgewicht im Affekthaushalt hergestellt. Um sich etwa von Schuld- und Schamgefühlen zu entlasten, stehen dem Ich verschiedene Techniken wie Verdrängung, Verleugnung, Abspaltung, Projektion und eben Verschiebung zur Verfügung. Indem die von der Elterngeneration begangenen Verbrechen allein schon ihrer quantitativ wie qualitativ schier unermesslichen Dimension wegen die psychische Stabilität ihrer heranwachsenden Kinder gefährdeten, suchten diese zu einem Zeitpunkt nach Möglichkeiten, ihre Schuldgefühle auf andere abzuwälzen, als sie ihre eigenen Ich-Ideale ausbildeten. Eine in dieser Hinsicht einzigartige Gelegenheit bot sich Teilen der jungen Generation, als Israel in ihren Augen 1967 an den Palästinensern Unrecht beging. Damit konnte man dem Repräsentanten der Opfer etwas von jener Schuld aufbürden, die auf den Schultern der Eltern lastete und ihre Nachkommen so sichtlich überforderte. In der Figur der Palästinenser bot sich zugleich ein Objekt der projektiven Identifizierung. Sich an ihre Seite zu stellen war so etwas wie der geheime Garant der eigenen Entlastungsfunktion. Nicht umsonst hatte sich die damalige Neue Linke wie von einem inneren Magnetismus getrieben — als hätte es keine naheliegenderen Herausforderungen gegeben — auf den Nahostkonflikt kapriziert, sich mit den Palästinensern, insbesondere ihren aggressivsten Organisationen, identifiziert und die Wurzel aller aufgetretenen Probleme bei den Israelis diagnostiziert. So konnten unverarbeitete psychische Probleme zum Motor eines vermeintlich politischen Projekts werden. Beim vielbeschworenen Frieden im Nahen Osten dürfte es aus dieser Sicht wohl in erster Linie um den inneren Frieden deutscher Aktivisten gegangen sein.

VI.

Axel Springer war für die Linke — und ist es zum Teil noch immer — so etwas wie ihr Erzfeind. Er erschien wie eine negative Idealfigur des Establishments, mit dem vollständigen Wertekanon der 50er Jahre und einer überaus resistenten ›Heile Welt‹-Ideologie. In Springers Person bündelte sich all das, wogegen die radikale Linke in der Bundesrepublik war: der Antitotalitarismus, der ProIsraelismus, der Pro-Amerikanismus, das Festhalten an der deutschen Einigung und die Verteidigung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die Zerschlagung des von ihm geschaffenen Medienimperiums galt lange Zeit als Schlüssel dafür, die »Manipu-

lation« der lohnabhängigen Massen zu verhindern und sie statt dessen selbst zum Objekt einer revolutionär gesinnten Agitation machen zu können. In der linken Fantasie schien zwischen der politischen Apathie der Massen und ihrer klassenkämpferisch ausgerichteten Mobilisierung vor allem dieser zwar mächtige, von seinem Habitus her aber eher moderat eingestellte Mann zu stehen. Vor allem deshalb war er so verhasst. Doch es gibt bei allen Differenzen auch einige Punkte, die Springer auf eine eigentümliche Weise mit der einstmals radikalen Linken verbinden. Der SDS etwa war bis 1967 philosemitisch eingestellt und Axel Springer begann genau zum selben Zeitpunkt, sich diese Haltung zu eigen zu machen. Es war fast so, als habe er damit einen Staffelstab übernommen und ihn dabei nur von der linken in die rechte Hand gelegt. Und mit Rudi Dutschke ließ sich der unbestrittene Wortführer der damaligen APO, der kurz vor dem Mauerbau aus der DDR geflohen war, in seiner Gegnerschaft zur SED nur schwer überbieten. Hätte Springer damals geahnt, dass Dutschke ebenso wie er ein unerschütterlicher Verfechter der Wiedervereinigung Deutschlands war, dann wäre es vielleicht nicht ganz undenkbar gewesen, dass er ihn zu einem Gespräch eingeladen hätte und manches vielleicht etwas anders gelaufen wäre. Sein Sohn, der sich am Tag von Dutschkes Beerdigung das Leben nahm, hatte dessen Frau und Kinder zeitweilig sogar materiell unterstützt. So scheint es bei aller Gegnerschaft auch eine tragische Dimension zu geben, die untergründig verbindet. Und das gilt vielleicht auch für das Verhältnis zu Israel und den Juden. Wo l f g a n g K r a u s h a a r , geboren 1948, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik. Nach beruflichen Stationen u. a. im Verlag Neue Kritik und am Didaktischen Zentrum der Universität Frankfurt arbeitet er seit 1987 am Hamburger Institut für Sozialforschung, wo er unter anderem am Aufbau eines Archivs über P r o t e s t, Wi d e r s t a n d u n d U t o p i e i n d e r B u n d e s r e p u b l i k mitarbeitete. Aufgrund der Vielzahl seiner Publikationen zu Protestbewegungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR , der Totalitarismus- und Extremismustheorie sowie der Pop-Kultur und Medientheorie gilt Kraushaar als ein Chronist der 68er-Bewegung. 2010 erschien in der Hamburger Edition sein Buch Ve r e n a B e c k e r u n d d e r Ve r f a s sungsschutz.

bild dir dein volk. axel springer und die juden jüdisches museum frankfurt am main, 15.3.– 29. .2012 Weitere Informationen finden Sie unter www.fritz-bauer-institut.de


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künstler sind in der lage, dieselben ereignissequenzen in gang zu setzen wie politiker.

artur zmijewski im gespräch Seit 2004 fördert die Kulturstiftung des Bundes die B e r l i n B i e n n a l e als mit joanna einen kulturellen Leuchtturm mit jeweils 2,5 Mio. Euro pro Ausgabe. Die B e r warsza l i n B i e n n a l e ist ein Forum, das die jüngsten Entwicklungen für zeitgenös-

sische Kunst aufzeigt. Sie findet alle zwei Jahre an unterschiedlichen Orten in Berlin statt. Für jede Biennale wird ein anderer Kurator berufen, der den Dialog mit der Stadt Berlin, den dort lebenden oder produzierenden internationalen Künstler/innen und der Öffentlichkeit sucht. Für die 7. B e r l i n B i e n n a l e konnte der Pole Artur Żmijewski verpflichtet werden, der die polnische Kuratorin Joanna Warsza zur assoziierten Kuratorin berief. In diesem Gespräch mit ihr nimmt Żmijewski Stellung zum Verhältnis von Kunst und Politik, einem für sein Selbstverständnis und sein künstlerisches Schaffen zentralen Aspekt. J o a n n a W a r s z a Du gehörst zu den Künstlern, die sich nicht nur um sich selbst kümmern, sondern auch andere Künstler und die Kunstszene beobachten. Du veröffentlichst Interviews mit Künstlern, bist Künstlerischer Leiter der Zeitschrift K r y t y k a P o l i t y c z n a und Kurator der 7. Ber lin Bienna l e . Welche Ideale leiten dich? A r t u r Ż m i j e w s k i Ich habe mich immer schon mehr für die soziale oder politische Dimension von Kunst und die Effekte künstlerischer Arbeiten interessiert und mich gefragt, ob sich Menschen mittels der Sprache der Kunst in einen ideologischen oder religiösen Erregungszustand versetzen lassen. Könnten Künstler dieselben manipulativen Fähigkeiten erwerben wie Politiker? Wie kommt man an das heran, was menschliches Handeln bestimmt? Künstlerisches Handeln müsste einen performativen Charakter haben, das heißt, es müsste mit der Realität interagieren, die Realität müsste reagieren, sich wandeln und zu einem aktiven Teil des Prozesses werden.

Was verstehst Du unter K a r r i e r e ? Ż m i j e w s k i Karriere bedeutet berufliche Weiterentwicklung. Man schreitet voran, erwirbt Wissen und Fähigkeiten.

Wa r sz a

Das ist eine sehr idealistische Definition. Das ist die korrekte Definition dieses Begriffs. Es gibt die Größe der Kunst und es gibt die Armut in der Gesellschaft, dabei sind die Fähigkeiten einiger Künstler wirklich umwerfend.

Wa r sz a

Ż m i j e w s k i

Du bist Kurator der B e r l i n B i e n n a l e geworden, weil Du Kunst der Ideale wegen machst. Ż m i j e w s k i Die Privilegien, Profite oder die Autorität, die man aus einer solchen Position schöpfen könnte, entziehen sich meinem Verständnis. Das ist bei mir auf eine Art Autismus oder Soziopathie zurückzuführen. Ich bin nicht in der Lage,

Wa r sz a

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Netzwerke zu pflegen, gesellschaftliche Hierarchien und Machtlermilieu grundsätzlich nur in einer ›linken‹ Terminologie des strukturen nachzuvollziehen. Andere Menschen halten das Mitleids über soziales Elend unterhält. Wir gehen immer dafür Introvertiertheit oder soziale Inkompetenz. Inzwischen havon aus, dass ein Künstler anderen helfen will und ein Kurator be ich die notwendigen Rituale und Umgangsformen erlernt sich nichts sehnlicher wünscht als die absolute Meinungsfreiund weiß, dass man sich durch irgendwelche langweiligen Geheit. Doch diese Sprache verwischt politische Gräben und ist spräche quälen muss, um soziale Bindungen aufzubauen. Mein nichts anderes als Konformismus. Vor einiger Zeit habe ich einen Autismus rührt daher, dass ich auf Ideale fixiert bin. Ich will Bericht über eine Kunstmesse gelesen, in dem stand, Künstler nicht sagen, dass ich völlig frei von künstlerischem Narzissund Galerien präsentierten zahlreiche interessante Werke, die mus bin, auch mich treibt er an. Auch mir bereitet es Vergnüauf soziales Leid aufmerksam machten. Ich überlegte, was pasgen, wenn mein Name erwähnt wird. Das Bedürfnis nach Aufsiert, wenn man den Satz dahingehend ändern würde: »Auf merksamkeit ist eine wichtige Antriebsfeder. Man muss es nur der Kunstmesse trafen sich Menschen, die den Kapitalismus kanalisieren, um es beispielsweise für die Verwirklichung poaktiv unterstützen und von der Kommerzialisierung sozialen litischer Ideen zu nutzen, statt dafür, Privilegien zu erlangen. Elends profitieren wollen.« Das ist der obszöne Unterbau der Als Kurator der B e r l i n B i e n n a l e habe ich das Gefühl, Kunst, genauso wie extrem rechte Sympathien oder neoliberadass man mir eine gewisse Macht übertragen hat, doch diese le Haltungen von Künstlern zum obszönen Unterbau der künstMacht ist vergänglich und lediglich symbolisch. Im Vergleich lerischen Mitleidsterminologie gehören. Ähnlich obszön ist zu politischer Macht ist sie recht bescheiden. Die B e r l i n der Opportunismus vermeintlich rebellischer oder provokanB i e n n a l e ist eine schwierige Übung darin, Macht abzugeter Künstler. ben, ähnlich wie beim Film. Ein Film entsteht in Teamarbeit; es bedarf des Wissens und der Fähigkeiten vieler Menschen: Ka- W a r s z a ›Wahre Kunst‹ ist also eher die Ausnahme? mera, Ton, Schnitt. Ich kann eine hervorragende Idee haben, Ż m i j e w s k i Der niederländische Künstler Renzo Martens doch wenn ich die Fähigkeiten all dieser Menschen nicht mit meint, dass Künstler in der Lage sind, Utopien zu verwirklieinbeziehe, dann entsteht kein Film. chen, etwas Einzigartiges zu erschaffen, eine Situation heraufzubeschwören, in der beispielsweise die UnterdrückungsmeW a r s z a Warum, glaubst du, opfern sich Künstler nicht mehr chanismen der kapitalistischen Wirtschaft oder soziale ZwänIdealen, sondern verfolgen primär die eigene Karriere? ge aufgehoben sind. Statt einer Ökonomie des Profits herrscht Ż m i j e w s k i Der Konformismus hat in der Kunst die längste plötzlich die Ökonomie der Gabe, es herrscht eine uneingeund wichtigste Tradition, nicht der Widerstand. Anpassung schränkte, nicht zerstörerische Freiheit. Künstler sind in der und Loyalitätsbekundungen bilden den Mainstream. Was in Lage solche Situationen herzustellen, doch sie können sie nicht der Kunst scheinbar das Wichtigste ist, also Widerstand, Unauf andere Kontexte übertragen und aufrechterhalten. Dabei angepasstheit, Herausforderung, sind bloße Randerscheinunist die größte und gefährlichste Sehnsucht der Künstler, Ausgen. Heute dient die Kunst als Werkzeug, Menschen anpassungsnahmen universalisieren zu können. Vielleicht sollten wir also fähig zu machen, dafür zu sorgen, dass sie bestimmte Regeln nach Möglichkeiten ihrer Universalisierung suchen. Wenn einhalten. Eine Regel ist zum Beispiel, dass man sich im KünstKünstler in der Lage sind, Situationen zu schaffen, die auf al-ternativen

