Magazin #14 der Kulturstiftung des Bundes

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texte von regina bittner gabriele brandstetter michael kleeberg stefan koldehoff wojciech kuczok dorion weickmann

u.a.

das magazin der kulturstiftung des bundes herbst 2009 14

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1 Rudolf von Laban Neigung rechts 5A-Skala (oben), Neigung 2-(e), (r0) aus der B-Skala (unten), undatiert, unbekannter Fotograf [L] 2 Ohne Titel, Nach lass Jenny Gertz, undatiert, unbekannter Fotograf [L] 3 Plakat zum 2 . Tänzerkongress von 1928 in Essen. Max Burchartz, VG Bild-Kunst, Bonn 2009 [L] 4 ohne Angaben [L]

»Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwe re der Dinge, findet den Vereinzelten zu Gemeinschaft. Ich lobe den Tanz, der alles fordert und fördert, Gesundheit und klaren Geist und eine beschwingte Seele. O Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen.« Ob Au gustinus Theologe und Philosoph der Spätantike und bis heu te einer der einflussreichsten Kirchenväter sich auf eigene Er fahrungen mit dem Tanzen berufen konnte, ist nicht überliefert. Dennoch hat Augustinus etwas vom Wesen des Tanzes erfasst, das bis heute eine erstaunliche Gültigkeit zu besitzen scheint. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die Texte, die wir für un seren Themenschwerpunkt Tanz in dieser Ausgabe des Magazins sammelten. Von der Schwere der Dinge befreien: Michael Kleebergs literarischer Essay Vorspiel erzählt von der Einübung in die Leichtigkeit der erotischen Annäherung durch den Tanz; Dorion Weickmann beschreibt die Hybris, mit der wir den Tanz als Wunderdroge für körperliche und geistige Ge sundheit feiern; Gabriele Brandstetter denkt über die gemeinschaftsstiftende und Kulturen verbindende Kraft des Tanzes nach; Christina Deloglu fragt, warum Tanzfilme Kult sind und vor allem Teenager begeistern. Die Auswahl der Beiträge zum Themenschwerpunkt Tanz in diesem Heft war von der Idee geleitet, dass das Tanzen nicht nur die Spezialisten an geht. Tanzen ist im besten Sinn populärer und im gesellschaft lichen All- und Festtag verbreiteter als andere künstlerische Aus drucksformen. Wissen wir mit dem zeitgenössischen Tanz als Kunstform so wenig anzufangen, weil die meisten von uns über ihn und seine Geschichte weniger wissen als über Literatur, The ater, Film und Bildende Kunst? Hat es der Tanz als Kunstsparte so schwer, wenn es um die öffentliche Anerkennung seiner kul

turellen Bedeutung geht, weil wir für sein Verständnis nicht aus reichend alphabetisiert sind?

Wir wollen in diesem Heft ein Loblied auf den Tanz singen, wohl wissend, dass er im Reigen der Kunstsparten immer noch ein Schattendasein in der öffentlichen Wahrnehmung führt. Mit dem Tanzplan Deutschland hat die Kulturstiftung des Bundes zwar Voraussetzungen für bundesweit nachhaltige Strukturverbesserungen des zeitgenössischen Tanzes geschaffen. Doch wenn im Jahr 2010 die umfassenden Fördermaßnahmen des Tanzplans auslaufen, bleibt immer noch viel zu tun. Wir sind aber zuversichtlich, dass die Tanzszene durch die Unterstützung in den vergangenen fünf Jahren wertvolle Erfahrungen machen konnte, die sie künftig beim Fordern stärkt und den kulturpoli tisch Verantwortlichen das Fördern erleichtert. Der Zweite große Tanzkongress im Rahmen des Tanzplans, der vom 5. bis 8 November 2009 in Hamburg stattfindet, ist eine Einladung an die Experten des Tanzes aus Praxis und Wissenschaft, auf die Fragen zur Zukunft des Tanzes in Deutschland Antworten zu entwickeln und Strategien zu seiner kulturpolitischen Veranke rung zu entwerfen. Und er ist der Anlass dafür, diesmal ein Tanz heft zu machen, für das wir eine ungeheure Menge an Fotomate rial in den Tanzarchiven in Köln und Leipzig gesichtet haben. Für die große Unterstützung danken wir Thomas Thorausch und Bettina Hesse (Köln) sowie Janine Schulz (Leipzig). Daniela Haufe und Detlef Fiedler (cyan, Berlin) haben mit der ihnen eigenen Mischung aus Leidenschaft und Genauigkeit die Bilder in diesem Heft zusammengestellt, die den Reichtum unseres Tanzerbes selbst im vergleichsweise kleinen Rahmen unseres Magazins augenfällig werden lassen.

Wie immer wollen wir Ihnen auch in dieser Ausgabe einen Über blick über unsere aktuell geförderten Projekte und einen Ein blick in unsere Programmarbeit geben. Stefan Koldehoff war die Beschäftigung mit dem KUR -Programm zur Konservie rung und Restaurierung von mobilem Kulturgut aufschlussreich für grundsätzliche Erwägungen über Maßnahmen zum materi ellen Erhalt unseres kulturellen Erbes. Regina Bittner hat sich mit dem Vermächtnis der mährischen Stadt Zlín auseinan dergesetzt, einer in Europa einmaligen Planstadt, in der der Schuhhersteller Bat’a seine Utopie der Moderne verwirk lichte. Im Mai diesen Jahres fand dort im Rahmen von Zipp— deutsch-tschechische Kulturprojekte eine inter nationale Konferenz gleichnamigen Titels statt, bei der es auch darum ging, wie an dieses Erbe zu erinnern und anzuknüpfen sei. Michaela Schlagenwerth berichtet in ihrer Repor tage über Heimspiel-Theaterprojekte von Wohl und Wehe bei der Recherche und Umsetzung von Stücken, in denen die Theaterleute gemeinsam mit Bewohnern der Stadt lokalspezifische Themen auf ungewöhnliche Weise in Szene setzen. Mit der Erzählung des polnischen Schriftstellers Wojciech Kuczok Warum wir den Kommunismus nicht abschaff ten beenden wir unsere literarische Reihe Väter & Söhne Anlässlich des Gedenkjahres 2009 zum 20. Jahrestag der europäischen Einigung hatten wir jüngere Schriftsteller aus den mittelosteuropäischen EU -Ländern um persönliche Erinnerungen ge beten, wie die gesellschaftspolitischen Umwälzungen das Ver hältnis der Söhne zu ihren Vätern beeinflussten.

tanz michael kleeberg vorspiel 6 interview mit hortensia völckers »wir ändern nur etwas durch erfahrung« 13 dorion weickmann schön schlank und superschlau? 21 gabriele brandstetter nomadischer tanz 24 christina deloglu ein traum wird wahr 32

väter und söhne wojciech kuczok warum wir den kommunismus nicht abschafften 35 kur stefan koldehoff erhalt oder verfall 38 zipp regina bittner aufstieg und beifall 44 heimspiel michaela schlagenwerth das publikum liebt es 46 meldungen 49 projekte 50 gremien 55

Die Bilder in diese Ausgabe des Magazins geben einen Einblick in die Schätze der Tanzarchive in Köln und Leipzig. Trotz der Bilder flut in diesem Heft können wir Ihnen nur die äußerste Spitze der Berge an Archivmaterial zeigen. Die Qual der (Aus)Wahl war ent sprechend groß: Welche Bilder bestimmen das kulturelle Gedächtnis des Tanzes und was fehlt? Mit dem Tanzplan Deutsch land setzt sich die Kulturstiftung des Bundes nicht nur für den zeitgenössischen Tanz ein, sondern auch dafür, dass seine Ge schichte dokumentiert wird und als integraler Bestandteil unseres kulturellen Erbes öffentliche Anerkennung erfährt. Die »flüch tige« Kunstform Tanz steht vor besonderen Herausforderungen, wenn sie sich ihrer eigenen Geschichte versichern und sie für aktuelle Weiterentwicklungen nutzen will. Der Tanzplan hat deshalb unter anderem auch die Tanzarchive in ihren Förderkatalog einbezogen. Die vorliegende Bildauswahl aus dem Fundus der Tanzarchive war vor allem von dem Wunsch geleitet, ein facetten reiches Panorama des Tanzes zu entwerfen, das über die Kunst form »zeitgenössischer Tanz« hinausreicht und sie in den Zusammen hang einer umfassenden kulturellen Praxis stellt. /// Die Bildunterschriften folgen den Angaben auf den Rückseiten der Fotos. Für einige Bilder konnten trotz aufwendiger Recherchen keine Urheber ausfindig gemacht werden. Wir veröffentlichen die Fotos mit dem Hinweis, dass mögliche Ansprüche geltend gemacht werden können und Rechte gewahrt bleiben.

editorial
Hortensia Völckers / Vorstand KulturAlexander Farenholtz stiftung des Bundes
kulturstiftung des bundes magazin 143 [K] = Köln [L] = Leipzig

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1 St. Moritz, Schweiz, Tanzende Männer am Sonntagnachmittag, undatiert, Foto: Keystone [K] 2 Mary Wigman, Berlin am Wildpfad 30, Juni 1941, unbek. Fotogra f [K] 3 Streik in der Pariser Fleischfabrik Olida, 1936, Foto: Keystone [K] 4 Beschriftung auf der Rückseite des Fotos: Madagaskar in Paris. Tänzer aus Mada gaskar bei der Vorführung wilder Kriegstänze in der Kolonialausstellung. 1936, Foto: Keystone [K] 5 Fest der fran zösischen Provinzen in Nizza, undatiert, Foto: Keystone [K]

vorspiel

von michael kleeberg

Lange Zeit war das Tanzen für mich nichts anderes als ein not wendiges Vorspiel für den sexuellen Akt. Natürlich wurde in jenen Jahren dieser sexuelle Akt nie konsu miert, blieb pure Theorie und Fantasie, aber zu tanzen war so nah, wie man ihm überhaupt nur kommen konnte und wollte. Tanzen war der einzig legitime Weg, einen weiblichen Körper spüren zu dürfen, sich an ihn pressen zu dürfen, sich ihm so sehr nähern zu dürfen wie es notwendig war, um jenes unglaubliche und ungekannte Gefühl der Erregung zu empfinden. Dass man sich dabei bewegen musste, war ein notwendiges Übel. Dass man dabei Kleidung trug, war ein Faktum, das die jugendliche Vorstellungskraft bei geschlossenen Augen wegretuschie ren konnte. Tanzen war für die meisten Jungen wie mich im Alter zwischen vierzehn und vierundzwanzig ein Mittel zum Zweck. Eine List, denn in den Jahren, von denen ich spreche, den Siebzigern, war für einen Jungen nicht davon auszugehen, dass ein Mädchen diese intimen Kontakte ebenfalls wünschte. Viel mehr war das sogar völlig unvorstellbar. Also musste es überlistet werden, und das fast einzige Mittel, das uns zur Verfügung stand, war der Tanz.

Aber darf man das, was wir da taten, überhaupt Tanz nennen? Denn das, worauf die Jungen auf Schulfeiern, privaten Partys, Gemeindeschwoofs und Ähnlichem warteten und lauerten, wa ren ausschließlich die wenigen Slows, die ein mitfühlender Discjockey alle fünfzehn oder zwanzig Lieder spendierte, oder, wie das damals in meiner schwäbischen Jugendheimat treffend und griffig genannt wurde: der Stehblues. Nein, niemand hätte eine Lanze dafür gebrochen, den Stehblues zu den Tänzen zu rech nen, es war unausgesprochen jedermann klar, dass er nichts wei ter war als eine Konzession an die pubertär verrückt spielenden männlichen Sexualhormone.

Es gab, erinnere ich mich, bei diesen Gelegenheiten zwei Typen von männlichen Tänzern: Die einen balzten während der nor malen schnellen Nummern, bei denen sich die Partner nicht be rührten, ja bei denen nicht einmal immer sicher war, wer mit wem oder ob überhaupt jemand mit jemandem tanzte, in der Art von Tauben in der Brunst, die mit angeschwollenem Hals und Federkleid und gesträubten Schwanzfedern um die Weibchen herumstolzieren, ihnen den Rückweg abschneiden, an ihnen vorbei auf und ab paradieren, mit wackelndem Steiß und lächer lichem Gurren.

Die anderen machten aus ihren Absichten kein Hehl und tanz ten während der schnellen Nummern überhaupt nicht, um sich dann, sobald eine langsame begann, auf die Tänzerinnen zu stürzen, als versuchten sie auf dem Rummelplatz, bevor die Sirene ertönt, einen freien Autoscooter zu bespringen.

Ich selbst gehörte zu einer Kompromisslergruppe, die man bedenke, wir befanden uns in Böblingen und nichts konnte für den Ruf eines dortigen Jungen vernichtender sein als unmänn

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liches, exaltiertes, weibisches Verhalten, und John Travolta und Michael Jackson existierten noch nicht , um gute Miene zum bösen Spiel zu machen, ein wenig mit herumhampelten, aber nur, um bereit und ihrer Partnerin nahe zu sein, wenn Child in Time von Deep Purple aufgelegt wurde. Meine Generation muss zu den ersten im 20. Jahrhundert gehört haben, die nicht mehr den klassischen Partnertanz, den Gesell schaftstanz pflegten, der historisch vermutlich irgendwann zwi schen Rock ’n’ Roll und Twist aus dem Leben der jungen Men schen verschwand. Ein Verlust an Zivilisation, wie ich von heute aus gesehen sagen würde. Denn wenn auch die männlichen Ver treter der vorangegangenen Generationen meiner Überzeugung nach mit dem Tanz ganz ähnliche Ziele verfolgten wie die der unseren Frauen tanzen ja aus völlig anderen Gründen , so zwang sie die Choreografie ihrer Tänze vom Walzer bis zum Fox doch zu einer eleganten Zurückhaltung und Disziplin, die uns, die wir uns wie die Tiere an unseren Partnerinnen rieben, gänz lich abging.

Ja, ich glaube, der Tanz wie überhaupt Teile der Gesellschaft be finden sich auf ganz direktem Wege zurück zu einer Tribalisie rung und Rebarbarisierung, für die der Verlust komplizierter Re geln und einer Etikette nur ein Beispiel ist, andere wären die Ten denz zum Alleine- und Für-sich-Tanzen, zum Tanzen als Exhi bitionismus, als Autismus, zur Feier des eigenen Körpers als eines autonomen Kunstwerks samt Piercings, Tätowierungen, falschen Nägeln, gezüchteten Muskeln und einer Aura des Herma phroditischen. Ein solch tanzendes drittes Geschlecht braucht in der Tat keinen Partner mehr, sondern nur noch Zuschauer, kei nen Sex mehr, sondern nur noch Facebook.

Der Siegeszug der Diskotheken, später Clubs genannt, begann in meiner Jugend, aber welch ein Unterschied zwischen dem harm losen Seestudio in Böblingen, das ich 15 jährig ein paar Mal be suchte, weil eine Mitschülerin mir den Tipp gegeben hatte, ich könne dort ein Mädchen, auf das ich es abgesehen hatte, auf mich aufmerksam machen, der weißen, hellen Bhagwan-Disco thek in Hamburg-Pöseldorf, die ich zehn Jahre später mit einem befreundeten Model besuchte, um mich in der damals beginnenden postapokalyptischen neuen Amüsierwelt der frühen Achtziger modern und auf der Höhe der Zeit zu präsentieren, und je ner Technodisko, in die ich Ende der Neunziger auf einer Ge schäftsreise in London im Kollegenkreis geriet und die mit ihrem atemnehmenden, infernalischen Lärm für mich zum Synonym der Hölle geworden ist. Wenn es, mit Dante zu sprechen, indivi duelle Höllen gibt, dann ist meine genau so ausgestattet, obwohl ich der Meinung bin, ich könne mein Sündenregister durchaus noch ein wenig dehnen, bevor ich ihr wirklich überantwortet werden müsste.

Ich habe kein übermäßig schlechtes Gewissen, mein Verhältnis zum Tanz als ein ausschließlich sexuell gesteuertes zu beschrei

ben, ist der Tanz an sich doch in seinen Anfängen in frühen Ge sellschaften nichts anderes gewesen als entweder ein choreogra fiertes religiöses oder ein choreografiertes Fruchtbarkeitsritual beide einander oft genug überschneidend, überlappend. Daraus ist im Laufe der Jahrtausende eine Menge kulturell Hochwertiges geworden: der Gottesdienst, die Tragödie, die Oper, der Sport und der Pornofilm.

Aber sehr früh schon, bereits vor der Pubertät, entwickelte ich mich zu einem Wortmenschen, das heißt zu einem, der seine Identität und seine Position in der Gruppe und der Gesellschaft mit Worten schafft, rechtfertigt und verteidigt, und nicht mit dem Körper. In meiner schwäbischen Jugendheimat befand ich mich damit in einer Minderheiten- und Außenseiterposition, Reputationen bildeten sich dort ausschließlich über den Körper und seine Leistungen. Und so wurde mir der Tanz, dieses aus schließliche Kommunizieren über den Körper, schon früh un heimlich und suspekt, ein Feld, auf dem ich nichts zu bestellen hatte und das ich mir deshalb beizeiten kleinreden musste. Eine Diskothek, der Ort, wo es zu laut ist, um sich mit Worten zu ver ständigen, ist mir daher auch immer feindliches Terrain gewesen. Dass aber auch meine Instrumentalisierung des Tanzes zum Zweck der Anbahnung sexueller Beziehungen in der Pubertät ei ne Selbsttäuschung war, musste ich sechzehnjährig feststellen, als Obersekundaner auf einer Abiturfeier der zwei Jahre Älteren. Es ist von Anfang bis Ende eine peinliche Erinnerung, die viel leicht gerade deshalb so lebendig geblieben ist. Ich trug, wie im mer bei derartigen Gelegenheiten, eine weiße Jeans, die so eng war, dass ich lange brauchte, um in sie hineinzufinden und noch länger, um sie wieder abzuschälen wie eine Wursthaut, so eng, dass sich alle meine Seelenzustände auf ihr abzeichneten, was ich in jugendlicher Naivität für attraktiv und verführerisch hielt. Dieser Abend war der erste und einzige, an dem passierte, wovon ich immer fantasiert hatte. Eine der Abiturientinnen nahm, als ich sie beim Engtanz an mich drückte, tatsächlich den Stein des Anstoßes in die Hand und sagte mir etwas Ähnliches wie einst Mae West: »Is that a gun in your pocket or are you just happy to see me?«, um mich sodann in eines der zahlreichen leerstehenden Klassenzimmer zu bitten.

Das aber war zu viel für mich. Zu viel, zu konkret, zu plötzlich Rhodos, als dass ich mich getraut hätte zu springen. Diese Bestä tigung meiner Taktik, diese umstandslose Anerkennung meiner Theorie, dass der Tanz nur das Vorspiel darstellte, schockierte mich, und ähnlich zum Esel gemacht wie einst Joseph vor Mutem-enet, dem Weib Potiphars, floh ich unter vielen wortreichen Erklärungen und Entschuldigungen, von denen eine nur immer lächerlicher und fadenscheiniger war als die andere, und dass ich dabei mein Oberkleid am Körper behielt, war nur ein schwacher Trost.

Als ich Jahre später begann, ein erwachsenes, normales, nicht mehr durch krankhafte Schüchternheit, Feigheit und Ungeschick

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1 Susanne Linke in Schritte Verfolgen , Solotanzabend von Susanne Linke in Zu sammenarbeit mit VA Wölfl, 1985, Foto: gert-weigelt.de [K] 2 Valeska Gert in Canaille, undatiert, Foto: Lily Baruch [K] 3 Constanza Carrys, genannt »Die kleine Pawlowa«. Post karte, Iris Verlag, Foto: »Gertrud«, Wien [K]

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geprägtes Liebesleben zu führen, erledigte sich das Tanzen von ganz alleine. Es war nicht mehr notwendig.

Aber wie hatte alles angefangen? Was sind meine frühesten Erinnerungen ans Tanzen?

Meine Eltern erzählten viel von rauschenden Ballnächten in ih rer Jugend, von Tanzorchestern und Swingmusik in den frühen Nachkriegsjahren, ich aber sah sie nur mehr ein- zweimal im Jahr im Festzelt bei der Dorfkirmes tanzen. Meine Mutter erzählte, sie sei zu ihrer Tanzstundenzeit eine begeisterte Tänzerin gewe sen, vor allem wenn der jeweilige Partner gut tanzen konnte. Das war für meinen Vater unverständlich, der zugab, schon damals eifersüchtig gewesen zu sein. Dass ein Tanzpartner kein Konkur rent war, vor allem, wenn das Tanzen mit ihm Spaß machte, war für ihn nicht zu verstehen. Und für meine Mutter war nicht zu verstehen, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte. Die beiden tanzten, wenn ich sie als Kind einmal tanzen sah, die beiden Tänze, mit denen man damals durchkam, Walzer und einen Behelfstanz für alle Viervierteltakte, von der Familie sehr anschaulich als Schieber bezeichnet.

Und so schoben sich die Paare denn auch mit etwas steifem Na cken und sehr erdenschwer über die Holzbohlen im Bierzelt, und einige Stenze, Brillantine im Haar und als feurige Tänzer dorfbekannt, fuhren dabei den rechten Ellbogen aus, ruckten den Kopf über die rechte Schulter nach hinten wie beim Einparken und pumpten mit der linken Hand, die die rechte ihrer Tanzpartnerin umklammerte, rhythmisch auf und ab, als gelte es, die Wasserversorgung des ganzen Dorfes eigenhändig sicher zustellen.

Ein ästhetischer Anblick war das Ganze auch für Kinderaugen nicht, sondern für uns vielleicht Acht- oder Neunjährige, denen nichts wichtiger ist, als dass ihre Eltern Würde bewahren, oder das, was sie dafür halten (und das impliziert häufig ein Verbot, sich zu amüsieren), ein befremdliches Schauspiel. Dass es Unterschiede gab, ästhetische Unterschiede, in der Art, wie man sich bewegt, ob beim Tanz oder sonst, und dass dies Lebensunterschiede sind, wurde mir dank des Hollywoodfilms klar, dem ich meine Begegnung mit dem Tanz als Kunst aus schließlich verdanke.

Die ersten Filme mit Fred Astaire und seinen wechselnden Part nerinnen, allen voran natürlich Ginger Rogers, waren eine Of fenbarung. Ich sah zum ersten Mal in meinem Leben, was Grazie ist. Ich sah zum ersten Male, was Eleganz ist. Und als sich dann zu Fred Astaire noch Gene Kelly gesellte, die athletischplebejische Weiterentwicklung des Mannes, der die Gesetze der Schwerkraft aus den Angeln hebt und die Mär Lügen straft, der Mensch sei ein Erdenkloß, sah ich auch zum ersten Mal die Qua dratur des Kreises. Die Lösung des Dilemmas nämlich, das sich speiste aus den überkommenen männlichen Rollenbildern, in denen ich aufwuchs, und dem schwäbischen Verhaltenskodex, dessen Opfer ich war: wie man elegant und sportlich, ein Tän zer und ein Mann sein konnte, wie sich Klasse (wonach ich strebte) und Körperbewusstsein (was ich nicht hatte) zu künstlerischer Schönheit vereinen ließen. Allerdings nur theoretisch. Das Unzulängliche (bei unsereinem), hier bei Gene Kelly wurde es Ereignis. Das Unbeschreibliche, hier durch Fred Astaire wur de es getan. Bis dahin war mein Rollenvorbild in Sachen Gra-

zie Henry Fonda als Wyatt Earp in John Fords My Darling Clementine gewesen. Wie er auf der Veranda in Tombstone vollendet mit dem Stuhl kippelt und sich im Gleichgewicht hält, während er auf die Gipfel des Monument Valley in der Ferne blickt, wie er danach bei der Kirchweih sich überwinden muss zu tanzen, aber den Square Dance mit der absoluten Würde eines Mannes absolviert, den nichts aus dem Gleichgewicht bringt, so wollte ich auch sein, den Damen wie den Bösewichtern gegen über.

Astaire und Kelly gingen noch einen Schritt weiter als Fonda.

Von der normalen Bewegung hin zum übermenschlich eleganten und atemnehmenden Ausdruck im Tanz gab es bei ihnen keine Überwindung mehr, der Körper dieser Götter sprach deutlicher und künstlerischer als jedes Wort es vermocht hätte. Und was sprach er? Ich wusste es damals nicht zu entziffern und zu verste hen, aber natürlich sprach er Sexualität.

Wie hieß es in den Dreißigern über das Traumpaar Astaire/Ro gers: »He gives her class and she gives him sex.«

Gewiss hat der Siegeszug des Musicals in den dreißiger und vierziger Jahren auch mit dem Hays-Code in Hollywood zu tun, der moralischen Selbstzensur, die es schon verbot, dass eine Frau auf einem Bett gefilmt wurde, sofern nicht ihre beiden Füße Kontakt mit dem Boden hielten. Damals war mir natürlich nicht bewusst, dass jede Tanzszene eine Metapher für den Ge schlechtsverkehr war, eine wie großartige, wird einem erst be wusst, seitdem im Film freizügige Sexszenen gezeigt werden, die kaum je an die erotische Evokationskraft der großen Musical nummern heranreichen. Und der Niedergang des Musicals geht ja zeitlich auch genau einher mit der Liberalisierung der Sitten im amerikanischen Film.

Aber nicht nur mein späteres Harren auf den Stehblues war eine unbewusste Lehre aus diesen Tanznummern für den ewigen Amateur und Trampel, der ich im Vergleich mein Lebtag bleiben würde, ich lernte aus Ein Amerikaner in Paris und vor allem aus Singin’ in the Rain noch etwas anderes, das ich aber damals nicht verstehen und schon gar nicht umset zen konnte: Dass der Tanz nämlich tatsächlich, über seine Rolle als Liebesanbahner hinaus, in manchen Momenten aus schie rem Lebens- und Glücksübermut überspringen konnte in eine autonome Feier des eigenen Ichs, des eigenen Leibs, in ein selbst vergessenes, ungeheuer ausdrucksstarkes Ausleben der Freude an der eigenen Existenz, bei der es keinen Partner (oder keinen vom anderen Geschlecht) brauchte, ein vollkommen zweckfreies Ausmessen des eigenen Kreises.

Gene Kelly in seinem unvergesslichen nächtlichen Tanz durch die Pfützen, Donald O’Connor in seiner atemnehmenden Cho reografie von Make ’em Laugh , alle beide in Fit as a fiddle oder Moses Supposes das waren Beispiele für den Homo ludens, den Menschen jenseits der Bande der Zweck mäßigkeit und befreit von den Konventionen der Gesellschaft. Das war Kunst. Das war die Kunst, die einen manchmal trifft wie der Schlag des Zen-Meisters, wie manches Gemälde, wie manche musikalische Komposition, und die fordert: Du musst dein Leben ändern.

Dass ich dieses Erlebnis nur bei Gene Kelly und Fred Astaire hatte, in meiner Stuttgarter Kindheit nicht bei Cranko, in mei ner Hamburger Jugend nicht bei Neumeier, in meinen Pariser

Jahren nicht bei Nurejew, Sylvie Guillem oder Karin Saporta, mag ein soziologisches Phänomen sein. Es gibt soziale Klassen, die ins Kino gehen, nicht ins Ballett und nicht ins Opernhaus, und was Hänschen nicht lernt, lernt Hans dann oft eben auch nicht mehr. Zur Oper habe ich noch gefunden in späteren Jah ren, zum Ballett nicht mehr. Ob ich es bedaure? In Maßen.

Jahre später, ich lebte in Frankreich und hatte, außer bei Hoch zeiten, nie mehr getanzt, lernte ich dann doch noch eine zusätz liche Dimension des Tanzes kennen, die mir bis dato verborgen und fremd geblieben war. Den Tanz nämlich als Gemeinschaft stiftendes Phänomen, als Bekundung des guten Willens, das Zu sammenleben mit anderen auch mit fremden Menschen nicht nur zu ertragen, sondern sogar für eine gewisse Zeit in ihm aufzugehen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Es waren die Bals des pompiers , die populären, in allen Pariser Vierteln von der Feuerwehr organisierten Tanzvergnügen am Abend vor und in der Nacht zum 14. Juli, dem Nationalfeiertag. Es waren der Form nach anspruchslose Veranstaltungen, mal mit Musik vom Band, mal mit einem kleinen Schrammelorchester, es roch nach Merguez und saurem Roséwein, aber niemand ließ es sich verdrießen. Kinder tanzten mit Kindern, alte Frauen mit alten Frauen, wagemutige junge Verliebte tanzten Salsa, egal ob die Musik dazu passte, forderte ein Fremder die eigene Frau auf, prostete man ihm unbesorgt zu, und man selbst tanzte ohne Diskriminierung mit Damen jeden Alters, Duftes und Körperumfangs.

Natürlich war ich zunächst misstrauisch und schreckte vor der vermeintlich aufgesetzten und bestellten guten Laune zurück, bis ich begriff, dass die Menschen hier sich tatsächlich freuten, sich einmal, wozu ihnen normalerweise nicht mehr viel Gele genheit gelassen wurde, als Volk, als Gemeinschaft fühlen zu können, eingedenk der und in Erinnerung an die vermeintlichen oder tatsächlichen großen Momente, die sie 1789 oder 1944 als Gemeinschaft und Volk erlebt hatten und die hier harmlose aber nicht sinnlose Auferstehung feierten.

Und so wurde das Tanzen für mich zu guter Letzt etwas, was mich mir selbst als jemanden zeigte, der in den Worten Jean Paul Sartres »gemacht war aus dem Zeug aller Menschen, und der so viel wert ist wie sie alle und soviel wert wie jedermann«.

Michael Kleeberg , geboren 1959 in Stuttgart, ist Schriftsteller und literarischer Übersetzer, unter anderem von Marcel Proust, Joris-Karl Huys mans und John Dos Passos. Nach längeren Aufenthalten in Rom und Amster dam lebte er zwölf Jahre lang in Paris, heute wohnt er in Berlin. Kleeberg erhielt mehrere Literaturpreise, darunter den Anna-Seghers-Preis , den LionFeuchtwanger-Preis und zuletzt den Literaturpreis Mainzer Stadt schreiber 2008 . Im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes geför derten Projekts West-östlicher Diwan entstand das libanesische Reise tagebuch Das Tier, das weint ( DVA , München 2004), in dem er seine Ein drücke und Reflexionen von einem vierwöchigen Aufenthalt in Beirut und den Begegnungen mit dem Schriftsteller Abbas Beydoun festhielt. Zuletzt erschien von Michael Kleeberg der Roman Karlmann , DVA , München 2007

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1 Maiblumenfest in der Pariser Hauptmarkthalle. »Die Starken Männer« beim Tanz mit Kundinnen, undatiert, Foto: Keystone [K] 2 »Junge Tänzerinnen proben vor einem Spiegel die schönste Hal tung, denn er zeigt unbestechlich auch den geringsten Fehler«, undatiert, Foto: Keystone [K] 2
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1 Tango Argentino, undatiert, Foto: Regina Minwegen [K] 2 Schüler C Standard. Andreas Burger, Manuela Krause, STK Impulse Leipzig e.V., undatiert, Foto: Klaus Zantke [K] 3 Letkiss »Der Neue Tanz: Laßt uns küssen!« Foto: Hansa-Bild [K] 4 Gret Palucca »mit Schülern des Staatlichen Koreografischen Instituts Stockholm«, undatiert, Foto: Dagens Bild [K] 5 Letkiss »Selbst Nichttänzern juckts in den Beinen« 6 1 1965, Foto: dpa-Agentur [K] 6 Ginger Rogers und Fred Astaire in Swing Waltz. 8 10 1936, Foto: Keystone

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1 Standardtanz, undatiert, Foto: Schirner Berlin [K]

2 Postkarte, Blohm Rostock 1908, unbekannter Foto graf [K] 3 Reinhild Hoffmann in Solo mit Sofa , 1980, Foto: gert-weigelt.de [K]

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nur etwas durch erfahrung« ein

Petra Kohse: Frau Völckers, die Kulturstiftung des Bundes ist derzeit die wichtigste Förderstelle für den Tanz in Deutschland. Und innerhalb der Kulturstiftung nimmt er mit dem 2005 initiier ten Tanzplan einen der größten Plätze ein. Verstehen Sie Tanz als Chefsache?

Hortensia Völckers: Wir mussten ihn dazu ma chen. Denn der Tanz ist im Verhältnis zu anderen Sparten der Hochkultur unterrepräsentiert. Obwohl es über siebzig Tanzkompanien an städtischen Bühnen gibt und die Vorstellun gen gut besucht sind, haben die Tanzleute in ih ren Häusern überwiegend schlechte Bedingungen. Sie brauchen höhere Etats, um gute Tänzer einladen zu können und sie müssen Gastchore ografen engagieren, damit das Publikum nicht nur immer einen Stil sieht, den hat es nach fünf Jahren nämlich satt.

Kohse: Warum wird der Tanz so knapp gehalten? Völckers: Anders als das Schauspiel mit seinen re degewandten und durchsetzungsfähigen Inten danten hat der Tanz keine Lobby. Die Tanzleute haben zumeist keine Übung darin, ihre Belange zu vertreten. Und das nicht nur, weil sie gewohnheitsmäßig mit dem Körper arbeiten statt mit Worten und weil die Mehrzahl von ihnen nicht in Deutschland aufgewachsen ist und Deutsch also nicht als Mutterspra che beherrscht. Sondern weil niemand da ist, der sich um die Gremienarbeit kümmern und an den finanziellen Verteilungskämpfen teil nehmen könnte. Da gibt es meist nur den Cho reografen, die Kompanie und ganz selten viel leicht noch einen Tanzdramaturgen, die alle vollauf mit der künstlerischen Arbeit beschäf tigt sind. Man bräuchte Tanzintendanten oder Tanzgeschäftsführer, die das übernehmen. So wie in Berlin, wo Christiane Theobald, die jetzige Betriebsdirektorin und Stellvertreterin von Vladimir Malakhov, ganz wesentlich die künst lerische Autonomie des Staatsballetts und seine finanzielle Grundsicherung mit erkämpft hat.

Kohse: Wo muss man ansetzen, um die Verhältnisse zu verbessern?

Völckers: Für die Theater sind im Wesentlichen die Kommunen verantwortlich. Schon ein ein zelner Kulturdezernent kann viel bewirken, wie die Vergangenheit zeigt. Denken Sie an Hilmar Hoffmann, der Mitte der 1980er Jahre den da maligen Chefdramaturgen Klaus Zehelein darin massiv unterstützte, William Forsythe nach Frankfurt zu holen. Der stand hinter der Ent scheidung, obwohl aus Protest Abos gekündigt wurden und die Oper am Anfang fast leer war. Er war überzeugt, dass Forsythe der Beste ist und deshalb ideal ist für seine Stadt. Irgend wann gab ihm die internationale Anerkennung Recht. Mit Pina Bausch in Wuppertal war es

zehn Jahre zuvor ähnlich gewesen. Insgesamt aber und von sich aus wird das Theater dem Tanz wohl nur auf massiven Druck des Publi kums etwas abgeben. Und für diesen Druck muss die Tanzgemeinschaft etwas tun. Auch die Tanzleute selbst müssen sich stärken und es sich abverlangen, ihre Stimme zu erheben. Die Tanzaufführungen müssen noch besser sein, noch besser besucht werden und viel mehr Pres se haben. In den Feuilletons spielt der Tanz ja kaum eine Rolle.

Kohse: Was aber wohl nicht nur an der Ignoranz der Redakteure, sondern an der echten Schwie rigkeit liegt, so über Tanz zu schreiben, dass es einen größeren Lesekreis interessiert.

Völckers: Über Musik zu schreiben ist auch schwierig, muss aber nicht legitimiert werden! Weil Musik, anders als der Tanz, in unserer Gesell schaft nämlich als Bildungsgut gilt. Fast jeder hat hier eine Richtung, mit der er groß gewor den ist und deren Melodien er pfeifen kann. Ei ne solche Alphabetisierung gilt es auch im Tanz zu erreichen. Was nicht einfach ist, weil es kaum ein Repertoire gibt, an dem man sich schulen kann. Im Ballett ja. Aber in den modernen Ar beiten nicht. Und in Deutschland schon gar nicht. Sie können hier keine Wigman sehen, keinen Limón, keinen Cunningham nichts von dem, woher sich doch letztlich alles herlei tet in diesem Bereich. Das ist für die Tänzer so gar ein noch größeres Problem als für die Zu schauer. Insofern ist die Frage, wie man hier al phabetisieren kann, wirklich dringlich.

Kohse: Im klassischen Ballett gibt es Partituren. Warum nicht im modernen Tanz? Sind die Choreografien so stark auf bestimmte Kompanien zugeschnitten, dass es die Idee eines vom Künst ler loslösbaren und anders interpretierbaren Werkes gar nicht mehr gibt?

Völckers: Warum da so wenig weitergegeben wird, weiß ich nicht. Pina Bausch wollte ihre Stücke mit Ausnahme von zweien, die sie für die Pariser Oper einstudiert hat, ausdrücklich nur von ihren eigenen Tänzern aufgeführt sehen. Anne Teresa De Keersmaeker und Meg Stuart halten das genauso.

William Forsythe probiert gerade etwas anderes aus. Er entwickelt ein Notationssystem für Tanz, das es anderen Choreografen ermöglichen soll, eine bereits bestehende Choreografie als Auf führung wiederherzustellen. Für ein Pilotprojekt mit dem Titel Synchronous Objects hat er sich seine Choreografie One Flat Thing, reproduced aus dem Jahr 2000 vorgenom men und eine Aufführung seiner Company mit diversen Kameras zeitgleich aus verschiede-nen Perspektiven aufnehmen lassen. Durch die ge naue Abbildung der Bewegungslinien, die ein

zelnen Tänzer sind durch unterschiedliche Far ben gekennzeichnet, entsteht ein komplexes, aber auch unmittelbar einleuchtendes Bild der Aufführung. Auch andere Choreografen sollen dieses Notationssystem in praktikabler Weise für ihre Werke nutzen können. Das Ziel ist, ein digitales Archiv, die Motion Bank entstehen zu lassen.

Auch andere seiner Werke will Forsythe auf die se Weise erfassen und den jungen Tänzern, aber auch dem Publikum zur Verfügung stellen. Da mit es weiß, worauf es achten muss, und nicht immer nur überfordert aus den Vorstellungen kommt und sagt: »Ich weiß auch nicht, was da eigentlich stattgefunden hat.«

Kohse: Auch wenn man weiß, worauf man ach ten muss versteht man die Arbeit dann wirk lich besser? Weiß man, was verhandelt wird? Völckers: Wissen Sie, worum es geht, wenn Sie ein Werk von Maurizio Kagel hören? Bei der Wahrnehmung abstrakter Kunst entstehen in erster Linie Gefühle und Assoziationen! Wobei gerade der moderne Tanz ja auch eine reiche Geschichte recht konkreter gesellschaft licher Bezüge hat. Angefangen damit, dass die Tänzerinnen Anfang des 20. Jahrhunderts ihr Ballettzeug auszogen, barfuß tanzten und über ein Körpergefühl auch ein Lebensgefühl aus drückten! Selbständige Frauen wie Isadora Duncan führten auch privat ein Leben, das damals überhaupt nicht akzeptiert war. Sie bekam un verheiratet Kinder und tanzte in transparenten Kleidern in der Natur! Und etwas später der Ausdruckstanz mit Mary Wigman das wa ren ja emotional geladene Statements, der He xentanz und Die sieben Tänze des Lebens Speziell in Deutschland war der Tanz ohnehin immer nah an theatralischen Formen. Bis hin zu den konkret politisch gemeinten Choreogra fien zu Frida Kahlo oder Baader-Meinhof von Johann Kresnik. Pina Bausch hat die Rolle der Frau thematisiert, Beziehungsstrukturen oder das Alter, als sie im Jahr 2000 in Kontakt hof mit Tänzern über 65 arbeitete. Aber es ist ja nicht die prinzipielle Unmöglich keit, sich über Tanz zu verständigen, die diese Kunstsparte in der Hochkultur zu einer Rand erscheinung macht, sondern der mangelnde Zugang dazu. Und um den zu schaffen, muss man, das ist zumindest meine Hypothese, ne ben den Verbesserungen in den Institutionen vor allem bei den Kindern ansetzen.

Kohse: Tanzverständnis muss in den Schulen ge lehrt werden?

Völckers: Ja. Wobei das Verständnis mit der Er fahrung kommt. Und mit der Erfahrung dann später das Bedürfnis danach. Wenn jedes Berli

ner Kind in seiner Schulzeit mit Tanz und Be wegung so viel Erfahrung sammeln könnte, dass es ganz selbstverständlich mit dem Genre umgeht, dann würde es sich auch als Erwachsener Tanz anschauen und seine eigenen Kinder in gleicher Weise erziehen. Und damit hätte man das Thema in unsere Kultur integriert. Es geht nicht über Festivals, es geht nicht über die Zeitungen, sondern es funktioniert nur, wenn eine ganze Generation damit gute Erfahrungen macht. Wir ändern nur etwas durch Erfahrung.

Kohse: Und das würde nicht nur dem Tanz nut zen, sondern nebenbei auch den Kindern. Völckers: Unbedingt. Ich will den Tanz nicht instrumentalisieren und sagen, die Schüler könnten hinterher besser rechnen oder so. Aber Tanz und Musik können Kinder mit verschiedenen kulturellen Hintergründen viel einfacher dazu bringen, sich aufeinander einzulassen als bei spielsweise die gemeinsame Lektüre von Schil ler. Vom besseren Körpergefühl, das daraus re sultieren würde, ganz zu schweigen. Denn un sere Gesellschaft ist zwar körperfixiert, wir müs sen schlank sein, fit sein, gut aussehen...

Kohse: ... sind dabei aber völlig starr! Wir wollen wie die Bilder sein, die wir uns machen. Und so bald man anfängt, sich zu bewegen, hat man Angst, aus dem Rahmen zu fallen.

Völckers: So ungefähr. Schon bei Zehnjährigen kann man sehen, wie Einschränkungen und überhaupt negative Erfahrungen im Körper ge speichert sind. Bei Erwachsenen ist es zum Teil eklatant, wie deutlich man an ihrer Haltung oder ihrem Gang ablesen kann, was sie mit sich tragen. Und dass sie ihren Körper am liebsten gar nicht zeigen wollen. Kleine Kinder tanzen noch ohne jede Hemmung. Aber sobald sie merken, dass sie sich da lächerlich machen können, hören sie damit auf. Und ich glaube, dass die Kinder, wenn man sie von früh an zum Tanzen an leitet, mehr zu ihrem Körper stehen. Wenn Kör pererfahrung positiv belegt ist, kann man sich auch in jeder Situation selbstbewusster zeigen.

Kohse: Tanz in der Schule gibt es das in Berlin nicht schon? Vielleicht nicht als Unterrichts fach, aber doch in der Form, dass Choreografen mit Schülern Workshops machen.

Völckers: Ja, das ist das Projekt TanzZeit , das 2005 von der Tänzerin Livia Patrizi initiiert wur de und das sehr gut läuft. Deutschlandweit und die letzten Jahrzehnte zurückgeschaut, ist da aber wenig passiert. Weil es eben kaum Infra struktur im Tanzbereich gibt. Es gibt auch keine pädagogische Regel-Ausbildung an den Hoch schulen wie etwa für Musik. Natürlich gibt es Ballettschulen. Aber es geht hier nicht um den Spitzentanz. Sondern um das Ziel, ausreichend

»wir
gespräch mit hortensia völckers über die notwendigkeit einer alphabetisierung für den tanz
kulturstiftung des bundes magazin 1413

Tanzpädagogen zu haben, die an den Schulen ganz selbstverständlich Bewegungsabläufe leh ren und auch eine ästhetische Auseinanderset zung damit in Gang bringen. Man muss ein Distributionssystem schaffen, das die Schulen flächendeckend erreicht. Der Tanzplan in München arbeitet daran, die Berliner haben es mit der TanzZeit selbst ziem lich gut aufgebaut, in Düsseldorf haben wir es über den Tanzplan noch intensiviert, und in Frankfurt/Main fangen sie damit gerade an. Wobei momentan natürlich jeder seine eigene Me thode hat. Aber es hat sich bereits ein Verein ge gründet, der Bundesverband Tanz in Schulen e.V., der das vernetzt und vertritt, und jetzt geht es darum, Curricula zu entwickeln, Pilotprojekte zu starten und Studiengänge in den Hoch schulen einzurichten...

Kohse:...was wiederum beispielsweise der Tanzplan Frankfurt geleistet hat!

Völckers: Als die Kulturstiftung des Bundes den Tanzplan Deutschland startete und wir an die Städte herantraten und ihnen sagten, dass sie von uns Geld bekommen, wenn sie die glei che Summe selbst aufbringen und gemeinsam etwas auf die Beine stellen, das dem Tanz im Ganzen nutzt, sind vor Ort hauptsächlich Bil dungsprogramme entstanden. Entweder für Tänzer wie in Berlin, wo an der Universität der Künste ein hochschulübergreifendes Tanzzentrum angesiedelt wurde. Oder wie in Dresden, wo die Paluccaschule, das Ballett der Semperoper und das Europäische Kunstzentrum Hellerau zusammenarbeiten und junge Tänzer mit erfahrenen Choreografen zusammenbringen. In Potsdam und Hamburg sind es Residencies für junge Choreografen, in München und Düs seldorf geht es wie gesagt um Tanzvermittlung an Kinder, in Frankfurt und Gießen wurden Masterstudiengänge für Tanzpädagogik sowie Choreografie und Performance eingerichtet. In Essen forscht man nach Lehrmodellen. Und Bremen hat das Norddeutsche Tanz treffen ins Leben gerufen, das die vielen Kompanien untereinander und mit den Stadtund Staatstheatern vernetzt.

Kohse: Was wird aus all diesen Projekten, wenn die Förderung der Kulturstiftung des Bundes Ende nächsten Jahres ausläuft?

Völckers: Die Tanzleute in den Tanzplan -Städten haben mit der Lobbyarbeit begonnen, sie haben erfahren, dass sie gemeinsam etwas errei chen und finanziert bekommen können. Wenn wir uns zurückziehen, wird man sehen, ob und wie sie diese Fähigkeiten weiterhin nutzen. Wenn alles wieder verschwindet, muss man die Maß nahme negativ bewerten. Wenn etwas bestehen bleibt oder sich etwas anderes daraus entwickelt, war sie erfolgreich.

Kohse: Die Kulturstiftung des Bundes entlässt den Tanz nach einem intensiven Aufbau-An schub also in die Freiheit des kommunalen Sub ventionsmarktes?

Völckers: Nicht ganz. Ich habe zwar in unseren Gremien in letzter Zeit den Eindruck gewon nen, dass es selbstverständlicher geworden ist, dass man für den Tanz etwas machen muss. Aber trotzdem möchte ich jetzt eine Konsoli dierung erreichen, hinter die niemand mehr zu rückkann. Dafür ist die Netzwerkbildung, wie sie vor allem im Ausbildungsbereich durch den Tanzplan unterstützt wird, eine wichtige Voraussetzung. Man darf aber darüber nicht die künstlerische Dimension vernachlässigen. Die freien Szenen müssen gestärkt werden, weil wir ihre künstlerischen Impulse brauchen. Da für tun wir noch zu wenig, und das liegt viel leicht auch daran, dass wir in Deutschland ja immer noch eine vergleichsweise gute instituti onelle Infrastruktur haben. Neben den Tanzen sembles an den Theatern gibt es ja die große Sze

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ne derjenigen, die frei arbeiten wollen und na türlich trotzdem eine verlässliche Finanzierung brauchen.

Kohse: Gibt es in anderen Ländern eine Tanzinstitution, die für Sie beispielhaft ist?

Völckers: Das Ballett an der Pariser Oper ist sen sationell. Da gibt es ein Corps de Ballet mit über 150 Tänzern in einem eigenen Haus, dem Palais Garnier. Die Leiterin Brigitte Lefèvre pflegt das enorm große kulturelle Erbe des Tanzes und entwickelt daraus eine Art Repertoire, sie lädt gleichzeitig aber zeitgenössische Neuerer wie Jerôme Bel, Merce Cunningham oder Sasha Waltz ein, die alle Choreografien für dieses En semble gemacht haben. Das heißt, dass es da ge nügend Personal gibt, denn das sind ja jeweils ganz unterschiedliche Bewegungen und Stile. In Paris kann man wie in einem Museum bis ganz in die Gegenwart durch die Tanzgeschich te hindurchgehen. Außerdem gibt es ja auch noch das Centre Nationale de la Danse , die zentrale Anlaufstelle für alle Fragen zum Tanz, und die dezentralen Centres Choréo graphiques . Das ist schon großartig.

Kohse: Meinen Sie etwas Entsprechendes, wenn Sie sagen, Sie streben eine Konsolidierung im Tanz an?

Völckers: Was genau wir für den Tanz derzeit ent wickeln und was dann dauergefördert werden soll, kann ich noch nicht sagen. Aber es wird wieder mehr um Kunst gehen, es wird um die Ge schichte gehen und um das Repertoire. Wir dürfen nicht vergessen, aus welchen Traditionen wir kommen! Außerdem finde ich es schade, dass die Bereiche Ballett und Neuer Tanz institutio nell so getrennt sind. Da Verbindungen zu schaffen, halte ich für eine kulturpolitische Aufgabe, die man natürlich mit Qualität füllen muss.

Kohse: Ansätze dafür hat mit der Biennale Tanzausbildung ja wiederum der Tanz plan geschaffen.

Völckers: Ja, die Hochschulbiennale war wirklich schwierig durchzusetzen! Aber letztes Jahr haben sich dann tatsächlich die Abschluss klassen aller zehn deutschen Tanz-Schulen in Berlin getroffen. Und diese zehn sind sehr un terschiedlich. Das reicht vom härtesten BallettTraining wie in München bis zur völligen Of fenheit des neuen Studienganges an der UdK. Und da waren also tagelang alle jungen Tänzer zusammen, die in Deutschland auf den Markt kommen, und haben über Tanz gesprochen und Tanz gemacht. Großartig! Nächstes Jahr wird das in Essen stattfinden.

Und dann gibt es im Tanzplan auch noch das Projekt, alle Tanzarchive virtuell zusammenzu führen, zum zweiten Mal findet jetzt im No vember ein Tanzkongress statt, der an die damals selbst organisierten historischen Tanzkongresse der 1920er und frühen 30er Jahre anknüpft. Und dann gibt es noch die Transi tion -Studie zur Frage, wie Tänzer am Ende ih rer Laufbahn in andere Berufe geleitet werden können.

Kohse: Man merkt richtig, wie leid es Ihnen tut, dass der Tanzplan zu Ende geht.

Völckers: Ja! Es gibt dann eine wichtige Anlauf stelle weniger. Viele, die etwas über Tanz wissen wollen in Deutschland, rufen ja als erstes beim Tanzplan- Büro an. Da fließen viele Infor mationen zusammen, es gibt Geld, man kann kleine Stipendien bekommen und so weiter. Es ist wirklich ein Jammer, dass das endet. Aber die Kulturstiftung des Bundes ist ja keine natio nale Behörde für den Tanz.

Kohse: Und wo, würden Sie sagen, steht der deut sche Tanz im internationalen Vergleich?

Völckers: Ganze vorne. Er hat ja eine starke Tradi tion durch den Ausdruckstanz. Und fragen Sie

doch ruhig mal im Goethe-Institut nach: Die Arbeiten von Pina Bausch, William Forsythe, der hier arbeitet und den ich jetzt mal als Deut schen zähle, und Sasha Waltz sind echte Ex portschlager. Die will man überall sehen. Oh nehin ist in einer globalisierten Welt die eigent liche Darstellungsform der Tanz, weil sich da lokale und internationale Einflüsse seit langer Zeit schon innovativ verbinden und man daraus für die Zukunft profitieren kann. Wenn sich die Tanzleute das einmal in aller Konsequenz klar machten, würden sie auch anders auftreten.

Hortensia Völckers ist Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes. Das Gespräch führte die Journalistin Petra Kohse

aktuell geförderte tanzprojekte

tanzkongress 2009 Unter dem Motto No Step without Movement! findet vom 5. bis 8. November auf Kampnagel in Hamburg der Tanzkongress 2009 statt. Der diesjährige Kongress behandelt aktuelle Fragen zur Situation des Tanzes: Wie können Produktionsbedingungen, Förderstrukturen und Vermark tungsstrategien nachhaltig verbessert werden? Wie ist Tanz im Bildungska non und in der Forschung gezielter zu verankern? Wie wird heute Tanzge schichte geschrieben und wie sehen die Tanzarchive der Zukunft aus? Eine Veranstaltung der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit Kampnagel, K3 – Zentrum für Choreografie | Tanzplan Hamburg und dem Zentrum für Performance Studies der Univer sität Hamburg. Unterstützt von der Behörde für Kultur, Sport und Medien Hamburg und der Deutschen Forschungsgemeinschaft ( DFG ). www.tanzkongress.de

choreographing you Art & Dance of the Last 50 Years Choreographing You ist die erste Ausstellung, die das Zusammenspiel von Kunst und Tanz unter dem Aspekt der Choreografie, dem Erfinden und Gestalten von Bewe gungsabläufen, betrachtet. Die choreografische Ausgangsidee der Installa tionen ist, dass sich der Besucher mit Bewegungen, zu denen das Werk auf fordert, zum Bestandteil des Werks macht und er dessen Idee realisiert. Ge zeigt werden Arbeiten seit den 1960er Jahren, angefangen bei den Korridor arbeiten Bruce Naumans, bis hin zu Werken wie Scattered Crowd (2002) von William Forsythe. Künstlerische Leitung: Stephanie Rosenthal, Nicky Molloy, André Lepecki FR / Künstler/innen: Jerôme Bel ( FR ), Pablo Bronstein ( UK , Trisha Brown US ), Alain Buf fard, Rosemary Butcher UK , Boris Charmatz ( FR , Gustovo Ciriacs, Marie Cool ( FR und Fabio Balducci ( , Vinent Dupont, William Forsythe US , Simone Forti US , Allan Kaprow US ), Latifa Laâbissi FR , Thomas Lehmen, Marcela Levi BR , Kate Mcintosh NZ , Ohad Meromi IL , Mathilde Monnier FR , Robert Morris US , Jennifer Nelson ( US , Miguel Pereira AR ), Robin Rhode ZA ), Xavier le Roy ( FR , Peter Welz, Franz West AT / Kunsthalle Hamburg, ab Mai 2010 Im Anschluss: The Hayward, Southbank Center, London GB www.haywardgallery.org.uk

oedipus rex Internationales Tanzprojekt Mit der Neuinszenierung des Opern-Oratoriums Oedipe Roivon Igor Strawinsky und Jean Cocteau betritt die Argentinierin Constanza Macras künstlerisches Neuland, indem sie erst mals einen Opernstoff bearbeitet. Macras will mit ihrer Neuproduktion dieses modernen Klassikers eine zeitgemäße Fassung mit den Mitteln des moder nen Tanztheaters schaffen, dabei aber die ursprünglichen Prinzipien einer Abkehr vom Bühnenrealismus und dem Verzicht auf eine psychologisieren de Deutung beibehalten. Ödipus Rex ist eine Koproduktion mit dem Europä ischen Zentrum der Künste Hellerau, dem Teatro Comunale di Ferrara sowie dem Festival MESS Sarajevo. Künstlerische Leitung: Constanza Macras AR / Musika lische Leitung: Max Renne / Tanz: Chiharua Shiota JP / 19 21 11 2009 Europäisches Zentrum der Künste Hellerau, Dresden www.dorkypark.org

le bal. allemagne Eine deutsch-deutsche Geschichte Das Tanztheater projekt greift die Idee der berühmt gewordenen Theaterinszenierung Le Bal des Théâtre du Campagnol aus den 1980er Jahren auf. In chronologisch ge reihten, episodenhaften Szenen begegnen sich in einem Ballsaal Menschen, die in ihren Geschichten, ihrer Mode und der Musik, zu der sie tanzen, ihre jeweilige Generation und den Zeitgeist repräsentieren. Das französische Vorbild wurde international vielfach adaptiert. Mit der Neubearbeitung des Stückes wollen Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoglu eine Fassung auf die Bühne bringen, die die deutsch-deutsche Nachkriegsära bis zur friedlichen Revolution thematisiert. Künstlerische Leitung: Shermin Langhoff / Regie: Nurkan Erpulat TR ) / Komposition: Enis Rotthoff / Autor/Dramaturg: Tunçay Kulaoglu TR / 1.– 30 3 2010, Ballhaus Naunynstraße, Berlin www.ballhausnaunynstrasse.de

festival-kolumbien Theaterfestival und Vorträge Im Jahr 2010, wenn die nächsten Präsidentschaftswahlen mit dem 200. Jahrestag der Unabhängig keitserklärung des Landes zusammenfallen, wird Kolumbien mit zahlreichen öffentlichen Feierlichkeiten, aber auch mit Protestveranstaltungen aus der Bevölkerung auf sich aufmerksam machen. Aus diesem Anlass wendet sich das Theater Hebbel am Ufer mit der Frage an kolumbianische Künstler, ob es überhaupt einen Grund zum Feiern gibt. Zwei Tanzkompagnien und drei The atergruppen sollen die öffentliche Wahrnehmung um die Perspektive von Künstlern erweitern, die sich kritisch mit der gesellschaftspolitischen Reali tät ihres Landes auseinandersetzen und Ängste und Hoffnungen seiner Be völkerung artikulieren. Künstlerische Leitung: Gustavo Liano CO , Kirsten Hehmeyer / Künstler/innen: Manuel Orjuela Cortés CO , Rolf & Heidi Abderhalden ( CO , Tino Fernandez ( CO u.a. / 19 4 .– 2 5 2010, Hebbel am Ufer, Berlin www.hebbel-am-ufer.de

choreographic captures 2009 2011 Verknüpfung von Choreografie und Kunstfilm im Format des Werbeclips 2008 wurden erstmals Choreo grafen, Medien- und Filmkünstler aufgefordert, sich an einem internationa len Wettbewerb mit ihren Choreographic Captures zu beteiligen — Arbeiten eines damals neuen Formats, das sich im Medium des Kurzfilms mit ver schiedenen Darstellungs- und Realisierungsformen von Choreografie und Kunstfilm auseinandersetzt. Mit Choreographic Captures 2009 2011 soll das als Prototyp erfolgreich entwickelte Projekt nun über einen Zeitraum von drei Jahren weiter etabliert werden. Neben der jährlichen Durchführung eines professionellen Wettbewerbes wird die Website zu einem mehrsprachigen, interaktiven Portal ausgebaut, das als internationale Plattform für den chore ografischen Kurzfilm dient. Künstlerische Leitung: Walter Heun / Juroren: Andreas Ströhl, Thierry de Mey B , Frédéric Mazelly F / Europaweite Filmscreenings und interaktive Onlinepräsentation, 16 6 2009 –November 2011 www.choreographiccaptures.org

1 Pina Bausch und Ed Kortlandt in Café Müller . Tanztheater Wuppertal. 1978, Fotograf unbekannt [K] 114
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1 Mary Wigman in Hexentanz 1926, Foto: Charlotte Rudolph. VG -Bild-Kunst, Bonn 2009 [K] 2 Anna Pawlowa in Der sterbende Schwan , 1928, Foto: Franz von Riel [K] 3 Daisy Spies in Das Triadischen Ballett von Oskar Schlem mer (Spirale), Donaueschingen 1926, Foto: Grill [K] 4 Vaclav Nijinsky in Till Eulenspiegel , undatiert, Foto: Max Erlan ger de Rosen [K] 5 Spitzentanz »erobert« die Küche…, undatiert, Foto: Limot [K] 6 Josephine Baker, undatiert, unbekannter Fotograf [K] 7 Olga Preobrajenska, undatiert, unbekannter Fotograf [K] 8 Anita Berber, undatiert, unbekannter Fotograf [K] 1 The Jivers 1984, Foto: Gabriel Weismann [K] 2 Break Dancer, undatiert, unbekannter Fotograf [K]
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3 Flamenco Los Molineros, undatiert, Foto: Regina und Angel Martinez [K] 4 ohne Angaben [K] 5 Tap Dance, undatiert, unbekannter Fotograf [K] 6 Dorothee Parker und Ramon, undatiert, Foto: Siegfried Enkelmann. VG Bild-Kunst, Bonn 2009 [K] 7 ohne Angaben [K] 8 Harald Horn und Liane Müller, Mün chen, undatiert, Foto: Siegfried Enkelmann. VG Bild-Kunst, Bonn 2009 [K] 9 Tap Dance, undatiert, un bekannter Fotograf [K] 10 ohne Angaben [K] 11 Spitzenpaar des internationalen Professional-Tanzsports. Ralf Lepehne und Lydia Weisser, Bonn, undatiert, Foto: Pressedienst Hölters München [K]
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1 Die Pleiße Dohlen in Myrthen , undatiert, Foto: Andreas Birkigt [K] 2 Palucca Schule Dresden Gruppen Etüde , undatiert, Foto: Sieg fried Prölß [K] 3 Ballett Noman Davis in: Sex, Musik und heisse Nächte . Scope-Farbfilmschau. Foto: Constantin Film [K]

schön schlank und superschlau ?

Als der Mann auf tragische Weise zu Tode kam, war plötzlich alles vergessen. Seine skandalträchtigen Eskapaden verblassten posthum im Glorienschein der Entertainer-Ikone, die nicht nur ein paar legendäre Songs geschrieben, ein Dutzend Megaseller in die Charts katapultiert und ganze Stadien gefüllt hatte. In erster Linie war offensichtlich ein phänomenaler Performer ab getreten, ein tanzender Humanoid mit geradezu atemberaubender Körperbeherrschung.

In Wahrheit allerdings verhielt es sich genau umgekehrt. Nichts hatte der Mann unversucht gelassen, um seinen Körper zu besie gen, ihn niederzuringen und neu zu formen, seinem eigenen Wunschbild anzupassen. Michael Jackson fiel jenem kosme tischen Blick (Martina Pippal) zum Opfer, der die Natur korrigiert, bis nichts mehr von ihr übrig bleibt. Statt nachzuhel fen, hat der King of Pop radikal ausgelöscht seine Herkunft, seine ursprünglichen Konturen, am Ende sich selbst. Dass Jackson ausgerechnet als Tänzer brillierte, dass kein Nach ruf ohne Verweis auf seine sagenhafte Bewegungsmechanik aus kam, ist bezeichnend. Denn seit der Tanz vom Olymp seiner sa kralen Vergangenheit in die Niederungen des Alltags hinabstieg, um sich als Königsgloriole und Bürgerbenimmschule zu etablie ren, ist Naturbeherrschung am Menschen (Rudolf zur Lippe) sein vornehmstes Geschäft. Wer tanzt, wird ein besse rer Mensch ein manierlicher, mit moralischer Anmut geseg neter Zeitgenosse, der reinen Geistes ist, weil er seinen Leib von unzüchtigen Trieben befreit. So lehrten es die Tanzmeister der Renaissance, und abgesehen von libidinösen Lockungen erwei sen wir uns heute als ihre würdigen Erben. Wer tanzt, heißt es (eben keineswegs neuerdings), bleibt fit und gesund, ist klüger (weil motorisch besser geschult) und sozial verträglicher (weil ge meinschaftserprobt).

Das wäre vermutlich Anlass zur Freude, gäbe es da nicht eine Elite, die vom Tanzen mehr versteht als alle anderen, weil sie es professionell betreibt oder sich zumindest berufsmäßig damit befasst. Dieses Lager mag keineswegs unisono in die Lobeshym nen einstimmen, die Hirnforscher und Körpersoziologen, Er ziehungswissenschaftler und Sozialpädagogen neuerdings dem Tanzen widmen. Da wird von zweifelhafter Indienstnahme ge sprochen, vom Spagat zwischen Kunst und Kommerz, als stün de die eigene Entthronung zu befürchten. Wer es mit Amateuren aufnimmt, seien es nun Schulklassen, Tanztherapie-Patienten oder Tango-Fanatiker, der steht auf jeden Fall in der zweiten Reihe, weit hinter den Künstlern und ihren journalistischen Agenten, die auf die Autonomie der Tanzkunst pochen. Abgese hen davon, dass eine Handvoll Ballett-Kompanien hierzulande inzwischen Laienprojekte unterhält, die zwischen Theater- und Erlebnispädagogik angesiedelt sind, regiert kapriziöses Misstrau en die Szene.

Dieses Beharren ist ein Symptom, und zwar eines der Schwäche. Denn es verrät einerseits, dass das Selbstbewusstsein der Tanz schaffenden noch immer einigermaßen unterbelichtet ist, ande rerseits verweist es auf eine dauerhaft schädliche Betriebsblind heit. Wer sich in den Ausbildungsschulen und ihren Abschluss klassen umsieht, wird feststellen, dass ganz Europa, halb Ameri ka und Asien dort zahlenmäßig stattlich vertreten sind und den deutschen Nachwuchs ausstechen. Das ist an sich kein Bein bruch, spricht aber Bände darüber, dass der Tanz sich hierzulan de als eigenständiges Genre neben Sprech- und Musiktheater zwar behauptet, aber noch keineswegs mit den Schwesterküns ten gleichgezogen hat.

Die dance community ist also eine überschaubare Gemeinschaft geblieben, nicht zuletzt dank ihrer exklusiven Allüren. Dass die Darstellenden Künste auf Kennerschaft angewiesen sind, auf ein im Umgang mit ihren Codes und Traditionen vertrautes Publikum, hat sich scheinbar noch nicht herumgesprochen. Denn während Goethe und Schiller, Benn und Beethoven zur Allge meinbildung zählen, sind Mary Wigman und Rudolf von Laban, Vaslav Nijinsky und George Balanchine grosso modo nur Einge weihten ein Begriff.

Das ist insofern erstaunlich, als das Tanzen über Jahrhunderte hinweg zum Bildungskanon gehörte. Die Höflinge von Versailles verstanden sich darauf ebenso wie das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Mehr noch: Ballett und Balltanz speisten sich aus den gleichen, nämlich absolutistischen Wurzeln und blie ben, was die Bewegungsgrammatik anging, über lange Zeit eng verbunden. Wer vor hundertfünfzig Jahren einem spectacle dansé beiwohnte, konnte dessen Beschaffenheit in der Regel aus eige ner Erfahrung ermessen: Einfache Pirouetten musste die künf tige Hausmutter schließlich ebenso einstudieren wie das Klavier spiel, und ihr Gatte hatte tunlichst nicht nur akademische oder kaufmännische Meriten vorzuweisen, sondern focht auf dem Paukboden um seine Ehre und im Ballsaal um sein Renommee.

Diese Bildungs-Trutzburg ist gottlob gefallen. Gottlob, weil sie einerseits den Distinktionsbestrebungen einer aristokratischen Gesellschaftsarchitektur gehorchte, die das klassenbewusste Bürgertum unbesehen für sich verlängerte, und andererseits, weil sie das Tanzen vor allem auf eine bestimmte Facette verkürzte: auf seine sozialtechnologischen Valeurs. Die Persönlichkeitsentwicklung, die der Einzelne durchlief, musste in der Anpassung an die bestehende Ordnung aufgehen, und das Tanzen nahm dabei ei ne exponierte Stellung ein, weil es versprach, das anarchische Element schlechthin zu zähmen: den menschlichen Körper. An dieser Stelle bekommen die Argumente der zeitgenössischen Bedenkenträger gegen die Ausweitung der Tanz-Zone auf einmal Gewicht: Wo sich das tanzende Individuum in ein gesellschaftliches Korsett zwängen lässt, triumphiert das Sozialdoping über die Aura der Kunst, die zum erzieherischen Werkzeug schrumpft. Ihr Widerspruchsgeist wird geknebelt, ihre eigenständige Mission innerhalb der Matrix von Wirtschaft, Herrschaft und Kultur (Max Weber) ins Unkenntliche verflüssigt. Welche Strategie ist sinnvoll, wenn der Tanz nicht Mittel zum Zweck sein will, andererseits aber allein um der schieren Selbster haltung willen sein eigenes Wirkungsfeld erweitern muss? Viel leicht ist es hilfreich, verschiedene Arbeitshypothesen zu be leuchten, also an drei Beispielen Körper, Gemeinschaft und Bildung zu diskutieren, welche Bedeutung dem Tanz zuge schrieben wird und welche Fragen umgekehrt an den Tanz daraus entstehen.

Das fundamentale Phänomen, mit dem es der Tanz zu allen Zeiten und unter allen Umständen zu tun hat, ist der mensch liche Körper. Außerhalb antiker Tempelbezirke ging es dabei stets um die Kunst der Disziplinierung, das Einfügen des Einzel nen in vorgegebene, choreografierte Formen. Seit das absolutis tische Gepränge erloschen ist, erlangt indes die Arbeit am eigenen Körper (Martina Pippal/Bernadette Wegenstein) zunehmend an Bedeutung, bis zuletzt jenes Projekt Körper (Waltraud Posch) heranreift, das die Gegenwart zur Maxime für jedermann erhoben hat. Wer auf sich hält, pflegt die eigene Aus strahlung und misst sich vorauseilend am mutmaßlichen Urteil der Umwelt: »Selbstentwicklung ist ein Muss« (Posch), doch die

innere Stimme ist dabei nur eine unter vielen. Wie auf der Bühne nämlich wird der Blick von außen zum entscheidenden Faktor, an dem sich Gelingen oder Scheitern der (Selbst)Darstellung entscheidet.

Anders als im 18. oder 19. Jahrhundert streift dieser Blick jedoch nicht nur die Fassade, also Kleider und Benehmen, sondern hef tet sich an den Körper selbst. Der Kult um die Schönheit hat ein Leitbild hervorgebracht, das trotz vorgeblicher Toleranz für andere Erscheinungs- und Lebensformen starke Wertungen beinhaltet: Wer auf dem gesellschaftlichen Parkett reüssieren will, präsentiert sich am besten schlank, agil und scheinbar al terslos. Das allgemeine Ideal hat sich also jenen Vorgaben ange nähert, die für den Tanz wie selbstverständlich gelten: Vierzig jährige Akteure treten ab, Cellulitis ist im Trikot nicht zugelassen, und Gewichtsprobleme beenden jede noch so verheißungs voll begonnene Laufbahn.