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auf al-

streuung oder Wahrnehmungsschock, der das Handeln beein- W a r s z a Was ist demnach die visuelle Grammatik des Films ternativen Regeln beruhen, die attraktiver und freiheitlicher flusst. Der Zuschauer erstarrt unter dem Eindruck des Geheim- B e r e k (dt.: »Fangen«), wo in einer Gaskammer Fangen gespielt erscheinen als das übliche soziale Zusammenleben, dann sollnisses. Eine normale Reaktion auf das Angebot der Künstler wird, oder deiner jüngsten Arbeit K a t a s t r o fa ? ten wir sie vielleicht universalisieren, sie verbreiten. Der Relisind früher nur von Journalisten und heute auch von Politigion ist es gelungen, die göttliche Erfahrung zu universalisieŻ m i j e w s k i Bei B e r e k sind es die grün-gelben Flecke kern betriebene mediale Exorzismen. Dabei spielt der Status ren. Die Demokratie ist ein universalisierter Zustand des Mitvon Zyklon B an den Wänden und die nackten Männer, die in des Künstlers keine Rolle, eine Rolle spielt hingegen ein Maneinanders, in dem Konflikte auf die Ebene einer symbolischen der Gaskammer Fangen spielen. Es beruht auf einer Wahrnehgel an operativem Wissen: Wie gestalte ich den zweiten SpielAuseinandersetzung gehoben werden, die beiden Konfliktparmungsdissonanz zwischen einem korrekten, also stillen und zug, wie verändere ich meine Einsätze auf dem erregten Spielteien Sicherheit garantiert. Die Möglichkeiten, Konflikte in zurückhaltenden Verhalten an einem solchen Ort und dem abfeld? Sicherheit auszutragen oder die Anwesenheit Gottes zu erfahrupten Eingriff der nackten, von der Bewegung erhitzten Körren, sind universalisierte Ausnahmen. Das könnte eine politiper. Das Ergebnis ist das Gefühl einer nahezu obszönen, porsche Aufgabe der Kunst sein — natürlich nicht jeder Kunst. Es W a r s z a Was also ist Politik oder Politisierung? nografischen Erleichterung. Niemand stirbt und gleichzeitig kam vor, dass politische Kurswechsel als Vehikel zur UniversaŻ m i j e w s k i Politik ist eine der Formeln für soziales Miteinvermittelt das Bild vitale, sexuelle Energie. K ata s t rofa hinlisierung künstlerischer Erfahrung dienten. So war das in Zeiander. Es scheint, als gäbe es für einen Künstler keinen bessegegen ist fast reine Publizistik mit einem leicht anthropoloten des Sozialistischen Realismus. Der Sozialistische Realismus ren Weg, als sich an irgendeine Idee zu heften und sich so ausgischen Ansatz. Wir sehen mehr, als Journalisten zu sehen bewar ein neues ästhetisches Paradigma, das unter administratizudrücken. Ich habe das Gefühl, dass alle, die auf eine Idee kommen, wir dürfen mehr sehen und mehr sagen. K a t a s ven und politischen Zwängen als massentaugliches und extrem vertrauten und sich von ihr beflügeln ließen, in der Kunst eit r o fa ist ein Überfluss des Sehens und die Befreiung von eiideologisiertes visuelles Kommunikationsmittel in einer Zeit nen Sieg davongetragen haben. nem einzelnen, ideologisierten Ziel. Wir beobachten, was Mendes proletarischen Aufruhrs forciert wurde. Die lokale Terminoschen in Polen nach der Flugzeugkatastrophe der polnischen logie und die Bildsprache wurden universalisiert und in Main- W a r s z a Wer zum Beispiel? Präsidentenmaschine bei Smolensk angestellt haben. stream verwandelt. Das betraf nicht nur die Bildende Kunst. Ż m i j e w s k i Hans Haacke und jene, die mit ihrer Kunst eine Du sagtest, eine Form könnte auch die Ausgestaltung eines Gedichte im Stil des sozialistischen Realismus entstanden bePolitik der Ideen betreiben, haben gewonnen und sind sichtbar. Treffens sein. Das ist möglich. Eine Form ist tatsächlich meisreits in den 1930er Jahren: » C z y r o s´ n i e c h l e b s p o d So werden sie auch zu handelnden Subjekten. Diesen Status tens etwas Äußeres — die meisten Arbeiten von Gegenwartsp ł u g a , c z y l e c a˛ s k r y s p o d m ł o t a — t o n a s z a können wir uns nicht selbst verleihen, man erlangt ihn durch künstlern haben die Struktur eines Witzes. Sie lassen sich soj e s t z a s ł u g a , t o n a s z a j e s t r o b o t a « [»Erwächst Ideen, die für etwas Größeres und Stärkeres als man selbst stegar wie ein Witz erzählen: zuerst die Einleitung, und am EnBrot unter dem Pflug, fliegen Funken unter dem Hammer — es hen. Meinst Du etwa, man ist aus sich selbst heraus ein Subjekt? de folgt eine erstaunliche Auflösung. Zum Beispiel: Es treffen ist unser Verdienst, es ist unser Werk«]. Heute ist das eine verEin Jemand? sich zwei ältere Frauen, eine Deutsche und eine Türkin. Sie femte Sprache. Zu Unrecht. Ein anderes Beispiel für eine uniunterhalten sich, ziehen sich anschließend aus und tauschen versalisierte und allgemein anerkannte ästhetische Erfahrung W a r s z a Ich denke, ja. ihre Kleider. Ich möchte diese Situation nicht bewerten, sonist das Bauhaus. In einigen kleinen deutschen Schulen produŻ m i j e w s k i Das ist eine Illusion. dern meine nur, dass sie die Struktur eines Witzes aufweist. Es zierte man ästhetische Ausnahmen und universalisierte sie ist eine abgeschlossene ideologische Einheit, die auch losgelöst später mit so großem Erfolg, dass ein neues ästhetisches Para- W a r s z a War für dich der Beginn des Engagements beim linksvon lokalen Zusammenhängen bestehen kann. Man kann es digma entstehen konnte. gerichteten Magazin K r y t y k a P o l i t y c z n a gleichbedeuin Berlin zeigen, aber ebenso gut in Beirut oder Barcelona. Das tend mit der Anbindung an eine Idee? lässt sich wie eine Anekdote erzählen, und die Kunstwelt ist W a r s z a Aber kommunistische Diktaturen haben die Kunst Ż m i j e w s k i Nicht unbedingt, ich habe mich sicherlich schon normalerweise permanent damit beschäftigt, sich solche Anauch kontrolliert. Sie unterschieden zwischen wahrer und degefrüher im Lichte verschiedener Ideen gesonnt, nur hatten diese ekdoten zu erzählen. Die meisten davon verwandeln sich am nerierter Kunst. Hast Du keine Angst vor derlei Einteilungen? Ideen keinen Namen. Nachdem ich mich K r y t y k a P o l i Ende im Prinzip wiederum in eine Ansammlung von AnekdoŻ m i j e w s k i Auch heute gibt es Einteilungen, nur die Grent y c z n a angeschlossen hatte, wurde ich mehrmals von den ten, die weltweit erzählt werden. Das ist eine in sich geschloszen verlaufen anders. Es gibt Klassenunterschiede oder UnterWächtern der Kunstwelt zurechtgewiesen. Da merkte ich, dass sene Form, aber ich will nicht, dass die Arbeit eines Künstlers teilungen nach künstlerischer Qualität. Ich habe mehr Angst sie versuchen, mich an die Kette zu legen. Ich begriff, dass mit einer Pointe endet. Wäre das nicht so introvertiert und so vor einer Verstopfung der Ausdruckskanäle als vor Teilungen Künstler an einer Kette gehalten werden, damit sie dem politihermetisch, dann könnte es sich für lokale Zusammenhänge generell. Es gibt keine Einheit, es gibt nur eine Ansammlung schen Feuer nicht zu nahe kommen, denn das könnte gefähröffnen, wäre dann aber auch nicht in der Lage, seine Qualität von Partikularismen und Lokalitäten. lich sein. zu verteidigen, denn es wäre für Eingriffe von Außen zugänglich. Vielleicht wäre die Arbeit an einer S t r u k t u r d e s W a r s z a Und wenn dir jemand vorschlagen würde, sich poliW i t z e s o h n e P o i n t e mit offener Auflösung oder tisch zu engagieren? W a r s z a Wer fragt heute noch nach dem Handwerk? Wir haauch ganz ohne Auflösung interessanter. Ż m i j e w s k i Das würde mich interessieren. ben es eher mit einer Migration anderer Bereiche in die Kunst zu tun: Radikale Soziologie, Architektur oder Bildung finden ihren W a r s z a Du lebst seit einem halben Jahr in Berlin. Du sagtest, W a r s z a Wie könntest Du in der Politik den Status eines Künst- Platz in der Kunstwelt. Niemand interessiert sich für Diplome, dass der verführerische Narzissmus dieser Stadt Künstler aus allers aufrechterhalten? weil die Kunst auch Menschen von außerhalb integriert. ler Welt vereinnahmt? Warum leben hier radikale Künstler aus Ż m i j e w s k i Meine Fähigkeiten kommen ja zwangsläufig aus Ż m i j e w s k i Einverstanden, aber ich vertrete auch die These, Kolumbien oder Japan? Was machen sie hier? diesem Bereich. Ich glaube nicht, dass das, was wir als Politik wonach das Handwerkliche und das Wissen über ein FachgeŻ m i j e w s k i Sie haben sich hierher verirrt, günstige Mieten bezeichnen, tatsächlich Politik ist. Es ist eher eine Fälschung, biet Teil der Kunst sind. Es ist eine Illusion, dass die Kunst ein haben sie angelockt. Sie haben vergessen, dass nur das Wirken ein Ersatz, der von professionalisierten Eliten politischer BüWerkzeug von Ignoranten ist. Wenn man Bilder benutzt, um für die eigene Gemeinschaft einen Sinn hat, ohne sie geht jeder rokratie gepflegt wird, die dem Bürger die Politik aus der Hand Informationen zu vermitteln, muss man wissen, wie ein Bild Sinn verloren. genommen haben. Unempfindlichkeit der Regierungen gegenaufgebaut ist, welche darstellerischen Elemente überzeugend A r t u r Ż m i j e w s k i , 1966 in Warschau geboren, arbeitet vor allem in über Forderungen der Bürger nach Gleichheit, Emanzipation und welche entspannend wirken. Man muss wissen, ob man den Medien Fotografie und Film. In seinem Manifest A n g e wa n d t e G e s e l l s c h a f t s k u n s t entwickelt er eine deutliche Haltung zum sozialen Akund Wohlstand sowie ihre Überempfindlichkeit angesichts famit Mythen, mit Stereotypen oder Ressentiments spielt. Man tivismus, der auch ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der 7 . B e r l i n schistoider Fantasien einer verarmten Mehrheit sind zur Regel muss wissen, wie etwas aufgebaut sein muss und welche — B i e n n a l e ist. Żmijewski studierte von 1990 bis 1995 in der Bildhauerklasse Professor Grzegorz Kowalski an der Warschauer Kunstakademie und 1999 geworden. Der Kapitalismus zerstört die soziale Solidarität unauch ideologischen — Ebenen ein Bild hat. Mein Bildbegriff von an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam. Seine Arbeiten werden internater den Menschen und verwandelt die Gesellschaft in rivalisieist sehr weit gefasst. Ich sehe Bilder als visuelle Sprache mit un- tional in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. 2005 reprärende Clans. In seiner radikalen Form infiziert er die Demokraterschiedlichen Slangs und Dialekten. Ich selbst habe früher sentierte er Polen auf der 51. Kunstbiennale von Venedig. Er ist Mitglied der politischen Bewegung »Krytyka Polityczna« in Polen und Künstlerischer Leiter des tien, verwandelt sie in Oligarchien und beschwört Träume von gedacht: »Wozu braucht man eine Akademie, wozu braucht gleichnamigen Magazins. Żmijewski lebt und arbeitet in Warschau. Die ÜberPlutokratien herauf. In diesem Bereich können Künstler auch man Wissen über Komposition und langweilige Zeichenübun- setzung aus dem Polnischen stammt von M a r c i n Z a s t r o ż n y . geben hier eine gekürzte Fassung des Interviews wieder. In ganzer Länge erwirken. Es geht dann nicht darum, den Künstlerstatus aufrechtgen mit Modellen? Wozu braucht man das, wenn es doch in Wir scheint es in der Reihe P o s i t i o n e n I V / Z e i t g e n ö s s i s c h e K ü n s t l e r zuerhalten, sondern einen Handlungsspielraum zu erlangen, Wirklichkeit um Ideale geht?« Doch um mit irgendeinem Bild aus Pol en, hg. von Tomasz Da˛browski und Stefanie Peter, Steidl Verlag Göttinum die Realität manipulieren zu können, zum Beispiel durch eine Idee zu vermitteln, muss man die visuelle Sprache beherr- gen, Oktober 2011. Die Publikationsreihe P o s i t i o n e n mit ihren Länderschwerpunkten ist ein Projekt der Akademie der Künste und des Goethe-Instituts. die Verwirklichung linker Ideen. Künstler sind in der Lage, dieschen und die beruht auf einem Handwerk, auf Wissen über selben Ereignissequenzen in Gang zu setzen wie Politiker: Um grafisches Gestalten, auf Kenntnissen der räumlichen Verhältnisse und auf der Farbenlehre. Man braucht nicht immer akadie Mitspieler zu aktivieren, verwenden Künstler im Unterschied zu Politikern Paradoxien, zeigen Widersprüche auf, fordern das demisches Wissen, manchmal genügt auch Intuition. Es be- die . berlin biennale findet vom 27. April bis 1. Juli 2012 statt und Gegebene heraus oder offenbaren Geheimnisse, deren Horizondarf einer Grammatik der Visualisierung, damit die künstleri- wird ausgerichtet von den KW Institute for Contemporary Art. Weitere Informationen erhalten Sie unter www.berlinbiennale.de. te weitere Geheimnisse verbergen. So erreichen sie eine Art Zersche Sprache effektiv und kommunikativ sein kann.