In diesem Sinne ist Tanzen quasi Körperdoping mit erlaubten Mitteln, aber um den Preis erheblicher Sichtbeschränkung: Na türlicher Lebensverlauf, Alterungsprozess, Abweichungen und Abnahme der physischen Kraft bleiben ausgeblendet. Im Profila ger haben sich diese perspektivischen Verkürzungen gleichsam verselbständigt und wirken von dort aus auf den gesellschaft lichen Habitus zurück. Wer stets nur blutjunge und attraktive Menschen auf der Bühne sieht, hält das, was de facto einem Se lektionsprinzip gehorcht, mindestens für den erstrebenswerten Lauf der Dinge. Wenn der Tanz hier seine Indienstnahme ver weigern, also subversiv wirken und ästhetische Gewohnheiten durchkreuzen will, muss er wohl oder übel selbst auf den Prüf stand: Müssen Tänzer tatsächlich immer jung und makellos schön sein oder wachsen ihnen nicht gerade mit den Jahren neue Ausdrucksmöglichkeiten zu, und liegt nicht in der Abkehr vom athletischen Typus ein kreatives Potential?

Tänzer wie der bucklige Raimund Hoghe, dessen Erscheinung sichtbar gegen den Mainstream steht, machen uns darauf auf merksam, dass Tanzen wie alle Kunst eben gerade nicht auf stromlinienförmige Verdichtungen hinauswill, sondern auf das je Besondere, das Wahrnehmungsräume aufbricht und vertraute Blickmuster sprengt. Was die Altersfrage angeht, wirft nicht nur der Niedergang der einzigen Kompanie, die dezidiert mit Künstlern jenseits der Vierziger-Schwelle gearbeitet hat Jirí Kyliáns Nederlands Dans Theater iii nämlich ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Szene. Statt Erfahrung, also gesammelte Lebens- und Darstellungskunst, für sich nutzbar zu machen, tauscht der Tanz sein Personal in kurzen Zyklen aus und adelt damit die allenthalben grassierende Ausmusterungs manie des postindustriellen Zeitalters. Was in der Kunst möglich ist, kann im Kommerz nicht verkehrt sein. Eine etwas widerstän digere Reflexion auf das eigene Tun und gängige Marktmecha nismen kämen dem Tanz hier mehr zugute als das Weiterspulen gut geölter Betriebsmaschinerien.

Für den Körper an sich zählt das Tanzen gewiss zu den empfeh lenswerten Optionen (sofern es nicht gerade auf höchstem Leis tungsniveau betrieben wird, wo nur absolute Sorgsamkeit vor Schädigungen schützt). Es stärkt Muskulatur und Kreislauf, för dert Befindlichkeit und Koordination und verleiht der Bewe gungsfreude Ausdruck. Das wussten bereits die alten Griechen, und die neuzeitlichen Autoren wurden nicht müde, dieses Wis sen weiter unters lesende Volk zu streuen. Gleichwohl ist dabei eben nicht der je individuelle Körper gemeint, sondern der sozial

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von dorion weickmann kulturstiftung des bundes magazin 14
tanz als körper-, hirn- und sozialdoping samt risiken und nebenwirkungen

und ökonomisch adaptionsfähige Körper-Apparat. Seine Ver wendungsfähigkeit bleibt das Maß aller Dinge. In diesem Szenario ist gerade das nicht vorgesehen, was ihm doch scheinbar zugrunde liegt: die bewusste Inbesitznahme seiner selbst, also das, was der modische Diskurs der Jetztzeit mit Authentizität umschreibt.

Die Schweizer Publizistin Christina Thurner hat jüngst heraus gearbeitet, dass der Anpassungs-Druck nur für einen einzigen Moment in der Tanzgeschichte ausgehebelt wurde in der Morgenröte der Klassik. Alles, was davor und danach geschah, bezog und bezieht sich auf ein Ideal, das dem Selbstbild der je weiligen Gesellschaftsformation gehorcht. Nicht Ego-Emanzi pation und -Entgrenzung, sondern Triebverzicht, Leistungswil len und Selbstkontrolle treiben den Prozess der Zivilisation bis auf weiteres voran.

Diese Dreiheit ist es, die den tanzenden Körper auf dem Thea ter wie in der Disco kennzeichnet und so verführerisch macht, bündelt sie doch gleichsam das hehre Gegenprinzip von Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll: Wer tanzt, und sei es noch so lasziv, bleibt sauber. Betreibt gewissermaßen nichts anderes als klinisch reines Sozialdoping. Dafür lieferte niemand anderer als Michael Jackson den schlagendsten Beweis. Mochte der Moonwalker sich hundertmal in den Schritt fassen und jede Geste mit raubkatzenhafter Erotik aufladen, sein ganzes Auftreten blieb gleichwohl asexuell bis aseptisch und kannibalisierte am Ende das eigene Fleisch. Denn so, wie Jackson auf der Bühne jede Be wegung in ihre Einzelteile zerlegte, nahm er sich hinter den Ku lissen selbst auseinander, flickte mit Hilfe von Schönheits-Schar latanen an seiner Silhouette herum, bis diese in seinen Augen zur Kenntlichkeit entstellt war.

Jackson erschuf sich selbst, ein veritabler Selfmademan, und der Tanz wurde ihm dabei zur vielzüngigen Sprache einer einzigen Botschaft: Noli me tangere. Er trieb dem Tanzen das Menschliche aus und überhöhte zugleich seinen eigenen Körper ins Übermenschlich-Unmenschliche, quasi Unberührbare. Die se stählerne Unberührbarkeit, die sich hinter sehnigen Muskel kostümen panzert, markiert die Risiken und Nebenwirkungen der modernen Gesundheits- und Selbstverwirklichungs-Ideolo gie. Wo die Natur sich versperrt, springen zudem Pharma-Indus trie und Promi-Operateure in die Bresche. Nichts ist schließlich

wertvoller als das Körperkapital, das zum Ausgangspunkt einer »leidenschaftlichen Selbstmodellierung« (Posch) wird, getreu der Devise: Zeige mir Deinen Körper und seine Bewegung, und ich sage Dir, wer Du bist!

Diese repräsentative Veräußerlichung steht wider die Dignität jeder Kunst und kollidiert entsprechend auch mit dem Selbstverständnis des Tanzes. Was aber kann er ihr entgegensetzen? Zunächst einmal die kritische Auseinandersetzung mit der eige nen Kapitalisierungstendenz und Turbo-Maximierung, was übersetzt bedeutet: mit Körperleistung bis ans Limit und Hochge schwindigkeitsrausch. Zeitgenössische Tänzer sind, was Technik, Timing und Präzision betrifft, auf einem Niveau angelangt, das uns schlichtweg überwältigt. Aber nicht mehr provoziert. Was wir sehen, nötigt uns allerhöchste Bewunderung ab, obwohl oder gerade weil wir es uns wunderbar vom Leib halten können. Nicht von ungefähr ist einer, der diese Entwicklung maßgeblich gesteu ert hat, zwischenzeitlich auf die Bremse gestiegen. William For sythe, Doyen des postmodern dance, hat sich von der Ausdehnung der Körperfront verabschiedet. Statt das Arsenal der Arabesken ins Unermessliche zu steigern, reiht der Choreograf heute Ge dankensplitter aneinander, die ihrerseits Bewegungsfasern auf saugen und nicht umgekehrt. Mit dem Effekt, dass jenseits biomechanischer Virtuosität unversehens das Menschliche wie der aufblitzt, und zwar nicht im anekdotischen, sondern im an thropologischen Sinn.

Was zu dieser Metamorphose gehört, lässt sich in aller Kürze be stimmen: kritisches Bewusstsein und ästhetische Bildung. Nun spielt in den Bildungsdebatten der Gegenwart der Tanz selbst als Gemeinschaftsstifter und Neuro-Aktivator eine zunehmend wichtige Rolle. Jede rhythmische Bewegung, heißt es aus den Humanwissenschaften, kalibriert zugleich den Verstand, und tan zende Schulklassen trainieren jenen Teamgeist, der später das Wirtschaftsrad in Schwung hält. Abgesehen davon, dass auch hier mit Verwertungsgewinnen kalkuliert wird, frei nach dem Motto: Nur was nützt, bezahlt die Schulverwaltung muss sich die Tanzwelt umgekehrt nach ihrer Bildungs- und Gemein schaftsfähigkeit fragen lassen. Und damit ist es nicht unbedingt zum Besten bestellt.

Wenn es stimmt, dass motorisches Können reines Hirndoping ist, dann sind angehende Tänzer wahre Wunderkinder. Die Pro

fession aber macht sich diesen Vorteil kaum zunutze, sorgt regel haft weder am Anfang noch am Ende der Karrieren für ausrei chend Allgemeinbildung und Berufschancen außerhalb des ei genen Dunstkreises. Diese Verengung, oft mit dem verzücken den Slogan vom Beruf als Berufung getarnt, rächt sich nicht nur am Einzelschicksal, sondern prägt das Image des Stan des: Wer sich berufen glaubt, braucht sich um seinen Ruf nicht zu scheren. So bleibt man unter sich, im verträumten Hortus con clusus der Kunst.

Das geht gut, solange die Zeiten idyllisch sind und kein Krisen wölkchen den Horizont verdüstert. Sobald aber der kommunale Pleitegeier kreist, stürzt er oft erlebt in den letzten Jahrzehnten als erstes auf die Tanzsparte herab, das immer noch und im mer wieder schwächste Glied im deutschen Theaterbetrieb. Ab hilfe schafft hier allein die Guerillataktik untergründiger Vernet zung und das Niederreißen des Gartenzauns. Kunstrebellion hin oder her statt in Schönheit zu sterben, wird sich der Tanz mit allen Akteuren verbünden müssen, die in der Wissensgesell schaft tonangebend sind. Und das meint eben nicht nur die üb lichen Verdächtigen, die Fachexperten, Designer oder Theater pädagogen, sondern ebenso die Mathematiker und Linguisten, Mediziner und Biologen, die das Erkenntnisfeld des Tanzes in seinen Umrissen überhaupt erst zu erahnen beginnen. Nur in der Anlage großflächiger Rhizome lässt sich der tief verwurzelte Vorsprung, den die Schwesterkünste auf dem Bildungsterrain unbestreitbar innehaben, allmählich aufholen. Und zweitens gilt es, jenseits des eigenen Gartenzauns zu wildern und alles aufzuspießen, was die Gesellschaft an ästhetischen und existentiellen Fragen umtreibt. Exklusion und Migration, Alterspyramide, Öko-Kollaps und digitale Revolution wer sich in seiner Dornröschen-Seligkeit davon nicht irritieren lässt, der däm mert vermutlich dem Koma entgegen und endet irgendwann wie Michael Jackson: als lebender Leichnam, wenn auch auf su perschlanken Beinen.

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kulturstiftung des bundes magazin 14 1 Marika Rökk und Ensemble in: Bühne frei für Marika , Foto: Real Film [K] 2 Laban Kinetogramm. Werbung für die IBM Schreibmaschine, undatiert, unbe kannter Fotograf [K] 3 Maria Theresia Oe.Kaiserin Vorführung der Hofreitschule in Kostümen, 13 5 1980, Foto: Votava, Wien [K] 1 2 3
Dorion Weickmann , Autorin und Journalistin, hat über die Kultur geschichte des Tanzes zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert promoviert. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

nomadischer tanz

bewegung zwischen den kulturen

von gabriele brandstetter

universalsprache tanz?

Längst haben wir uns auf die alljährlich stattfin denden Festivals eingestellt, auf denen die neu esten Produktionen von Tanzkompanien aus aller Welt vor einem interessierten Publikum zur Aufführung gelangen. Scheinbar mühelos sind Tanz und Performances zu Botschaftern zwischen Kulturen geworden: eine Bewegung ohne Grenzen in einer globalisierten Festival kultur. Die Unterstützung durch nationale Kul turinstitute wie etwa das Goethe-Institut grün det sich auch auf die Erfahrung, dass Tanzper formances in Kooperation und Austausch eine andere und leichtere Zugänglichkeit bieten als das langwierige Erlernen einer Fremdsprache. Ist der Tanz einer anderen Kultur also keine Fremdsprache? Die Tendenz, den Tanz zu einer Universalsprache zu erklären, ist alt, und sie er scheint in neuen Auflagen und mit philosophischen und anthropologischen Begründungen vom 18. Jahrhundert bis heute immer wieder. Doch schon die Aufführung eines traditionellen japanischen Nô -Tanzes vor europäischem Publikum dürfte deutlich machen, dass die Idee von einer universellen Lesbarkeit und Versteh barkeit von Körperbewegungen und Gesten ei ne Illusion ist. Nicht die vereinnahmende Über tragung von Wahrnehmungsmustern der eige nen Tanzkultur, sondern die Erfahrung von Differenz ist die Herausforderung und zugleich die Bereicherung einer solchen Begegnung mit einer anderen Tanzkultur. Tanz, in seiner Viel falt, verkörpert das Wissen einer Kultur in spezifischer Weise: nonverbal, als Körperbewegung, die Raum und Zeit gestaltet künstlerisch oder sakral, rituell oder als sportliches Spiel, solis tisch oder kollektiv. Gerade in den Übertra gungsprozessen zwischen Kulturen verändern sich Tanzformen, indem sie praktisch und buchstäblich über Grenzen gehen.

Pina Bausch, deren Produktionen mit dem Wuppertaler Tanztheater in sehr vielen Metropolen und Festivals gezeigt werden, hat seit Beginn ih rer großen Tourneen stets auch Erfahrungen der anderen Kulturen aufgegriffen und in ihre Choreografien einbezogen sei es die Melan cholie saudade des Fado, die Umarmungs gesten des Tango oder in Palermo , Palermo die Atmosphäre Süditaliens. Umgekehrt berichten die Tänzer aus Pina Bauschs Kontakthof, mit Damen und Herren ab ›65‹ , wie unterschiedlich die Reaktionen des Publikums in anderen Ländern waren. Es ist nicht dasselbe, »worüber Franzosen, Niederländer oder Italie ner lachen, was sie betroffen macht und wie sie ihre Freude äußern.«

Gerade weil tänzerische Darbietungen nicht auf universellen Formen basieren, sondern historische und kulturspezifische lokale Auffassungen von Körper, Interaktion und rhythmischer Bewegung transportieren, haben sie das Poten zial für Transformationen. Richtig ist aber auch, dass die Globalisierung Prozesse wechselseitiger Anverwandlungen begünstigt und immer mehr Tanz-Hybride erzeugt, deren Bewegungen und Darstellungstraditionen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten stammen. Ein Tango ist ein Tango aber in Helsinki ist er etwas ande res als in Buenos Aires. Dasselbe anders. Solche Hybridisierungen sind nicht erst das Re sultat jüngerer ökonomischer, touristischer oder medialer Vernetzungen im global village. Bei spiele gibt es seit den frühen Kolonisationsbe wegungen; Höhepunkte solcher Verflechtungen etwa zwischen Asien und dem Westen sind die exotistische Asien-Mode im europäischen Tanz um 1900 oder die Körpertechniken der Martial Arts im zeitgenössischen westlichen Tanz. In umgekehrter Übertragungsrichtung verlief die Transformation des deutschen Aus druckstanzes in der Entwicklung des japanischen Butoh -Tanztheaters. Der Tanz ist ein No made, der Spuren legt und hinterlässt, die ande re aufnehmen oder verwischen.

der tanz ist ein nomade In Europa zeigte sich das nomadische Wandern schon in der Zeit der Renaissance, als etwa die Basse danse zwischen den oberitalienischen und den burgundischen Fürstenhöfen zirkulierte, sich dabei verfeinerte, sich in ihren Ausdrucks formen differenzierte und schließlich bis nach England weiterwanderte. Tänze, deren Namen nationale Identität erkennen ließen wie etwa die Allemande veränderten sich in ihren neuen Um gebungen und bildeten unterschiedliche regio nale Spielarten und Tanzformen aus. Der Dis kurs von Fremdem und Eigenem, von Hybridisierung oder Globalisierung, greift hier nur bedingt, da er letztlich immer noch der Frage nach Ursprung und Echtheit verhaftet ist und die eigene Qualität von Differenzierungen außer Acht lässt. Der Tanz hätte seinen noma dischen Charakterzug sicher nicht entwickeln können, hätten nicht die Ballettmeister, Choreografen, Tänzerinnen und Tänzer die Bereit schaft oder gar die Veranlagung mitgebracht, ein nomadisches Leben zu führen. Vielleicht war es historisch gesehen ein Zufall, wenn nicht eine Not, dass die Bewegungskunst Tanz sich

immer in größeren Räumen bewegte und dabei territoriale wie kulturelle, künstlerische und auch soziale Grenzen überschritt. Jean Georges Noverre, einer der Gründer des dramatischen Tanzes im 18. Jahrhundert, choreografierte und lehrte in Lyon, Stuttgart, Wien, Paris und St. Pe tersburg. Carlo Blasis, der Erfinder des noch heute gültigen tänzerischen Systems des (klas sischen) Balletts, reiste zwischen Mailand und London. Und Marius Petipa, der Choreograf von Klassikern wie Schwanensee und Nussknacker , wanderte von der Opéra in Paris ans Mariinsky-Theater in St. Petersburg. Dass ein Tanz-Star wie Fanny Elßler in der ers ten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur auf den großen Bühnen Europas zu sehen war, sondern auch eine Amerika-Tournee absolvierte, war zu jener Zeit noch die Ausnahme, bis schließlich im 20. Jahrhundert das Reise-Leben der Tänzer zum Alltag und oft genug zur Lebensnotwen digkeit wurde. Zum Nomadisieren im Sinne eines freien und individuellen Wechsels von Or ten und Kulturräumen kamen im 20. Jahrhun dert die Erfahrungen von Emigration und Exil. Der Glanz und die ästhetischen Innovationen einer Tanzgruppe wie der von Serge Diaghilew geleiteten Ballets Russes markiert nicht zuletzt die andere Seite einer Gruppe von Emig ranten, den besten Tänzern und Künstlern des Mariinsky-Theaters, die den Kontakt zu ihrer Heimat erzwungenermaßen verloren und nun mehr auf nicht endenden Tourneen und Gast spielen das Eigene als Kunst auf den Bühnen der Welt (er)fanden. Das Nomadische des Tanzes zeigt sich in immer neuen Bewegungen zwischen lokalen und kul turellen Räumen. Sein transformatorisches Po tenzial beweist er jedoch auch in der Wanderung zwischen sozialen Schichten und Räumen: Er kann eben auch gesellschaftlich getrennte Bereiche aufmischen und beispielsweise die Grenzen zwischen den Generationen auflö sen. Während in unserer Gesellschaft die De moskopen, Ökonomen, Versicherungsexperten und Politiker auf das Problem der Generationengerechtigkeit angesichts einer alternden Gesellschaft mit Solidaritätsappellen reagieren, während wohlgemeinte Senioren-Veranstaltun gen und Jugend-Clubs zur generationellen Se gregation der Gesellschaft eher beitragen als sie zu überwinden, praktizieren Tanzformen eine andere, zwanglose und lustvolle Umgangsweise in der Begegnung von Jungen und Alten etwa die populäre Tanzform des Tango oder die Bühnen-Choreografie Kontakthof von Pina

Bausch. Der Tanz kann zeigen, wie es auch an ders geht: eine von den Hierarchisierungen und Diskriminierungen sozialer Maßnahmen freie Möglichkeit der Begegnung.

miteinander tanzen: kontakthof

Der große und dauerhafte Erfolg von Kon takthof, mit Damen und Herren ab ›65‹ lässt sich nicht zuletzt darauf zurück führen, dass hier etwas als Kunstereignis über zeugte, was im gesellschaftlichen Leben nicht möglich war und ist. Die Choreografie aus dem Jahr 1978 wurde ab 2000 über mehrere Jahre und auf Tourneen in einer Version mit Laiendarstellern ab 65 Jahren gezeigt. Es sei ihr Wunsch gewesen, so kommentierte Bausch, dieses The ma älteren Damen und Herren mit viel Lebenserfahrung anzuvertrauen. Dieses Thema? Kontakthof ist der Ort einer Begegnung, »an dem man sich trifft, um Kon takt zu suchen. Sich zeigen, sich verwehren. Mit Ängsten. Mit Sehnsüchten, Enttäuschungen. Verzweiflung. Erste Erfahrungen. Erste Versuche. Zärtlichkeiten und was daraus entstehen kann.« So fasste Pina Bausch das Thema in Worte. Und 2008, dreißig Jahre nach der Uraufführung, entstand dann auch die Version Kontakthof. Mit Teenagern ab ›14‹ . Das Stück, die Szenen und die Komposi tion bleiben gleich, und doch verwandelt es sich im Wandern zwischen den Generationen, weil Jung und Alt ihre eigenen Erfahrungen ein bringen. Es geht vor allem um die Auseinander setzung mit den Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Körpers, die in der gemeinsamen Arbeit, im Bewegungs-Dialog mit anderen und in der Begegnung mit den eigenen Sehnsüchten im Spiegel der anderen erlebt und erprobt werden. Ein Prozess, der zugleich frustrierend und komisch, mühsam und beglückend ist. Ein Stück wie Kontakthof vermag die Auf merksamkeit dafür zu schärfen, dass es möglich ist, andere Kategorien für Schönheit und Be weglichkeit zu finden: nicht die virtuose Show, nicht die makellosen Körper aus den Verspre chen auf alterslose Figuren und keine chirurgischen oder pharmazeutischen Optimierungen. Anders als in Politik und Gesellschaft geht es hier nicht um das Prinzip Kompensation oder Lastenausgleich zwischen den Gene rationen, sondern um Akzeptanz und die Er fahrung der Leichtigkeit des Seins ohne Altersgrenze.

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tango als lebensform

Man könnte Kontakthof die ganze Nacht durchspielen, sagte Pina Bausch kurz nach der Premiere. Was dem Kontakthof als spekta kuläres Kunstereignis für die Dauer einer Büh nenaufführung gelang, zelebriert der Tango als populäre Lebensform. Dessen Tanzabende, die Milongas, beginnen in Buenos Aires oft nicht vor Mitternacht und dauern meist bis 4 Uhr morgens; die ganze Nacht in der Bewegung umarmter Paare. Ob in den holzvertäfel ten, dekadenten Räumen der Confíteria Ideal unter goldenen Lüstern, oder im Keller von La Viruta , wo sich Anfänger und Fort geschrittene einfinden, oder in der SporthallenAtmosphäre des Clubs Sunderland , in dem alteingesessene Milongueros den traditionellen Tango zelebrieren: Faszinierend ist die Selbst verständlichkeit, mit der der Tango als Tanz für Jung und Alt, als Kontakt-Raum von 20jährigen bis von über 80 jährigen akzeptiert ist. Auf einem Wettbewerb, dem Baile de Cam peones im Salon Canning tritt zuerst ein jun ges Paar auf, schlank und durchtrainiert. Die Tänzerin hat, wie viele Tangotänzerinnen, ganz offensichtlich eine Ballettausbildung. Das Paar tanzen zu sehen, musikalisch und in weit aus greifenden Figuren, ist ein ästhetisches Vergnü gen. Danach folgt ein Paar, beide weit über 70, beide mit stattlichem Leibesumfang. In dem Augenblick, als sie in die Tango-Umarmung eintreten und sich in die Bewegung hineinfin den, wird spürbar, was dann die drei Minuten des Tanzes über anhält: eine große Intensität, tanzen zum eigenen und gegenseitigen Genuss; nicht spektakulär, nicht als Choreografie in al len Schrittfolgen vorbereitet, sondern im reinen Bezug zueinander und im Hören auf die Musik vereint und versunken. Der Tango ist ein Tanz der unendlichen und unvorhersehbaren Mög lichkeiten ein improvisierter Tanz, der in sei ner aktuellen Form in der Kombination der Schrittfolgen erst in der Begegnung des Paares entsteht, sich aus den Bedürfnissen und Mög lichkeiten der Partner bildet. Diese Unvorher sehbarkeit macht ihn zu einem faszinierenden Spiel. Und die Verbundenheit der Körper in der Umarmung macht ihn zu einem Tanz des Her zens.

Doch nicht nur diese emotionale Seite der Be rührung verbindet die Generationen und die sozialen Kulturen im Tango. »Tango ist ein hy brider Tanz einer hybriden Masse von Men schen«, sagt der argentinische Forscher Horacio Salas über die Geschichte dieses populären Tanzes, der ein Amalgam ist aus den Musik-

und Bewegungsformen unterschiedlicher euro päischer, afrikanischer, südamerikanischer Kulturen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im Einwanderungsgebiet des Rio de la Plata vermischten. Seine nomadische Geschichte verlieh dem Tango Wandlungsfähigkeit und zugleich Identität bei seinen Wanderungen von Buenos Aires in die Metropolen der Welt und wieder zurück. Enrique Santos Discépolo, einer der bedeutendsten Tango-Dichter, sagte, der Tango komme von der Straße. Aus diesem Grund versuche er, durch die Straßen zu schweifen und der Seele der Stadt (Buenos Aires) ihre Stimmen abzulau schen. Auch dies ist ein Wandern in urbanen Räumen der Einsamkeit, der Entwurzelung, des Abschieds, des Aufbegehrens, des Endes einer Liebe, das den Gestus des Tangos prägt.

Der Tango ist ein Speichermedium von Gefüh len und Erfahrungen, das in tänzerischer, spezifischer Weise soziale Wirklichkeit modelliert: sei es in den Öffnungen der traditionellen Ge schlechterrollen für ein neues Verständnis von Führen und Folgen, sei es in der Experi mentierfreude des Tango Nuevo, sei es in der Lust am Unkonventionellen im ZEN -Tango oder sei es der Contact-Tango, der scheinbar Unvereinbares zusammenbringt. Das sind Transformationen des Tangos unter Nutzung seiner kulturellen Eigenheiten, die im Horizont kultureller Differenzen umso deutlicher werden, wie sie auch in diesem Licht als wandelbar erscheinen. Weil Tango mehr ist als eine kunstvolle Schritt folge und nur einer ist, wenn er Lebensgefühle und -erfahrungen erkennbar werden lässt, erhält er in Berlin und New York, in Tokio oder Helsin ki immer ein anderes Gesicht. In Wuppertal bei Pina Bausch vielleicht sein ungeschminktestes:

Blick auf die Lebens(t)räume der eigenen Wirk lichkeit. So wird der Tango nicht Thema, son dern er wird zum Anlass, um das Fremde und Befremdliche der eigenen Lebenswelt unter die Lupe zu nehmen. In Bandoneon wird kein einziger Tango getanzt: Respekt vor dem Besonderen der anderen Kultur und Scheu vor dem Klischeehaften verhindern, dass TangoKopien in exotistischer Weise zum TanzSchlager des Stücks werden. Stattdessen: Tango-Musik aus der Ära von Carlos Gardel, vom Band gespielt, und der melancholische Klang des Bandoneons ein Instrument, das, von einem Deutschen erfunden, im argentinischen Tango seine Bestimmung und Bedeutung erhielt.

In ihrem Stück Bandoneon , das nach einer Südamerika-Tournee des Wuppertaler Tanzthe aters 1980 Premiere hatte, überträgt Pina Bausch die Atmosphäre des Tangos in die Frage-Szenarien ihrer choreografischen Arbeit: »Für was kann Tango alles gut sein?« und: »Wo fängt es an zu tanzen?« eine Frage, die nicht die vor gegebenen Schritte und Formen eines Tanzes meint, sondern jene unerklärlichen Momente, in denen Bewegungen entstehen, die etwas über die Gefühle der Menschen erzählen. Nach den Eindrücken dieser Reise, so berichtet Raimund Hoghe (damals Dramaturg bei Pina Bausch), sei etwas aufgebrochen und unsicher geworden im

Der Tango wird in Pina Bauschs Choreografie zum Medium, um nach den Ritualen von Nähe und Distanz zu fragen, zu einer Suche nach je nen Momenten, die erlernte Attitüden durch brechen und Gemeinsamkeit entstehen lassen: in Szenen, in denen die Tänzer in Tango-Hal tung einfach nur stehen; oder einen Tango lang warten, bis die Zeit da ist, dem Publikum ein Gedicht vorzulesen. Oder »Tango« in verscho benen Posen, die auch den Schmerz und das Ungenügen sichtbar werden lassen, etwa wenn sich die Paare in Tango-Umarmung begegnen, sich dabei jedoch auf den Knien durch den Raum bewegen. Im Hintergrund geht der Tän zer Dominique Mercy, gekleidet in ein Balleri na-Tutu, wieder und wieder in tiefe Pliés (Knie beugen). Bilder von der Einsamkeit der tänze rischen Disziplinierung und von den Schwierigkeiten, als Paar eine Form der gemeinsamen Be wegung zu finden, blenden sich übereinander, zwischen zwei Tanzkulturen, dem Ballett und dem Tango. »Für was kann Tango alles gut sein?« Pina Bauschs Tanztheater ebenso wie der Tango als populäre Tanzform zeigen, dass und wie Be wegung auf kulturelle und soziale Kontexte rea giert und gleichzeitig ihre wirklichkeitsprägende Macht überwindet. Dasselbe kann uns eben auch als das Andere begegnen. Unmöglich, wenn der Tanz eine Universalsprache wäre.

Gabriele Brandstetter ist Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der FU Berlin. Ihre For schungsschwerpunkte liegen bei der Theorie der Darstellung, Körper- und Bewegungskonzepten in Schrift, Bild und Performance sowie Untersuchungen zu Tanz, Theatralität und Geschlechterdifferenz. 2004 verlieh ihr die Deutsche Forschungsgemeinschaft ( DFG ) den renommierten Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis 2005 gründete Gabriele Brandstetter das Zentrum für Bewegungsforschung an der Freien Universität Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie als Mitherausgeberin Szenen des Vorhangs Schnittflächen der Künste, Rombach Scenae, Freiburg 2008, und Prognosen über Bewegungen , b_books, Berlin 2009

»für was kann tango alles gut sein?«
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1 Szene aus dem Film: Was ist los mit Nanette? , unbekannter Fotograf [K] 2 Revueszene, undatiert, Foto: Walery, Paris [K] 3 Bonjour Paris, undatiert, Foto: Mistinguette Film [K] 4 Siebenhundertjahrfeier Berlin. August 1937, unbekannter Fotograf [K] 5 Olympische Spiele Berlin 1936, unbekannter Fotograf [K] 6 Festa della legioni im Stadion von Mailand am 11 6 1940, Foto: Sportbild-Verlag Max Stirner [K] 1 2 3 4 5 6

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vorherige Seite Berlins höchste Bar. Auf dem Dach des Eden-Hotels, undatiert, Foto: Keystone [K] 1 46th Street Jam aus Fame 1980, Foto: Metro-Goldwyn-Mayer [K] 2 Revue-Szene, undatiert, unbe kannter Fotograf [K] 3 Leibesübungen 1910, Foto: Rud. Gentsch [K] 4 Corps de Ballett in Giselle von Heinz Spoerli, Basler Theater, Foto: Peter Stöckli [K]

ein traum wird wahr

ist es der film, ist es der tanz oder sind es die stars? zur popularität von tanzfilmenvon

Ungeduldig stehe ich auf dem Platz der Luftbrücke und warte auf die U-Bahn. Mein Blick fällt auf das riesengroße Werbeplakat des Musicals Dirty Dancing . Während ich mich frage, warum ich genervt auf derartige Revivals reagiere, nutzen zwei Jungen mit Baseballkappen und weiten Jeanshosen die Wartezeit, um Breakdance zu üben: Unverdrossen versuchen sie immer und immer wieder, aus einer Drehung am Boden rück wärts in einen Handstand überzugehen. Dabei geben sie einander Tipps, wann sie das Gewicht wie verlagern müssen, um den Handstand länger halten oder lässiger von einer Pose in die nächste wechseln zu können. »Das sieht dann cooler aus, weißt Du?«

Endlich kommt die Bahn. An jeder Station zieht das gleiche Plakat an mir vorbei Dirty Dancing … Die 80er Jahre schei nen allgegenwärtig, egal ob im Radio, als Modetrend oder auf Partys. Mittlerweile habe ich mich eigentlich längst daran ge wöhnt, dass Teenager ganz in einer 80er Jahre-Nostalgie schwel gen, mit glänzenden Augen Time of my life singen, 80er Jahre-Frisuren und Chucks »in« sind und kein Shirt oder Rock ohne die obligatorischen Leggings getragen werden. Viele Hits der 80er sind zugleich Titelmusiken bekannter Tanzfilme wie Saturday Night Fever (1977), Fame (1980 ), Flash dance (1983), Footloose (1984), A Chorus Line (1985) oder Dirty Dancing (1987), die viele Teenager ebenso gut kennen wie die Songs. Zwei etwa dreizehnjährige Mädchen mir gegenüber unterhalten sich über Dirty Dancing . Den Film kennen sie offenbar in- und auswendig und sind sich darüber einig, dass er »einfach Kult« ist.

Was macht Tanzfilme bis heute so anziehend? Immerhin füllen nicht nur Revivals alter Tanzfilme als Musicals Abend für Abend die Säle, sondern auch neue Tanzfilme wie Center Stage (2000 ) oder Darf ich bitten? (2004) lassen die Kinokassen klingeln. Ist es die Musik, ist es der Tanz oder sind es die Stars?

Seit über achtzig Jahren gelingt es dem Tanz immer wieder, neuen Stoff für die Hollywood- Maschinerie zu liefern. Mit dem Einzug des Stepptanzes und seiner Virtuosen in den Film etab lierte sich der US -amerikanische Musicalfilm in den 1930er Jah ren und zählte bis in die 1950er zu den populärsten HollywoodGenres. Ob sie Harlem zum Himmel erklären, in einer Pfütze im Regen singen oder verliebt gegen alle Schwerkraft die Wohn zimmerwände hinaufsteppen Bill (Bojangle) Robinson, Gene Kelly und Fred Astaire werden bis heute als Virtuosen des Musical- und Revuefilms verehrt. Mit Charme und Witz wechseln sie vom Dialog zum Song, der ihre Tanzeinlagen motiviert. Die Tanzszenen dienen dazu, die emotionale Bewegtheit, die Ge mütslage des Protagonisten zum Ausdruck zu bringen. Doch mit dem Tod (Robinson † 1949 ) oder dem zunehmenden Alter dieser Tanzikonen beginnt auch der Niedergang des US amerikanischen Musicalfilms in den 50er Jahren. Offenbar wa ren es nicht die Erzählungen, sondern der Kult um die Tanz-Stars

mit ihren unnachahmlichen Tanzstilen und ihrer unerreichten Virtuosität, die das Herzstück des Musicalfilms ausmachten und die Zuschauer in ihren Bann zogen. Die Handlung bildete letzt lich nur Rahmen und Vorwand für deren Gesangs- und Tanzein lagen. Und die Kamera diente hauptsächlich als eine Art Vergrö ßerungs- oder Brennglas für die Ausstrahlung der Tänzerpersön lichkeit.