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meldungen jetzt für die neuen tanzfonds bewerben

Mit den Programmen Ta n z f o n d s E r b e und Ta n z f o n d s Pa r t n e r führt die Kulturstiftung des Bundes ihr Engagement für den Tanz fort. Ziel der Fonds ist die stärkere Verankerung des Tanzes in der Gesellschaft durch die künstlerische Auseinandersetzung der Tanzszene mit ihrem eigenen Erbe und die Öffnung der Tanzräume für Schulen. Die Betreuung der Fonds erfolgt durch die neu gegründete Diehl+Ritter gUG . Alle Informationen und Unterlagen zur Bewerbung stehen auf www.tanzfonds. de zur Verfügung. Die Bewerbungsfrist endet am 10. Januar 2012.

runge-preis 2011

Der F r i e dl i e b F e r di n a n d Ru nge - P r e i s f ü r u n kon v e n t ion e l l e K u n s t v e r m i t t lu ng wurde in diesem Jahr S t e p h a n i e B a r r o n , leitende Kuratorin für Moderne Kunst am Los Angeles County Museum of Art, und E c k a r t G i l l e n , Kunsthistoriker und Ausstellungskurator aus Berlin, für ihre gemeinsame Realisierung der von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Ausstellung Kunst und K a lter K r ieg. Deutsche Positionen 1945–19 8 9 verliehen, die nach Stationen in Nürnberg und Los Angeles zuletzt 2010 im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen war. Mit ihrem Preis zeichnet die Stiftung Preußische Seehandlung regelmäßig Persönlichkeiten aus, die Kunst und Kultur im deutschsprachigen Raum auf außergewöhnliche Weise bereichern und prägen. Die Ausstellung sei ein »Meilenstein in der Beschreibung und Deutung deutschdeutscher Kunstentwicklung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie zeigte deutsche Kunst im 20. Jahrhundert als Spiegelung politischer Brüche und humaner Katastrophen. In aufklärerischem Impetus fegten zwei Einzelkämpfer Vorurteile und vereinfachende Klischees hinweg. Sie öffneten die Augen für den unbestreitbaren Umstand, dass Ost-West-Kunst im Zivilisationsbruch eine verbindende geistige und ethische Basis hatte und diese auch in vier Jahrzehnten nie ganz verlor«.

wanderlust-produktion auf tour durch indien

Die Wa n d e r l u s t -Partnerschaft zwischen dem Mannheimer Kinder- und Jugendtheater Schnawwl und dem Theater Ranga Shankara in Bangalore gipfelte in der Koproduktion D e r J u n g e m i t d e m K o f f e r , die im April 2011 Premiere feierte. Das Stück ist jetzt vom Goethe-Institut eingeladen, im Rahmen des Programms D e u t s c h l a n d i n I n d i e n vom 15.–30. April 2012 durch Indien zu touren. Die genauen Spielorte und Daten finden Sie sobald bekannt unter www.wanderlust-blog.de.

heimspiel 2011: dokumentation online und auf dvd

jurymitglieder

2011

Vom 29. März bis 3. April 2011 veranstaltete die Kulturstiftung zum Alle drei Jahre wird die Jury für die antragsgebundene allgemeine Abschluss ihres sechsjährigen Theaterförderprogramms H e i m - Projektförderung neu berufen. Von 2011 bis 2013 setzt sich die ins p i e l in Kooperation mit dem Schauspiel Köln das Festival terdisziplinäre Jury aus folgenden Mitgliedern zusammen: H e i m s p i e l 2 0 1 1 — We m ge hö r t di e Bü h n e ? Eine umfassende Dokumentation der Veranstaltung wird ab Januar 2012 S o p h i e B e c k e r Dramaturgin Sächsische Staatsoper Dresden online unter www.heimspiel2011.de und auf DVD verfügbar sein. D r . A n d r e a s B l ü h m Direktor Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud Köln

neues förderprogramm für museen und öffentliche sammlungen fellowship internationales museum

Das Förderprogramm Fel lowship I nt er nat iona l e s Museum ist eine deutschlandweite Initiative für Museen und öffentliche Sammlungen, Nachwuchswissenschaftler und Kuratoren aus dem Ausland für die Dauer von 18 Monaten an ausgewählte Einrichtungen in Deutschland zu holen. Die Grundidee des Programms ist, die Internationalisierung der deutschen Museumslandschaft zu befördern. Geplant sind 20 Fellowships an deutschen Museen. Weiterhin umfasst das Programm eine fachbegleitende Akademie mit Workshops, Kolloquien sowie einer bilanzierenden Abschlussveranstaltung. Mit der Förderung von bis zu zehn Folgeprojekten will die Kulturstiftung darüber hinaus die nachhaltige Wirkung des Programms erhöhen. Nach Abschluss des Fellowship kann ein teilnehmendes Museum daher die Förderung einer Folgeausstellung D i e S t i m m e n v o n R u s s e war das Motto der im F o n d s beantragen, die vom Fellow eigenständig durchgeführt wird. Die Wa n d e r l u s t der Kulturstiftung geförderten Theaterpartner- Kulturstiftung des Bundes führt das F e l l o w s h i p -Programm schaft zwischen Osnabrück und dem bulgarischen Russe, die in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut durch. Nähere Innach fast vier Jahren mit der binationalen Inszenierung R u s t - formationen zu den Antragsbedingungen finden Sie unter www. s c h u k — D i e g e r e t t e t e Z u n g e in der Regie von Ivan kulturstiftung-bund.de/fellowship. Stanev endete. Abschließend ist jetzt im Verlag Th e a t e r d e r Z e i t ein Rechercheband erschienen, der dieses Wanderlust-Projekt dokumentiert und in Essays und Gesprächen bulgarischer und deutscher Theatermacher, Künstler und Wissenschaftler Einblicke in die Hintergründe des Theaterschaffens im kleinen Balkanland gibt. Weitere Informationen unter www.theaterderzeit.de/reihen/recherchen.