Mit dem Musicalfilm verschwindet auch der tanzende Held von der Leinwand. Erst gut zwanzig Jahre später gelingt es einem charmanten, jungen Tänzer wieder, die Kinozuschauer zu begeistern. Nicht steppend, sondern mit schwingender Hüfte glänzt John Travolta im Discolicht der ausgehenden siebziger Jahre. Rund um den Globus löst er ein wahres Saturday Night Fever aus und läutet damit die Ära eines dem Musicalfilm art verwandten Genres ein die des Tanzfilms. Nach Elvis Presley und Rock’n’Roll, den Beatles, Flower-Power und den 68ern ist auch der junge Tänzer-Held ein anderer geworden. Er entspricht nicht mehr dem Bild des Traumschwiegersohn à la Gene Kelly, sondern verwandelt sich in einen unangepassten Tänzer-Helden, der seinen eigenen Weg gehen will und ästhetische Grenzüber schreitungen im Tanz nicht scheut. Spätestens seit Mitte der 1980er hat der männliche Held (mit Ausnahme von Billy El liot (2000 )) dann aber offenbar ausgedient und wird durch weibliche Protagonistinnen ersetzt. Auch im Tanzfilm scheint die Frauenemanzipation Einzug zu halten, da es nun an den weiblichen Hauptfiguren liegt, gegen Normen aufzubegehren und ihren Werdegang selbst zu bestimmen, indem sie ihren Traum vom Tanz wahrmachen. First when there’s nothing but a slow glowing dream that your fear seems to hide deep inside your mind. All alone I have cried silent tears full of pride in a world made of steel made of stone. Die Kamera zeigt zu Beginn von Flashdance zunächst arbeitende Männer und zoomt dann auf einen be stimmten Schweißer, der sich als Frau entpuppt. Alex, die sich zum Prototyp weiblicher Tanzheldinnen entwickeln wird, wird so, ganz im Sinne der Frauenemanzipation, als arbeitende Frau in eine reine Männerdomäne eingeführt. Schwieriger wird es für eine »feministische« Deutung, wenn man Alex’ Nebenjob als Tänzerin in einem Nachtcafé beachtet, in dem sie aus finanziellen Gründen ihren Körper im Tanz, wenn auch ohne ihn zu entblößen, den begehrenden und voyeuristischen Blicken der Männer aussetzt.

Doch unabhängig von ihrem Geschlecht charakterisiert der Traum vom Tanz als Lebenschance und Lebenszweck fast alle Protagonisten der Tanzfilme seit den 1980er Jahren. Ganz gleich, welcher Tanzstil dominiert, folgen die Erzählungen durchweg einem ähnlichen Grundmuster: Die Hauptfiguren stammen oft aus einem unterprivilegierten sozialen Milieu, haben häufig Konflikte mit den Eltern oder Lehrern und scheinen als Außenseiter auf der Schattenseite des Lebens zu stehen. Von ihrem Traum vom Tanz besessen, schaffen sie es dank ihres Talents,

ihre Selbstzweifel zu überwinden, sich gegen Konkurrenten im Tanz durchzusetzen und die Jurymitglieder der Tanzakademien oder Wettbewerbe von sich zu überzeugen. Der Tanzfilm berich tet von den wechselvollen Gedanken und Gefühlen seiner Protagonisten und dokumentiert ihre Lebensumstände und ihre Entwicklung. Hollywoodgemäß wird auch die Liebe nicht ganz ausgeklammert. So ist es im Moment der Krise, in dem die Prota gonisten drauf und dran sind, ihren Traum vom Tanz aufzuge ben, stets die Funktion des oder der neu gewonnenen Partner/in, die Protagonisten zum Weitermachen zu motivieren. Kaum ist dies gelungen, erfolgt eine Krise der Liebesromanze bis letztlich der Traum vom Tanz und die Liebesromanze in ein fulminantes Happy End münden.

Das perfekte Hollywoodmärchen also die Erfüllung des Ame rican Dream? Jein. In amerikanischen Tanzfilmen wird aus dem unterprivilegierten Tellerwäscher ein Nussknacker kein Kaviar essender Multimillionär, sondern ein selbstbewusster junger Erwachsener, der seinen idealistischen Traum, Profitänzer zu werden, erreicht hat. Zwar scheint der Tanz oft der einzige Aus weg aus der sozialen Misere zu sein, doch ist er den Protagonisten deshalb nie Mittel zum Zweck. Im Gegenteil: Gerade der Traum vom Tanz, die Möglichkeit an einer Tanzakademie aufgenom men zu werden und zu tanzen um des Tanzes willen, ist es, der die Protagonisten motiviert, eiserne Disziplin zu halten, sich ge gen Konkurrenten zu behaupten und Frustrationen und Selbst zweifel zu überwinden.

Damit hat sich der Tanzfilm eine Figur geschaffen, die nahezu perfekt Fiktion und Realität des Tanzes verbindet und sich zu dem ideal als Projektionsfigur für Teenagersehnsüchte eignet. Als eigentlich chancenlose Außenseiter, die sich moralisch gegen alle Versuchungen behaupten und dank ihrer Willenskraft Konkurrenten trotzen, sind den Protagonisten die Sympathien und das Mitfiebern der Zuschauer garantiert. Die Tanzbewegungen erscheinen kunstvoll und bewundernswert und vermitteln das Gefühl, eine sozial voraussetzungslose Kunst zu sein. Im Nimbus der Voraussetzungslosigkeit des Tanzes und dem ho hen Identifikationspotential der Protagonisten liegt vermutlich eines der Geheimnisse für die Attraktivität und Popularität von Tanzfilmen aus rezeptionsästhetischer Sicht.

Produktionstechnisch ist von Vorteil, dass der Tanzfilm durch den stabilen erzählerischen Rahmen ein ideales Gerüst bietet, das sich auf ganz unterschiedliche Tanzstile wie Disco-Musik ( Saturday Night Fever ), Salsa ( Salsa und Amor ), Merengue ( Mad Hot Ballroom ), Mambo ( Dirty Dancing ), Hip-Hop ( Save the last Dance ), Ballett ( Center Stage ), Breakdance ( Breakdance The Film ), Tango ( The Tango Lesson ) übertragen und variieren lässt.

Die 80er Jahre stehen historisch nicht nur für die Geburt des Tanzfilms als eines eigenen Genres, sondern auch für ein Jahr

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christina deloglu

zehnt, in dem sich unter Jugendlichen auf der Straße und in den Clubs viele Tanzstile zu bestimmten Musikrhythmen zeitgleich entwickelt haben. Tanzfilme wie Footloose oder Flash dance sind in diesem Sinne wertvolle Zeitdokumente, da sie unterschiedliche Tanzstile wie Jazzdance, Breakdance, Jacksons Moonwalk, Streetdance, Disco, Ballett, Twist, Rock’n’Roll, Ae robic und sogar Eiskunstlauf spielerisch miteinander verbinden. Der Tanz wird im Film zur Massen verbindenden Ausdrucks form, die kurzweilig die Kluft zwischen Sub- und Expertenkul tur aufzuheben vermag. Man denke nur an die mitwippende Jury, als Alex in Flashdance ihre Aufnahmeprüfung tanzt; die große Straßenszene in Fame , in der alle Jugendlichen der Dance Academy auf dem Broadway, auf der Straße und auf den Autodächern tanzen oder die Discoszenen in Saturday Night Fever . Mit derartigen Szenen transportieren Tanzfilme ein kollektives Körper-Gefühl, in dem Konkurrenzen und persönliche oder kulturelle Differenzen temporär ausgeb lendet werden. Entweder tanzen alle gemeinsam in einer Grup penchoreografie oder aber jeder in seinem eigenen Stil zu einem gemeinsamen Musikrhythmus. Tanzfilme in den 1980er Jahren, das ist Freiheit und Partizipation im Medium des bewegten Kör pers. Populärer Tanz und populäre Musik gehen eine Verbin dung ein, die sich auch außerhalb des Tanzfilms mit Videoclips wie Thriller (1982 ) ein eigenes (Film)Genre schaffen.

Sind es in den Erzählungen der Tanzfilme die Protagonisten, die gegen Konkurrenten gewinnen, so sind es in den 80er Jahren pro duktionstechnisch gesehen ihre Darsteller, die mit ihrem tänzerischen Können überzeugen müssen, um für den Film besetzt zu werden. Die Hauptfiguren können stets nur so gut tanzen wie ihr Darsteller. Seit den 1990er Jahren wird es dank filmtechnischer Neuerungen möglich, diverse Schrittfolgen oder Posen zu einer längeren Tanzsequenz zusammenzufügen oder Sprünge und Drehungen größer oder höher wirken zu lassen. Bewegliche Ka meras sowie Schnitttechniken erfordern daher keinen technisch versierten Tanzkörper bzw. Darsteller mehr, um virtuos wirkende Tanzeinlagen zu inszenieren. So lassen sich Tanzfilme seit den 1990er Jahren zunehmend in zwei Kategorien einteilen: in diejenige, in der die Darsteller durch ihre tänzerische Virtuosität überzeugen, und in jene, in der der Eindruck tänzerischer Virtuosität hauptsächlich auf den technischen Möglichkeiten des Films basiert. Während die Rollen in Center Stage aus schließlich mit professionellen Balletttänzern besetzt sind, die in diversen Balletkompanien der USA und Europa engagiert sind, handelt es sich in Tanzfilmen wie Save the last Dance (2001), Honey (2003 ) oder Darf ich bitten? (2004) um etablierte Hollywood-Schauspielerinnen oder Newcomer wie Jennifer Lopez, Julia Stiles oder Jessica Alba. Auch die Choreo grafien werden nahezu ausschließlich von bekannten Videound Musikclip-Choreografen gestaltet, die sonst Pop-Stars wie Madonna, Michael Jackson, Britney Spears, Robbie Williams oder Justin Timberlake trainieren.

Im Rückblick lassen sich zwei Entwicklungen feststellen: Ist der Musicalfilm der 1950er letztlich ein Tänzer film ein Film der Tanzikonen , so entsteht in den späten 1970er Jahren der ei gentliche Tanz film, in dem der Tanz mit der Vielfalt seiner Stile, seinen emanzipatorischen und partizipativen Valeurs in den Vordergrund rückt. In den 1990er Jahren ist es dann der Film selbst, der mit neuen technischen Möglichkeiten in den Tanz eingreift und scheinbar virtuose Tanzsequenzen ohne tän zerisches Können der Darsteller inszeniert. Damit entsteht im Prinzip etwas Neues: Man könnte es den Filmtanz nennen. Die Rollen der Filmtanz-Protagonisten gleichen einer Matrix, die sich problemlos mit massentauglichen Hollywood-Idolen ausfüllen lässt. Variationen gibt es hautsächlich in der Wahl des Tanzstils. Und nicht zufällig haben die Darsteller der Protagonisten den zum ausgewählten Tanzstil passenden ethnischen Hintergrund und erfüllen damit Clichés: So ist die vom Ballett träumende Hauptfigur hellhäutig (Julia Stiles), die den SalsaWettbewerb gewinnende Protagonisten eine Latina (Jennifer Lo pez) und die Hip-Hop-tanzende Darstellerin zumindest zur Hälfte afroamerikanischer Herkunft (Jessica Alba). Mit diesem ethnischen Kontext unterscheiden sich die Tanzfilme seit den 1990er Jahren wesentlich von ihren Vorgängern der 1980er Jahre: Während in den früheren Tanzfilmen die Verwirklichung des Traums vom Tanz stets mit einem Drang nach Freiheit, Tabu bruch, Generationskonflikten und Identitätsgefühl einer ganzen Generation assoziiert war, rücken in den Tanzfilmen und den Filmtänzen seit den 90ern die Einzelschicksale der Protagonis ten, ihr sozialer und ethnischer Hintergrund sowie der tänzerische und soziale Konkurrenzkampf zwischen den unterschiedlichen Ethnomilieus innerhalb derselben Generation in den Vor dergrund. In diesem Konkurrenzkampf zeigt sich die identitäts bildende Kraft von Tanzbewegungen und von den zum Tanzstil gehörenden Dresscodes. Tatsächlich werden diese auch unter Teenagern diesseits und jenseits des Atlantiks jedoch gleichermaßen als realitäts(ab)bildend rezipiert und in subkulturelle Moden übernommen. Identifiziert oder outet man sich entspre chend, so sieht auch das »cooler aus, weißt du?«

In der Darstellung des weiblichen Tanzkörpers entsprechen Tanzfilme von Flashdance bis Honey der allgemein durch Massenmedien transportierten Botschaft, dass Schönheit mit sexueller Attraktivität einhergeht. Unvergessen und in Musikvi deoclips vielfach zitiert bleibt die Tanzszene aus Flashdance zu dem Song He’s a Dream : Alex spielt zunächst mit gender Rollen, indem sie im Anzug mit Krawatte als schwarze Silhouet te im Bühnenlicht der Tanzfläche erscheint, sich innerhalb einer Sekunde den Anzug auszieht und darunter ein hautenges, knap pes Minikleid enthüllt. Wenig später sitzt sie auf einem Stuhl und zieht an einem Seil, so dass ein Wasserschwall auf sie herab prasselt. Ihr Kleid klebt an ihrem Körper. Die Kamera zoomt auf ihren nassen Körper, während sie sich pirouettenartig dreht und ihre nassen Haare hin- und her wirft. Bis heute gilt dies als die

erotische Tanzfilmszene schlechthin, in der der weibliche Kör per gezielt sexuell aufgeladen wird. Protagonistinnen von Tanz filmen der letzten zehn Jahre wurden systematisch mit Darstellerinnen besetzt, die wie z.B. Jennifer Lopez in den Medien als Sexsymbole vermarktet werden. Der Filmtanz-Tanzfilm sekun diert einem Körperkult, der für viele auch im wahren Leben nicht ohne Schnitt-Techniken zu realisieren ist. Aus dem Traum vom (vollkommenen) Tanz kann so schnell der Traum vom (per fekten) Körper werden.

Scheint der Filmtanz mit seinem Trend zur Sexualisierung eine fragwürdige Richtung einzuschlagen, so verweisen HollywoodTanzfilme wie Honey jedoch auch auf eine andere Richtung im Tanz, die ein wenig an den Geist der 80er Jahre erinnert. HipHop und Breakdance zum Beispiel figurieren als Formen, Ju gendlichen im und durch Tanz Verantwortung, Stabilität und Selbstdisziplin zu vermitteln und damit ihre Chancen auf Partizipation und soziale Integration zu verbessern. Tanz als päda gogisches Konzept des empowerments von Jugendlichen kann sich auf mentale Impulse aus jenen populären Tanzfilmen beru fen, die nun wiederum in avancierten künstlerischen Tanzsze nen Eingang finden, wie beispielsweise in der Arbeit von Choreograf/innen wie Constanza Macras/Dorky Park oder Royston Maldoom.

Selbst wenn es heute vorrangig das Image der Stars wie Patrick Swayze, Jennifer Beal oder Jennifer Lopez ist, das über den Er folg von Tanzfilmen entscheidet, so stehen diese Stars des Film tanzes dennoch stets für einen spezifischen Tanzstil, den sie buchstäblich verkörpern.

Es scheint also doch der Tanz zu sein, der immer noch begeistert, fasziniert, Geschichten erzählt und Perspektiven aufzeigt. Und der Tanzfilm hat inzwischen eine Tradition, einen Kanon von »Klassikern« ausgebildet, der viel Stoff für Revivals bietet. Tanz filme haben das Zeug für »Kult«. Ich bin gespannt, welche Plakate in den U-Bahnschächten denen von Dirty Dancing fol gen werden.

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Christina Deloglu , Jahrgang 1980, ist Theaterwissenschaftlerin. Von 2000 bis 2006 arbeitete sie im Bereich Regie an mehreren Theatern in Deutschland und in Chicago. Seit 2007 ist Deloglu Mitglied im Leitungsteam des Literaturhauses Lettrétage in Berlin, seit 2008 Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen an der Freien Universität Berlin.
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2009 ist zum Gedenkjahr an die ereignis- und folgenreiche Entwicklung in Europa, die mit dem Fall der Berliner Mauer begann, ausgerufen worden. Wir wollten die leisen Töne vernehmlich werden lassen und baten jüngere Schriftsteller aus Tschechien, Rumänien, Ungarn und Polen über ihre Erfahrungen zu schreiben, wie sich die durch die europäische Einigung ausgelösten gesellschaftlichen Transformationen in ihrem Verhältnis zu ihren Vätern ausgewirkt haben. Daraus ist unsere kleine literarische Reihe Väter & Söhne entstanden, in der das Glück des Davongekommenseins im mer andere Gestalt annimmt. Wie sehr der private Alltag und die familiären Beziehungen durch die gesellschaftliche Atmosphäre geprägt waren, wie kompliziert sich die Verständigung zwischen den Generationen gestaltete und wie sie gegen alle Widrigkeiten doch immer wieder momenthaft gelang, davon erzählt zum Schluss unserer Reihe der polnische Schriftsteller Wojciech Kuczok.

warum wir den kommunismus nicht abschafften

Nach dem dreizehnten Dezember wurde mein Vater von Ver wünschungen gebeutelt, die nie in Erfüllung gehen sollten, und er dachte sich jeden Tag die verschiedensten, nie realisierten For men von Protest gegen das System aus, als wollte er sich vor uns rechtfertigen, dass es niemandem in den Sinn gekommen war, ihn zu internieren. Als der Kriegszustand zur ordinären Alltäg lichkeit geworden war, beschloss Vater, mein Schuljahr zu verkürzen. Zwar nahm er mich nicht aus der Schule, hieß das Schwän zen nicht gut und achtete streng auf meine Fortschritte beim Lernen, aber er ordnete an, ich solle alle offiziellen Feierlichkeiten konsequent meiden, weil, wie er behauptete, jeder Anlass dieser Art ein glänzendes Betätigungsfeld für Indoktrinatoren sei, weil alle Festveranstaltungen, Appelle, Eröffnungen und Abschluss feiern dazu dienten, der Jugend den Kopf zu verdrehen mit die sem, wie er sagte, Gefasel, Geschwätz und verbalen Dünnschiss über die unbestrittenen Vorzüge des Sozialismus (Vater konnte seine Zunge nie im Zaum halten, wenn er über das Regime rede te; Mutter war sauer, dass er so fluchte, und das nicht nur beim Frühstück, sondern auch vor dem Kind, aber er behauptete, eine vulgäre Wirklichkeit könne man nur mit einem vulgären Wort schatz beschreiben). Als die Noten feststanden und die Zeit der Vertretungen, des verkürzten Unterrichts und der Ausflüge zum Denkmal der Rotarmisten begann, war mein Vater der Meinung, auf die Ausgabe der Zeugnisse müsse ich nicht warten.

»Es reicht, mein Sohn, diese roten Socken bringen dir jetzt nichts mehr bei, wir fahren in Urlaub.«

Die eventuelle Gefahr, dass sich dadurch meine Note in Betra gen verschlechtern könnte, ignorierte er und sagte, in einem un terdrückten, besetzten Land, das sich zudem seit einem halben Jahr in einem Zustand außergewöhnlicher Ratlosigkeit befinde, gehöre es sich nicht, eine gute Note in Betragen zu haben, gute Noten in Betragen hätten nur zukünftige Konformisten; im zu künftigen freien Polen, das er nicht erleben werde, aber ich und mit Sicherheit meine Kinder, würden sich die Leute bestimmt nicht mit positiven Zensuren für Betragen rühmen, die sie in Zeiten des Terrors, der Lüge und Verachtung erhalten hätten etc. Va ter fiel umso leichter in den antikommunistischen Wortschwall, je heftiger die ordinäre Alltäglichkeit die Menschen erfasste, die

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sich langsam, aber unvermeidlich an das neue Stadium der Trost losigkeit und den Mangel an Perspektive gewöhnten. Je stiller die Leute wurden, umso verbissener quatschte er, je mehr alle sich abfanden und abstumpften, desto wütender drohte er mit der Faust, hetzte und rief zum Kampf auf, natürlich nur hinter der verschlossenen Tür seines Hauses, nur uns galt das, den Hausbewohnern, vor allem mir, der ich soeben die dritte Klasse der Grundschule absolvierte, mit beschämend guten Ergebnissen (er lobte mich ohne Enthusiasmus, als bedauerte er, dass ich nicht an illegalem Unterricht teilnahm, keine Schüleropposition grün dete und meine Lese- und Schreibkenntnisse an Texten vervoll kommnete, die vom kommunistischen Bildungsministerium ausgesucht waren) und meiner Mutter, die von Berufs wegen die Pflichten der Hausfrau erfüllte; der Kampfgeist in unserem Haus hatte also keine Chance zu erlahmen, Vater zeigte mir bis zum Abwinken die Waffenexemplare, die er nicht abgegeben hatte, als es befohlen worden war stolz auf diesen Ungehor sam und sich darauf berufend, als sei dieser ein Beispiel für seine Zivilcourage, dabei handelte es sich nur um den Bergarbeitersäbel des Großvaters und eine Schrotpistole für den Sportge brauch. Er tätschelte, staubte ab und polierte mit einem Lappen auf Hochglanz und wir hatten bis dato von der Existenz dieses Säbels und dieser Pistole keine Ahnung, lagen sie doch jahre lang zwischen irgendwelchem Gerümpel im Keller herum; an den Säbel des Großvaters konnte sich Vater ja noch erinnern, die Auffindung der Schrotpistole dagegen, die er seit der Zeit seiner jugendlichen Spiele nicht benutzt hatte, war ein Ereignis von his torischem Rang: Das war wahrhaft illegale Passivität, das konnte man geradezu als umstürzlerische Unterlassung verstehen; ohne aus dem Haus zu gehen, ja, ohne die Fenster zu öffnen oder die Vorhänge aufzuziehen, wurde Vater zum Verschwörer, zwar wa ren von dem Schrot nur leere Schächtelchen übrig und mit dieser Vogelscheuche hätten wir unter keinen Umständen einen Auf stand gewonnen, aber Vater behauptete hartnäckig, diese Waffe habe symbolische Kraft, hier gehe es nicht um Patronen, hier ge he es um die Idee, und ich sei zu jung, um das zu verstehen. Anfang Juni kehrte ins Volk leichte Bewegung, Erregung, Erwar tung ein, plötzlich reckten alle den Hals, als hätten sie hinter den

Hügeln ein Trompetenecho vernommen, doch da war nicht die Erhebung des knienden Volkes und das gemeinsame Verprügeln des Feindes zu ahnen, da wurde keine neue Welle von Streiks und Manifestationen vorbereitet, obwohl sie vielleicht sogar vor bereitet wurde, man vielleicht ja solide kämpfen wollte, doch die sogenannte Mehrheit der Gesellschaft war innerlich mit ganz anderem Zittern und Flattern beschäftigt, in jenen Tagen bildete sich eine andere Gemeinschaft, die ein neues nationales Dilem ma erörterte: Jeden Moment sollte die Fußballweltmeisterschaft beginnen, Polen würde teilnehmen sollte man zuschauen und anfeuern oder nicht? Wen würde der Kader in Spanien repräsen tieren: die Unterdrücker oder die Unterdrückten? Die tüchtigs ten, ausdauerndsten und verbissensten Antikommunisten, die Radio, Fernsehen, Theater, Kino und die städtischen Verkehrs mittel boykottierten (weil die Busse rot waren), diejenigen, die schon lange ihre Fernsehgeräte aus der Wohnung geschafft hat ten, verspürten plötzlich Trauer, und je näher die Eröffnung der Weltmeisterschaft rückte, desto lauter seufzten sie, zerrissen zwi schen eiserner Konsequenz und der Leidenschaft des Fans. Vater war seinen Fernseher kurz nach dem Teletubbies-Auftritt des Generals losgeworden, und jetzt, angesichts der näherrückenden WM , verspürte er zum ersten Mal Bedauern, ja sogar Panik, denn wie sollte man hier nicht emotional werden, wie konnte man der Möglichkeit entsagen, Zeuge zu werden dessen, was geschehen würde: Unsere Jungs, oder wie man in Schlesien sagte, die Poloki, fuhren los, um die WM zu gewinnen, das heißt, Meister zu werden; der Trainer aus Chorzów sollte die Nationalmannschaft an die Spitze bringen, diesmal ganz sicher, aller guten Dinge sind drei; was Górski und Gmoch fast gelungen wäre, sollte jetzt un ser Bub, unser Antos´ aus Hajduki erreichen. Mein Vater, der für gutnachbarschaftliche Beziehungen noch nie berühmt war, wür de also keinen Ort haben, wo er die WM anschauen könnte, da her musste auch ich damit rechnen, von dieser ersten bewusst er warteten Veranstaltung nur kümmerliche Berichte auf einem ge störten Radiosender zu erhalten, dem einzigen, den Vater tole rierte; das erschien mir gar nicht rosig, und ich dachte sogar schon daran, wie ich es anstellen könnte, mich zu Fußballabenden bei Kumpeln einzuladen, deren Alte zwar ihre Schwarzweiß-

von wojciech kuczok

fernseher losgeworden waren, aber nur, um sich neue Farbfernse her zu kaufen; ich begann mich sogar schon einzuschleimen in den Pausen, indem ich quasi uneigennützig Bobofrut-Säfte anbot, bibliophile Ausgaben der Goldenen Tiger auslieh, die ich nicht zurückwollte, scheinbar unüberlegte Tauschaktionen von Sammelobjekten vorschlug, die wertvollsten Plastikfigürchen polnischer Könige und Fürsten gegen diejenigen tauschte, die am leichtesten zu bekommen waren, ja, ich war sogar bereit, den Pro peller an meiner eigenhändig zusammengeleimten Spitfire abzureißen und ihn einem Kumpel zu schenken, dem das Ding beim weihnachtlichen Aufräumen kaputtgegangen war die Band breite der Opfer, die ich zu bringen fähig gewesen wäre, nur um zu sehen, wie unsere Jungs bei der Weltmeisterschaft spielen, schien keine Grenzen zu haben. ItalienPolenPeruKamerun, diese Zauberformel klang in meiner Birne wie ein Mantra, diese Reihenfolge, diese Gruppe hatten wir gezogen, und von der Welt der Jugend bis zur Flagge der Jugend, vom Meer bis zum Meerauge, quer durch das ganze Land wurde diese Phrase wiederholt, dieser einfallsreiche Vierzeiler, dieses syllabotonische Meisterwerk, dieses Haiku, das Emotionen versprach, die wohl nur mit dem Öffnen eines versiegelten Pakets aus dem Reich zu vergleichen waren ich stellte mir die Leiden gar nicht erst vor, die mir das Nicht-Anschauen dieser Weltmeisterschaft be reiten würde, ich wollte gar nicht an die Qualen denken, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich ihnen entgehen konnte so wie der Mensch nicht an den Tod denkt, obwohl er weiß, dass er ihn unausweichlich erwartet; der Gedanke an den unausweichlichen Tod war nicht in der Lage mich so zu schrecken, wie mich der Gedanke an die versäumten Übertragungen schreckte, an all die Spiele, die ich nicht sehen würde.

Als mein Vater also verkündete, wir würden früher in die Ferien fahren, erreichte die Verzweiflung zunächst ihren Höhepunkt, denn alle Einschleimpläne wären für die Katz, ich würde weit weg sein von den Kumpeln und ihren Rubinen mit der heiseren Stimme von Ciszewski, und als sich dann herausstellte, wir wür den in ein Dorf in den Bergen fahren, wanderten meine Gedan ken, da ich das Dorf bisher nur aus der Schullektüre kannte, hin zu barfüßigen Schweinehirten, zu strohgedeckten Hühnerstäl len, zu Tennen und Ofenbänken, die Hoffnung, dass sie dort auf dem Land einen Fernseher haben könnten, ja, dass sie überhaupt etwas von Gruppensport wissen, war äußerst gering, es sah da nach aus, als würden wir uns definitiv von der Zivilisation verab schieden und ich würde nicht einmal die trockenen Ergebnisse in mein Heftchen eintragen können, denn auf dem Land würde es todsicher nicht einmal Zeitungen geben, wer würde denn da schon lesen können unter diesen Ziegenmelkern, Musikanten und Anielkas

Wir fuhren am Tag der Eröffnung; unsere Jungs waren zwar noch nicht dabei, aber schon sollten die alten Meister jenseits des Oze ans ihre Klasse beweisen, schon wurde darüber geschrieben und gesprochen, schon wurde gewartet, als wir den Weg nach Zako pane zurücklegten mit unserem alten, hier und da rostenden Fiat, der unter dem elfenbeinfarbenen Lack seine Narben versteckte (denn das eigentliche, das reine Weiß war in Volkspolen nicht zu bekommen, die Industrie war nicht imstande, Autolack in reinem Weiß zu produzieren, als hätte ein Fluch über den Fabriken gehangen, ein Makel, weiß der Geier, wolltest du ein weißes Auto, bekamst du ein nagelneues direkt aus dem Polmozbyt, Elfen bein ist modern, moderner als Weiß, Weiß wäre zu provokativ gewesen in diesem ewig getrübten, angegrauten, deprimierten Land, reines Weiß hätte ins Auge stechen können, daher wurde Altweiß angeboten, ästhetischer und weltmännischer auch Elfenbein genannt).

»Schau dir die Aussicht an, guck hin, hoch mit dem Kopf!« »Guck, na schau doch, siehst du, wie schön!«

»Du sollst nicht lesen, was hast du da, du verdirbst dir die Augen, guck aus dem Fenster!«

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»Dir wird wieder schlecht werden, lass das mit dem Lesen und schau, wie schön es ist!«

»Was für eine Natur! Wunderbar!«

»Das ist eine Gegend! Atemberaubend!«

Sie hatten natürlich Recht, denn sobald wir uns die Serpentinen hochschraubten, schimmerte die Tatra durch die Wolken, und obwohl die Eltern erst vor Nowy Targ richtig gelernt hatten, die Bergkämme von den Wolken zu unterscheiden, öffnete sich der Raum vor uns, und es war keine Kunst, sich für ihn echt zu be geistern, denn wie dem auch sei im Alltag schrumpfte der Raum um uns her immer mehr, vor allem in dieser Situation un gewöhnlicher Ratlosigkeit, die über dem Land hing, wo Lebens mittel und Kleidung reglementiert waren, Telefongespräche kontrolliert wurden und abends Sperrstunde herrschte. An den offenen und grenzenlosen Raum konnte man sich nicht so einfach gewöhnen, Vater musste das Auto anhalten, weil ihm schwindlig wurde, Mutter versuchte ihren Anfall von Agoraphobie durch Entzücken zu verdrängen, sie traten vors Auto, ergötzten sich und atmeten tief, und ich saß reglos auf dem Rücksitz, den Schatz des Zuschauers in der Hand, und zählte die Minuten bis zu dem verhängnisvollen Moment, denn das Eröffnungsspiel kam eben so schnell näher, wie wir uns von der einzigen mir bekannten, städtischen Zivilisation entfernten. Ich schluchzte vor Ohn macht: Wären die verfluchten Uniformierten nicht gewesen, hätte Vater den Fernseher nicht weggebracht; von den Eltern ge fragt, warum ich mich nicht ergötze und die gute Luft atme, son dern schluchze, antwortete ich, das komme von den verfluchten Uniformierten, vom Kriegszustand, von dem blöden Kommu nismus etc.; mein Vater war verblüfft, und in das Erstaunen schlich sich Stolz, dass so plötzlich und emotional der Antikom munist in mir erwachte; er streichelte und tröstete mich:

»Mach dir keine Sorgen, uns betrifft das nicht, wir haben Fe rien. Außerdem beginnt die WM , freust du dich nicht? Wir wer den uns die Spiele anschauen, unsere Jungs anfeuern…« Wie denn das, auf dem Land, da gibt´s weder Wasserleitungen noch Strom, da hustet in der Bierstube der Antek, da fressen sie den Sauerampfer roh, direkt von der Wiese, heilen die Schwind sucht mit Ave-Marias; wie groß war mein Erstaunen, meine Un gläubigkeit, als ich fragte, wo wir denn die Spiele anschauen könnten.

»Was heißt wo? Was denkst du denn, mein Sohn, warum ich dich früher von der Schule rausgenommen habe? Warum ich uns gerade ab heute Urlaub verordnet habe? Denkst du, dein Va ter ist auf den Kopf gefallen? Ich hab den Gastwirt gefragt, er hat geschworen, es gibt einen Fernseher, wenn er auch manchmal ein bisschen schneit, wenn Föhn ist… Ich bin ein konsequenter Mensch, mein Sohn, und wenn ich etwas sage, bleibt es dabei. Ich hab gesagt, solange diese Arschlöcher in Uniform, diese Tu manowiczs und anderes Geschmeiß uns einlullen, wirst du in unserem Haus keinen Fernseher finden! Aber unsere Jungs muss man schließlich anfeuern, wie könnte man sich einfach von ih nen abwenden, was hat denn Fußball mit Politik zu tun? Wir fahren in Ferien zum Bergbauern, abends schauen wir die WM , und tagsüber atmen wir die gesunde Luft, umgeben uns mit schönen Aussichten, machen Spaziergänge und so weiter, und ich sag dir, mein Sohn, die Ferien werden dauern, solange unsere Jungs spielen, solange Polen nicht raus ist…«

»Solange wir leben«, fügte Mutter hinzu, die den Dingen von größter Fußballbedeutung wie immer trotzig distanziert gegenüberstand.