Karl Bruckmaier

Moderator, Hörspielregisseur und -autor

Johan Holten

Direktor Staatliche Kunsthalle Baden-Baden

Dr. Lydia Jeschke

Redaktionsleitung Wort / Musik SWR 2

Dr. Stefan Luft

Politikwissenschaftler Universität Bremen

Barbara Mundel

Intendantin Theater Freiburg

Dr. Olaf Nicolai

Bildender Künstler

Elisabeth Ruge

Verlegerin, Berlin Verlag

publikation »die neue freiheit — perspektiven des bulgarischen theaters«

¨ pommerat joel mit zwei molières ausgezeichnet

wenn sie dieses magazin regelmäßig beziehen möchten,

können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter www.kulturstiftung-bund.de/magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, erreichen Sie uns auch telefonisch unter Der französische Theatermacher Joël Pommerat wurde bei der +49 [0]345 2997 131. Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf! diesjährigen Verleihung des nationalen Theaterpreises Frankreichs, dem Molièr e, gleich zwei Mal prämiert: für seine Compagnie »Louis Brouillard« in der aktuellen Produktion M a c h a m b r e f r o i d e und als »Meilleur auteur francophone vivant«, bester lebender französischer Autor. Seine preisgekrönte Produktion steht Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche auch im Zentrum der im F o n d s Wa n d e r l u s t der Kultur- zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und stiftung geförderten Theaterpartnerschaft mit dem Puppenthea- Programme der Stiftung, die Förderanträge und geförderten Projekter Halle. Dort ist M a c h a m b r e f r o i d e am 28.10.2011 als te und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter Gastspiel zu sehen. Die Erstaufführung der deutschen Fassung www.kulturstiftung-bund.de M e i n e K ä l t e k a m m e r ist als Puppentheater-Variante be- facebook.com/kulturstiftung reits am 14.10.2011 in Halle zu sehen. twitter.com/kulturstiftung

die website

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kulturstiftung des bundes magazin 18

abgebildete kunstprojekte des festivals über lebenskunst /

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A

Nacht der Performance: Walden Monster Truck Stay! Eine Tierfabel

B

Temporäre Nachtherbergen / Camp Studierende der TU Habitat Unit, [Marius Busch, Max Graap, Gesa Schatte]

C

Wegeleit- und Beschriftungssystem [Schroeter und Berger, Büro für Lösungen]

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D

The resilient-self system [Adrian Lohmüller]

E

Modell Fish Spa Initiative »Berliner Wildes Leben« [Susanna Hertrich und Michiko Nitta]

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F

imbaueinbau FAT KOEHL ARCHITEKTEN

G

Vorratskammer myvillages.org [Kathrin Böhm, Wapke Feenstra, Antje Schiffers]

H

Pod #002, Parasite Heating Unit [Learning Site, Rikke Luther]

I

Restaurant-Objekt NEKKKO Initiative »Sustainable Sushi« [posttheater, Hiroko Tanahashi und Max Schumacher]

J

Parasitäre Architektur für Waschbären Initiative »Berliner Wildes Leben« [Susanna Hertrich und Michiko Nitta]

K

Über Lebenskunst Camp

L

Sleeping Cells/Hammocks [Kris Verdonck, A Two Dogs Company]

M

Sonnenspiegel Initiative »Helioflex« [Christoph Keller]

N

1/2 Benjamin Verdonck

O

Modulares Trinkwassersystem Initiative »Das Numen H2O« [Das Numen Julian Charrière, Andreas Greiner, Markus Hoffmann, Felix Kiessling]

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P

Event [Folke Köbberling, Martin Kaltwasser]

Q

Underground Currents Initiative »Neighbourhood Satellites Energy Harvests« [Myriel Milicevic, Hanspeter Kadel]

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neue projekte In der Frühjahrssitzung 2011 erhielten auf Empfehlung der Jury 24 Projekte aller Sparten eine Förderzusage im Rahmen der antragsgebundenen Projektförderung.

bild und raum

making normative orders internationales ausstellungsprojekt zu demonstrationen von macht, zweifel und protest Für diese Ausstellung kooperiert der Frankfurter Kunstverein mit dem Exzellenzcluster Formation of Normative Orders der Universität Frankfurt am Main. Die Ausstellung ergänzt das Thema des Exzellenzclusters — die Herausbildung normativer Ordnungen — um eine künstlerische und ideengeschichtliche Fragestellung. Sie konzentriert sich dabei auf künstlerische Positionen, die Massenbewegungen, Repräsentationsstrategien, die Mediennutzung und das Verhandeln von Demokratie reflektieren. Demonstrationen als öffentliche Meinungsbekundungen gehören dazu ebenso wie bildliche und performative Inszenierungen von Macht und Momente des ›Haltung Zeigens‹. Die drei Kuratoren stehen für drei unterschiedliche kuratorische Blickrichtungen: die zeitgenössische Kunst, die Kunstgeschichte und die zeitgenössische Performance. Die Ausstellung wird ergänzt durch ein umfangreiches Begleitprogramm. Sie findet im Frankfurter Kunstverein statt und bespielt mit temporären Aktionen und Performances auch den Frankfurter Stadtraum. Künstlerische Leitung / Kuratorinnen: Fanti Baum, Britta Pe-

/

ters, Sabine Witt Künstler/innen: Bani Abidi (PK) , Discoteca Flaming Star, François Georgin (FR) , Jana Gunstheimer, Sharon Hayes (USA) , Alfred Rethel, Yorgos Sapountzis (GR , Sandra Schäfer, Sarah Vanagt (BE ) , Nazim Ünal Yilmaz (TR) u.a.

/

Frankfurter Kunstverein, 20.1.–25.3.2012 www.fkv.de

/

déjà-vu? die kunst der wiederholung von dürer bis youtube Welche Bedeutung hat die Kopie gegenüber dem Original? Wie wichtig ist Authentizität und welche Rolle nimmt ein Plagiat ein? Die Frage nach Funktion und ästhetischem Wert von Reproduktionen und Kopien erscheint angesichts der Entwicklung in den digitalen Medien besonders dringlich, doch stellt sie sich nicht erst seit YouTube und Flickr. Die Ausstellung D é j à - v u ? versammelt herausragende Kopien und Reproduktionen vom späten Mittelalter über die Moderne bis zur zeitgenössischen Kunst. Zu sehen sind Kopien berühmter Werke von Dürer, Giorgione oder Holbein sowie Werke von Künstlern wie Brueghel, Matisse, Baselitz, Duchamps, Cindy Sherman und Francis Alÿs, die selbst Kopien sind oder sich auf bereits existierende Kunstwerke beziehen. Ziel der Ausstellungsmacher ist es, die ästhetische Leistung und den historischen Wert von Kopien zu würdigen und sie nicht als zweitrangige Wiederholung zu präsentieren. Dem modernen Kult um das Original, der besonders im Museum als traditionellem Ort der Originale gepflegt wird, soll eine Untersuchung der Kopie als eigenständige Reflexion und als Symptom kunstsoziologi-

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Künstlerische Leitung: Pia Müller-Tamm Kurator/innen: Alex-

ner kulturellen Blüte Germaniens, stilisiert zum Ursprung der gesamten abendländischen Kultur, bis heute nachwirkt. Sie beleuchtet die mangelhafte Aufarbeitung des Themas nach dem Krieg und zeigt die heutige Rezeption der damals erzeugten Bilder durch rechtsextreme wie esoterisch orientierte Gruppen auf. Die umfangreiche Gesamtdarstellung, zu der eine Begleitpublikation erscheint, präsentiert Ausgrabungsfunde der NS -Zeit, belegt, wie in Unterricht und Alltag ideologisch geprägte Vorstellungen über Germanien vermittelt wurden und führt ihre mediale Propagandainszenierung vor Augen.

ander Eiling, Ariane Mensger, Wolfgang Ullrich, Wilfried

Künstlerische Leitung: Frauke von der Haar Wissenschaftliche

scher und historischer Verhältnisse gegenübergestellt werden. Für die Planung und Umsetzung der Ausstellung kooperiert die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe mit der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, die im Vorfeld eine Fachkonferenz zum Thema erarbeitet hat. Ein umfangreicher Katalog soll das Thema kunsthistorisch und -theoretisch aufarbeiten und seine Verknüpfungen in andere Gebiete, z.B. die Rechtsphilosophie, berücksichtigen. Das Vermittlungsprogramm sieht auch eine Satelliten-Ausstellung für Kinder und Jugendliche vor.

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Kühn Künstler/innen: Mike Bidlo (USA) , Aneta Greszykow- Leitung: Uta Halle, Dirk Mahsarski

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/ / Projektleitung: Karin

ska (P) , Klaus Mosettig, Cindy Sherman (USA) , Yinka Shoni- Walter Focke Museum, Bremer Landesmuseum für Kunst bare (GB/N WAN) , Elaine Sturtevant (USA) , Hiroshi Sugimoto ( J)

und Kulturgeschichte, 14.10.2012 – 31.3.2013

u.a. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 21.4.– 5.8.2012 www.

museum.de

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/

kunsthalle-karlsruhe.de

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www.focke-

dierte, und die europäische Moderne, vor allem Picasso. Ausstellungen in Dresden, Karl-MarxStadt oder Berlin erregten in der DDR große Aufmerksamkeit, nach 1989 folgten zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland, so in Frankreich, den USA und Brasilien. Die bisherigen Retrospektiven seines Werkes konzentrierten sich entweder auf den Regisseur, so eine Werkschau bei den Leipziger Dokumentarfilmtagen, oder auf den Maler Strawalde. Das Lindenau-Museum in Altenburg richtet nun erstmals eine umfassende Gesamtschau seines filmischen und bildkünstlerischen Werkes aus. Dabei sollen auch die kulturpolitischen Widersprüche dokumentiert werden — Verbot, Verfemung und offizielle Anerkennung (Nationalpreis im Kollektiv der DEFA) —, die Jürgen Böttcher Strawaldes künstlerische Entwicklung geprägt haben.

/

Künstlerische Leitung: Matthias Flügge Kurator/in: Lucius

aus anderer sicht die frühe berliner Grisebach und Jutta Penndorf / Lindenau Museum Altenbegehbare bilderkammer mit wand- mauer Im Jahr 2011 jährt sich der Bau der Ber- burg, 29.1.–29.4.2012 / www.lindenau-museum.de malereien des bruno schulz mobile in- liner Mauer zum fünfzigsten Mal. Die Ausstelstallation in originalgröße Seit dem Ein- lung zeigt erstmalig Ansichten der Mauer in ihrer der gelbe schein. mädchenhandel zwimarsch der deutschen Wehrmacht in Galizien frühen Bauphase aus Ostberliner Sicht. Sie be- schen ost und west ausstellung und lebte der polnisch-jüdische Schriftsteller und Ma- dient sich dazu einer Sammlung von 300 Pano- symposien Menschenhandel und Zwangsler Bruno Schulz im Ghetto der Stadt Drohobycz. Dort wurde er vom SS-Hauptscharführer Felix Landau gezwungen, zur Unterhaltung seiner Kinder Fresken in einer Villa anzufertigen, die Landau zuvor beschlagnahmt hatte. Ein Jahr darauf ermordete die Gestapo Bruno Schulz auf offener Straße. In der Folgezeit wurden die Fresken mehrfach übermalt und galten lange als verschollen, bis das Team um den Regisseur Benjamin Geissler sie 2001 bei Dreharbeiten in Drohobycz wiederentdeckte. Seitdem haben willkürliche Entnahmen einzelner Fragmente das Fresken-Ensemble zerstört. Mit seiner begehbaren Bilderkammer, einem wichtigen Dokument jüdischer Kultur, möchte Benjamin Geissler die ursprüngliche Gesamtkomposition in Originalgröße virtuell rekonstruieren: Fotos werden auf die Innenwände eines maßstabgetreuen Nachbaus des Raumes projiziert und dokumentieren dort die unterschiedlichen Phasen — von der Entdeckung der Fresken über die Entnahme einzelner Fragmente bis hin zur Rekonstruktion des Ensembles. Im Rahmen des polnischen Bruno Schulz-Jahr es 2012 wird die mobile Installation unter anderem in Polen, der Ukraine und den USA erstmals die Bilderkammer einem breiten internationalen Publikum präsentieren. Künstlerische Leitung: Benjamin Geissler

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ramaansichten des innerstädtischen Mauerverlaufs, die 1965/66 vom Grenzkommando Berlin Mitte über die ganze Länge von 43,7 km angefertigt wurden. Die aus circa 1.500 meist menschenleeren Einzelbildern bestehende Dokumentation zeigt die Grenzanlagen, die damals teils noch aus Hausmauern, Drahtzäunen und Ruinen bestanden, mit den dahinterliegenden Westsektoren. Die Bilder, die in der DDR strengster Geheimhaltung unterlagen, werden von Annett Gröschner mit Bildtiteln versehen: Die Schriftstellerin bezieht sich darin auf Geschehnisse vor Ort, die sie in Grenzregimentsakten gefunden hat. Die Ausstellungskonzeption ermöglicht den Besuchern, die Mauer in ihrer ganzen Länge abzuschreiten und dabei ein so noch nicht gesehenes Berlin zu betrachten. Ergänzt um Geodaten und Straßennamen kann ein Vergleich mit der aktuellen baulichen Situation unternommen werden. Ein Begleitprogramm in Kooperation mit dem Literaturforum im Brechthaus Berlin widmet sich Künstlern und Wissenschaftlern, die sich intensiv mit dem Mauerbau auseinandergesetzt haben, wie Uwe Johnson, Olaf Briese und Einar Schleef. Nach der Präsentation in Berlin wird die Ausstellung in Frankreich und Polen gezeigt.