Die ersten Spiele der Polen, als unsere Jungs Italien und dann Kamerun abtasteten, waren farblos: keine Poesie, keine technischen Kunststückchen, keine verrückten Sturmangriffe; Ohn macht, Blockade, ansteckend übrigens, denn die Rivalen quälten sich genauso mit uns ab wie wir von ihnen gequält wurden; die ersten Spiele der Nationalmannschaft verliefen unter dem Zeichen des Quälenden und Gequälten Polen. Mein Vater, der sich diesen Kampf aufgrund einer neu definierten patriotischen

Pflicht ansah, war der Meinung, das sei eine symbolische Hal tung unsere Jungs spielten Trauerfußball zum Zeichen des Protestes gegen den Zustand des Zerfalls und der großen Trostlo sigkeit, die das Vaterland knechteten, den Rivalen dagegen blieb nichts anderes übrig, als mit diesem Trauerzug Schritt zu halten. Als die Polen im Viertelfinale die Belgier vernichtend geschlagen hatten, begann mein Vater gegen Ende der zweiten Ferien woche heimlich zu beten, dass unsere Jungs ehrenhaft rausflie gen mögen, denn wenn sie es ins Halbfinale schaffen würden, wäre er geschafft und würde ins Gras beißen, er konnte alkohol technisch nicht mithalten, und sich herauszureden und an weiteren Trinkgelagen der Bergbauern nicht teilzunehmen, gehörte sich nicht; Mutter klagte, rang die Hände, wollte nach Hause, Vater beharrte darauf, die Goralen würden für immer die Ach tung vor ihm verlieren, wenn sie eine Schwäche in ihm witterten; seine Leber schwoll von Tag zu Tag, sein Blick wurde trüb, sein Schweiß sauer, sein Atem nervös und stinkend, er aber machte gute Miene zum bösen Spiel und sagte, es gehöre zum guten Ton, sich der Volkstradition nicht entgegenzustellen, die hiesigen Bräuche mitzumachen, mit den Wölfen zu heulen etc. Auf der Suche nach Rechtfertigungen für seine Abwesenheit begann er zu Gipfelausflügen aufzubrechen und verfluchte die Hindernisse, die jeden Bewohner des in diesem abweichenden, in diesem Ausnahmezustand befindlichen Volkspolens im Grenzgebiet er warteten; sehnsüchtig blickte er zu den slowakischen Gipfeln, erinnerte sich an die Zeiten touristischer Tradition und benutzte alte Karten, auf denen die Grenze nur als dickerer Strich die Ge birgszüge durchzog (auf den neuen hörte die Welt an der Grenze auf, der dort verlaufende Rücken der Tatra war der Rand des Nichts, die neuesten topographischen Karten waren erschre ckend leer, da gab es keine Beler Tatra, weder die Lomnitzer noch die Eistaler oder die Gerlsdorfer Spitze, es gab weder den Smoko vec noch den Tschirmer See, nicht die Rohac-Gipfel noch den Osobita hinter der südlichen Grenze gab es nach dieser differenzierten Karte gar nichts, einen weißen Fleck, Antimaterie, die Tatra war also Ultima Thule; wenn die Wolken tief hingen und die Berge verschwanden, wurden diese Karten erschreckend glaubwürdig). Doch es näherte sich ein ungewöhnliches Spiel, für meinen Vater das wichtigste Spiel, ein Spiel höchster Rang ordnung, das Spiel der Spiele, das Spiel hoch über allen Spielen, mehr als ein Spiel denn auf dem Weg zum Halbfinale kamen uns die Sowjets in die Quere. Aus diesem Anlass wurden sogar die Verlottertsten nüchtern, wuschen sich und vertrauten sich der heiligen Jungfrau an, sogar die hartnäckigsten Ignoranten, die beim Pfeifen des Schiedsrichters zusammenzuckten, be schlossen, sich vor den Fernseher zu setzen, erklärten, das sei keine Angelegenheit des Fußballs oder auch der Politik, das sei eine Angelegenheit der nationalen Befreiung (eine ANGELE GENHEIT ). Und so etwas konnte man sich nicht auf dem klei nen Fernseher des Bergbauern anschauen, nicht nur wegen der Unvollkommenheit des Bildes, kein Mensch wollte sich auf einem sowjetischen Apparat den Krieg mit den Sowjets ansehen, da musste man schon scharenweise und feierlich Zeuge sein, am besten konspirativ, auf einem möglichst großen Bildschirm westlicher Produktion. Also im Pfarrhaus, im Religionsraum von Pfarrer Bz´dzioch, der oft für die Vorführung von religiösen Fil men benutzt wurde sowie von solchen, die der Staatsmacht aus verschiedenen Gründen unbequem waren dann konnten Massen von Sommerurlaubern im Bewusstsein konspirativer Tätigkeit in den Ferien in Podhale das Minikino besuchen und auf abgenutzten Videokassetten Jesus von Nazareth , Ben Hur , Doktor Schiwago , aber auch neue Abenteuer von James Bond und zweitrangige Actionfilme anschauen, die lediglich aus dem Grund ausgewählt wurden, weil als negative Hauptfigur ein Russe auftrat, der im Finale von einem guten Amerikaner besiegt wurde, häufig brutal, blutig und tödlich be siegt, der Religionsraum reagierte dann besonders lebhaft, der Tod eines niederträchtigen Iwans erregte ungezügelte Euphorie bei den Zuschauern, die einen Moment später beim Abspann

ein gemeinsames Gebet sprachen, ein von Pfarrer Bz´dzioch, dem notorischen Russenhasser, entsprechend modifiziertes, improvisiertes Gebet: »Bewahre uns, Herr, vor der russischen Pest, vor Hunger, die rote Seuche verbrenne mit Feuer, lass uns den Krieg gegen die Sowjets gewinnen, diesen stillen Krieg, den unser ge quältes Volk in den Seelen und Herzen führt, schenke uns in deiner Barmherzigkeit die Freiheit, nach der wir lechzen.« Für das Match gegen den Iwan richtete Bz´dzioch den Saal entspre chend her, stellte eine zusätzliche Haushaltshilfe ein, um gründ lich aufzuräumen und den Raum mit einer persönlich von ihm entworfenen Szenographie auszustatten; an die Wände kam ei ne hysterische Ausstellung, die die Kampfstimmung anheizen sollte, hier Katyn, dort das Wunder an der Weichsel, dort der Siebzehnte September, hier und da alte Zeiten, Polen von Meer zu Meer, der Angriff auf Moskau; für am Spiel nicht interessierte Kinder und Jugendliche hatte er eigens ein Gästezimmer eingerichtet, wo Ältere mit Pfeilen auf eine Scheibe werfen konnten, auf der Bildnisse der Revolutionsführer klebten, ausgeschnitten aus den Titelseiten der Prawda oder Iswestija , die Jüngeren dagegen durften billig einge kaufte Porträts mit Plakatfarbe entweihen; die Atmosphäre be günstigte einen Sieg, umso mehr, als den Polen zur Erniedrigung der Iwans ein Unentschieden in diesem Spiel reichte. Der Saal platzte aus allen Nähten, obwohl der Pfarrer, unterstützt vom Vikar, die Identität der heranströmenden Zuschauer sorgfältig prüfte, damit es da drinnen, wie mein Vater mir erklärte, nicht nach dem UB , dem Sicherheitsdienst stinken konnte; aufgrund all dessen bekam ich endlich die Aura des Untergrundstaates zu spüren; all die Parolen, rot auf weiß in der Solidarniza geschrie ben, der gekreuzigte Jesus, gleichermaßen mit Weihgaben und Abzeichen des kämpfenden Polens behängt, Devotionalien ge mischt mit patriotischen Gadgets, verführten durch ihre Häss lichkeit, ihre Macht war groß und wirkte unmittelbar, auf der einen Seite Sursum Corda, auf der anderen Weg mit den Roten, Gebet und die Hymne in Habachtstellung, ich spürte, dass die plötzliche Verbindung religiöser, staatsbürger licher und fußballerischer Emotionen mich zu einem bigotten Weinkrampf bewegen könnte, dass ich ab jetzt an Treffen der OASE -Bewegung teilnehmen würde, dass ich einen Kampftrupp der Legion Maria gründen und vielleicht auch in ein Priesterseminar eintreten würde, um nach der Weihe ein gefährlicher und gnadenloser Pfarrer zu sein, dass ich wie der ehrwürdige Bz´dzioch von der Kanzel aus Rote und Opportunisten, Verräter und Spitzel schelten würde; wie lustvoll erschien mir die Klar heit der Teilung in Gut und Böse… Anstatt mich auf das Spiel zu konzentrieren, in dem die Polen vom ersten Moment an be schlossen, auf Zeit zu spielen, womit sie die hilflosen Kicker der sowjetischen Mannschaft wie auch die nach Blut, Schweiß und Tränen gierenden Zuschauer zur Weißglut brachten, erlebte ich eine Erleuchtung, driftete ab in die Welt der kämpfenden Kir che; das Gotteshaus verströmte trotz des Gedränges im Saal Kühle und Weihrauch, betäubt begann ich mir vorzustellen, was für ein Pfarrer ich in Zukunft sein würde. Ich wusste, dass die ka tholischen Pfarrer in Überspannte und Donnerer geteilt waren; Erstere mochte ich nicht, sie kamen mir lächerlich vor mit ihren verweichlichten Stimmen und dieser speziellen Art von kirchlichem Geflüster, mit dem sie die Lehre Jesu verkündeten, es klang, als hätten sie den Mund mit etwas Widerlichem voll, wenn man sie in Zivil traf, war es schwer, sie nicht für Schwule zu halten, vielleicht trugen sie deshalb das Kollar um den Re spekt zu wahren, einem Pfarrer bringt schließlich jeder Bergbau er Achtung entgegen, für Homosexualismus dagegen gab es da mals in Podhale keine besondere Toleranz. Ich stellte mich mir als Donnerer vor, nicht flüsternd, sondern schreiend, mit Dog men geißelnd, zur Rache aufrufend, zum Aufstand gegen dieje nigen, die Christus immer wieder von neuem kreuzigen wollen; ich stellte mir meine heilige Macht vor, die Herrschaft der Seelen, die grausame Kraft der mangelnden Absolution, und plötzlich spürte ich, dass das sehr schön ist, so angenehm im Bauch, als

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würde sich gleich etwas Süßes und Heißes in mich ergießen, mein Blick blieb wie benommen an dem Bildnis der Madonna mit Kind hängen, und als ich, schon in Fieberwahn fallend, ihre nackte, stillende Brust sah, wurde ich zum ersten Mal im Leben ohnmächtig; genau zu der Zeit, als Smolarek in Barcelona mit dem Ball in der Ecke des Spielfelds tanzte, so schlau gedeckt, dass die wütenden Sowjets ihn ihm nur mit einem Foul hätten abneh men können. Dass wir triumphal unentschieden spielten, einen siegreichen Kompromiss erzielten, die Freude über den Eintritt in die Medaillenrunde nur durch das fehlende i-Tüpfelchen trübten, erfuhr ich erst in der Hütte, von Mutter, die mich mit Aspirin vollstopfte, mir Tee mit Zitrone ans Bett stellte und sich endlich nützlich fühlte; da ich krank war, konnte sie mich nach allen Re geln der Kunst bemuttern. Mein Vater war dreifach untröstlich: einmal, weil er mit mir, dem Geschwächten, vor dem Ende des Spiels den Saal verlassen musste, dann war er verzweifelt, weil wir die Sowjets nicht richtig fertiggemacht hatten, und schließlich, weil Boniek nicht im Halbfinale gegen die Italiener würde spie len können, da er die zweite Karte eingefahren hatte, ein Jammer, denn die erste war so blöd, für nichts, er ließ sich als erstbester er wischen, als sie bewusst langsam die Mauer aufstellten. Sie flogen zwar raus, aber auch so vergifteten die Sowjets uns das Blut, un ser Sieg war beschädigt, dafür war schon klar, selbst, wenn wir al les verspielen sollten, was vor uns liegt, wir würden bis zum bit teren Ende spielen, und daher würden sich meine Ferien bis zum Ende der ersten Julidekade verlängern. Vater hatte Angst, man weiß nicht, ob mehr um seine Bauchspeicheldrüse oder um die Leber, er überlegte, was schrecklicher wäre an Bauchfellent zündung zu sterben oder an Leberzirrhose; Mutter behauptete, er müsse starken Willen beweisen, lernen, nein zu sagen, aufhö ren, sich anzuschließen, mitzumachen, sich abhängig zu ma chen; dieser Monat in den Bergen habe aus ihm einen perfekten Alkoholiker gemacht, sagte sie, bald werde er aussehen wie die verschissenen und verkotzten spindeldürren Gestalten vor der Kneipe, er werde in die Ausnüchterungszelle kommen was für ein Beispiel gibt er bloß dem Kind, die Stimme ist schon ganz heiser, das Gehirn im Eimer, das Gerät schlapp, ja, sie fuhr trotz meiner Anwesenheit die schwersten Geschütze auf, aber Vater gab sich unablässig dem Rausch hin, sorgte morgens dafür, dass der Spiegel nicht sinkt, sagte mit einer furchtbaren Säuferruhe, er habe alles unter Kontrolle, wenn Polen die WM gewinne, würden wir nach Schlesien zurückfahren, und mit der Sauferei sei Schluss. Die Zischlaute zog er etwas in die Länge, er sprach mit sichtlicher Mühe, aber die Fähigkeit, Reden zu schwingen, kam ihm nicht abhanden:

»Frau, du kennst mich doch, du weißt also, wenn ich mir was in den Kopf gesetzt hab, gibt’s kein Erbarmen; alles, was ich im Leben erreicht habe, verdanke ich meiner Radikalität und mei ner Kompromisslosigkeit, wenn ich also sage, dass ich beschlos sen habe, einen Monat lang mit unseren Gastgebern hier radikal und kompromisslos zu trinken, dann nur deswegen, damit ich endgültig und definitiv so einen Ekel vor Alkohol kriege, dass ich zu Hause sofort nach der Rückkehr völlig abstinent werde.«

»Mann, du wirst gar nicht nach Hause kommen, weil die dich hier ins Grab saufen, übrigens muss man gar nicht die Schuld auf die Bergbauern schieben, du hast einfach einen Hang, du neigst schon immer dazu, das musste so enden, offensichtlich ist das auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich sag dir nur eins: Wenn du durch ein Wunder bis zum Elften durchhältst und uns nach Hause fährst, dann vergiss den Wodka, vergiss für den Rest des Lebens das Bier, und vergiss, verdammt noch mal, sogar die Schnapsbohnen!«

»Hör auf zu fluchen, hör bloß auf, so zu schimpfen!«

»Mutter Gottes, ich fluche doch nie, da siehst du, in was für einen Zustand du mich gebracht hast…« Doch Vater hatte diesen unüberwindlichen Macho-Ehrgeiz, die sen Instinkt, ebenbürtig sein zu wollen, ja, am besten besser als die anderen, und so hielt er, obwohl er nicht verstand, wie die Goralen solche Mengen an Wodka trinken und halbwegs nor

mal funktionieren konnten, Schritt mit ihnen und wurde dabei viel leichter und früher betrunken als sie, was ihm keineswegs mehr Wertschätzung einbrachte. Das Schicksal meinte es nicht mehr gut; und in Spanien erwiesen sich unsere Jungs ohne Bo niek als hilflos wie Kinder im Nebel, sie verloren das Halbfinale gegen Italien, und schon war die ganze Nation eingeschnappt, was soll das, wozu sind wir so weit gekommen, wozu haben wir uns alle so aufgeregt, wer ist dafür verantwortlich, warum hat Pi echniczek nicht Szarmach aufgestellt, plötzlich sollte das Mär chen, in das wir alle vernarrt waren, das uns das tägliche Elend und die Niedergeschlagenheit vergessen ließ, ein fatales Ende nehmen, Melancholie, Depression und Zweifel überkamen das ganze Land: Wir werden nun doch nicht Weltmeister, wie scha de, wir waren so nah dran, wenn wir Weltmeister geworden wä ren, hätten die Roten das Handtuch geschmissen, so beeindruckt wären sie gewesen, dass dieses ausgehungerte und gebeutelte Land zu so einem Triumph fähig ist, wenn wir die WM gewon nen hätten, hätten die Generäle die Rationierung der Waren zu rücknehmen müssen, die Sperrstunde aufheben müssen, den Kriegszustand aufheben müssen, die eigene Regierung aufheben müssen, den Sozialismus aufheben müssen, den eisernen Vorhang öffnen, in das Land der Weltmeister wären Touristen aus dem Ausland gekommen, das Volk, das Weltmeister ist im Beten und im Fußball, wäre von anderen Völkern bewundert worden, wahrlich, ich sage euch, wenn wir im Juli 1982 ins Finale der WM gekommen wären und gegen die Deutschen gewonnen hätten, wäre die Welt in ihren Grundfesten erschüttert worden, alle Gastarbeiter wären in die schlesischen Bergwerke zurückge kehrt, alle Goralen aus Chicago hätten den Atlantik überquert, um rechtzeitig zur Ernte zu kommen, die sehnsüchtigen Berg bauernfamilien hätten an den Häusern Transparente aufgehängt mit der Aufschrift Welcome daheim, die ganze Emigrati on wäre in Polen zusammengekommen, um aufzuräumen nach der Herrschaft der Roten, im Land der Weltmeister wäre nie mand niemandem mehr ein Wolf gewesen, denn niemand hätte gewusst, was ein Ressentiment ist, niemand hätte Komplexe ge habt, die kleinen Dicken wären Basketballspieler geworden, die notorischen Onanisten wären Playboys geworden, die verfem ten Dichter hätten sich in neuen Poemen mit der Welt versöhnt, die Kritiker hätten jeden Film und jedes Buch gelobt, die Ge richtsvollzieher hätten Geld von den Reichen geholt und es den Armen gegeben, die Schaffner hätten den Schwarzfahrern gratis Fahrkarten ausgestellt, man hätte die Tage nationaler Liebe aus gerufen, ach, wie wunderbar wäre das gewesen, hätte nicht Paolo Rossi die zwei Tore geschossen, zwei Stiche direkt in unser Herz, zwei Gesichter der Trauer, zwei null, und übermorgen fahren wir heim; blieb nur noch das Trostspiel.

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall Wojciech Kuczok , geboren 1972 im polnischen Chorzów, ist Schriftsteller und Filmkritiker. Als Journalist arbeitete er unter anderem für den Tygodnik Powszechny und die Res Publica Nowa . In den 1990er Jahren begann er schriftstellerisch zu arbeiten und gehörte der Dichtergruppe Na Dziko an. Sein erster Erzählband erschien im Jahre 1999. Für seinen Ro man Gnój (dt.: Dreckskerl , Suhrkamp 2007) erhielt Kuczok 2004 den Nike-Literaturpreis, die bedeutendste literarische Auszeichnung Polens. Sein Drehbuch zu dem Film Pre˛gi wurde im selben Jahr mit dem Hauptpreis des Polnischen Filmfestivals Gdynia ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2008 sein Es sayband Höllisches Kino im Suhrkamp Verlag. Wojciech Kuczok lebt in Krakau und ist derzeit Stipendiat des DAAD -Künstlerprogramms in Berlin.

erhalt oder verfall erinnerung im zeitalter technischer restaurierbarkeit

Die Kulturstiftung des Bundes fördert in Zusammenarbeit mit der Kulturstif tung der Länder ein Programm zur Konservierung und Restau rierung von mobilem Kulturgut (KUR). In 26 Projekten geht es um den Erhalt von kulturhistorisch wertvollen Objekten oder Sammlungen, die akut vom Verfall bedroht sind: Angesichts der dramatischen Situation in Mu seen, Archiven und Bibliotheken, deren Kapazitäten nicht ausreichen, ihrem Auftrag des Bewahrens und Erhaltens ihrer Bestände hinreichend nachzukom men, ist dies nicht mehr als der Tropfen auf den heißen Stein. Sein Zischen soll aber weithin hörbar sein und zum öffentlich wahrnehmbaren Dauerton in den Ohren der kulturpolitisch Verantwortlichen werden. Stefan Koldehoff fragt in seinem Artikel, ob und wie wir die Fülle an konservatorischen Herausforderungen bewältigen können und warum wir das eigentlich müssen.

Seit Museen, Gedenkstätten, Archive und Bibliotheken in den Augen vieler öffentlicher Träger zu Konkurrenten der modernen Unterhaltungsindustrie geworden sind, hat sich auch ihre gesell schaftliche Wahrnehmung verändert. Das möglichst spektaku läre Ausstellen eigener und fremder Bestände ist zur Hauptdis ziplin, die Besucherschlange vor dem Eingang zum vermeintlich einzig relevanten Gradmesser ihrer Bedeutung geworden. So je denfalls sehen es viele jener Verantwortlichen, die in Parlamen ten, Ausschüssen und Kommissionen regelmäßig über die Finanzen zu entscheiden haben, mit denen die Horte unseres kultu rellen Gedächtnisses ausgestattet werden müssen. Dass sich die Kriterien für dieses regelmäßige Verteilungsverfahren längst an den Vorgaben des kommerziellen Unterhaltungsbetriebs orien tieren, zwingt die Leiter der öffentlichen Bildungsinstitute zu einem absurden dauerhaften Wettkampf: Nur wer sichtbar ist in den Medien oder wenigstens in der öffentlichen Diskussion gilt denen, die das Geld verteilen, noch als wichtig. Und sicht bar ist, wer Aufmerksamkeit erregt, indem er sich selbst mög lichst häufig vorteilhaft darstellt. Dass dann auch schon einmal eine Caravaggio-Ausstellung gar keinen Caravaggio enthält, ei ne Modigliani-Retrospektive über ein Dutzend mutmaßlicher Fälschungen zeigt oder eine Leonardo-Schau neben Faksimiles kein einziges Original des Renaissance-Meisters darbietet, ist nur eine der negativen Folgen dieser Entwicklung.

Ungleich schwerer wiegt, dass inzwischen nicht mehr viel ist von den ursprünglich drei weiteren gleichberechtigten Aufgaben zu sehen ist, die sich die Museen, Bibliotheken und Archive ein mal gegeben hatten, als ihre Sammlungen vor vierhundert Jah ren aus der Exklusivität privater Kunst- und Wunderkammern in die sich langsam entwickelnde bürgerliche Öffentlichkeit ent lassen wurden. Wie sollte es auch? Das Präsentieren der eigenen Bestände, das klassische Aufbereiten und Ausstellen eben, ist ei ne nach außen, an ein Publikum gerichtete Aktivität. Die drei anderen klassischen Archiv- und Museumsaufgaben aber das Sammeln, das Forschen und das Bewahren richten sich nach innen und sind für eine unmittelbare Öffentlichkeit schon des halb nicht gedacht, weil sie zunächst nur die wenig attraktiven Voraussetzungen für die spätere Präsentation kultureller Schätze zu sein scheinen.

Wen interessieren die Verhandlungen, die der Direktor eines kommunalen Archivs mit dem Kulturausschuss und dem Stadt kämmerer führen muss, bis endlich ein seit Jahrhunderten in Familienbesitz befindlicher, für die Stadt unendlich wichtiger

Foliant ins öffentliche Eigentum übergehen kann? Wer möchte all die seitenlangen Fachaufsätze lesen, die in abseitigen Jahrbüchern den Inhalt eines mühevoll erworbenen Nachlasses akri bisch analysieren? Und wen kümmert es schließlich, mit wel chen technischen, chemischen und physikalischen Methoden versucht wird, ein Kulturgut auch für kommende Generationen noch sicht- und studierbar zu erhalten? Wir leben im visuellen Zeitalter, in dem nur interessiert, was angesehen werden kann nicht aber der mühsame Weg, der erst zur kollektiven optischen Aneignung in den Schauräumen führt, der sie vorbereitet und dadurch überhaupt erst ermöglicht. Dabei nimmt gerade das Bewahren einen immer breiteren Raum in der täglichen Arbeit jener Fachleute ein, die treuhänderisch jene Kulturgüter erhalten, die die Geschichte dieses Landes, dieses Kontinents und dieser Welt erzählen und ihre Identität in ihrer ganzen Vielfalt maßgeblich mitprägen. Der Grund für die zunehmende Bedeutung dieser Aufgabe ist zunächst, ganz profan, quantitativer Natur: Immer mehr Menschen erzeugen immer mehr Artefakte und kulturelle Zeugnisse, über deren Er halt zumindest nachgedacht werden muss. Das historische Be wusstsein wächst, der Wunsch nach geradezu enzyklopädischen Sammlungen wird immer größer. In Berlin soll demnächst das Humboldt-Forum die Kulturgeschichte der Welt erzählen. Häu ser mit ähnlich monumentalem Anspruch machen in London, Paris und Washington bereits vor, wie man das museologisch versuchen kann mit möglichst vielen Originalen aus aller Welt, die es zu konservieren gilt. Es klingt absurd: In einer globalisierten Welt, die aus sich selbst heraus ständig neue virtuelle Welten erzeugt, wächst offenbar von Tag zu Tag das Bedürfnis nach realen Gegenständen, die angesehen und durch Erklä rungen verstanden werden können. Man will die immer kompli ziertere Welt wieder anfassen können, um sie zu begreifen.

Gleichzeitig zerrinnen aber den Archiven, Bibliotheken und Museen die Kulturgüter, die ihnen im Laufe der vergangenen Jahrhunderte anvertraut wurden, buchstäblich zwischen den Fingern weil das Material altert und sich zersetzt. Ein Blick auf die lange Liste jener Projekte, die die Kulturstiftung des Bundes im Rahmen ihres Programmes KUR zur Konservierung und Restaurierung von mobilem Kulturgut fördert, vermittelt einen guten Querschnitt durch Qualität und Quantität jener Aufgaben, die sich von Flensburg bis Füssen und von Aachen bis Frankfurt an der Oder stellen. Hätte es zu seiner Zeit schon Ar chive und Bibliotheken gegeben, hätte Sisyphos den Felsblock nie gebraucht.

Da müssen in der Berliner Staatsbibliothek Tausende von Zei tungsseiten aus den vergangenen 150 Jahren laminiert werden, um die zerbröselten Teile zu fixieren, damit sie digitalisiert wer den können. Da gilt es, Methoden zu finden, um 2 000 Wachs moulagen im Deutschen Hygiene-Museum Dresden zu konser vieren, die als frühe optische Dokumentation von Krankheiten zugleich Ausbildungshilfen wie Ausstellungsstücke waren. Da müssen die Zinnsarkophage in der Fürstengruft des Merseburger Doms zunächst einmal überhaupt statisch gesichert und von Schmutzschichten befreit werden, die die Verzierungen völlig überdeckt haben. Da verdunstet aus den in rund 260 000 Glä sern konservierten Tierpräparaten der sogenannten Nasssamm lung des Museums für Naturkunde in Berlin der Alkohol durch undichte Verschlüsse und starke Temperaturschwankungen vor dem selben Problem stehen ähnliche Sammlungen auf der ganzen Welt. Historische Tasteninstrumente in Weimar und umbrische Tafelbilder in Altenburg, die Architekturzeichnungen von Hans Scharoun und die Stoffentwürfe der Textildruck fabrik Pausa im württembergischen Mössingen zahlreiche dieser völlig unterschiedlichen Aufgaben haben nur eines ge meinsam: Für sie gibt es kein einfach anzuwendendes Patentre zept. Für jede dieser restauratorischen Aufgaben muss zunächst in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Hochschulen und Forschungsinstituten überhaupt erst einmal eine Methode entwickelt werden, den Verfallsprozess eines bestimmten Mate rials zu stoppen, um anschließend bereits entstandene Schäden zu reparieren. Das Problem des Zerfalls von Elastomeren etwa formfeste elastische Kunststoffe wie Reifen, Gummibänder oder Dichtungen hat sich vergangenen Generationen von Restauratoren noch gar nicht stellen können, weil der Zerset zungsprozess dieses Materials erst jetzt als akutes Problem wahr genommen wird. Mehrere Labore und Institute, vom Deutschen Bergbaumuseum in Bochum bis zum Filmmuseum Potsdam suchen deshalb nun gemeinsam nach Lösungen, weil ihre Sammlungen auf unterschiedliche Weise vom gleichen Problem betroffen sind.

kultur der kur...

Schon seit längerem gibt es zwei ethische Grundsätze der Restau rierungsphilosophie, von denen sich erst noch erweisen muss, wie weit sie sich von der Bildenden Kunst auch auf andere Be reiche und noch zu entwickelnde Techniken übertragen lassen: die Prinzipien der Authentizität und der Reversibilität. Danach soll auch nach der bestandserhaltenden Bearbeitung eines Ge

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von stefan koldehoff
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mäldes, einer Zeichnung oder einer Plastik der Unterschied zwi schen dem ursprünglichen Werk und seinen nachträglichen Re tuschen noch sichtbar bleiben. Die Restaurierung beschädigter oder die Ergänzung fehlender Bildflächen darf, so der fachüber greifende Konsens, nicht zu deren kongenialer Fälschung führen und dem Betrachter eine Echtheit vorgaukeln, die nicht mehr gegeben ist. Ausführliche Dokumentationen, die die verschiedenen Stadien der Arbeit auch im Foto festhalten, gehören heute zum Standard.

Es gibt aber auch die Auffassung, dass man gar nicht erst versu chen sollte, dem Original so nahe wie möglich zu kommen. Fehl te in einem Heiligenbildnis etwa als Folge des reformatorischen Bildersturms des 16. Jahrhunderts ein Teil des Gesichtes, wurde die Leinwand einfach nachgewoben und mit einer mono chrom grauen Farbfläche ausgefüllt.

Gleichzeitig gilt das Prinzip der Reversibilität: Sollte irgendwann einmal ein besseres Verfahren gefunden werden, mit dem sich der Alterungsprozess bei jenen buddhistischen Wandmalereien des 5. bis 12. Jahrhunderts von der nördlichen Seidenstraße auf halten lässt, die vor rund hundert Jahren ins Berliner Museum für Asiatische Kunst gebracht wurden, so dürfen die heutigen Si cherungsmaßnahmen einer späteren Anwendung nicht entge genstehen. In den 1970er und 1980er Jahren hatte man versucht, die fragilen Bilder mit Hilfe von kunststoffhaltigen Bindemit teln zu stabilisieren. Inzwischen hat man erkannt, dass auch die dabei eingesetzten Acrylate und Polyvinylacetate Alterungsprozessen unterliegen, die die Bildoberflächen nachhaltig verän dern können. Also müssen die Wissenschaftler dort nun unter anderem in Zusammenarbeit mit Kollegen von der Universität Peking zunächst die Arbeit ihrer Kollegen von vor 30 Jahren revidieren, bevor sie sich an die Lösung des eigentlichen Problems machen können. Für die europäische Malerei war es lange Jahre üblich, fragile Leinwände zu doublieren, indem man sie mit einem weiteren textilen Trägermaterial hinterklebte. Die dabei verwendeten Wachsverbindungen schlagen im Laufe der Jahr zehnte aber bis in die Malschichten durch und drohen, sie zu zersetzen. Was einst als Rettung gedacht war, erweist sich heute als ungewollter Beitrag zur Zerstörung eines Kunstwerks. Van Goghs Gemälde sind dadurch an zahlreichen Stellen sicht bar nachgedunkelt.

Manchmal allerdings lässt sich diese zweite Arbeitsgrundlage, das Prinzip der Reversibilität, nicht umsetzen weil die schlichte Rettung vom Verfall bedrohter Kulturgüter unter Zeitdruck die wichtigere Entscheidung darstellt. Die in Berlin laminierten Zeitungsseiten zum Beispiel werden sich aus den Plastikfolien, zwischen die sie zur Stabilisierung eingeschweißt werden, nicht mehr herauslösen lassen. Das kann man bedauernswert finden, man muss es aber nicht. Hier geht es um die grundsätzliche Ent scheidung, Inhalte zu retten nicht Material. Beides zusam men scheint bislang nicht möglich wie es vielleicht allgemein in Zukunft schon aufgrund der Fülle des sich ansammelnden Materials immer häufiger nicht mehr möglich sein wird, die Kul tur der Menschheit in all ihren vielfältigen Zeugnissen durch de ren Erhalt zu dokumentieren. Vielleicht müssen wir uns deshalb von der Vorstellung verabschieden, eine Idee könne nur dann überleben, wenn sie materialisiert erhalten wird und sich bis in alle Zeiten in ihren originalen Überlieferungen authentisch visualisieren lässt.

Diese Überlegung allerdings bricht in unserer Bildungs- und Kulturgesellschaft ein bislang bestehendes Tabu, denn sie führt zur viel grundsätzlicheren Frage, was vor dem Hintergrund einer sich immer schneller entwickelnden und verändernden Weltge sellschaft in Zukunft überhaupt an den Orten kollektiver gesell schaftlicher Erinnerung noch zu leisten sein wird. Tabuisiert ist diese Frage, weil sie ans Selbstverständnis von Museen, Archiven

und Bibliotheken rührt. Deren Aufgabe wird in den 1986 vom internationalen Museumsverband ICOM beschlossenen und 2001 ergänzten Ethischen Richtlinien für Museen klar definiert. Im Kapitel über die »Verantwortlichkeit gegenüber den Sammlungen« heißt es: »Eine grundlegende Verpflichtung aller Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter besteht darin, für die angemessene Pflege und Konservierung von Sammlungen und Einzelstücken zu sorgen, für die ihre Institution verantwortlich ist. Sie müssen in der Absicht handeln, die Sammlungen unter Berücksichtigung des aktuellen Wissensstandes und der zur Verfügung stehenden Mittel so gut und sicher wie möglich zu erhalten, um sie an künf tige Generationen weitergeben zu können.«

Die wesentlichen Einschränkungen dieses Grundprinzips, die Originalzeugnisse der Menschheitskultur dezentral für kom mende Generationen zu bewahren, formulieren die Richtlinien gleich mit: An der Weiterentwicklung des »aktuellen Wissens standes« arbeitet jede Restauratoren- und Konservatorengeneration neu. Jene können sich also ändern und auch zur Erkenntnis führen, dass manches nicht für alle Zeiten zu retten sein wird. Die »zur Verfügung stehenden Mittel« aber, die zweite Ein schränkung der Regel, entwickeln sich schon seit Jahrzehnten zum Dauerproblem: Für die Aufgabe der Bewahrung der öffent lichen Sammlungen nämlich fehlen diese Mittel immer wieder. Der Deutsche Museumsbund formulierte 2006 in seiner Denk schrift Standards für Museen das eigene Selbstverständ nis auf ganz ähnliche Weise so, dass es sicher auch die Verant wortlichen in Archiven und Bibliotheken ohne größere Beden ken würden unterschreiben können: »Das Museum hat den Auftrag, Zeugnisse der Vergangenheit und der Gegenwart dauerhaft zu erhalten und für die Zukunft zu sichern.« In diesem ersten Satz der selbst verordneten Aufga benbeschreibung fehlt der Originalbegriff, der allerdings schon im zweiten Satz dadurch eingeführt wird, dass man »spezifische Kenntnisse über Sicherheit, Klima, Materialeigenschaften, Scha densbefund und Schadensprozesse, Handhabung der Objekte sowie Konservierungs- und Restaurierungsverfahren« fordert.

Bleiben wir aber doch einmal beim ersten Satz dieser Agenda und wagen ein Gedankenspiel: Muss die dort formulierte Aufga be, »die Zeugnisse der Vergangenheit und der Gegenwart dauer haft zu erhalten und für die Zukunft zu sichern«, notwendiger weise auf den Erhalt und die Sicherung von Originalen bezogen werden? Wäre es nicht auch denkbar, sich vor dem Hintergrund von Geld- und Platzmangel, von technischen und personellen Problemen und eines Kampfes gegen den Verfall, der in einigen Fällen schon jetzt verloren ist, auf die Konservierung von Inhal ten zu konzentrieren? Und gilt dies nicht vor allem für vervielfältigte Werke etwa für Bücher, die zum Teil in hohen Auflagen gedruckt wurden, oder für die technischen Medien, deren Do kumentenproduktion kommende Generationen von Archivaren vor Aufgaben stellen werden, die sich zur Zeit bestenfalls er ahnen lassen?

Vielfach, auch bei den KUR -Projekten gibt es dafür Beispiele, sind die Originale ohnehin nicht mehr zu retten wie zum Bei spiel im Fall der rund 68 000 Filmnegative in der Sächsischen Landesbibliothek Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, die unter anderem den Zustand der Städte Berlin, Leipzig und Dresden nach 1945 dokumentieren: »Die Negative sind durch be reits begonnenen materiellen Verfall akut bedroht ein Verlust, der nach heutigem Wissensstand nicht aufzuhalten oder rück gängig zu machen ist und können langfristig nicht im Origi nal erhalten werden. In diesen Fällen geht es um die Sicherung der Informationen«, so heißt es in der Projektbeschreibung der Kulturstiftung des Bundes.