/ / Berlin, Unter den Linden 40,

Künstlerische Leitung: Annett Gröschner, Arwed Messmer Gastkurator: Florian Ebner

Städtische Mu- 5.8.–3.10.2011, Cité du livre – Bibliothèque Méjanes, Aix en

prostitution sind hochaktuelle Themen mit einer langen Geschichte. Der internationale Mädchenhandel war schon vor 1900 eine Begleiterscheinung der großen Auswanderungswellen von Ost- nach Westeuropa und in die Neue Welt. Für junge Jüdinnen in Osteuropa war um 1900 ein Aufbruch aus dem Stetl fast nur auf eine Weise möglich: Sie mussten sich mit einem gelben Schein als Prostituierte registrieren lassen, wenn sie in Städten wie Moskau, Odessa oder Warschau wohnen wollten. Und auch eine Auswanderung in die Neue Welt wurde für junge Frauen oft zur Gratwanderung. Sie suchten Arbeit als Dienstmädchen oder im Gastgewerbe und landeten nicht selten im Bordell. Die Lebenswege dieser allein reisenden Mädchen bilden ein ungeschriebenes Kapitel der Auswanderungsgeschichte. Zwei Ausstellungen, die von der Stiftung Neue Synagoge — Centrum Judaicum Berlin und dem Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven gemeinsam entwickelt und zeitgleich in beiden Häusern gezeigt werden, greifen diese Geschichte auf. Aus Fotos, Reiseberichten, Tagebüchern oder Polizeiakten werden Facetten der Lebenswirklichkeit von Menschen im Sexgewerbe rekonstruiert, dazu werden Ausschnitte aus Literatur, Musik oder Filmen präsentiert. Ergänzt wird die Schau durch eine Publikation sowie je ein Symposium in Kiew und Warschau zum Thema M igr at ion u n d Se x a r bei t 2 0 1 2 .

seen Zittau, Literaturhaus Berlin sowie Orte in Warschau,

Provence, 20.1.–12.3.2012, 1. Quartal 2012 Katholische Uni-

Breslau, Kraukau (PL) und Lemberg (UA) , 10.9.2011 – 30.9.2012

versität Lublin Johannes Paul II , 1. Quartal 2012 www.aus- Künstlerische Leitung/Kuratorinnen: Simone Eick, Irene Stra-

/ www.umweltbibliothek.org

anderer-sicht.de

/

graben für germanien archäologie un- jürgen böttcher strawalde. maler und ter dem hakenkreuz Mit seiner Ausstellung regisseur eine retrospektive zum 80. wendet sich das Focke Museum der besonderen geburtstag Der Dokumentarfilmer Jürgen Beziehung zwischen Politik und Archäologie zu. Beide Bereiche haben sich während des Nationalsozialismus gegenseitig vielfältig beeinflusst: Bereits seit Kriegsbeginn arbeiteten deutsche Archäologen in allen von der Wehrmacht eroberten Gebieten dem NS -Regime zu. Auf Grundlage ihrer Ausgrabungsfunde wollten sie unter anderem Belege für eine jungsteinzeitliche germanische Hochkultur liefern und damit deutsche Besitzansprüche auf benachbarte Territorien legitimieren. Die Schau soll zeigen, wie die Idee ei-

Böttcher, der als Maler den Namen Strawalde führt, gilt als einer der herausragenden Künstler der DDR . Als Filmregisseur drehte er nach seinem 1965 verbotenen Spielfilmdebut Jahrgang 1945 zahlreiche Dokumentar- und Experimentalfilme, die auf vielen internationalen Festivals ausgezeichnet wurden. Neben seiner Filmarbeit war Jürgen Böttcher immer auch als Maler tätig. Seine künstlerischen Bezugspunkte waren die italienische Malerei der Renaissance, deren frühe Beispiele er im Lindenau-Museum in Altenburg stu-

/

tenwerth, Sofia Onufriv, Katrin Quirin Ausstellung: Berlin, Centrum Judaicum Berlin, 26.8.–30.11.2012, Bremerhaven, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven, 2.9.2012 –28.2. 2013

/ Konferenzen: Warschau, 1.10.–30.11.2012, Kiew 1.10.– /

30.11.2012 www.dah-bremerhaven.de

bilder für den westen produkt- und messefotografien aus der ddr 196 −

1990 Das Archiv des ostdeutschen Fotografen Reinhard Mende enthält eine ganz eigene Art von Bildern für den Westen: Die ca. 16.500 Fotografien von Produktionsräumen in VEB -Betrieben der DDR und VEB -Produkten auf der Internationalen Leipziger Messe in den Jahren 1967 bis 1990 sind offiziell beauftragte Werbefotografien. In ihrer Ästhetik lassen sie sich weder in den Kontext

kulturstiftung des bundes magazin 18


in

den Kontext einer sozialkritischen Arbeiterfotografie stellen, noch liest man aus ihnen die Verherrlichung industrieller Produktion, wie sie die Industriefotografie kennt. Mendes Blick ist vielmehr distanziert. Die abgebildeten Lampen, Vasen, Staubsauger, Fernseher und Küchengeräte wurden auf der Leipziger Messe vermarktet und auch in nicht-sozialistischen Wirtschaftsgebieten vertrieben. Die Ausstellung ist eine zeitgenössische künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Archiv. Ausgestellt wird das Archiv selbst sowie Sequenzen und Einzelbilder, die vom Fotografen selbst, Künstlern, Historikern, Bildwissenschaftlern, den Architekten der Ausstellung, den Kuratoren und Designstudenten der ETH Zürich ausgewählt werden.

le Frage der Schau lautet: Was bewirken Künst- anhand von Filmprogrammen, Vorträgen, Perler, wenn sie Tabus brechen, wenn sie repressive formances, Kompositionen und Ausstellungen Gewalt in reale Aggression verwandeln oder ver- vorgestellt und diskutiert werden. rückt spielen? Ein umfangreiches Begleitpro- Künstlerische Leitung: Stefanie Schulte Strathaus / Künstler/ gramm sowie eine mehrteilige Veranstaltungs- innen: Heinz Emigholz, Harun Farocki, Angela Melitopoulos, Avi Mograbi (NL) , Constanze Ruhm (AT ) , Hito Steyerl, reihe ergänzen das Projekt. Künstlerische Leitung: Frank Motz Bruguera

(CU)

/

, Lourival Cuquinha

Künstler/innen: Tania

(BR)

, Brock Enright

(US)

,

Ian White (UK /D) , Madhusree Dutta (IN) , Brent Klinkum (F ) ,

/

Darryl Els ( ZA) , Alá Younis ( JO) u.a. Berlin, Arsenal, 1.6.2011

/

Florian Göttke, Ulla Karttunen (FI) , Ivan Moudov(BG ) , Do- .– 30.6.2012 www.arsenal-berlin.de rota Nieznalska (PL) , Magda Sayed (US) , Adam Tellmeister (CH)

u.a.

/

Leipzig, Halle 14, 1.5.–29.7.2012, Weimar, ACC

/

Galerie, 24.8.–21.10.2012 www.halle14.org

Mitwirkende: Reinhard Mende, Fabian Bechtle, Estelle Blasch-

musik und klang

ke, Filipa César(P) , Matthias Judt, Armin Linke, Valeria Malito und Katja Saar (IT/D) , Kuehn Malvezzi (D/IT ) , Karin Mayer,

chiffren. kieler tage für neue musik

/

Doreen Mende, Philip Ursprung Leipzig, Halle 14, 28.4.–

2012 festival für neue musik im nor-

30.6.2012, Genf, 13.9.–4.11.2012, Zürich, Januar – Februar 2013

ungesehen und unerhört künstlerische reflexe auf die sammlung prinzlangzeithorn Die Sammlung Prinzhorn ist weltbe- heimat 1 von edgar reitz rühmt für ihre bis in die Mitte des 19. Jahrhun- sicherung — restaurierung und konderts zurückreichende Sammlung künstlerischer servierung Der Spielfilmzyklus H e i m a t

film und neue medien

Werke aus dem psychiatrischen Kontext. Sie gilt als Vorbild für andere Sammlungen dieser Art und leistet Pionierarbeit in der Auseinandersetzung mit so genannter Outsider Art. Das Projekt Unge seh en u n d u n er hört zeigt künstlerische Reaktionen auf die Sammlung Prinzhorn: Die international renommierten Videokünstler Javier Téllez sowie Mauricio Dias & Walter Rietweg nehmen Werke aus der Sammlung als Anregung für Spielszenen, die sie mit Patienten psychiatrischer Einrichtungen in Wiesloch (bei Heidelberg) und Rio de Janeiro entwickeln. Die entstehenden Videoinstallationen werden zusammen mit den Werken zu sehen sein, auf die sie sich beziehen. Ein zweiter Teil des Projektes ist die Einstudierung und Aufführung von zeitgenössischen Kompositionen, die, angeregt von Texten oder Bildern der Sammlung Prinzhorn, in den letzten Jahren entstanden sind. Die Werke werden — teils erstmalig — zu Gehör gebracht vom Heidelberger Ensemble KlangForum unter Leitung von Walter Nußbaum. Der dritte Teil des Projektes ist eine deutsch-englische Publikationsreihe. In drei Bänden zu den Schwerpunkten Bildende Kunst, Literatur, Film und Musik werden die künstlerischen Reaktionen auf die Sammlung Prinzhorn seit dem Ersten Weltkrieg zurückverfolgt.

/

Künstlerische Leitung: Thomas Röske, Javier Téllez (US) Künstler: Mauricio Dias & Walter Riedweg (BR) , Walter Nußbaum

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Kuratorin: Ingrid von Beyme

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Heidelberg, Sammlung

Prinzhorn, 8.12.2011–4.3.2012 prinzhorn.ukl-htd.de

mit krimineller energie — kunst und verbrechen im 21. jahrhundert ausstellung internationaler zeitgenössischer kunst Womöglich sind Künstler in unserer Gesellschaft nach den Kriminellen diejenigen, die am weitesten gehen, wenn es um die Grenzen des Erlaubten und Anständigen geht. Lassen sich vielleicht sogar Parallelen zwischen Künstlern und Verbrechern ziehen — wie es die Surrealisten propagierten —, insofern beide über eine verrückte Kreativität verfügen und mit krimineller Energie Normen und Tabus verletzen? Im Mittelpunkt der Ausstellung, die nach möglichen Wechselwirkungen und Abgrenzungen im Verhältnis zwischen Kunst und Verbrechen sucht, steht das Thema Gewalt in der Kunst. 19 internationale Künstler zeigen Installationen und Objekte, Performances und Videos, Fotografien und Dokumente. Mit ihren Interventionen und sozialen Provokationen arbeiten sie am Rande der Legalität: Die Künstler inszenieren physische Verletzungen und Anstiftungen zu Untaten, simulieren illegalen Handel, betreiben Ikonenschändung in künstlerischer Absicht usw. Die zentra-

40

kulturstiftung des bundes magazin 18

von Edgar Reitz gehört zu den herausragenden Film- und Fernsehwerken des 20. Jahrhunderts. Das insgesamt 933 Minuten lange Epos, 1981/82 in Schwarz-Weiß und Farbe gedreht, erhielt zahlreiche Auszeichnungen im In- und Ausland und gilt als ein filmisches Schlüsselwerk zur deutschen Geschichte. Gegenwärtig existiert nur noch eine einzige Kinokopie in sehr schlechtem Zustand. Um den Anfragen von Festivals und Kultureinrichtungen nach neuen 35mm-Kopien wieder nachkommen zu können, soll nun eine restaurierte Fassung entstehen. Aufgrund der Mischtechnik von Schwarz-Weiß und Farbe wurde das Originalnegativ nicht wie sonst üblich zu einem kompletten Master zusammengefügt, sondern liegt in einzelnen Bändern aufgeteilt im Bundesarchiv. Um neue Filmkopien herzustellen, ist eine neue Lichtbestimmung des gesamten Werkes erforderlich. Der Regisseur Edgar Reitz wird daran mitwirken und übernimmt auch gemeinsam mit dem Kameramann Christian Reitz die künstlerische Leitung der gesamten Restaurierung. Als Ergebnis soll sowohl ein hochwertiges digitales Master entstehen als auch ein durchgängig montiertes Archivnegativ für die weitere Kinoauswertung. Künstlerische Leitung: Edgar Reitz + Christian Martin Reitz

/ Förderzeitraum: 1.9.2011–20.5.2013 / www.edgar-reitz.de

den Die Biennale c h i f f r e n. k i e l e r tage für neue musik möchte ein breites Spektrum der Neuen Musik abbilden. Hochrangige Ensembles und Künstler bringen zeitgenössische Werke und Referenzwerke aus dem älteren Repertoire der Neuen Musik zur Aufführung. Insbesondere Künstler und Komponisten aus der Region werden bei der Präsentation multimedialer Kunst und der Förderung des künstlerischen Nachwuchses einbezogen. Im Zentrum der vierten Ausgabe des Festivals, das 2012 unter dem Motto Neu e Musi k i m Nor den aufgelegt wird, steht das Stockholmer KammarensembleN, das aktuelle Werke schwedischer Komponisten zur Aufführung bringt. Während der gesamten Festspiele wird Alvin Luciers Klanginstallation Mus i c f o r P u r e Wav e s , Ba s s D ru m s a n d Acoustic Pendulums gezeigt. Die Dramaturgie des Festivals zielt darauf, die unterschiedlichen Profile der Ensembles hinsichtlich Besetzungen und musikalischer Schwerpunkte hervortreten zu lassen. Vermittlung ist ein wichtiger Bestandteil des Festivals, das als Angelpunkt für zeitgenössische Musik im Ostseeraum etabliert werden soll. Künstlerische Leitung: Friedrich Wedell

/

Künstler/innen:

KammarensembleN (SE ) , Ensemble Aventure, Ensemble Intégrales, Elmar Schrammel, Studierende der Musikhochschule Lübeck

/

/

Kiel, Forum für zeitgenössische Musik,

9.–12.2.2012 www.chiffren.de

club contemporary classical (C3) festival festival internationaler musikalischer innovationen zwischen neuer musik und elektronischer clubmusik

living archive archivarbeit als künst- Das C 3 - F e s t i va l befasst sich mit der Trennlerische und kuratorische praxis der linie zwischen Neuer Musik und elektronischer gegenwart Fast 50 Jahre nach seiner Grün- Clubmusik — zwei Musikrichtungen, die bislang dung hat der Verein Arsenal — Institut für Film und Videokunst eine rund 8.000 Titel umfassende Filmsammlung vorzuweisen. Sie spiegelt ein halbes Jahrhundert internationaler Filmkunst jenseits des Mainstreams mit Filmen von z.B. Derek Jarman, Manoel de Oliveira, Andrej Tarkowskij oder dem Dokumentarfilmepos S h o a h von Claude Lanzmann. Für das Projekt Living A rchive sind 30 Kurator/innen, Filmschaffende und Künstler/innen, darunter auch Musiker und Performer, eingeladen, Projekte zu entwickeln, die von den Archivbeständen des Arsenal ausgehen. Mögliche Arbeitsergebnisse können kuratierte Filmprogramme sein, die Altes mit Neuem verbinden, thematische oder formale Linien aufzeigen und dazu spezielle Vermittlungsprogramme entwickeln. Im künstlerischen Bereich sind neu produzierte Installationen oder Filme denkbar, die Archivmaterial verwenden oder sich in anderer Form auf das Archiv beziehen, sowie zeitgenössische Stummfilmvertonungen oder Performances, die bewegte Bilder einbeziehen. Den Höhepunkt des Projektes bildet ein Festival im Kino Arsenal und im Salon Populaire in Berlin, auf dem die Arbeitsergebnisse

nur wenige gemeinsame Berührungspunkte haben, auch wenn im Laufe der Musikgeschichte Komponisten immer wieder sogenannte Ernste Musik mit Unterhaltungsmusik verbanden. Auch in den vergangenen Jahren entstanden zahlreiche Stücke, die auf eine derartige Verschmelzung abzielen. Hier setzt das Festival an, das erstmals 2009 eine internationale Plattform für den kreativen Austausch zwischen Künstlern und Produzenten beider musikalischer Strömungen bot, die Entwicklung etlicher neuer musikalischer Ansätze förderte und dazu beitrug, die Neue Musik aus ihrem Nischendasein zu befreien. 2011 möchten die Festivalmacher mit diversen Konzerten, Workshops und Vorträgen in drei Städten Neue Musik und elektronische Clubmusik zusammenbringen und dem Publikum musikalische Ansätze von Künstlern vorstellen, die musikalisch sowohl einen klassischen als auch einen elektronischen Hintergrund besitzen. Künstlerische Leitung: Jennifer Dautermann Essen: Fabian Lasarzik caszek

(PL)

/

Koordinator

/ Koordinator Gdansk: Michael Ja-

/ Künstler/innen: Sebastian Meissner (Klimek) &

Kwartludium

(PL)

, Victoire

(USA)

, Pierre Jodlowski

(FR)

, Jacaszek

& Silva Rerum (PL) , Julián Elvira & Jesus Navarro (ES) , Zeit-

kratzer, Moritz Eggert, Kai Schumacher, Hauschka, Trio ESJ (D/A) , Arandel (FR) u.a.

/ Berlin, Berghain, 23.–24.11.2011 / /

Berlin, Radialsystem, 25.–26.11.2011 Essen, Zeche Zollverein 24.–26.11.2011

/

/

Gdansk, Baltic Sea Cultural Center,

1.12.– 3.12.2011 www.piranhakultur.de

votre faust experimentelles musiktheater Henri Pousseurs experimentelles Musiktheater Vo t r e Fa u s t ist seit seiner Entstehung 1968 bislang noch nie konsequent in der ursprünglich konzipierten Form aufgeführt worden. Hauptfiguren des Stückes sind ein Theaterdirektor mit den Wesenszügen eines Mephisto und ein in Betriebsamkeit erstarrter Komponist, der den Auftrag zu einer Opernkomposition erhält, die ein Faust-Sujet behandeln soll. Das Radikale am Konzept ist die Anlage als variable Oper: Es liegt beim Publikum zu entscheiden, welchen Fortgang das Stück nimmt, und es verlangt von den Ausführenden, mehrere Stücke parat zu haben, von denen schließlich eines aufgeführt wird. Die geplante Umsetzung in der originalen Anlage wirft aktuelle Fragen auf, wie die nach der ökonomischen Zwangslage der Künste oder dem Einfluss des Publikumsgeschmacks auf künstlerische Entscheidungen. Nach der Premiere im Berliner Radialsystem ist geplant, die Produktion auf weiteren europäischen Festivals und Bühnen zu zeigen. Eine CD -Produktion soll das bislang in seiner Originalform wenig bekannte Werk einem größeren Publikum verfügbar machen.

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Künstlerische Leitung: Gerhardt Müller-Goldboom Regie:

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Georges Delnon (CH) Musiker: work in progress − Berlin . Berlin, Radialsystem V 14.–29.4.2012, Basel, Theater Basel,

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15.– 31.10.2012 www.workinprogress-berlin.de

sound exchange enklaven experimenteller musikkultur in mittelosteuropa Sound Exchange ist zugleich musikalische Recherche und Festival. Die Kuratoren begeben sich auf die Suche nach den Wurzeln experimenteller Musikkultur in Mittel- und Osteuropa. Diese Region besitzt eine lebendige, international vernetzte Szene von Musikern, Künstlern und Festivals experimenteller Musikkultur und Klangkunst. Lokale kompositorische und klangkünstlerische Traditionen sind jedoch durch den Umbruch 1989 weitgehend in Vergessenheit geraten. S ou n d E xc h a nge will diese Traditionen hörbar machen und zu aktuellen Entwicklungen in Beziehung setzen. Dazu soll zunächst eine mehrsprachige Web-Dokumentation entstehen, die bisher nur schwer zugängliche Informationen über diese Musikkulturen zusammenführt. In sieben verschiedenen Städten (Budapest, Bratislava, Prag, Krakau, Riga, Vilnius und Tallinn) finden Workshops statt zu Themen wie Klangkunst, Radiokunst oder elektronische Improvisation. Zwischen November 2011 und November 2012 ist eine Festivaltour durch diese Städte geplant. Die Kuratoren stellen gemeinsam mit Kuratoren vor Ort länderspezifische Programme aus Konzerten, Performances und Installationen zusammen, die sie auf Festivals wie dem Audio Art Festival in Krakau oder dem Ultr ahang Festival in Budapest präsentieren. Das große Abschlussfestival in Chemnitz führt alle entstandenen Konzertprogramme und Workshops zusammen. Sound Exchange ist ein Projekt von DOCK e.V. in enger Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut (Mittelosteuropa MOE ). Künstlerische Leitung: Carsten Seiffarth, Carsten Stabenow,

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Beratung: Golo Föllmer Kurator/innen: Marek Choloniewski (PL) , Milos Vojtechovsky(CZ) , Slavo Krekovic(SK) , Viestarts Gailitis (LV) , Antanas Jasenka (LT) , Zsolt Sorés (HU) , Aivar Ton-

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so (EST) , Andreas Winkler u.a. Künstler/innen: Milan Adamciak (SK) , Arturas Bumšteinas (LT) , Kaspars Groshevs (LV) , Sven Grünberg (EST ) , Milan Grygar (CZ ) , Wolfgang Heisig, Frank Bretschneider, Raul Keller (EST ) , Ernö Kiraly(HU) , Hardijs Ledins (LV ) , Lukasz Szalankiewicz (PL) , Pal Toth (HU) , Daniel Matej (SK) u.a.