Jeder kennt diese Begriffe, sie auseinanderzuhalten ist fast eine Wissenschaft für sich. Wir be mühen uns um Ordnung im Begriffsdschungel. Das Konservieren (lat. conservare : be wahren) bringen wir im allgemeinen Sprachge brauch vor allem mit der Haltbarmachung von Lebensmitteln in Verbindung, wobei Konservierungsstoffe und Konservendosen derzeit in wei ten Kreisen kein besonders hohes Ansehen genießen. Im Bereich von Kunstgegenständen und anderem Kulturgut soll Konservierung ein Ob jekt in seinem gegenwärtigen Bestand sichern und seinen weiteren Verfall aufhalten oder ihn zumindest verlangsamen. Seine Erscheinung soll möglichst unverändert bleiben und fallwei se auch seine Funktionstüchtigkeit erhalten werden. Die (Schadens-)Vorbeugung gewinnt im Rahmen konservatorischer Maßnahmen an Be deutung. Sie umfasst das Herstellen und Ge währleisten aller äußeren Bedingungen, unter denen Kunst- und Kulturgut vor Schaden und Verfall bewahrt werden kann. Dazu gehören beispielsweise geeignete Museumsgebäude für De pot und Ausstellung, der Schutz vor Diebstahl, Beschädigung oder Feuer, die Bewahrung der Objekte vor Umweltschadstoffen sowie die an gemessene Handhabung der Objekte bei Trans porten. Ziel der präventiven Konser vierung ist es, Risiken bereits im Vorfeld zu verringern und damit später notwendige, direkte und kostenintensive Eingriffe am Objekt ( → Restaurierung ) zu vermeiden. Mittler weile gibt es spezielle Studiengänge für das Fach Präventive Konservierung. Restaurieren (lat. restaurare ) bedeutet soviel wie einen ursprünglichen Zustand wie derherstellen. Eigentlich ein Ding der Unmög lichkeit, denn Alterung, Schäden und Verluste können nicht rückgängig gemacht werden. Au ßerdem ist häufig umstritten, was als der ur sprüngliche Zustand eines Werkes gelten kön nen soll. Insofern kann das Wort Restaurieren zu Missverständnissen und unterschiedlichen Erwartungen führen. Während das ( →) Kon servieren rein erhaltende Maßnahmen um fasst, bezeichnet Restaurieren unmittelbare Tätigkeiten am Objekt unter der Maßgabe, mit einem Minimum an wiederherstellenden Eingriffen ein Maximum an originaler Subs tanz zu erhalten und die Verwendung des Ob jekts als kulturgeschichtliches Zeugnis zu er möglichen. Deshalb werden bei der Restaurie rung dessen ästhetische, historische und phy sische Eigenschaften soweit irgend möglich re spektiert. Die Erhaltung des altersgemäßen Er scheinungsbildes steht im Vordergrund der Restaurierung. In manchen Fällen besteht eine be sondere Herausforderung darin, zugleich die Nutzbarkeit oder Funktionalität von Objekten zu erhalten. Das kann z.B. der Fall sein bei Architekturplänen, Musikapparaten und kinetischen Plastiken.

Der Prozess der Restaurierung eines Gegenstan des reicht von der Analyse und Voruntersu chung über die Konzeption und Ausführung der eigentlichen restauratorischen Maßnahmen

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was ist eigentlich
...
konservierung
restaurierung
restauration
rekonstruktion
renovierung
sanierung?

(z.B. Reinigung, Rückformung nach einer Ver formung durch mechanische Einwirkung oder Materialschwäche, Ergänzungen und Retuschen usw.) bis hin zur Dokumentation aller Schritte und einer weiterführenden Betreuung (Über wachung des Zustands, regelmäßige Reinigung etc.).

Das Fach Restaurierung ist in mehrere Teilgebiete untergliedert, die sich traditionell überwiegend an Materialgruppen orientieren, wie z.B. Holz, Metall, Papier, Stein, Gemälde, Textilien und Keramik. In der jüngeren Vergangenheit ha ben sich an den Hochschulen Fachdisziplinen etabliert, die nicht mehr das Material, sondern den kulturellen Zusammenhang betonen, z.B. Technisches Kulturgut, Ethnografische Objekte, Medienkunst und Archäologisches Kulturgut.

Restauration ( I ) leitet sich ebenfalls vom lateinischen restaurare ab, was allerdings kein hinreichender Grund sein kann, Restaura tion als Synonym für Restaurierung zu verwen den. Restauration bezeichnet in der Geschichtswissenschaft die Wiederherstellung eines politischen Zustands, der zumeist durch revolutio näre Entwicklungen überwunden werden sollte. In der Regel sind an der politischen Restauration reaktionäre Kräfte (nicht zu verwechseln mit konservativen!) beteiligt. Restauration ( I I ) ist ein inzwischen weitge hend durch den Begriff der Gastronomie ersetzter, also tendenziell veralteter Begriff. Vielleicht liegt darin der assoziative Grund, dass man bei alten Gegenständen leichtfertig von deren Res tauration spricht. Zwar ist auch richtig, dass in der Restauration ein in Österreich ge läufigerer Begriff als in Deutschland, wo man lieber ins Restaurant geht das menschliche Wohlbefinden wiederhergestellt wird. Aber wer sich nach dem Mahl restauriert fühlt, dürfte auch vorher schon recht alt ausgesehen haben.

Von der Sanierung (lat. sanare : heilen) ist die Restaurierung am weitesten entfernt, so fern man im Bauwesen damit die Modernisierung von Gebäuden, Stadtvierteln usw. bezeichnet. Bei der Sanierung können Bau teile und Materialien komplett ausgetauscht werden, um sie einer zeitgemäß optimierten Nut zung zuzuführen. Das Sanieren (z.B. von Ge bäuden) folgt ähnlichen Prinzipien wie das Renovieren (z.B. von Wohnungen). Man spricht zwar auch von Umwelt- oder Ge wässersanierung, allerdings nie z.B. von Umweltrenovierung.

Sowohl die Konservierung als auch die Restaurierung beschränken sich auf das Vorhandene. Es wird weder rekonstruiert (lat. reconstruere : nachbilden), was nicht mehr existent ist, noch werden wesentliche Bestand teile erneuert (lat. renovare ). Unterschiede bestehen in den Zwecken der jeweiligen Maßnahmen: Bei der Konservierung von Kunstund Kulturgut steht die Erhaltung im Vorder grund, bei der Restaurierung hingegen die Herstellung einer besseren Lesbarkeit für den Betrachter. Die Lesbarkeit kann z.B. da durch erschwert sein, dass wichtige Teile eines Objekts bzw. einer Darstellung (Fotos, Gemäl de, Grafiken) fehlen. Motive können dann nicht mehr erfasst werden, wenn z.B. Gesichter oder wichtige Attribute fehlen: Hier hilft u.U. eine Ergänzung . Wenn Schäden und Ver änderungen in Farbe und Material (z.B. Korrosion, Fehlstellen, alte Restaurierungen) den Ge samteindruck eines Objektes stören, hilft u.U. eine Beruhigung des Erscheinungsbildes, z.B. durch Retuschen. DvD/TaHo

...oder kultur des bruchs?

In der Vergangenheit waren es häufig kulturelle oder zivilisato rische Katastrophen, die Brüche im Umgang mit der Vergangen heit erzwungen oder zugelassen haben. Kriege und Eroberungen führten dazu, dass riesige Bestände an Dokumenten, Archivali en und Kulturgegenständen verschleppt oder zerstört wurden. Technische Unglücksfälle wie der Brand in der Anna-AmaliaBibliothek in Weimar oder der fremdverschuldete Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln vernichteten ebenfalls eine unschätzbare Menge an Originalen. In Köln wird inzwischen laut darüber nachgedacht, das Archiv an gleicher Stelle wieder aufzubauen. Eine zynische Begründung dafür lautet, nun sei ja erst einmal wieder ausreichend Platz vorhanden, weil bis zu einem Viertel des ehemaligen Bestandes verloren sein könnte. Die drohende Niederlage gegen die Zeit und ihre zerstörerischen Folgen in immer mehr Bereichen und die Erkenntnis, dass ausgelöst durch die Bevölkerungs- und die dadurch bedingte Wirtschaftsentwicklung mittelfristig weder das notwendige Personal noch das Geld zur Verfügung stehen werden, könnte ei ne Neuorientierung im Umgang mit den Zeugnissen der Vergan genheit auch ohne solche Katastrophen fordern. Vom Anspruch, eine Kulturnation zu sein, müsste sich die Bundesrepublik trotz dem nicht verabschieden.

Was spräche dagegen, dass auch die in der Berliner Staatsbiblio thek zu laminierenden Zeitungsseiten im unhandlichen FolioFormat vernichtet werden, sobald sie digitalisiert wurden? Ihre Inhalte wären gesichert. Was an ihnen einmal wichtig sein könnte, muss deshalb heute niemand vorhersehen können. Das schlechte Holzschliffpapier jedenfalls wird es nicht sein. Und die Aura des Originals haben die Blätter durch das irreversible Einschweißen in Plastikfolie ohnehin verloren, aufblättern wird man sie danach nie wieder können. Schon jetzt arbeiten viele Wissenschaftler ja nicht mehr mit Originalen, sondern mit Ko pien und Scans. Wer etwa die Kundenkartei der legendären Ga lerie Thannhauser studieren will, die das Zentralarchiv des Inter nationalen Kunsthandels in Köln aufbewahrt, kann mit einer hervorragenden Datenbank arbeiten, in der sich die Digitalversionen der dünnen Blätter durch Vergrößerungsmöglichkeiten viel besser lesen lassen als die fragilen Originale. Weltweit haben sich bereits Bibliotheken zu Forschungsverbünden zusammen geschlossen, um sich den virtuellen Zugang zu ursprünglichen Realien zu ermöglichen Google Books in einer nicht-kom merziellen Variante?

Wer die Frage nach der gesellschaftlichen Option auf eine neue, friedliche Kultur des kulturellen Bruchs in diesem Bereich offen diskutieren will, wer darüber nachdenken möchte, was an Aufbewahrung und Aufarbeitung der Vergangenheit in Zukunft überhaupt noch zu leisten ist und welche Einschrän kungen deshalb nötig sein könnten, muss auch die Risiken sehen, die eine solche Entscheidung mit sich brächte.

Er muss sich daran erinnern, dass sich die Nationalsozialisten aus anderen Gründen angemaßt haben, über werte und unwerte Kulturgüter zu entscheiden und mit der Vernichtung ihrer kultu rellen Zeugnisse auch die physische Vernichtung ganzer Bevöl kerungsgruppen, vor allem der europäischen Juden, zu begrün den und zu beginnen.

Er muss sich die Frage stellen, wer nach welchen Kriterien über Erhalt und Verfall entscheiden kann, wo Grenzen gesetzt wer den und wie weit er gehen will, etwa bei den Baudenkmälern. Es gibt zum Beispiel keinen wirklichen Grund dafür, die schlech te, monumentale, eklektizistisch-stillose Funktions- und Reprä sentationsarchitektur aus der Zeit des Nationalsozialismus auch weiterhin der Öffentlichkeit zuzumuten. Das Gauforum in Wei mar, die Ordensburg Vogelsang in der Eifel, das Luftfahrtminis terium in Berlin all diese Orte einstiger Machtdemonstrationen wären für die Gesellschaft der Moderne gut verzichtbar. Als Gedenkstätten entfalten nur wenige von ihnen eine nachhal tige Wirkung, weil sich die hier geplanten oder organisierten Ver brechen zwei Generationen später, bei völlig anderer Nutzung der Gebäude und ohne noch lebende Zeitzeugen, trotz bemühter Gedenkkonzepte kaum mehr nachfühlen lassen. Ganz anders an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager oder in den Folterkellern von SS , SA und Gestapo. Wer vor den ehemaligen Krematorien steht, spürt die Ungeheuerlichkeit dessen, was hier geschah. Diesen Eindruck kann nur der wirkliche Ort vermit teln.

Wer eine Diskussion über die Zukunft unserer Archive, Biblio theken und Museen anstoßen will, darf vor allem einen ganz und gar irrationalen Aspekt nicht außer Acht lassen: die Aura des Originals, die unsere Kultur der Bewahrung und Erinnerung bis heute prägt. So wie die philologisch hervorragende dtv-Edition nie auch nur annähernd den Zauber vermitteln wird, den die einzigartigen Liebes- und Sehnsuchtsgedichte von Else Las ker-Schüler in den heute brüchigen Erstausgaben ihrer Verleger Kurt Wolff und Paul Cassirer entfalten, so wird es auch mit einem Goethe-Autograph, einem John Cage-Tonband oder einer Taschenuhr sein, die Peter Henlein noch selbst gebaut hat. Oder mit jenen Dokumenten, die an Millionen ermordeter Menschen erinnern, deren Namen nur noch auf Papier überliefert sind. Hier stellt sich die Frage nach Erhalt oder Verfall nicht.

Stefan Koldehoff, Jahrgang 1967, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Politikwissenschaft. Er war stellvertretender Chefredakteur des Kunstmagazins ART in Hamburg und arbeitet heute als Kulturredakteur beim Deutschlandfunk in Köln. 2008 wurde Stefan Koldehoff, der auch für die ZEIT und die Süddeutsche Zeitung schreibt und mehrere Bücher veröffentlicht hat, mit dem puk-Journalistenpreis des Deutschen Kulturrats ausgezeich net. Er lebt mit seiner Familie in Köln.

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1 Isadora Duncan am Strand bei Venedig. ca. 1903, Foto: Ray mond Duncan [K] 2 Unterricht bei Mary Wigman, undatiert, unbekannter Fotograf [K] 2 1

1 Rudolf Nurejew und Partnerin in Spectre de la Rose , undatiert, Foto: Kurth Bethke [K] 2 Ernst Baier, deutscher Meister im Eiskunstlauf, unda tiert, Phot. Meerkämpfer, Davos-Platz [L] 3 Gret Palucca, undatiert, Foto: Siegfried Enkelmann. VG Bild-Kunst, Bonn 2009 [K] 4 Frühlingsopfer Choreographie Pina Bausch. Tanztheater Wuppertal. 1975. Foto: gert-wei gelt.de [K] 5 Das Triadische Ballett . Rekonstruktion des Balletts von Oskar Schlemmer. Choreographie: Gerhard Bohner. Akademie der Künste. 1977. Foto: gert-weigelt.de [K] 6 Groteske Tanzszene, undatiert, Foto: Fred Bassler [K] 7 William Forsythe mit Charlotte Butler bei der Probe für Die Nacht aus Blei Deutsche Oper Berlin 1981. Foto: Jürgen Kranich [K] 8 Anna Pawlowa in Die Stumme von Portici , undatiert, Foto: Handke/ Centfox/Universal [K]

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aufstieg und beifall warum die planstadt zlín ein lehrstück der moderne ist

Zipp deutsch-tschechische Kulturprojekte , eine Initiative der Kulturstif tung des Bundes, erkundet die Aktualität des europaweit einzigartigen architektur- und ideengeschichtlichen Erbes von Tomáš Bat’a. Es ist weit weniger bekannt, als der Marken name Bata des weltweit größten Herstellers von Schuhen. Die Kulturwissenschaftlerin und Leiterin des Bauhaus Kollegs der Stiftung Bauhaus Dessau, Regina Bittner, beschreibt die Ambivalenzen, die das »strahlende Phänomen«, so seinerzeit Le Corbusier über Zlín, aus heutiger Sicht aufweist.

Zlín ist eine Kleinstadt in den südmährischen Wäldern Tschechiens, die einmal weltbekannt war. Bata-Schuhe, die hier hergestellt wurden, sind zu einer globalen Marke geworden sie gehören zur Garderobe des indischen Mittel standes, auch in Bangladesch trägt jedes Kind, das es aufs College geschafft hat, Bat’a-Schuhe, in Toronto wurde ein großzügiges Bat’a-Schuhmuseum eröffnet. Und auch in Deutschland kennt man den roten Schriftzug Bat’a immer noch, auch wenn die Filialen hier weniger ge worden sind. Nur der Ort, an dem alles begann, Zlín, scheint irgendwie von der globalen Karte verschwunden zu sein.

Dabei gehört Zlín, wo Tomáš Bat’a 1894 seine Schuhfabrik gründete, zu den wenigen erhaltenen Planstädten in Europa. In den 1920er Jahren verwirklichte der Unternehmer seinen Traum und ließ fernab von den Zentren der tschechischen Avantgarde des Neuen Bauens durch den Architekten František Lydie Gahura eine neue Stadt bauen, die ganz auf die Bedürfnisse und den Produktionsrhythmus der Fabrik abge stimmt war. Zlín gilt als Paradebeispiel der funk tionalistischen Stadtplanung. Ihre Faszination ist durch den historischen Abstand zwar ambivalent, aber keineswegs durch die Zeitläufte überholt worden. Wenn man sich das heutige Zlín genauer betrachtet, in dem längst keine Schuhe mehr produziert werden, findet man Indizien dafür, dass sich die urbane Überlebens fähigkeit dieser Stadt in der Walachei auch aus ihrer Geschichte als Utopie der Moderne speist.

Die Expansion des Unternehmens Bat’a forcierte die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den umliegenden ländlichen Gebieten. Deshalb wurden unternehmenseigene Arbeiter- und Ange stelltenwohnsiedlungen in der Bauabteilung der Firma entwickelt, die durch ein durchgängiges Grundmodul geprägt sind: helle und in ihrer Struktur sichtbare Stahlbetonskelette im Qua dratmaß 6,15 m × 6,15 m, rote Ziegelsteinausfa chungen und bandförmige Glasfronten. Die in tensive Bautätigkeit des Unternehmens hatte Zlín in den zwanziger Jahren in eine moderne funktionale Stadt verwandelt. War die anfängliche Entwicklung zunächst von ökonomischen Prämissen bestimmt, so wurde bald die archi tektonische Moderne bewusst in die Firmen philosophie integriert. Bereits 1935 zollte einer der wichtigsten Protagonisten der funktionalen Stadt, Le Corbusier, der Schuhstadt seinen Respekt: »Zlín ist ein strahlendes Phänomen«, so sein Statement vor Ort.

Schließlich war die räumliche Separierung der Grundfunktionen Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Versorgung hier schon konsequent umgesetzt, bevor 1933 die Charta von Athen als eines der einflussreichsten Manifeste des Städtebaus des 20. Jahrhunderts ver abschiedet wurde. Strukturprinzipien der in dustriellen Produktion, Standardisierung und Rationalisierung wurden hier in die Organisation und Gestaltung des städtischen Raumes übertragen. So prägte das quadratische Grund modul nicht nur die Firmenbauten, sondern auch die Internate, Schulen, Krankenhäuser, Gemeinschaftseinrichtungen und das Firmenkauf haus. Bat’as Imperium expandierte bald welt weit: In England, Indien, den Niederlanden und Brasilien finden sich nicht nur Niederlassungen von Bat’a, sondern auch dort entstanden Plan städte nach dem Modell Zlín.

Zlíns funktionaler Städtebau war zudem von einem weiteren, die städtebauliche Moderne prägenden Konzept bestimmt: dem der Garten stadt. Ende des 19. Jahrhunderts suchten Refor mer angesichts von Überbevölkerung, Luftver schmutzung und mangelnder Hygiene in den Großstädten nach einer Versöhnung zwischen ländlicher und städtischer Lebensweise. In der Firmenphilosophie des Bat’a-Unternehmens finden sich viele Bezüge zur Gartenstadtidee: Der Architekt Gahura nannte 1925 sein Projekt eines Industriegeländes Die Fabrik im Grünen. Bat’a, inzwischen nicht nur größter Arbeitgeber, son dern auch Bürgermeister von Zlín, kommen tierte die öffentliche Präsentation mit den Wor ten »Der freie Bürger braucht zu seiner Entwick lung Raum (…) deshalb bauen wir unsere neuen Wohnhäuser großzügig und nach allen Sei ten hin offen. Deshalb wollen wir die Garten stadt.« ( 1 ) In den schuhkartonähnlichen Siedlungen, die sich entlang der Hänge um die Stadt ausbreiten, findet diese Idee seine Anwendung. Die Gartenstadt wurde bewusst als Kontrast zur modernen Hochhausarchitektur konzipiert. Schließlich lehnte Bat’a die Großblockbauweise strikt ab. Dem Motto Kollektiv arbei ten, individuell wohnen folgte der Masterplan seiner Architekten: Vertikalbauten im Grünen mit dem Firmensitz im Stadtzent rum, umgeben von den in die Fläche sich aus dehnenden gartenstadtähnlichen Wohnsiedlungen für die Arbeiter und Angestellten.

So folgte die gesamte städtebauliche Anlage Zlíns nicht lediglich den Kriterien effizienter

Produktion von Schuhen, Bat’a wollte in Zlín auch neue Menschen schaffen. Dabei stellten die nicht-städtisch sozialisierten Neu-Zlíner, denen gewerkschaftliche Interessenvertretung und urbane Differenzerfahrung fremd waren, den idealen Nährboden für den Erfolg von Bat’as Projekt dar. Die Stadt der Mitarbeit, wie Bat’a Zlín bezeichnete, wurde zum Programm für ein umfassendes System der Förderung von Verant wortung und Selbstinitiative der Beschäftigten. Vergleichsweise hohe Löhne, vielfältige Sozial leistungen und Bildungsprogramme für die Ar beiter machten Zlín zum Versprechen auf sozi alen Aufstieg. Die Einführung moderner Ma nagementmethoden, die Bat’a bei seinen Amerikareisen studiert hatte, ließen die Firma schnell zu einem der erfolgreichsten Unternehmen in Europa werden. Eine Gemeinschaftsideologie, die sich um Arbeit zentrierte und die Bildungs-, Freizeit- und Kultureinrichtungen prägte, bot dabei den Unterbau für die systematische Gleichschaltung von Stadt und Fabrik. Mit der Wahl Tomáš Bat’as zum Bürgermeister lagen die Geschicke der Stadt vollkommen in der Hand des Firmenchefs. Kleinunternehmen und Gewerbetreibende, die nicht auf die eine oder andere Weise an der Schuhproduktion be teiligt waren, hatten kaum noch eine Existenz chance. Eine Unabhängigkeit städtischer Teil bereiche und Funktionen von der Firma war nicht mehr möglich. Die Stadtsoziologin An nett Steinführer behauptet deshalb, dass Zlín damals eine wenig urbane Stadt gewesen sei. Sie sei geprägt gewesen durch einen Mangel an Möglichkeiten, an Vielfalt, an Differenz. (2 ) Mit dem teilweisen Abriss des alten Stadtkerns von Zlín hatte Bat’a auch die letzten sozialen Räume für ein hanging around unter seine Kontrolle ge bracht.

Zugleich, und darin liegt die Ambivalenz Zlíns, bot die Stadt des Schuhfabrikanten als Um schlagplatz sozialer Transformation Möglich keiten für emanzipatorische Bestrebungen. Die industrielle Modernisierung hatte zu einer Auf lösung ständischer Zuordnungen und zu einer Erosion überkommener Strukturen geführt. Bat’a bot den aus der Landbevölkerung stammenden Arbeitern nicht nur Lohn, Brot und Bil dung. Damit verbunden waren soziale Aufstiegschancen, die Herauslösung aus traditionel-

( 1 ) zitiert nach: Zdeneˇk Pokluda, Von Zlín in die Welt die Geschichte des Tomáš Bat’as , Zlín 2004, S. 13 (2 ) Annett Steinführer, Stadt und Utopie. Das Experi ment Zlín 1920–1938. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder. Band 43 Heft 1 2002 , S. 68

von regina bittner

len ländlichen Verhältnissen sowie neue Selbst bestimmungsmöglichkeiten, die durch die Trennung von Arbeit und Freizeit in der Industriegesellschaft entstanden waren. Kino und Kauf haus, die zudem das neue Stadtbild von Zlín dominierten, sind Ausdruck dieser neuen städ tischen Emanzipationsräume. Zlín stand für verräumlichte Zukunft, ein moderner Ort, ein Trainingsplatz für moderne Menschen.

Zlíns Kino zählte zu den größten Sälen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Moderne Medien kamen im durchrationalisierten All tag Zlíns dabei auf vielfältige Weise zur Anwen dung, sie dienten der Kontrolle der Arbeiter, sie unterstützten die Propaganda und die Wer bung der Firma, boten andererseits aber auch neue Räume für Phantasie und für kleine Fluchten aus dem Alltag. Zwar wusste Bat’a um Möglichkeiten der Manipulation der Mas sen durch das Kino. Aber als Traummaschine der Moderne stellten die modernen Massenvergnü gungsorte immer auch einen Überschuss an Phantasie bereit, der über das Bestehende hin auswies. So war das Kino in Zlín auch ein Ort, um dem grauen Alltag am Band bei Bat’a zu ent fliehen, und bot Gelegenheit, den Horizont der mährischen Industriestadt ab und an zu über schreiten. Davon dass Zlín seine Allianz mit dem Reich der Phantasie bis heute nicht aufge geben hat, zeugt das heute jährlich im Sommer stattfindende national bekannte Film Festival Zlín

Auch das Kaufhaus im neuen Stadtzentrum gibt Hinweise darauf, dass die neue Stadt nicht nur ein Disziplinarraum war, sondern auch zur Einübung städtischer Verhaltensweisen beitrug. Die wachsende Mittelklasse entwickelte eine Angestelltenkultur mit neuen Bedürfnissen und Ansprüchen an Freizeit, Konsum und Lebens stil: Anders als in den für die Schwerindustrie gebauten neuen Städten gehörte die städtische Konsumwelt zu den strukturierenden Prinzipien Zlíns. Obwohl Zlín so ganz nach den Re geln der Produktion organisiert war, spielte auch der Warenkonsum eine immer größere Rolle in der Stadt. Das Kaufhaus, das das neue Stadtzentrum dominierte, ist solch ein exemplarischer moderner Ort. Überall in den großen Metropolen wurden die Kaufhäuser als Aus druck des modernen Lebens verstanden und gebaut: Nicht umsonst wurden diese in den 1920er Jahren zu den bevorzugten Projekten der Vertreter des Neuen Bauens. Auch Bat’as national und international verbreitete Schuhgeschäf-

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te stehen in dieser Traditionslinie. Kaufhäuser waren Imaginationsräume, in denen die Szenarien der Konsumgesellschaft durchgespielt wur den. Sie verhießen eine Gesellschaft der Fülle ohne Not und Enge. ( 3 ) Bat’a sorgte dafür, dass auch die Zlíner Schuhhersteller, zum großen Teil aus ländlichen Gegenden stammend, an den Verheißungen der Konsumgesellschaft teil haben konnten. Das Kaufhaus wurde für sie auch zu einer Agentur der Integration in eine moderne, städtisch geprägte Gesellschaft.

Schon diese Skizzierungen zeigen: Zlín war ein soziales Laboratorium, angesiedelt zwischen Kontrollraum und Emanzipationsort. Diese Ambivalenz macht Zlín heute zum Symbol ei ner janusköpfigen Moderne. Eine Stadt, die noch nahezu vollständig die Prinzipien einer Planstadt abbildet, ist eine Einladung, diese Wi dersprüche des Projekts des modernen Urbanis mus neu zu besichtigen. Eine Stadt, die so ganz auf Zukunft gepolt war, veranlasst aber auch zur Frage, wie es um die Zukunft der Stadt als räumliches Modell des gesellschaftlichen Zu sammenlebens heute bestellt ist. Denn nach den langen Jahren der postmodernen Kritik an den Unwirtlichkeiten des modernen Städtebaus scheint sich angesichts der Künstlichkeiten des historisierenden Städtebaus heute ein neues In teresse an den Tomorrowlands von gestern einzustellen.

Diese Agenda verfolgte die internationale Kon ferenz Utopie der Moderne: Zlín , die ZIPP , ein Programm für deutsch-tschechische Kulturprojekte der Kulturstiftung des Bundes gemeinsam mit dem Haus der Kunst Brno, der Nationalgalerie Prag und der Bezirksgalerie für Bildende Kunst in Zlín vom 19. bis 23.Mai 2009 veranstaltete. Zlíns Wiederentdeckung in der Tschechischen Republik steht im Kontext der Suche der postsozialistischen Gesellschaft nach Vorbildern einer nationalen, wirtschaftlich er folgreichen Modernisierung. Bat’as Schuhfabrik gehörte in den zwanziger Jahren zu den progressivsten Unternehmen der Ersten Tsche choslowakischen Republik: Als roter Kapitalist von links scharf kritisiert, gilt er heute dort als guter Unternehmer. Bisher hat Zlín in den einschlägigen Publikationen zur tschecho slowakischen Moderne kaum Erwähnung gefunden. Dies dürfte auf den befremdlich erschei nenden Umstand zurückzuführen sein, dass ausgerechnet der Besitzer des größten Industriekonzerns des Landes die Visionen und Ideen der vorwiegend links ausgerichteten Avantgarde in

gebaute Realität übersetzte. »Die Stadt war«, so formulierte es der Architekturkritiker Jan Sed lak, »ein der linken Avantgarde entgegengewor fener Handschuh«. (4) Auch in der sozialisti schen Tschechoslowakei, als Zlín in Gott waldow nach dem ersten kommunisti schen Führer der C ˇ SSR umbenannt wurde, blieb es um das Vermächtnis des 1932 verstorbenen Unternehmers Bat’a still. So ist Zlíns und damit auch Bat’as Erbe im Klima einer immer noch stark durch die neoliberalen Weichenstel lungen nach 1990 geprägten Gesellschaft heute vor allem eines: eine Verpflichtung. Bat’a ist der gute Unternehmer, der den Kapitalismus mit dem Sozialismus versöhnt hat und damit die Brücke schlägt zwischen den beiden Gesell schaften, deren Zusammenhang oder Differenz nach wie vor Thema im Alltag und Anlass für öffentliche Debatten in Tschechien sind.

Über Zlíns modernes Erbe heute neu nachzu denken, hat einen weiteren guten Grund. Zlín ist, obwohl eine ihrer zentralen Existenzgrund lagen die Schuhproduktion weggefallen ist, heute keine postindustrielle Brache, sondern ein ökonomisch erfolgreiches Zentrum der Re gion. Aus der Schuhstadt Tomáš Bat’as ist eine lebendige Mittelstadt geworden. Seit den 1990er Jahren trägt Zlín den Titel Unternehmerstadt, was auf den Erfolg der hier ansässigen Firmen ver weist, denen es in der Zeit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation nach 1990 gelang, international wettbewerbsfähig zu wer den. Die ehemaligen Fabrikhallen downtown stehen nicht leer, sondern beherbergen viele kleine Firmen. An die Stelle des einen dominie renden Unternehmens sind nun viele getreten. Auf seltsame Weise gehen hier die im Zuge der massiven Privatisierung und Marktliberalisie rung in der Tschechischen Republik nach dem Niedergang des kommunistischen Systems frei gesetzten Dynamiken mit dem Erbe Bat’as Hand in Hand. Haben die neuen Kleinunter nehmer heute die Lektionen modernen Ma nagements, die schon Bat’a seinen Mitarbeitern predigte, erfolgreich umgesetzt?

Auch als temporäre Partylocations eignen sich die Bauten hervorragend, eine Klientel dafür ist

( 3 ) Uwe Spiekermann, Das Warenhaus. In: Alexa Geisthö vel, Habbo Knoch (Hgg.), Orte der Moderne. Er fahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2005. S. 211

(4) Zit. n.: Annett Steinführer, Stadt und Utopie. Das Experiment Zlín 1920–1938. In: Bohemia. Zeit schrift für Geschichte und Kultur der böh mischen Länder. Band 43 Heft 1 2002 . S. 56

vorhanden, denn Zlín ist inzwischen eine Stu dentenstadt: Die 2001 gegründete Tomáš-Bat’aUniversität kann mit über 10 000 Studierenden den Bildungsstandort in der Region gut behaup ten. Gibt es eine Korrelation zwischen dem of fensichtlichen Erfolg Zlíns und seinem moder nen Erbe? Und ließe sich demzufolge von Zlín etwas lernen?

Im Gespräch mit Vertretern der Stadtverwal tung und mit jüngeren Architekten begegnet man einer erstaunlich pragmatischen Haltung im Umgang mit der Stadt. Schließlich sei die Stadt für den Zweck der effizienten Produktion von Schuhen erbaut worden, und obwohl sich die gesellschaftlichen Verhältnisse massiv ver ändert hätten, sei dieser Rationalität auch die spätere Stadtentwicklung gefolgt. So knüpften schon die Wohnbebauungen der 1960er und 70er Jahre an die vorhandenen Baustrukturen der Schuhstadt an. Der Pragmatismus und die Offenheit, die in der Organisation der städ tischen Räume in Zlín angelegt sind, stellen für die junge Architektengeneration vor allem eine Chance dar, an Zlíns Geschichte anzuknüpfen, sie fortzuschreiben und nicht zu konservieren. Schon früh hatte sich Zlín gegen eine Bewer bung um den UNESCO -Weltkulturerbestatus entschieden: Zu restriktiv wären dann die Mög lichkeiten der Stadtentwicklung gewesen. Ähn lich unideologisch diskutiert man heute in Zlín Fragen der Erhaltung der vorhandenen Bausubstanz. Vor dem Hintergrund zeitgeistiger Obses sionen von historischem Original und Denk mal ist eine öffentliche Debatte über die Frage, wieso eine für eine bestimmte Zeitphase ange legte Stadt nun plötzlich als Monument konser viert werden soll, ziemlich überraschend. Auch ein Spaziergang durch Zlíns Gartenstadt teile bestätigt diesen Eindruck. Die Arbeitersiedlungen sind heute lebendige Nachbarschaften. Zwar haben sich die Gartenstädte, sieht man von der einheitlichen roten Ziegelsteinkubatur ab, ausdifferenziert: Es gibt noble Wintergärten, schicke Dachterrassen, puristische Moder ne und das (Wohn)Glück des kleinen Mannes. Doch bei allem Wandel scheint sich etwas ZlínSpezifisches durchzuhalten. Auch wenn die akademische Forschung lange Zeit die Perspektive auf den sozialen Raum dieser Planstadt vernach lässigt hat: Im heutigen Alltag der Stadt, in den Lebensweisen und Routinen ihrer Bewohner lassen sich Entwicklungen ausmachen, die sich von einer historisch gewachsenen Stadt unter scheiden. Zlíns Erbe einer konsequent auf Fort

schritt und Wandel gepolten Stadt schreibt sich inzwischen in den Mentalitäten und Vorstel lungen seiner Bewohner fort.

So stellt Zlíns materialisiertes Gedächtnis ein Lehrstück ganz besonderer Art dar: Hier lernt man, dass unser bisheriges Wissen, unsere Ein schätzungen und Urteile, mit denen die moder ne Stadt bereits als abgeschlossenes Kapitel des Städtebaus des zwanzigsten Jahrhunderts verab schiedet wurde, mit der Gegenwart dieser City of Tomorrow nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Beim Blick von der Dachterrasse des Gebäudes 21, der ehemaligen Firmenzentrale, träumt man von Manhattans Straßen schluchten, in den Siedlungen lebt das Verspre chen auf die Gartenstadtgemeinschaft fort und vor dem Kino sitzen Studenten auf einer der im Überfluss vorhandenen städtischen Grün flächen und trinken Bier. Zlíns so offensicht liche Widersprüche der Moderne, die sich hier auf dem engen Raum einer mährischen Klein stadt konzentriert abbilden, verdeutlichen, dass die moderne Stadt wesentlich komplexer ist, als die postmoderne(n) Kritik(er) vermuten lassen.

Regina Bittner ist Kulturwissenschaftlerin und Leiterin des Bauhaus Kollegs der Stiftung Bauhaus Dessau. Sie arbeitet derzeit an einer Publikation zur städtischen Identitätspolitik am Beispiel der Bauhausstadt Dessau.

zlín modellstadt der moderne Eine Ausstellung des Architekturmuseums der TU München, der National galerie in Prag und der Regional Gallery of Fine Arts in Zlín.