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Budapest, Bratislava, Prag, Krakau, Riga,

Vilnius, Tallinn und Chemnitz, November 2011 – Novem-

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ber 2012 www.dock-berlin.de


bühne und bewegung

civic mimic tanzperformance installation Die Bühneninstallation befasst sich mit

den Wechselwirkungen zwischen Tanz und Architektur — zwei Disziplinen, die sich beide als choreografische Systeme verstehen lassen, insofern sie menschliches Verhalten in Raum und Zeit regulieren. Civic Mimic thematisiert die Darstellungskonventionen beider Disziplinen, die es in einen intermedialen Dialog zueinander setzt: Wie kann man Übersetzungsprozesse zwischen Choreografien, Komposition und Architektur mittels Architekturplänen oder Tanznotationen, Zeichnungen und Partituren, mittels Video, Musik und Performance fassen? Wie lässt sich der Raum durch den performativen Akt des Tanzes mit- und umgestalten? Das Projekt verschaltet Tanz, Installation und Live-Musik miteinander. Über die wechselnden Perspektiven interaktiver Videosysteme werden die Zuschauer zunehmend, physisch wie medial, in die bauliche Struktur und die Klangräume der Choreografie einbezogen. C i v i c M i m i c entsteht in Kooperation internationaler Künstler und Performer unterschiedlicher Sparten; Aufführungen in Frankreich und Italien unterstreichen seinen internationalen Charakter.

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Künstlerische Leitung: Richard Siegal Musikalische Leitung: Hubert Machnik

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Dramaturgie: Christine Peters

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Archi-

tektur: Françoise Roche (F ) Lichtdesign: Antoine SeigneurGuerrini (F )

/ Kostüme: Alexandra Bertaut / Tanz: Fran(F )

cesca Mattavelli (IT ) , Camille Revol (F ) , Stéphanie Lavaux (F ) ,

/ / München, Muffatwerk, 11.–12.10.2011 / Paris, Chaillot, 15.–17.12.2011 / Nürnberg, Paula Sanchez (ES) , Caroline Geiger, Kenneth Flak (N) u.a.

Dresden, Hellerau, 21.–25.9.2011

Tafelhalle, Februar 2012

wunder der prärie internationales festival für performance, live art und kunst Das seit seiner Gründung 2003 in Mannheim erfolgreiche internationale Festival Wu n der der P r är ie zeigt aktuelle Positionen junger Künstler/innen, die sich in diesem Jahr in ihren Arbeiten insbesondere mit den Schnittstellen zwischen Performance, Tanz und Theater sowie Bildender Kunst auseinandersetzen. Eine Vielzahl von Aktionen, Installationen und Interventionen im städtischen Raum kreisen 2011 um das Thema Visionen — das Unmögliche denken, wollen, tun. Unter den Künstlern Bill Aitchison mit seiner Arbeit I n d i f f e r e n c e , die den freien Willen zum Gegenstand hat, oder Georg Winter, der sich in seinem Projekt A n a s t r o p h a l e Sta d t mit Zukunftsszenarien der Stadt Mannheim befasst. Das Festival möchte mit künstlerischen Mitteln und unter Einbeziehung von Mannheimer Bürger/ innen offene Diskussionsforen bieten und Zukunftsmodelle entwickeln. Es fragt nach der visionären Kraft der Kunst und will Impulse für die Diskussion über die Funktion von Visionen im Medium der Kunst geben. Die internationale Vernetzung des Festivals soll durch die Initiierung neuer Ko-Produktionen zwischen Theatern und Festivals aus Deutschland und den Beneluxstaaten ausgebaut und vertieft werden. Künstlerische Leitung und Kurator/innen: Gabriele Oßwald, Wolfgang Sautermeister, Tilo Schwarz / Künstler/innen: Bill Aitchison (GB) , David Weber-Krebs (BE ) , Igor Grubic (HR) , Jacob Wren (CA) , Georg Winter, Herbordt / Mohren, Agata Maszkiewicz (AT ) , Doris Uhlich (AT ) , Jeffery Byrd (US) , Ottmar Wagner (AT ) u.a. / Mannheim, 7.–17.9.2011 / www.zeitraumexit.de

bis 1986 war sie Choreografin und Künstlerische Leiterin des Tanztheaters Bremen und in dieser Zeit entwickelte sie die Produktion C a l l a s . Das Stück zählt zu den herausragenden Werken des deutschen Tanztheaters und wurde in den 1980er Jahren weltweit zu Gastspielen und 1984 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. C a l l a s ist keine Biografie der großen Opernsängerin. Vielmehr erzählt Reinhild Hoffmann in diesem Stück vom Theater selbst, vom Leben auf der Bühne, von Scheinwelten und vom Starsystem. Nach 30 Jahren soll diese Produktion am Theater Bremen rekonstruiert und neu erarbeitet werden. Reinhild Hoffmann leitet das Reenactment gemeinsam mit dem ursprünglichen Produktionsteam, dem Bühnenbildner Johannes Schütz und dem Kostümbildner Joachim Herzog. Das Seminar für Tanzwissenschaft der FU Berlin wird das Projekt wissenschaftlich begleiten. Die Rekonstruktion soll in allen Phasen wissenschaftlich dokumentiert, ausgewertet und als Buch und DVD publiziert werden. Das Theater Bremen plant für die Produktion auch eine Kooperation mit dem Ballett der Oper in Posen und der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen; nach seiner Premiere in Bremen soll C a l l a s am Opernhaus in Posen aufgeführt werden. Künstlerische Leitung: Reinhild Hoffmann, Patricia Stöcke-

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mann Bühne: Johannes Schütz Kostüme: Joachim Her-

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zog Bremen, Theater Bremen, 16.6.–13.7.2012, Posen, 20.6.–

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24.6.2012 www.theaterbremen.com

moments eine geschichte der performance in 10 akten Wie kann eine vergängliche Kunstform wie die Performance im historischen Rückblick dargestellt und interpretiert werden? Die Ausstellung Mom e n t s zeigt LiveActs und erarbeitet neue Formate einer aktiven, nicht musealisierenden Darstellung der Performance-Geschichte. Sie konzentriert sich dabei auf die ›heroische‹ Periode der Performance der 1960er bis 1980er Jahre. In diesen Jahrzehnten fand eine radikale Neudefinition des Genres statt, die vornehmlich von weiblichen Performerinnen vorangetrieben wurde. Künstlerinnen wie Marina Abramović, Graciela Carnevale, Lynn Hershman Leeson, Adrian Piper und Yvonne Rainer reflektierten dabei unter anderem männlich kodierte Blickkonstruktionen und Verhaltensweisen. Die eingeladenen Künstlerinnen werden ihre historischen Performances selbst in von ihnen gestalteten Installationen dokumentieren. Eine Gruppe jüngerer Kollegen unter Leitung des renommierten französischen Choreografen Boris Charmatz entwickelt einen szenischen Akt um zehn zentrale Momente der Performancegeschichte, der wiederum von einem Filmteam um den koreanischen Künstler Sung Hwan Kim künstlerisch-filmisch dokumentiert wird. Der entstehende Film wird in der Ausstellung ebenfalls gezeigt. Die Ausstellung bewegt sich zwischen medialer Dokumentation und Neu-Interpretation, zwischen Erinnerung und Zeugenschaft. Sie möchte an aktuell geführte Debatten um die adäquate Darstellung von Performances anknüpfen, jedoch einen Weg jenseits von Reenactment oder Musealisierung aufzeigen. Künstlerische Leitung: Boris Charmatz Georg Schöllhammer (AT ) mović gnaud

(USA /RS) (FR)

rah Hay (USA)

lea

, Graciela Carnevale

, Simone Forti

(USA)

/

(FR)

(I/USA)

(AR)

, François Chai-

, Anna Halprin (USA) , Debo-

, Nikolaus Hirsch, Lynn Hershman Leeson

, Sung Hwan Kim (K R) , Sanja Iveković

(GR)

, Sigrid Gareis,

Künstler/innen: Marina Abra-

, Adrian Piper

(USA /D)

(HR)

, Lenio Kak-

, Johannes Porsch (AT ) , Yvonne

Rainer (USA) , Jan Ritsema (NL/F ) , Christine De Schmedt (B) ,

/

Gerald Siegmund, Meg Stuart (USA /D) Karlsruhe, Zentrum

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für Kunst und Medien, 7.3.2012 – 29.4.2012 www.zkm.de

unendlicher spaß ein performanceprojekt nach dem roman von david callas von reinhild hoffmann reenact- foster wallace Als Abschlussprojekt der ment Reinhild Hoffmann war als Tänzerin wie Intendanz von Matthias Lilienthal bringt das

als Choreografin erfolgreich und hat das deut- Hebbel am Ufer in Berlin im Sommer 2012 das sche Tanztheater entscheidend geprägt. Von 1978 Ausnahmewerk U n e n d l i c h e r S pa s s von

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kulturstiftung des bundes magazin 18

David Foster Wallace (1962–2008) auf die Bühne. Der amerikanische Bestsellerautor zeichnet darin das zeitgenössische Porträt einer von Leistungsträumen und Versagensneurosen strapazierten Gesellschaft, die in ihrem Überlebenswillen durch tiefe Depression und grenzenlose Erschöpfung geschwächt ist. Ein Text, der eine Gesellschaft im Zustand kontinuierlicher Überforderung darstellt und dessen Komplexität zugleich auch seine Leser an ihre Grenzen führt. Das Projekt fasst das ganze Ausmaß dieser Diagnose einer »Müdigkeitsgesellschaft« ins Auge und entwirft ein hyperrealistisches Stadtraumprojekt, das 24 Stunden lang an acht verschiedenen Spielorten in Berlin die uramerikanischen Ostküsten-Szenarien an die Spree transformiert. Regisseure, Choreografen und Performer des HAU, die sich bereits mit (sub-)urbanen Strukturen und der Frage nach dem Kontrollverlust des Individuums gegenüber der Stadt auseinandergesetzt haben, sind eingeladen, dort einzelne Sequenzen in der Erzählrhythmik des Romans zu inszenieren. Die Besucher werden per Bus, S -Bahn oder Schiff entlang der Stadtränder zu verschiedenen Schauplätzen gefahren. Sie begeben sich auf eine Reise durch das Erzähllabyrinth des Romans, die sie unter anderem mit einer Nervenheilanstalt, den Anonymen Alkoholikern, ödem Brachland, depressiven Vorgartenstimmungen und Berlins Großstadtutopien konfrontiert. Nicht im kulturellen und sozialen Zentrum Berlins oder in der geschützten Zone des Theaters, sondern in der städtischen Peripherie soll die Vision von David Foster Wallace auf ihre Relevanz in Deutschland überprüft werden. Die Reise führt an Orte, wo Langeweile grassiert und Depression wohnt, wo sich also innerhalb der Stadt »gesellschaftliche Ermüdung« zeigt. Mit der gewollt überfordernden Anlage und der einzigartigen Verknüpfung von Theater, Performance Art und Literatur lotet das Projekt die Grenzen des Möglichen im Theater und für die Besucher aus. Künstlerische Leitung: Matthias Lilienthal

/ Regie: Toshiki

Okada ( JP) , Philippe Quesne (FR) , Jeremy Wade (USA) , Anna

Sophie Mahler, Harmony Korine (USA) , Anna Viebrock u.a.

/ Berlin, verschiedene Orte, Sommer 2012 / www.hebbelam-ufer.de

africologne festival des afrikanischen theaters Seit 2010 steht das Theater im Bauturm Köln im Austausch mit dem Festival R é c r é ât r a l e s (Résidences Panafricaines d’écriture, de création et de recherches théâtrales). Das Theaterfestival in Ougadougou (Burkina Faso) versammelt alle zwei Jahre maßgebliche Uraufführungen und Gastspiele aus dem gesamten afrikanischen Kontinent und ist auf dem Weg, die zentrale Theaterbiennale in West-Afrika zu werden. In drei Phasen möchten beide Partner in den nächsten Jahren ihre künstlerische Zusammenarbeit ausbauen und ein tragfähiges Netzwerk aufbauen: Zunächst zeigte im Juni 2011 das Festival des modernen (west-)afrikanischen Theaters a f r i c o l o g n e in Köln sieben Produktionen, die erstmalig in Europa bzw. im deutschsprachigen Raum zu sehen sein werden. Neben den Stücken, die auf Französisch oder Mooré (eine der burkinischen Landessprachen) präsentiert werden, gibt es ein Rahmenprogramm mit szenischen Lesungen und Diskussionen. Im Jahr 2012 ist dann eine Koproduktion des Bauturm mit der Cie. Falinga und dem Festival R é c r é âtrales mit einem deutsch-afrikanischen Team geplant, die sowohl in Burkina als auch in Deutschland Premiere haben wird. Abschließend finden sich die Beteiligten erneut zum Festival a f r i c o l o g n e im Jahr 2013 in Köln zusammen, bei dem auch die Erfahrungen der interkulturellen Zusammenarbeit ausgewertet werden sollen.

Stefan Hikraft), Luzius Heydrich u.a. / Köln, Theater am Bauturm, 22.–28.6.2011 und 17.–25.6.2013, Burkina Faso, 4.1.–8.12.2012 / www.theater-im-bauturm.de

vor uns das verhießene land festival zum 10. todestag von einar schleef 2011 jährt sich zum zehnten Mal der Tod des Autors, Regisseurs und Malers Einar Schleef. Der Arbeitskreis Einar Schleef veranstaltet zu diesem Jahrestag ein mehrtägiges Festival. Es soll in Sangerhausen stattfinden, der Stadt in der Schleef geboren und aufgewachsen ist. Sangerhausen besitzt wenige kulturelle Einrichtungen und doch gelingt den Initiatoren Überraschendes: ein Theaterfestival in einer Stadt ohne Theater. So wird der Regisseur Ernst M . Binder das letzte von Schleef geschriebene Theaterstück To t e n t r o m p e t e n I V in Sangerhausen inszenieren. Das Maxim Gorki Theater Berlin hat Einar Schleefs Text D i e A b s c h l u s s f e i e r in der Regie von Armin Petras auf die Bühne gebracht und entwickelt dazu gemeinsam mit Schülern aus Sangerhausen eine Sangerhausener Fassung. Zusätzlich zu den Theater- und Performanceprojekten gibt es Lesungen, Diskussionen, eine Toninstallation und mehrere Ausstellungen. Für die Ausstellungen kooperiert der Arbeitskreis mit dem Schleef-Archiv der Akademie der Künste zu Berlin und mit der Stiftung Moritzburg in Halle, die Schleefs Bildnachlass verwaltet und Exponate bereitstellen wird. Künstlerische Leitung: Einar-Schleef-Arbeitskreis

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Mitwir-

kenke: Ernst Marianne Binder, Armin Petras, Gruppe Dramazone, Thomas Thieme, Wolfgang Behrens, Christiane Voigt, Michael Freitag, Marko Kloß, Gabriele Gerecke

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15 Orte in Sangerhausen und Eisleben, 7.–11.10.2011 www. einar-schleef-arbeitskreis.de

odyssee: heimat interkulturelles theaterfestival Das Stadttheater Bremerhaven hat gemeinsam mit dem Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven und dem International Theatre Institute in Paris das Theaterfestival O d y s s e e : H e i m a t veranstaltet. Die Auswandererstadt Bremerhaven ist der ideale Ort für ein solches Festival. In den letzten 150 Jahren sind von hier über 7 Millionen Menschen ausgewandert. Die eingeladenen Gastspiele, Installationen und die Eigenproduktionen des Stadttheaters Bremerhaven beschäftigten sich auf höchst unterschiedliche Weise mit den Themen Migration, Heimatsuche und Identität. Flankiert wurde das künstlerische Programm von einem Symposium zu den Themen Migration und Heimat im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven, kuratiert vom Forum Diskurs Dramaturgie, einer Arbeitsgruppe der Dramaturgischen Gesellschaft. Die Gastspiele des Festivals zeichneten sich durch einen ungewöhnlichen inhaltlichen und ästhetischen Blickwinkel aus. Neun Gastspiele namhafter Gruppen und Künstler wie Rimini Protokoll sowie Installationen von Anna Peschke und gold extra waren in der Festivalwoche zu sehen. Eröffnet wurde das Festival mit dem Auftragswerk des Stadttheaters Bremerhaven I n m e i n e m H a l s s t ec k t e i n e We lt k uge l von Gerhard Meister. Außerdem war die Deutsche Erstaufführung von A s m a l l , s m a l l wo r l d von Konradin Kunze zu sehen. Und die Regisseurin Monika Gintersdorfer war eingeladen, ihre Reihe Logobi mit ivorischen Tänzern und zeitgenössischen Choreografen in Bremerhaven fortzusetzen. Künstlerische Leitung: Ulrich Mokrusch, Natalie Driemeyer

/ Künstler/innen und Beteiligte: Simone Eick, Fräulein Wunder AG , gold extra, Barbara Kastner, Nicole Oder, Nicola

Unger, Konradin Kunze, Sophia Stepf, Niels Kurvin, Gerhard Meister, Monika Gintersdorfer, Rimini Protokoll, Philipp Harpain, Anna Peschke, Nora Mansmann u.a.

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Bremerhaven, Stadttheater Bremerhaven, 4.–12.6.2011 www.

Künstlerische Leitung: Gerhardt Haag + Etienne Mi- stadttheaterbremerhaven.de noungou (BF ) / Künstler: Sidiki Yongbaré (BF ) , Edoxie L. Gnonla (BF ) , Diendonné Niangouna (CD) , Criss Niangouna (CD) , Patrick Joseph (R H) , Tutur 3 (André Erlen /


gremien stiftungsrat Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Vorsitzender des Stiftungsrates

Bernd Neumann

Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien

für das Auswärtige Amt

Cornelia Pieper

Staatsministerin

für das Bundesministerium der Finanzen

Steffen Kampeter

Parlamentarischer Staatssekretär

für den Deutschen Bundestag

P rof. Dr. Nor b e r t L a m me r t

Bundestagspräsident

D r. h . c . Wo l f g a n g T h i e r s e

Bundestagsvizepräsident

Hans-Joachim Otto

Parlamentarischer Staatssekretär

als Vertreter der Länder

P r o f. D r. J o h a n n a Wa n k a

Niedersächsische Ministerin für Wissenschaft und Kultur

Wa l t e r S c h u m a c h e r

Staatssekretär, Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz

Klaus Hebborn

Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport, Deutscher Städtetag

Uwe Lübking

Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund

als Vorsitzender des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder

Peter Harry Carstensen

Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein

als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur

Senta Berger

Schauspielerin

Durs Grünbein

Autor

P r o f. D r. D r. h . c. Wo l f L e p e n i e s

Soziologe

als Vertreter der Kommunen

stiftungsbeirat Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten. Prof. Dr. Clemens Börsig

Vorsitzender des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI e.V.

Jens Cording

Präsident der Gesellschaft für Neue Musik e.V.

Prof. Martin Maria Krüger

Präsident des Deutschen Musikrats

P rof. Dr. h.c. K laus - Dieter L eh ma n n

Präsident des Goethe-Instituts

Isabel Pfeiffer-Poensgen

Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder

D r. Vo l k e r R o d e k a m p

Präsident des Deutschen Museumsbundes e.V.

Dr. Dorothea Rüland

Generalsekretärin des DAAD

Dr. Georg Ruppelt

Vizepräsident des Deutschen Kulturrats e.V.

Prof. Dr. Oliver Scheytt

Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.

Johano Strasser

Präsident des P. E .N. Deutschland

F r a n k We r n e k e

Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di e.V.

Prof. Klaus Zehelein

Präsident des Deutschen Bühnenvereins e.V.

jurys und kuratorien Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter www. kulturstiftung-bund.de bei den entsprechenden Projekten.

vorstand Hor tensia Völckers

Künstlerische Direktorin

Alexander Farenholtz

Verwaltungsdirektor

Sekretariate

Beatrix Kluge / Beate Ollesch [Büro Berlin] / Christine Werner

team Referent des Vorstands

Dr. Lutz Nitsche

Justitiariat / Vertragsabteilung

Dr. Ferdinand von Saint André [ Justitiar] / Doris Heise / Anja Petzold / Susanne Dressler

Kommunikation

Friederike Tappe-Hornbostel [Leitung] / Tinatin Eppmann / Diana Keppler / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier

Förderung und Programme

Kirsten Haß [Leitung]

Allgemeine Projektförderung

Torsten Maß [Leitung] / Bärbel Hejkal / Steffi Khazhueva

Wissenschaftliche Mitarbeit

Dorit von Derschau / Dr. Alexander Klose / Antonia Lahmé / Anne Maase / Uta Schnell / Ines Große / Marcel Gärtner / Kristin Salomon / Kristin Schulz

Projektprüfung

Steffen Schille [Leitung] / Berit Koch / Kristin Madalinski / Fabian Märtin / Barbara Weiß / Marius Bunk

Verwaltung

Andreas Heimann [Leitung] / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe / Antje Wagner

Herausgeber Kulturstiftung des Bundes / Franckeplatz 1 / 06110 Halle an der Saale /Tel 0345 2997 0 / Fax 0345 2997 333 /info@kulturstiftung-bund.de /www.kulturstiftung-bund.de

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kulturstiftung des bundes magazin 18

Vorstand

Hortensia Völckers / Alexander Farenholtz [verantwortlich für den Inhalt]

Redaktion

Friederike Tappe-Hornbostel

Gestaltung

cyan Berlin

Redaktionelle Mitarbeit Christoph Sauerbrey

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung

/ Tinatin Eppmann

des Bundes — alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung

Herstellung hausstætter

Redaktionsschluss

31.8.2011

insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger

Auflage

Fotonachweis

© Sebastian Bolesch

schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes.

dt. 26.000 / engl. 4.000


Q G


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kulturstiftung des bundes magazin 18


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