Im Rahmen von Zipp – deutsch-tschechische Kulturpro jekte fördert die Kulturstiftung des Bundes die Ausstel lung in der Pinakothek der Moderne. Sie zeigt die einzig artige Entwicklung der südmährischen Stadt und ihre Prägung durch die Geschichte der Schuhfabrik Bat’a. [19.11. 2009 – 21.2.2010]

Zur Ausstellung erscheinen zwei Publikationen im JOVIS Verlag: Zlín Modellstadt der Moderne Winfried Nerdinger [Hg.] / Broschur / Hardcover, 190 Sei ten mit zahlreichen Abb., 17 × 24 cm, in deutscher Sprache Museumsausgabe: ca. eur (d) 30 / isbn 978-3-86859-103-3 Buchhandelsausgabe: ca. eur (d) 38 / isbn 978-3-86859-051-7 Begleitbuch zur Ausstellung mit architekturhistorischen Essays

A Utopia of Modernity : Zlín Katrin Klingan [Hg.] in Zusammenarbeit mit Kerstin Gust / Bro schur, 300 Seiten mit zahlreichen Abb., 17 × 24 cm, in englischer Sprache eur (d) 28 / isbn 978-3-86859-034-0

Sammelband mit Beiträgen internationaler Autoren zum Phänomen Zlín mit Blick auf die Gegenwart und die zu künftige Entwicklung der Stadt

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das publikum liebt

Sich erinnern. An das, was zu wenig erinnert wird. Oder woran man lieber nicht erinnert werden will. Aufgegebene Orte zum Leben erwecken. Von Randexistenzen erzählen, von Illegalen etwa und Langzeitarbeitslosen. Solange solche Themen abstrakt bleiben, funktionieren sie ganz gut im Theater. Aber was, wenn man sich den konkreten Geschichten vor Ort zuwendet? Etwa, wenn man über die Stasi-Geschichte in der eigenen Stadt verhandelt? Oder eine Oper an einer U-Bahnstation inszeniert, die von den Anwohnern gemieden wird, weil sich dort eine Serie von Vergewaltigungen ereignet hat? Oder wenn man den versunkenen DDR-Alltag in lebendige Erinnerung verwandelt? Heimspiel -Theaterprojekte können das: Ernst machen mit dem Theater als öffentlichem Ort, an dem die Gesellschaft sich selbst einen Spiegel vorhält, an dem sie sich über sich selbst ver ständigt. Heimspiele können sich einmischen, Geschichten um schreiben, Orten etwas Neues hinzufügen. Sie können das, weil sie die Bevölkerung in der eigenen Stadt mobilisieren wollen. Sie greifen vielleicht auch auf Erzählmuster der großen dramatischen Literatur zurück, ihre Stoffe aber finden sie zunächst ein mal woanders. Nämlich draußen, direkt vor der eigenen Tür. In Bautzen oder Greifswald, in Essen oder Oberhausen.

Eigentlich dürfte es so etwas wie den Heimspiel -Fonds der Kulturstiftung des Bundes gar nicht geben. So sagt es Lutz Hill mann, der Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters in Bautzen. Denn eigentlich sollte das, was dieser Fonds fördert, für jedes Theater selbstverständlich sein. Es ist nämlich die regionale Verwurzelung, durch die die Theater heute mehr denn je ihre Existenz und ihre Finanzierung aus öffentlicher Hand legitimie ren. Theater kann dem Sog der Globalisierung das Eigene entge gensetzen, es kann zu einem Ort werden, an dem und durch den sich lokale Identität bildet. Darin liegen die größte Chance und auch eine der wesentlichsten Aufgaben für das Theater der Ge genwart. Das sagt einem so oder so ähnlich fast jeder Intendant, mit dem man spricht. Nur stellt sich jeder darunter etwas anderes vor und allzu gut bestellt ist es um die viel gepriesene regionale Verwurzelung dann meist nicht. An vielen Theatern, in Nürn berg, in Oberhausen oder Greifswald etwa, kommt man bei der regionalen Verwurzelung über Theater-AG s mit Schülern oder Senioren, mit Gefängnisinsassen oder sonstigen Bewohnern der Stadt kaum hinaus.

Ein Heimspiel ist so etwas nicht. Ein Heimspiel- Theaterpro jekt arbeitet auch mit Laien, aber es ist nicht Laienspiel, sondern: Theaterkunst mit unendlich vielen Formen, Zugängen, Möglichkeiten, die einen flexiblen Umgang mit den Strukturen des ein gespielten Theaterbetriebs herausfordert. Das allein wäre schon ein hinreichender Grund, dass solche Projekte nicht selbstver ständlich sein können. Der wichtigste dürfte wohl aber der sein, dass man nur an wenigen Theatern überhaupt Erfahrung damit hat, wie das geht: Wie man die entsprechenden Themen findet, wie man sie bearbeitet, auf welche Weise man sie in Theaterkunst verwandeln kann. Welche Fragen man wem überhaupt stellen oder wen man für deren Ausarbeitung engagieren könnte. Man lebt zu abgeschottet in seiner bildungsbürgerlichen Theaterburg, und oft hält man die Dinge vor Ort für zu banal und für nicht ausreichend theaterwürdig. Oder man glaubt, die Theatergänger

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würden sich dafür nicht interessieren oder man würde sie gar überstrapazieren. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Die Menschen lieben es wenn es gelingt. Nur ist das natürlich vorab nie si cher.

In Greifswald ist es gelungen. Dort hat der Regisseur Tobias Rausch, ein Experte für Katastrophen, sich auf Spurensuche in der Stadt begeben. So ist Schicht C entstanden, ein Stück, das vom Katastrophenwinter 1978 /79 erzählt als das Kernkraftwerk Greifswald-Lubmin, das größte der DDR , durch heftige Schneestürme von der Außenwelt abgeschnitten war. Schicht C ist dabei alles andere als hochdramatisch. Es ist im Gegenteil ein Stück, das eine vergangene alltägliche Lebenswelt lebendig macht, so wie es sonst meist nur der Literatur gelingt. »Menschen nehmen Ausnahmesituationen im eigenen Leben nicht nach den Mustern des Dramas wahr«, sagt Tobias Rausch, »sondern als eine Aneinanderreihung von Nebensächlichkeiten.« Für Schicht C haben Rausch und sein Team Mitarbeiter des Kernkraftwerks interviewt, die damals eingeschlossen waren und mit einem Minimum an Schlaf das Kernkraftwerk betrie ben; mit Arbeitern, die die Gleise des eingeschneiten Zuges frei zuschaufeln versuchten und dabei selbst beinahe umgekommen wären; mit Angehörigen zu Hause, die nicht wussten, was mit der Schicht C im Kernkraftwerk geschah; mit Angestellten des örtlichen Konsum-Ladens, die sich gegen Hamsterkäufe wehrten.

Das Team hat all diese Aussagen in kleinste Fragmente gesplittet und diese ineinandergeschoben. Was durch eine solche Ge schichtssplitterung entsteht, ist im Ergebnis eine verdichtete, ganz und gar lebendige Erinnerung an den Alltag der DDR . Daran, wie die Menschen gewesen, wie sie miteinander umgegangen sind. »Wenn man versucht, das Große nachzuerzählen, trifft man es nicht«, sagt Rausch. Wie bei Marcel Prousts berühmten Madeleines sind es auch hier, bei den Interviews, die kleinen, marginalen Dinge, in denen die Nuancen, in denen das Eigent liche geborgen ist. Um sie herauszuarbeiten, muss man die Re cherche ernst nehmen. Man muss sammeln und darf nicht ge zielt nach etwas suchen. »Man muss die Desorientierung zulas sen«, sagt Rausch. Das Extrem, die Ausnahmesituation ist nur die Matrix, die die Erinnerung schärfer und damit die Dinge deutlicher macht. Mit dem Gesammelten haben Rausch und die Schauspieler des Theaters Vorpommern improvisiert und aus probiert, was davon miteinander Beziehungen eingeht, wo Dy namiken entstehen, sich etwas übereinanderschiebt. So ist Schicht C entstanden, ein ebenso witziges wie poetisches, ständig ausverkauftes Stück. Es ist ein Zugang, eine Mög lichkeit unter vielen. Eine Weise, den Menschen von ihrer Stadt, von ihrem eigenen, vergangenen Leben zu erzählen. Davon, wie sie einmal gewesen sind. Anton Nekovar, der Intendant des The aters Vorpommern, hat dieses Stück als Arbeit am Lokalen ver bucht. »Dass es nun auch noch Kunst geworden ist«, sagt er, »das freut mich ungemein.« Es ist ein Satz, der bei allem Engagement zu Missverständnissen einlädt: Als wäre die Arbeit mit und an den Geschichten der Stadtbewohner zunächst einmal nicht viel mehr als eine pädagogische Maßnahme zur Bindung des Publi kums. Und nicht eine großartige Spielart dessen, was man auf der Bühne tun kann: sich mittels Schauspiel über sich selbst ver

ständigen. Ein Wissen darüber, dass dies eine andere, aufregende, die üblichen Pfade verlassende Methode ist, Kunst zu produzie ren, eine, die ganz nah dran ist an der Wirklichkeit.

In Bautzen verhält sich das anders. Da hat der Intendant Lutz Hillmann sein erstes Heimspiel gestartet, lange bevor der Heim spiel- Fonds der Kulturstiftung des Bundes 2006 überhaupt aufgelegt wurde. 2003 hat Hillmann zum ersten Mal mit der Lei terin der Gedenkstätte Bautzen kooperiert. So ist im ehemaligen Stasi-Gefängnis Romeo und Julia als Stasi-Geschichte, als Drama aus der eigenen Mitte entstanden. Es wurde ein Abend, der der in der Stadt ungeliebten Gedenkstätte zu einem anderen Ansehen verholfen hat. Wichtig wurde die Gedenkstätte in den letzten Jahren immer mehr als Tourismusfaktor. In den Informa tionsblättern des Tourismusbüros findet sie sich inzwischen auf den ersten Seiten. Aber wie geht man in Bautzen und in der Region, jenseits von solchen Marketingstrategien, mit der Stasi-Ver gangenheit um?

Es war Zeit für eine fremde Wahrnehmung, für einen Blick von außen, sagt Intendant Hillmann. Deswegen hat er zwei Westler, den Regisseur Martin Kreidt und den Dramaturgen Christoph Twickel, engagiert. Die haben sich für das Heimspiel- Projekt in der Stadt auf Spurensuche begeben, Menschen in den Ein kaufszentren befragt, Buchläden durchforstet, sind auf Ämtern vorstellig geworden. Eindrucksvoll war für sie, wie Menschen die DDR -Vergangenheit verherrlichten, ohne deren negative Seiten im Geringsten zu berücksichtigen. Die Stasigeschichte etwa, die gar nicht geleugnet, sondern schlicht abgespalten wird von dem, was dem Einzelnen »seine DDR« bedeutet. Auf Grundlage ihrer Recherchen haben sich Kreidt und Twickel für den Antigone- Stoff als dramaturgische Vorlage entschie den, weil er auf grundsätzlicherer Ebene Widerstand, Tyrannei und vermeintliche Staatsräson verhandelt. Sie haben ihn kurzge schlossen mit Video-Einspielungen von zwei DDR -Dissidenten, dem Historiker Thomas Klein und dem ehemaligen Punk-Musi ker Bernd Stracke, die beide nicht die DDR verlassen, sondern sie verändern wollten und deswegen in Bautzen inhaftiert waren. Zwei also, die die DDR nicht »verraten« hatten und deswegen die DDR -Verklärer anders, glaubhafter, mit ihren schrecklichen Geschichten über die Haft und die Infiltration ihrer gesamten Lebenswelt durch Stasi-Mitarbeiter konfrontieren konnten, als jene ehemaligen Häftlinge, die »rübermachen« wollten. Durch das Stück geistert die freundliche, junge und ziemlich na ive Chinesin Ling. Sie begrüßt die Zuschauer zu Beginn, erklärt ihnen, dass sie Studentin sei und hier ein Praktikum mache und wirkt dabei so echt, dass man zunächst nicht auf die Idee kommt, es könne sich um eine Schauspielerin handeln. Die Frem de im Stück mit ihren absurden Ansichten und Fragen zeigt, was für komische Seiten es haben kann, wenn Geschichten ganz un vermittelt nebeneinanderstehen. Diese Figur bringt fertig, was auch die Leiterin Silke Klewin über die Gedenkstätte sagt: Dass es ein Ort sei, an dem man auch lachen können müsse, sonst öff ne man sich nicht. Sonst stehe man stramm vor der Geschichte oder lasse sich überwältigen.

Antigone in Bautzen , das ist Theater, das auf vielerlei Weise eingreift in das Selbstverständnis der Stadt. Es ist Theater, das genau dies auch als seine Aufgabe begreift. Hillmann hat

es eine reise zu heimspielen in essen und bautzen, greifswald und oberhausen von michaela schlagenwerth

schon einiges bewegt in der Stadt. Aber ein Stück, das auf Re cherchen vor Ort basiert, das hat er hier auch noch nie insze niert.

Dabei können gerade solche Arbeiten eine enorme Wirkung ent falten. Denn das Theater kann lokalen Themen zu einer anderen Bedeutung verhelfen, sie in einem anderen Licht erscheinen lassen, andere Prozesse in Gang bringen, als es durch Medienberichterstattung oder Universitätsvorträge möglich ist. Theater kann etwas bewegen, manchmal sogar verändern. Es kann etwa einer verpönten Stasi-Gedenkstätte Anerkennung verschaffen, oder den Blick auf den viel zu wenig beachteten Zusammenhang lenken zwischen Stasi-Vergangenheit und heutigen Hooligans im ehemaligen Stasi- und heutigen Neo-Nazi-Bezirk Berlin-Lichtenberg, wie beispielsweise im Stück Dynamoland am Thea ter an der Parkaue. Heimspiele geben dem Theater die Chan ce zu politischer Wirksamkeit. Die Chance, das Leben in einer Stadt mitzugestalten, Themen zu setzen, das Selbstverständnis einer Stadt in Frage zu stellen, zu verändern. Ein Theater in der eigenen Stadt zu verwurzeln, heißt genau das.

Jemand, der das in Oberhausen ganz genau weiß, kommt gar nicht vom Theater, sondern vom Jugendamt. Eberhard Wi ckum arbeitet mit migrantischen Jugendlichen, nicht in der Für sorge, sondern, wie er selber sagt, im »prophylaktischen Bereich«. Gemeinsam mit der Dramaturgin Simone Kranz hat Wickum am Theater Oberhausen ein interessantes theaterpädagogisches Projekt entwickelt. Seit drei Jahren arbeitet das Theater in jeder Spielzeit mit einer anderen ethnischen Gruppe von Jugend lichen. Nicht, um sie zu segregieren, sondern weil die jeweiligen Communities jeweils spezifische Problematiken haben. Im ver gangenen Jahr, bei der Arbeit mit fünf tamilischen Mädchen, die alle das Gymnasium besuchen und bestens integriert zu sein schienen, stellte sich heraus, dass jede von ihnen damit rechnet, durch die Eltern verheiratet zu werden.

»Indem über ihr Leben auf dem Theater verhandelt wird«, sagt Eberhard Wickum, »gibt man den migrantischen Communities öffentlichen Raum.« Man gibt ihnen damit Platz in der Gesell schaft, an einem Ort, der sonst von anderen genutzt wird. Und selbst wenn die Betreffenden nicht den Weg ins Theater finden allein dass sie wissen, dass sich das Theater kümmert, sagt Wickum fest überzeugt, das hat schon Wirkung. Die türkischen Communities, so der Jugendamtsmitarbeiter, sind inzwischen im Migrationsrat der Stadt Oberhausen vertreten. Auch die Mo scheevereine gehen mehr in die Öffentlichkeit, engagieren sich in den Arbeitskreisen ihrer Stadtteile. Nicht, dass da nicht noch viel zu tun wäre, aber der Prozess ist in Gang gekommen, man ist auf dem Weg. Bei den afrikanischen Communities ist das anders. Die meisten afrikanischen Migranten sind stark mit den Kir chengemeinden identifiziert, denen sie angehören. Einen Weg zu einem offenen Austausch hat bislang noch keine von ihnen gefunden. Theater kann da sehr viel. Es kann eine Brücke schla gen zwischen einander unbekannten Welten. Es kann Fremdheit abbauen, auf beiden Seiten. Es kann Geschichten erzählen, über die vielleicht die eine wie die andere Seite staunt.

In diesem Jahr ist mit der Inszenierung Klima Talk. Ober hausen davon allerdings herzlich wenig gelungen. Denn der Regisseur Neco Çelik konnte mit der Vorarbeit des Theaters we

nig anfangen. Er hat nach eigenen Themen gesucht. Sie führten ihn nicht in die Stadt hinaus, nicht in die afrikanischen Com munities, sondern in das Theater hinein. Schade. Das sollten bei de Seiten schon bei den Vorgesprächen merken: Ob jemand Feuer fängt, ob ihn das vorgegebene Thema interessiert, seine eigene Erfindungs- und Recherchelust reizt. Im Theater Ober hausen sind sie wegen des Fehlschlags nicht entmutigt. Sie wis sen, sie sind trotzdem auf einem spannenden Weg. Hier zeigte sich, wie sorgsam die Zusammenarbeit mit den Regisseuren, in deren Hände man am Ende das ganze Projekt legt, austariert wer den muss. Denn ob das Theater nun ein Thema vorgibt oder nicht: Am Ende sind die Regisseure die Spurensucher, die jen seits des Naheliegenden fündig werden oder zumindest fündig werden sollten. Die manchmal, wie etwa in Greifswald, über haupt erst die Themen vor Ort entdecken. Bei Heimspielen müssen die Regisseure die Kunst der Re cherche beherrschen. Denn ohne eine gute und intensive Re cherche geht es nicht. Und, das ist sicher die größte Erschwernis für ein Heimspiel: Eine gute Recherche dauert lange und ist teuer. Und ein Risiko bleibt immer. Denn es mag erfahrene Re chercheure und Stück-Entwickler geben, aber nach einem Sche ma F funktionieren Heimspiele nicht. Nie weiß man, worauf man treffen wird bei den Recherchen, auf welche Personen, auf welche Geschichten.

Gruppen wie Rimini Protokoll, aber auch Regisseure wie Tobias Rausch oder Martin Kreidt haben längst ihre eigenen Me thoden und Zugänge entwickelt. Es sind Künstler, die süchtig sind nach Wirklichkeit. Matthias Rick ist auch so jemand. Kom men Sie auf keinen Fall mit dem Auto, kommen Sie mit der UBahn, sagt er schon am Telefon. Matthias Rick arbeitet an der Essener U-Bahnstation Eichbaum. Er ist Architekt und Mitglied der Künstlergruppe raumlaborberlin und als solcher Experte für gescheiterte stadtplanerische Utopien und die Station Eich baum ist geradezu ein Paradebeispiel für eine gescheiterte stadt planerische Utopie: Eine U-Bahnstation, schwer einzusehen, an der sich in den 1980er Jahren eine Serie von Vergewaltigungen ereignete. Die seitdem, obwohl die Kriminalstatistik dem schon lange widerspricht, als gefährlichste U-Bahnstation Essens gilt und von vielen Anwohner gemieden wird. Viele nehmen lieber Umwege in Kauf, als dass sie die Betonpfade des Eichbaums pas sieren würden. Jedenfalls war das so, bis das raumlaborberlin kam.

Denn gemeinsam mit dem Musiktheater im Revier Gelsenkir chen, dem Ringlokschuppen Mühlheim und dem Schauspiel Essen hat raumlaborberlin hier an der U-Bahnstation Eichbaum ein verrücktes, ein gewaltiges Projekt gestartet: Die Eichbaumoper. Ein Heimspiel- Projekt, das sehr viel mehr ist als nur eine Oper, sondern auch eine Kunstinstallation. Zwei Jahre haben raumlaborberlin und die Partner an dem Pro jekt gearbeitet. Im vergangenen Jahr ist direkt an der Station Eichbaum die Opernbauhütte entstanden, nach Vorbild der mit telalterlichen Dombauhütten. Hier haben sie gesessen und gearbeitet, hier wurden mit den Dramaturgen und Komponisten die Libretti und die Kompositionen und mit der Regisseurin Cordula Däuper die Inszenierungen für die drei Opern entwi ckelt. Es wurde aber auch gegrillt, es wurden gemeinsam mit

den Anwohnern Partys und Konzerte, Ausstellungen und Work shops veranstaltet. Wenn man am Nachmittag im Schatten der futuristischen, ein wenig wie ein Ufo anmutenden Opernbauhütte sitzt, sieht man nicht nur Passanten, sondern auch Besucher, die eigens hierherkommen, weil sie von dieser unglaublichen Operngeschichte gehört haben.

Ein älteres Ehepaar auf Fahrrädern etwa. Sie sind wie viele ande re hier, um sich diesen Eichbaum einmal selbst anzusehen. Die sen Eichbaum, der jetzt berühmt ist als Ort der Hochkultur und der so lange bloß ein Unort war, an den sich nur Jugendliche wagten, die hier unbehelligt sprayen, rauchen, trinken, knut schen und ihre Kämpfe austragen konnten. Die Verkehrsbetrie be hatten die Überwachung und Gestaltung des Ortes schon lange aufgegeben.

Aber man kann einen solchen öffentlichen Raum damit nicht zum Verschwinden bringen. Das Team um die raumlaborberlinAktivisten Matthias Rick und Jan Liesegang hat versucht, dem Ort durch ein radikales Kontrastprogramm eine neue Geschich te zu geben. Sie haben gedacht, wenn sie an diesem unwirtlichen Platz eine Oper entstehen lassen, die den Ort selbst zum Thema nimmt, dann setzen sie dem technokratischen Wahn sinn eine andere Form der Verrücktheit entgegen. »Wir haben nach einem Wahnsinn gesucht, wie ihn Klaus Kinski als Fitzcar raldo in Werner Herzogs Film verkörpert. Denn das ist es, was man hier machen muss, ein Schiff über einen Berg tragen«, sagt Matthias Rick. Am Anfang hielten die Anwohner, hielt man überhaupt in der Stadt das Projekt für einen großen Unsinn. Hip Hop? Ja, so etwas könne man an einem Ort wie dem Eichbaum sicher veranstalten. Aber eine Oper? Niemals. Doch je länger die Künstler vor Ort in der Opernbauhütte arbeiteten, je selbstver ständlicher sich beim abendlichen Grillen Passanten dazugesell ten, die Alten zum Seniorencafé mit Lesung kamen, die Jugend lichen zu den Jugendparties und alle zum monatlichen Stamm tisch der Opernbaubar, desto grandioser und gleichzeitig ver rückter mutete das Projekt an. Weil es immer mehr Wirklichkeit annahm. Eine, die an diesem Ort »nicht normal« war.

Die Eichbaumoper , bestehend aus drei Uraufführungen Entgleisung. Eine Kammeroper , Simon der Er wählte und Fünfzehn Minuten Gedränge , hat auch diejenigen überrascht und erstaunt, die den Eichbaum nicht besichtigt, die Opernaufführungen nicht besucht haben. Bewunderung und Verwunderung halten sich die Waage: Dass es dem Theater gelungen ist, einen verwahrlosten Ort in einen Kultort zu verwandeln und seine Geschichte umzuschreiben. Dieser Erfolg schwebt jetzt wie eine rosa Wolke über dem Eich baum, eine Heimspiel- Wolke und es wird noch lange dau ern, bis sie sich verflüchtigt. Vielleicht wird hier tatsächlich etwas Neues entstehen. Man muss wohl nachschauen gehen. Vielleicht hat ja dann schon der Biostand eröffnet, von dem in der Oper ein arbeitsloser Anwohner träumt. Auch das wäre dann ein Heim spiel. Eines von einer anderen Art.

Michaela Schlagenwerth , Theaterwissenschaftlerin, lebt als freie Journalistin in Berlin.

Eine Übersicht über alle Heimspiel-Projekte und Informationen über Förder möglichkeiten finden sie unter www.kulturstiftung-bund.de/heimspiel [Nächster Antragsschluss ist der 31.3.2010]

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meldungen

netzwerk neue musik als kooperati onspartner beim fernsehforum 2010 Das auf vier Jahre angelegte Förderprojekt hat fast die Hälfte seiner Laufzeit zurückgelegt. In über 800 Veranstaltungen haben 15 Netzwerke mit neuen Formaten experimentiert, Veranstal tungsreihen und Festivals initiiert und mit in novativen Vermittlungsprojekten zur kulturellen Bildung im Bereich Neuer Musik beigetra gen. Das Berliner Büro des Netzwerk Neue Mu sik, das die 15 Projekte organisatorisch und in haltlich begleitet, strebt eine neue Qualität der Vermittlung sowie auch der Darstellung Neuer Musik in der Öffentlichkeit an. 2010 wird das Netzwerk Neue Musik mit dem das 6 Fern sehforum für Musik in Bremen (10.– 13 3.) kooperieren. Unter dem Titel The Look of the Sound werden Regisseure, Veranstalter, Vertreter der öffentlich-rechtlichen Sender, Mu siker und Komponisten darüber diskutieren, wo die Schnittmengen der Gegenwartskultur Neue Musik und des Massenmediums Fernsehen lie gen können, wie die neuen Klänge zu neuen Bil dern kommen und damit auch einen anderen Verbreitungsgrad erreichen können. Weitere In formation sowie den Veranstaltungskalender fin den Sie unter: www.netzwerkneuemusik.de

kinodokumentarfilm zu jedem kind ein instrument Kinder, Eltern und Lehrer sind die Hauptdarsteller in Oliver Rauchs Do kumentarfilm Jedem Kind ein Instru ment — Der Film . Seit Februar 2009 sind der Regisseur, Kameramann Boris Becker und ihr Team in Grundschulen des Ruhrgebiets unter wegs und beobachten, wie Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse die Welt der Musik für sich entdecken und erste Erfahrungen mit einem eigenen Instrument und dem gemein samen Musizieren machen. Der von SUR Films produzierte Dokumentarfilm entsteht in Zu sammenarbeit mit dem WDR und wird voraus sichtlich im Kulturhauptstadtjahr 2010 in die Kinos kommen. Gefördert wird der Film durch die Filmförderungsanstalt FFA , die Filmstiftung NRW und den Deutschen Filmförderfonds. Wei tere Informationen finden Sie unter: www.jeki-derfilm.de

jedem kind ein instrument work shops zur entwicklung von unterrichtsstandards für das spielen der baglama (türkische laute) Von Septem ber 2009 bis Juni 2010 veranstaltet die Stiftung Jedem Kind ein Instrument gemeinsam mit dem NRW KULTUR sekretariat Wuppertal und dem Landesverband der Musikschulen in NRW einen Runden Tisch für Bag˘lama-Lehrkräfte. Ziel der Veranstaltungsreihe ist es, Standards und Konzepte für den Unterricht von Jedem Kind ein Instrument , aber auch für den Bag˘lama-Unterricht zu erarbeiten. Dafür traf sich am 2. Juni 2009 erstmals eine Fachrunde von 28 Lehrkräften. Unter Moderation des Mu sikwissenschaftlers Dr. Martin Greve von der Universität Rotterdam werden sie ab Herbst in mehreren Workshops konkrete Lernkonzepte entwickeln. www.jedemkind.de

celebrating world cinema Die Kulturstif tung des Bundes und die Internationalen Film festspiele feiern 2009 den fünften Geburtstag ihres World Cinema Fund mit einer drei tägigen Filmreihe in Berlin. Seit seiner Grün dung im Jahr 2004 konnte der World Cine

kulturstiftung des bundes magazin 14

ma Fund Produktion oder Verleih von 63 Fil men aus insgesamt 29 Ländern fördern. Heraus ragende Festivalpreise wie zuletzt der Gol dene Bär für den Spielfilm The Milk of Sorrow (Claudia Llosa, Peru) beweisen den hohen künstlerischen Rang der vom World Cinema Fund geförderten Filme. Die dreitä gige Filmreihe zum fünften Jahrestag der Initia tive zeigt herausragende Werke des World Cine ma. Zu sehen sind Filme u.a. aus Uruguay, Ar gentinien und Israel, die großes Kino bieten, aber nur selten in deutschen Kinos zu sehen sind. Die Filmreihe wird im Kino in den Hacke schen Höfen in Berlin gezeigt von Mittwoch bis Samstag, 4.– 7. November 2009. Weitere Infor mationen zum World Cinema Fund unter: www.berlinale.de

auszeichnung für thomas heises do kumentarfilm material Der von der Kul turstiftung des Bundes geförderte Dokumen tarfilm Material von Thomas Heise ist mit dem Grand Prix de la Compétition In ternationale 2009 des Internationalen Dokumentarfilmfestivals Marseille FID ausge zeichnet worden. Mit Material präsentiert der 1955 in Ost-Berlin geborene Thomas Heise seine persönliche Wahrnehmung deutscher Ge schichte vor dem Hintergrund seiner Lebenser fahrungen in der DDR . Unveröffentlichtes Bildund Tonmaterial, das Heise im Laufe der letzten dreißig Jahre im Zuge seiner künstlerischen Ar beit gesammelt hat, montiert er zu einem Film, der ein eigenwilliges historisches Panorama ab seits offizieller Geschichtsbilder entwirft. Ma terial wurde zu vielen europäischen Festivals eingeladen, darunter nach Wien zur Vienna le und zum Festival dei Populi in Flo renz, wo im November 2009 auch eine HeiseRetrospektive zu sehen sein wird. Sendetermin auf ARTE ist der 8 11 2009 um 23 40 Uhr. www.heise-film.de

filmreihe winter adé. filmische vorboten der wende wegen großer nachfra ge verlängert Wegen anhaltender Nachfra ge verlängert die Kulturstiftung des Bundes die gemeinsam mit der Stiftung Deutsche Kinema thek zum Gedenkjahr 2009 veranstaltete Tour nee der Filmreihe Winter adé Filmische Vorboten der Wende bis Ende 2010. Seit dem Auftakt der Reihe im Februar 2009 wurden die Filmprogramme bundesweit bereits in über 24 Städten gezeigt. Die Reihe umfasst fünf zehn abendfüllende Programme mit deutschen und osteuropäischen Filmen, in denen sich die Ahnung des bevorstehenden, tief greifenden Wandels bereits abzeichnet. Die Auswahl an Spiel-, Dokumentar-, Animations-, Kurz- und Experimentalfilmen bezieht große Namen der Filmgeschichte ebenso ein wie Arbeiten weni ger bekannter Filmemacherinnen und Filme macher. Begleitend zu Winter adé ist eine Broschüre mit Texten zu sämtlichen Filmen er schienen. Kinos und Veranstalter können die Filme bis Dezember 2010 kostenlos bei der Stif tung Deutsche Kinemathek ausleihen. Informationen für Kinos und Veranstalter sowie Auf führungstermine unter: www.deutsche-kinemathek.de

die geschichte der videokunst teil zwei von 40jahrevideokunst.de Nach erfolgreicher Eröffnung im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie im Sommer

2009 geht die Ausstellung RECORD > AGAIN ! — 40jahrevideokunst.de auf Tournee durch Ausstellungshäuser in Aachen, Dresden und Oldenburg. Das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Projekt wurde wie seine Vorgän gerinitiative durch das Labor für antiquierte Vi deosysteme am ZKM realisiert. Dort existiert ein funktionierender historischer Gerätepark, mit dessen Hilfe über 50 Videoformate der 1960erbis 1980er-Jahre restauriert, hochwertig digitalisiert und für die Nachwelt erhalten werden konnten. Gezeigt werden Arbeiten von Joseph Beuys, Wolfgang Stoerchle, Dieter Roth, der Gruppe Telewissen, Wolf Kahlen oder Michael Morgner. Ausstellungen: Ludwig Forum für Internationale Kunst Aachen, 19 9.– 15 11 2009 ; Kunsthaus Dresden Städtische Galerie für Ge genwartskunst, 29 11 2009 14 2 2010; Edith-RußHaus für Medienkunst Oldenburg, 27 2.– 25 4 2010. Der im Hatje Cantz Verlag erscheinende Katalog mit ca. 420 Seiten enthält Texte von Siegfried Zielinski, Peter Weibel, Klaus Staeck, Claus Löser, Walter Grasskamp, René Block und Christoph Blase. Eine DVD -Studienediti on, die nur von Institutionen zur nicht-öffent lichen Nutzung für Lehre und Forschung er worben werden kann, erscheint im Herbst 2009. Die internationale Vermittlung des Projekts er folgt durch das Goethe-Institut. Nähere Infor mationen unter: www.record-again.de

shortcut europe 2010 kulturelle strategien und soziale ausgrenzung europäischer kongress vom 3. – 5. juni 2010 in dortmund Ist kulturelle Teilhabe für alle möglich? Gibt es kulturelle Strategien gegen soziale Ausgrenzung? Dies sind die Haupt fragen, die der Fonds Soziokultur im Rahmen eines europäischen Kongresses im Kontext der Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010 im Ju ni 2010 in Dortmund thematisieren will. Unter stützt wird er dabei von der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturpolitischen Gesellschaft sowie weiteren Partnern. Soziokulturelle Zen tren und Akteure aus ganz Europa werden ein geladen, über Theorie und Praxis sowie die Situ ationen und Perspektiven der Soziokultur in Europa zu diskutieren, Erfahrungen auszutau schen und sich zu vernetzen. Der Fonds Sozio kultur reagiert damit auf die Initiative der EU , im Jahr 2010 Fragen der sozialen Inklusion zu thematisieren. Weitere Informationen: Kultur politische Gesellschaft e.V., Telefon +49 ( 0 ) 228 20167 35 www.kupoge.de

neuerscheinung empirische annäherung an tanz in schulen Der Tanzplan Deutschland unterstützt insgesamt acht ver schiedene Publikationen aus dem Tanzbereich mit einer Publikationsförderung. Dazu gehört auch die im August 2009 erschienene Publikation der Arbeitsgruppe Evaluation und For schung des Bundesverbandes Tanz in Schulen e.V. Die Veröffentlichung soll die zahlreichen Praxisinitiativen von Tänzern, Tanzpädagogen und Choreografen bildungstheoretisch fundie ren und kulturpolitisch verankern. Neben einer ersten bundesweiten Bestandsaufnahme zur Si tuation des Tanzes in Schulen enthält das Buch Beiträge mit einem methodologischen Schwer punkt auf der Beobachtung und Analyse von Tanz sowie Beiträge, die verschiedene Ansätze zur Evaluation und Wirkungsforschung im Tanz vorstellen. Die Veröffentlichung richtet sich an Tanzwissenschaftler, Lehrer, Tanzpäda

gogen, Choreografen und an Interessierte im sozialwissenschaftlichen und kulturpolitischen Umfeld.

Empirische Annäherungen an Tanz in Schu len : Befunde aus Evaluation und Forschung Herausgegeben von der Arbeitsgruppe Evaluation und Forschung des Bundesverbandes Tanz in Schulen e.V., Athena Verlag, 1. Auflage 2009, ISBN 978 3 89896359 6. Das Buch kostet 14,50 Euro und ist im Buchhandel erhältlich.

gute tanzplan-nachrichten aus berlin Mit dem Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz — Pilotprojekt Tanzplan Berlin wurde eine völlig neu Ausbildungsstätte für Tanz und Choreografie geschaffen, die in der vierjährigen Pilotphase bis 2010 von Tanz plan Deutschland mit über 1 Mio. Euro gefördert wird. Vertreter der Berliner Universi täten und Hochschulen, der Regierende Bürger meister von Berlin und die Senatoren für Bil dung, Wissenschaft und Forschung haben sich vor der Sommerpause über die Eckpunkte der neuen Hochschulverträge für 2010 bis 2013 ver ständigt. In den parafierten Verträgen wurde auch die Weiterführung des Hochschulüber greifenden Tanzzentrum beschlossen. 2010 können somit die Bachelor- und Masterstudiengän ge neue Student/innen aufnehmen. Mit der Si cherung dieses ambitionierten Projekts ist ein weiterer wichtiger Baustein für die Schaffung von nachhaltigen Strukturen für den Tanz in Deutschland gelegt. www.tanzplan-deutschland.de

tanzplan deutschland kulturerbe tanz Im Frühjahr 2007 haben sich auf Initiative und moderiert von Tanzplan Deutschland fünf führende Sammlungseinrichtungen im Be reich Tanz aus Berlin, Bremen, Köln und Leip zig zum Verbund Deutsche Tanzar chive (VDT ) zusammengeschlossen. Der Ver bund entwickelt Strategien, dem Tanz als Kul turerbe zu mehr Anerkennung und Würdigung auf politischer und medialer Ebene zu verhel fen. Aktuelles Vorhaben ist die Einrichtung eines Online-Portals. Damit soll der Zugang zu Quellen und Dokumenten deutschen Tanz schaffens von Mary Wigman bis William For sythe, von Dresden-Hellerau bis Essen-Werden sowie der Tanzforschung auf breiter Ebene ermöglicht werden: für Forschung und Lehre, internationale Kulturarbeit und Initiativen zur kulturellen Bildung. Eine Fortführung und Vertiefung der Aktivitäten des Verbundes sind ebenso geplant wie die Erweiterung des Ver bundes um weitere Archive, Museen und kultu relle Einrichtungen. www.tanzarchive.de

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projekte

neue projekte In der Frühjahrs sitzung 2009 erhielten auf Empfehlung der Jury 40 Projekte aller Sparten eine Förderzusage im Rahmen der antragsgebundenen Projektför derung.

Kuratoren: Karl-Siegbert Rehberg Hans-Werner Schmidt Richard Hüttel, Paul Kaiser, Dietulf Sander, Jeannette Sto schek , Constanze Treuner / Künstler/innen: Hartwig Ebers bach, Sighard Gille, Bernhard Heisig, Karl-Georg Hirsch, Wolfgang Mattheuer, Rolf Münzner, Evelyn Richter, Arno Rink , Annette Schröter, Volker Stelzmann, Günter Thiele, Werner Tübke, Elisabeth Voigt u.a. / Museum der bilden den Künste Leipzig, Eröffnung: 3 10 2009, Laufzeit: 4 10 2009 10 1 2010 www.mdbk.de

bild und raum

60 40 20 kunst in leipzig 1949 2009 Leipzig war ein Zentrum der Bildenden Kunst in der DDR . Nach der Friedlichen Revolution 1989 fand dort ein beispielloser Kunstboom statt, der die Werke der Leipziger Schule interna tional bekannt und für Sammler begehrt mach te. Die Ausstellung widmet sich der Entwick lung der Bildenden Künste in Leipzig zwischen 1949 und 2009 und geht unter anderem der Fra ge nach, wie sich die Realität des Kunststand ortes zum Mythos der Kunst aus Leipzig verhält. Ausgangspunkt ist das Jahr 1949, das Gründungsjahr der beiden deutschen Staaten. Mit der politischen Teilung etablierten sich auch im Bereich der Kunst in Ost und West unter schiedliche Auffassungen, besonders hinsicht lich des Verhältnisses von künstlerischer Frei heit und gesellschaftlicher Verantwortung. Auch die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig verstand ihre Aufgabe darin, eine »dem Volk verständliche, realistische Kunst« zu beför dern, bewahrte ihren Künstlern jedoch eine ge wisse Eigenständigkeit innerhalb des sozialisti schen Realismus. Bereits in den 1970er Jahren fanden Leipziger Künstler erste Resonanz im europäischen Ausland; sie waren vertreten auf der documenta 6 in Kassel 1977 (Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke) und auf der Biennale in Venedig 1984. Obwohl die Ereignisse des Jahres 1989 die Produktions bedingungen der Kunst abrupt veränderten, konnte sich eine Leipziger Ästhetik behaupten und weiterentwickeln, die es zu internationaler Anerkennung ungeahnten Ausmaßes brachte. Neben einer Werkschau der letzten 60 Jahre, die Arbeiten der Malerei, Grafik und Fotografie umfasst, ist die Rekonstruktion des Raumes DDR Kunst der documenta 6 geplant. Die Ausstellung beschäftigt sich darüber hinaus mit dem kommerziellen und künstlerischen Wan del der Kunstszene nach 1989, der die Entwick lung alternativer Ausstellungsorte ermöglichte und zum Beispiel ein ehemaliges Hinterhofkollektiv wie die Galerie Eigen + Art zu einem international operierenden Kunsthandel mach te. 60-40-20 versteht sich als Beitrag zur Leip ziger Kulturgeschichte anlässlich des 600 -jäh rigen Jubiläums der Universität der Stadt.

kulturstiftung des bundes magazin 1449

entre deux actes loge de comédi enne ausstellung, symposium, vorträ ge, filme, vermittlung Die Einrichtungsund Spiegelobjekte der französischen Designerin, Innenarchitektin und Künstlerin Janette Laverrière sind für die Geschichte des französischen Designs von herausragender Bedeutung: Bereits sehr früh arbeitete Laverrière mit neuar tigen Materialien, übernahm das Formenreper toire des Bauhaus und schuf daraus ihre eigene Vision der Moderne. Die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden zeigt anlässlich ihres 100 -jährigen Bestehens und dem 100. Geburtstag der 1909 ge borenen Künstlerin eine Ausstellung zum Ver hältnis von Kunst und Design. Den historischen Ausgangspunkt und das Zentrum der Ausstel lung bildet die 1947 entstandene Installation Entre deux actes der in Deutschland im mer noch wenig bekannten Grand Dame des modernen Designs. Neben Laverrières In stallation werden Rauminstallationen acht wei terer bedeutender internationaler Künstler/in nen darunter Fischli&Weiss, Franz West und Tobias Rehberger präsentiert und zum Teil eigens für diese Ausstellung rekonstruiert. Sie sollen das spannungsreiche und dynamische Verhältnis zwischen Design und Innenarchitektur in den letzten 50 Jahren nachvollziehbar machen. Ein umfangreiches Veranstaltungspro gramm mit Vorträgen und ein international be setztes Symposium begleiten die Schau ebenso wie ein Film- und ein ausführliches Vermitt lungsprogramm für Kinder.

Künstlerische Leitung: Karola Kraus / Künstler/innen: Janette Laverrière ( FR , Richard Artschwager US ) , Nairy Baghramian IR ) , Marc Camille Chaimovicz FR ) , Fischli&Weiss ( CH , Martin Kippenberger Meuser Carlo Molino ( IT Claes Oldenburg SE , Tobias Rehberger, Cosima von Bonin, Franz West ( AT , Heimo Zobernig AT u.a. / Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 24 7.– 11 10 2009 www.kunsthalle-baden-baden.de

ohne uns! kunst und alternative kultur in dresden vor und nach 1989 Oh ne uns ! widmet sich der widerständigen, an deren Kultur der DDR . Im Fokus stehen Ak teure und Werke aus Dresden bzw. mit Bezug zu dieser Stadt, die ein Zentrum der staatsfer nen Künste war. Eine Ausstellung, Vorträge und Workshops, Video- und Filmabende und Dis kussionsveranstaltungen stellen exemplarisch künstlerische Rückzugs- und Aktionsformen in den Mittelpunkt, die innerhalb des Staatssozialismus eine alternative, unangepasste Kultur entwickelten. Bekannt wurde die Dresdner Ge genkultur besonders in den 1980er Jahren durch Gruppen wie den Autoperforationsartisten (Micha Brendel, Else Gabriel, Via Lewandowsky, Rainer Görß). Sie wählten Kunstformen wie Performances, Installationen und prozesshafte Kunst, um häufig unter Einbeziehung von organischem Material oder dem Einsatz des eigenen Körpers in künstlerischer Absicht ihrer Ablehnung des DDR -Kunstbetriebs Aus druck zu verleihen. Die Geschichte nonkonfor

mer Kunst begann jedoch bereits in den Grün dungsjahren der DDR und endete auch nicht mit dem Jahr 1989, wie die Arbeiten Cornelia Schleimes in Auseinandersetzung mit ihrer eigenen MfS-Akte aus dem Jahr 1993 zeigen. Ohne uns ! präsentiert ebenfalls zeitgenös sische Werke jüngerer Künstler, die auf die Al ternativkultur in der DDR Bezug nehmen oder im Rückblick auf die DDR -Zeit nach der Rolle des Künstlers im Verhältnis zu Gesellschaft und Institutionen fragen.

Kuratoren: Frank Eckhardt und Paul Kaiser / Autor/innen: Susanne Altmann, Frank Eckhardt, Eckhart Gillen, Paul Kaiser, Ralf Kerbach, Gwendolin Kremer, Rolf Lindner, Klaus Michael, Karl-Siegbert Rehberg , Cornelia Schleime, Angelika Weißbach / Künstler/innen: David Adam, Peter Bauer, Jürgen Bötcher / Strawalde, Micha Brendel, Jan Brokof, David Buob, Stefanie Busch, Lutz Dammbeck , El se Gabriel Rainer Görß Eberhard Göschel Peter Graf Angela Hampel Günter Hornig Petra Kasten Martin Krenn, Thomas Kupsch, Helge Leiberg, Via Lewandowsky, Rupprecht Matthies, Antje Schiffers, Wolfgang Smy, Florian Zeyfang u.a. / Ausstellung, Vorträge und Work shops im Zeitraum 24 9 2009 17 1 2010 ; Tagung 14.– 16 1 2010 ; Konferenz 18.– 22 11 2009 ; Symposium 12 .– 14 11 2009 / Riesa efau. Kultur Forum Dresden webseite.riesa-efau.de

thomas demand. nationalgalerie rahmenprogramm zur ausstellung Tho mas Demand (geb. 1964) ist nicht nur Fotograf, sondern versteht sich auch als Reproduzent der Medien und als Illusionist. Seine Foto grafien zeigen Schauplätze von politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen, die aus der Be richterstattung von Zeitung und Fernsehen be kannt sind. Demands Arbeiten bilden jedoch nicht die Originalschauplätze ab, son dern Modelle von ihnen, die der Künstler aus Pappe und Papier in Originalgröße nachbaut und abfotografiert. Dabei entfernt er alle Spu ren von Ereignissen, die Anlass für die Veröf fentlichung in den Medien waren, oder auch Ab bildungen von Personen. Zurück bleiben Phan tombilder von Tatorten, die uns bekannt er scheinen, aber unlokalisierbar bleiben. Die Ein zelausstellung Thomas Demand Nationalgalerie widmet sich einem thema tischen Schwerpunkt in Demands Werk: Foto grafien zur deutschen Geschichte seit 1945. Die Ausstellung versteht sich als methodische und systematische Erforschung unseres Deutsch landbildes an Hand von Schlüsselbildern der vergangenen sechzig Jahre. Dieses geschichtliche Panorama liefert Material für ein umfang reiches Rahmenprogramm, das die Kulturstif tung des Bundes im Zusammenhang der Aus stellung fördert: Zur Veranstaltungsreihe How german is it? werden Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Forschung und Medien eingeladen, darunter Peter Esterházy, Hans-Jür gen Syberberg, Jacques Rancière, Rem Koolhaas und Daniel Kehlmann. Sie beleuchten ausgehend von den Werken Demands in Vor trägen, Podiumsdiskussionen und Lesungen die gesellschaftliche Entwicklung in der BRD Künstlerische Leitung: Udo Kittelmann / Künstler: Thomas Demand / Neue Nationalgalerie Berlin, 18 9 2009 17 1 2010 / Stiftung Preußischer Kulturbesitz www.hv.spk-berlin.de

kunst für millionen 100 skulpturen der mao-zeit Zeitgleich mit der Frankfurter Buch messe, die 2009 den Länderschwerpunkt China hat, zeigt die Schirn Kunsthalle ein einzigar tiges Kunstwerk aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution: den Hof der Pacht

einnahme (Shouzuyuan). Die monumen tale Skulpturengruppe aus hundert lebensgroßen Figuren stellt Szenen aus dem Leben der chinesischen Landbevölkerung dar, ihrer Un terdrückung und Ausbeutung während der vor kommunistischen Zeit. Die Skulpturen entstan den 1965 an der Kunstakademie in Sichuan und waren zunächst als ortsspezifische Installation für den ehemaligen Wohnsitz eines Feudalherrn (Liu Wencai, 1881 1949 ) gedacht. Unmittelbar nach Fertigstellung erklärte die chinesische Re gierung die Skulpturengruppe zum nationalen Modellkunstwerk und ließ zahlreiche Kopien und Varianten anfertigen, die in- und außerhalb Chinas und im kommunistischen Ausland prä sentiert wurden. Als Ikone des kollektiven chi nesischen Gedächtnisses avancierte die Skulp turengruppe zu einem der wichtigsten Werke der modernen chinesischen Kunst. Auch außer halb Chinas wurde sie zum Vorbild für die revo lutionäre Kunstproduktion. Heute existiert von diesem wichtigen Werk aus der Mao-Zeit nur noch ein mobiles Ensemble, das in der Frankfurter Ausstellung erstmals in Europa zu sehen ist. Shouzuyuan ist nicht nur zen tral für das Verständnis der chinesischen Kultur des 20. Jahrhunderts, sondern auch für die chi nesische Kunst der Gegenwart: So zeigte der Künstler Cai Guo-Qiang 1999 auf der Biennale in Venedig die Arbeit Rent Collection Courtyard mit Bezug auf Shouzuyuan , die eine Debatte um die Position des Künstlers und die Freiheit der Kunst im heutigen China auslöste. In die geplante Dokumentation zu Ent stehung und Rezeption der Werkgruppe soll da her die Reflexion des Werkes durch zeitgenös sische chinesische Künstler einbezogen werden. Geplant sind zudem ein museumspädagogisches Begleitheft für Schüler und ein Rahmen programm mit Vorträgen, Diskussionen und Filmvorführungen.

Kurator/innen: Esther Schlicht in Kooperation mit Feng Bin ( CA / Künstler/innen: Arbeitsgruppe unter Anleitung von Lehrern und Absolventen der Sichuan Kunstakademie im chinesischen Chongqing / Schirn Kunsthalle Frankfurt (Main), 24 9 2009 3 1 2010 www.schirn-kunsthalle.de

polonia im kz die verfolgung der pol nischen minderheit in deutschland 1939 bis 1945 in den konzentrations lagern sachsenhausen und ravensbrück Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 verschärfte das NS -Re gime auch die Verfolgung der organisierten pol nischen Minderheit in Deutschland. Als Staats feinde und potentielle Freischärler gebrand markt gehörten die Funktionäre und Aktivisten polnischer Organisationen wie dem Bund der Polen im Deutschen Reich zu den ersten Opfern im Zuge des Kriegsausbruchs. Alle pol nischen Organisationen wurden verboten und enteignet. Bis zu 2 000 Aktivisten wurden von der Gestapo verhaftet und in Konzentrationsla ger deportiert, überwiegend nach Sachsenhau sen und Ravensbrück, etliche auch nach Buchen wald. Anlässlich des 70. Jahrestages des Über falls auf Polen und des Beginns des 2. Weltkriegs soll eine zweisprachige Ausstellung mit Foto grafien, Dokumenten und Erinnerungsstücken an das Schicksal dieser Inhaftierten erinnern. Nach ihrer Eröffnung in der Gedenkstätte Sach senhausen wandert die Ausstellung, die in Kooperation von deutschen und polnischen Wis senschaftlern konzipiert wird, durch mehrere polnische und deutsche Städte. Das Leid der

polnischen Minderheit im Deutschen Reich ist bis heute in Deutschland, aber auch in Polen kaum bekannt. Erkenntnisse über die Verfol gung der polnischen Minderheitenfunktionäre gehören noch zu den Desideraten der historischen Forschung über die Konzentrationslager. Insofern betritt die geplante Ausstellung Neu land und kann einen Anstoß zu weitergehenden deutsch-polnischen Forschungsarbeiten liefern, darüber hinaus aber auch für die Geschichte der Polen in Deutschland ein neues Bewusstsein schaffen.

Kurator: Sebastian Nagel / Oranienburg, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, 15 9 2009 28 2 2010 ; weitere Orte sind: Haus der Polonia Bochum, Topographie des Terrors Berlin, Schloss Posen, Universität Grünberg, Museum des Oppelner Landes, Rathaus Breslau, Schloss Stettin / Stif tung Brandenburgische Gedenkstätten www.stiftung-bg.de

wo ist der wind, wenn er nicht weht? politische bildergeschichten Mit der Er findung des Buchdrucks, der die massenhafte Verbreitung von Texten und Bildern ermöglich te, entwickelte sich die Bildergeschichte schnell als eigenständige Kunstform, die sich weltlichen Themen zuwandte und eine große Popularität erlangte. Bebilderte politische Flugblätter leiste ten einer Demokratisierung des Wissens Vorschub. Spätestens seit dem Aufstieg der Ta geszeitung zum Massenmedium sprachen sie, etwa in Form der Deutschen Bilderbögen, die gesamte Bevölkerung an. Die Ausstellung des Hamburger Kunstvereins versammelt erstmals Bildergeschichten aus mehreren Jahrhunderten aus Europa, Japan, den USA und dem Iran. Für den Kurator Florian Waldvogel bildeten dezi diert politische Themen das Auswahlkriterium. Die Schau will auch zeigen, unter welchen Be dingungen die Bildergeschichten produziert und rezipiert wurden. Ihre gesellschaftspoli tische Funktion soll durch narrative und päda gogische Aspekte erklärt werden, die sich dem Betrachter unabhängig von seinem kunstge schichtlichen Vorwissen erschließen. Dieser de mokratische Gestus soll sich auch in der Szeno grafie der Ausstellung widerspiegeln, bei der die Vermittlung des künstlerischen Mediums Bildergeschichte im Vordergrund steht: Eine Begleitpublikation nach Art eines Bilderbo gens gestaltet , Vortragsreihen und Diskussi onen, Seminare und Workshops sollen ein breites Publikum ansprechen. Kurator: Florian Waldvogel / Künstlerische Mitarbeit: Michael Asher ( US ) , Scott McCloud ( US ) , Christoph Steinegger AT ) / Künstler/innen: Albrecht Dürer / Art Spiegelman US , Rube Goldberg ( US ) / Vernon Green US ) Hokusai ( J / Golo (Guy Nadeau) F ) Francisco de Goya E / Jake und Dinos Chapman GB , Hans Holbein / Martin Arnold A , Jörg Immen dorff / Jules Feiffer ( US ) , Henry Moore ( GB / Joe Sacco ( US ) , Richard Felton Outcault US / Raymond Pettibon US , Al fred Rethel / Grayson Perry ( GB ) , Thomas Rowlandson ( GB / Marjane Satrapi IR ) u.a. / Kunstverein Hamburg, 12 12 2009 14 3 2010 / Kunstverein Hamburg www.kunstverein.de

eating the universe vom essen in der kunst Eat Art Kunst mit und aus essbaren Materialien hat als Stilrichtung der Bilden den Kunst ihren Ursprung in Düsseldorf. Dort eröffnete im Jahr 1970 der schweizerische Objektkünstler rumänischer Herkunft Daniel Spoerri die Eat Art Galerie. Mit dem Konzept einer essbaren Kunst beabsichtigte Spoerri eine radikale Rückbesinnung der Kunst auf die Le benspraxis: Das Essen, die Nahrungsaufnahme, gehöre ganz wesentlich zu ihr. Im Gegenzug

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erweiterte Spoerri durch die Verwendung von Lebensmitteln den Kunstbegriff auf spektaku läre Weise. Der Künstler verband mit vielen sei ner Werke sozialkritische Aussagen, die Über fluss und Abfallproduktion als Kehrseiten des Wohlstands der Konsumgesellschaft anprangerten. Vergänglichkeit wurde zu einem zen tralen Thema und auch zum Charakteristikum seiner Arbeiten. Die Ausstellung widmet sich den Anfängen und der Weiterentwicklung der Eat Art. Mit einer breit angelegten Bestandsauf nahme sucht sie Antworten auf die Frage, wie sich die Themen der Eat Art in Werken einer in ternationalen jüngeren Generation zeigen, die sich seit den 1990er Jahren wieder verstärkt der künstlerischen Arbeit mit Essbarem zuwendet in Bildern, Skulpturen und Installationen ebenso wie in Performances und Aktionen. Die ser Dialog zwischen älteren und neuen Arbeiten soll, vor dem Hintergrund aktueller gesell schaftlicher Entwicklungen, die Themen der Eat Art erneut aufgreifen und diskutieren. Re nate Buschmann, die in Zusammenarbeit mit Daniel Spoerri die Schau kuratiert, bezieht sich in der Ausstellung auf die gesellschaftliche Ak tualität des Themas Essen von der Identi tätsstiftung durch (veränderte) Essgewohnheiten über moderne diätische Ernährungslehren und Koch-Shows bis hin zu Konsum- und Glo balisierungskritik im Zusammenhang mit der modernen Nahrungsmittelproduktion.

Kuratorin: Magdalena Holzhey / Kuratorische Mitarbeit: Renate Buschmann / Künstler/innen: Sonja Alhäuser, BBB Johannes Deimling, Joseph Beuys, Christine Bernhard, Michel Blazy F ) , John Bock , Paul McCarthy US ) , Arpad Dobriban H , Anya Gallacio GB ) , Carsten Höller, Christian Jankowski, Elke Krystufek ( A ) , Peter Kubelka ( A ) , Gordon Matta-Clark ( US Tony Morgan GB L.A.Raeven ( NL ) Thomas Rentmeister, Zeger Reyers NL , Dieter Roth, Mika Rottenberg US ) , Shimabuku ( JP ) , Daniel Spoerri CH ) , Jana Sterbak ( CN/CZ ) , Andreas Wegner u.a. / Kunsthalle Düsseldorf, 28 11 2009 28 2 2010 ; Galerie im Taxispalais, Innsbruck, 16 4.– 30 6 2010 ; Kunstmuseum Stuttgart, September 2010 –Januar 2011 www.kunsthalle-duesseldorf.de

die zukunft der tradition die tradi tion der zukunft 100 jahre nach der ausstellung »meisterwerke muham medanischer kunst« in münchen Die Münchner Ausstellung Meisterwerke mu hammedanischer Kunst zeigte im Jahr 1910 ein breites Spektrum visueller Kultur der arabisch-islamischen Welt. Mit ihrer damals bahnbrechenden Präsentation, die das einzelne Objekt in seinem kunsthistorischen Kontext erläuterte, setzte sie einen neuen Maßstab für die Rezeption und Erforschung arabisch-isla mischer Kunst in der westlichen Welt. Im Jahr 2010 nun, hundert Jahre später, veranstalten etli che Münchner Institutionen unter dem gemein samen Titel Changing Views verschiedene Ausstellungen anlässlich dieses Jubiläums, von denen die Kulturstiftung des Bundes die Präsentation im Haus der Kunst fördert. Das Haus der Kunst zeigt eine Auswahl berühmter Ob jekte der damaligen Schau und weist auf Paral lelen zu Werken von Wegbereitern der westli chen Moderne hin, die aus dieser eindrucksvol len Ausstellung Anregungen für ihre Arbeit be zogen. Zudem wurden zeitgenössische Künstler aus dem islamischen Kulturkreis vom Haus der Kunst eingeladen, diese Auswahl mit aktuellen Arbeiten aus den Bereichen Malerei, Skulptur und Zeichnung, Architektur, Film und Fotogra fie zu kommentieren und zu diskutieren. Die

Kuratoren erhoffen sich davon einen ähnlich starken Impuls für eine offene Auseinanderset zung mit zeitgenössischer arabisch-islamischer Kunst, wie er von der damaligen Ausstellung ausging.

Kuratoren: Chris Dercon, León Krempel und Avinoam Shalem / Künstler/innen: Abdel-Halim Ibrahim Abdel-Halim ( EG ) , Akram Zaatari ( LB , Arab Image Foundation LB ) , Bas sam el Baroni ( EG , Bidoun ( US ) , Buthina Canaan Khoury ( PS , Dar Onboz ( LB Doa Aly EG Hassan Fathy ( EG Ibrahim El Salahi ( SD , Jalal Toufic LB ) , Khatt Foundation ( AE ) , Nasreen Mohamedi IN ) , Wafa Hourani ( PS u.a. / Haus der Kunst München, 17 9 2010 9 1 2011 www.hausderkunst.de

absalon Der israelische Künstler Absalon, 1993 im Alter von nur 28 Jahren verstorben, schuf in wenigen Lebensjahren ein Werk von außeror dentlicher Komplexität und ungewöhnlicher Geschlossenheit, das das KW Institute for Com temporary Art erstmals in einer umfassenden Einzelausstellung zeigt. Absalons Arbeiten er schließen Räume auf eine systematische Art durch unkonventionelle Einteilungen und Aus wahl- und Ordnungsprinzipien, die tradierte Nutzungs- und Funktionskonzepte in Frage stellen: »Nichts verpflichtet uns, dass ein Stuhl einem Stuhl ähnelt…« (Absalon). Über Fach kreise hinaus bekannt wurde Absalon durch sei ne Werkgruppe der Cellules , entstanden ab 1992 . Die Zellen ähneln architektonischen Modellen bzw. Prototypen für Wohneinheiten, die auf den Grundformen Kreis, Quadrat und Rechteck basieren, zwischen vier und acht Qua dratmetern groß sind und auf kleinstem Raum alles Lebens- und Wohnnotwendige enthalten: Küche, Bad, Schlafgelegenheit, spartanisches Mobiliar, gefertigt aus Holz und Gipskarton, al les strahlend weiß gestrichen. Die Formenspra che erinnert an die architektonische Moderne, das Bauhaus, de Stijl oder die Architekturen von Le Corbusier. Ihre Konzentration auf das Aller notwendigste, die asketische Gestaltung und funktionale Auslegung mit den glatten Oberflächen und weißen Wänden bieten den Be wohnern jedoch keinerlei Ablenkung oder Zerstreuung, sondern zwingen zu einer gestei gerten Selbst-Wahrnehmung. Absalon bezeich nete seine Zellen daher auch als »Spiegel meines Inneren« und als mentale Räume. Er plante, die sechs fertiggestellten Miniaturwohnungen in sechs Städten der Welt aufstellen zu lassen. Ob wohl die Werke Absalons nicht als Entwurf ei ner sozialen Utopie gedacht waren, überraschen sie heute durch ihre vorausschauende Qualität, kann man sie doch als zeitkritischen künstleri schen Kommentar zur globalen Mobilität und dem Verhältnis von Intimität, Öffentlichkeit und Identität begreifen.

Kuratorin: Susanne Pfeffer / Künstler: Absalon ( IL / KW Ins titute for Contemporary Art, Berlin, 25 9.– 5 12 2010 www.kw-berlin.de

al halqa die kreise der letzten maghrebinischen geschichtenerzähler eine kinetische raumskulptur Der Djemaa El Fna ist in Marrakesch Schauplatz täglich neuer Darbietungen von Schaustellern und Gauklern, die den Markt mit Tanz, Gesang, Geschichten, Akrobatik, Zauberei und Wahrsagerei erfüllen. In Kreisen, den sog. Hal qas, steht das Publikum um die Performer und Geschichtenerzähler herum und lässt sich de ren Wissen und Können vorführen. Seit 2001 wird der Platz zu den UNESCO -Meisterwerken des mündlichen und immateriellen Erbes der

Menschheit gezählt. Die begehbare interaktive Raumskulptur von Thomas Ladenburger und Hannes Nehls versucht, diesen einzigartigen Ort mit Hilfe von Projektionen, Licht, Film und Akustik nachzuempfinden. Die weltweit verbreitete orale Erzähltradition wird in Mittel europa kaum noch gepflegt, erreichte aber wo möglich auch niemals die performative Leben digkeit, die jener Ort bis heute ausstrahlt. Die Installation wird in Berlin und Paris gezeigt. Künstlerische Leitung: Thomas Ladenburger, Hannes Nehls / Mitwirkende: Elfi Mikesch AT ) , Mohamed Hassan El-Joundi ( MA , Mathew Karau US ) / Haus der Kulturen der Welt, Ber lin, Februar–März 2011 ; Institut du Monde Arabe, Paris, September 2011 / Thomas Ladenburger Filmproduktion www.alhalqa.com

die andere leipziger schule foto grafie in der ddr Wie sich der fotografische Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR jenseits der offiziellen propagandisti schen Bildwelt gestaltete, zeigen die Arbeiten ehemaliger Lehrender und Studierender der Hochschule für Grafik und Buchkunst ( HGB ) in Leipzig. Die einzige Ausbildungsstätte für Diplomfotografie in der DDR knüpfte an die so zialdokumentarische Tradition des 19. und 20 Jahrhunderts an und widmete sich speziell Fo tografien der Arbeitswelt und des Alltags. Foto grafen wie Arno Fischer, Evelyn Richter, Wolf gang G. Schröter oder Helfried Strauß begrün deten mit ihren veristischen und häufig melan cholischen Bildern eine eigene Leipziger Schule neben der bekannten Leipziger Schule der Malerei , die mit einer sehr subjek tiven Formensprache ein anderes Bild des realen Sozialismus zeichnete, als es das offizielle Selbstbild vorsah. An den fotografischen Arbei ten lässt sich ex negativo ablesen, wie wenig der von der SED propagierte sozialistische Realis mus die realen Verhältnisse abzubilden ver mochte. Die Ausstellung in der Kunsthalle Er furt liefert einen wichtigen fotokünstlerischen Beitrag zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der DDR , füllt darüber hinaus kurz vor Ende des Gedenkjahres 2009 auch eine der verbliebenen Lücken in der Aufarbeitung kritischer kunstgeschichtlicher Positionen des anderen Deutschland.

Kurator: Kai Uwe Schierz / Künstler/innen: Arno Fischer, Evelyn Richter, Wolfgang G. Schröter, Helfried Strauß, Ti na Bara, Klaus Elle, Matthias Hoch, Ute Mahler, Werner Mahler, Jens Rötzsch, Erasmus Schröter, Gundula Schulze el Dowy, Thomas Steinert u.a. / Kunsthalle Erfurt, 6 12 2009 31 1 2010 www.kunsthalle-erfurt.de

lawrence von arabien die genese eines mythos Thomas Edward Lawrence er warb sich historische Verdienste als Schlüsselfi gur im arabischen Aufstand gegen das Osma nische Reich. Zum Mythos wurde seine Person durch den Film Lawrence von Arabien von David Lean aus dem Jahre 1962. Zwischen diesen beiden Polen hier die historische Fi gur, dort die Filmlegende behauptet sich der faszinierende Mythos eines modernen Helden, der tragisch an seinen eigenen Ansprüchen und Versprechungen, der Unabhängigkeit der Ara ber von den Kolonialmächten, scheiterte. An hand von zwei Materialgruppen die von Law rence selbst auf seinen Reisen gemachten Fotos sowie die künstlerischen Arbeiten, die er für sei nen autobiografischen Weltbestseller Die sie ben Säulen der Weisheit (1926 ) fertigen ließ wird die Ausstellung unter der künstleri

schen Leitung von Detlef Hoffmann ein facet tenreiches Bild des Lawrence von Arabien zei gen: als Ausnahmefigur der Zeitgeschichte und als idealisierte Person eines medial vermittelten modernen Heldenmythos von aktuellem Sel tenheitswert.

Projektleitung: Mamoun Fasan / Kurator: Detlef Hoffmann / Künstlerische Beratung: Rainer Wittenborn / Landesmuse um für Natur und Mensch, Oldenburg, Oktober 2010 Februar 2011 ; Rautenstrauch-Jost-Museum, Köln, April–August 2011 www.naturundmensch.de

rip it up and start again Die Ausstellung ist der dritte Teil einer Trilogie, mit der der Kunst verein München Ausgrenzungsmechanismen des Kunstmarktes ins Zentrum des Interesses rückt. Hatten die vorhergehenden Ausstellun gen der Trilogie Queer-Identity-Politics und die britische Post-Punk-Ära fokussiert, konzentriert sich die Schau nun auf fünf New Yorker Künst ler, die, vom Kunstmarkt weitgehend ignoriert, einem größeren Publikum bislang weitgehend unbekannt blieben: William S. Burroughs, Charles Henri Ford, Ray Johnson, Arthur Russel so wie Philippe Thomas fanden im kunstgeschicht lichen Diskurs nur wenig Beachtung, obwohl sie ein umfangreiches künstlerisches Werk schu fen. Als Außenseiter des Kunstmarktes genos sen sie in New York fallweise sogar Kultstatus. Heute gelten diese Künstler als wichtige Wegbereiter der zeitgenössischen Visual Cultural Studies. Anhand einer Auswahl ihrer Arbeiten möchte der Kurator Stefan Kalmár exempla risch die Dialektik zwischen Subkultur und Kunstbetrieb darstellen, indem er in der Aus stellung den Einfluss dieser Außenseiterpositi onen auf internationale, zeitgenössische Ent wicklungen nachzeichnet. Zum anderen sollen die Mechanismen eines Betriebssystems Kunst analysiert werden, die über Erfolg und Misserfolg von Künstlern entscheiden. Die um ein Filmprogramm und öffentliche Vorträge er gänzte Schau soll den fünf New Yorker Künst lern hierzulande eine breitere Öffentlichkeit er schließen. Von München aus geht die Ausstel lung nach New York ins Artists Space. Künstlerische Leitung: Stefan Kalmár / Künstler/innen: Ar thur Russel, Ray Johnson, Charles Henri Ford, Philippe Thomas, William S. Burroughs, AA Bronson (General Idea) , James Thomas, John Giorno ( alle US ) , Christopher Müller / Kunstverein München, 10 10.– 29 12 2009 ; Artists Space New York, 10 4.– 16 5 2010 www.kunstverein-muenchen.de

don’t cry for me argentina künstleri sche positionen von 1960 bis heute Für die argentinische Szene der Gegenwart ist die Kunst der 1960er und 1970er Jahre ein wich tiger Bezugspunkt. In jener Zeit, die von der in ternationalen 68er-Bewegung geprägt war und vor allem von den massiven Repressionen durch die Militärdiktatur, entwickelte sich die argenti nische Kunst zu einem wichtigen Medium der Gesellschaftskritik und der politischen Stellung nahme. Die Ausstellung in Berlin zeigt heraus ragende künstlerische Positionen aus Argenti nien von den späten 1960er Jahren bis heute und verfolgt die Entwicklung gesellschaftspolitisch engagierter Arbeiten. Damit soll zum einen die Diskussion über das politische und gesell schaftskritische Potenzial künstlerischer Pro duktion fortgeführt und aktualisiert werden. Zum anderen lassen sich von heute aus Paral lelen zwischen europäischen Entwicklungen und denen auf dem lateinamerikanischen Kon

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tinent deutlicher erkennen. Die Kunst der 1960er und 1970er Jahre spielt in beiden Weltgegenden eine immer größere Rolle für die Positionsbestimmung des gegenwärtigen Kunst schaffens. Zweihundert Jahre nach der argenti nischen Unabhängigkeitserklärung lenkt die Schau, begleitet von einer umfangreichen drei sprachigen Publikation, den Blick der Europäer auf historische Parallelen zum künstlerischen Schaffen in einem Land, das zeitweilig aus ih rem Blickfeld zu geraten drohte.

Künstlerische Leitung: Udo Kittelmann, Heike van den Va lentyn, Cristina Sommer ( AR ) / Künstler/innen: Oscar Bony, Marcelo Brodsky, Nicola Costantino, León Ferrari, Lucio Fontana, Gabriela Golder, Norberto Goméz, Víktor Grip po, Alberto Heredia, Guillermo Kuitca, Jorge Macchi, Fa bián Marcaccio, Charly Nijensohn, Cristina Piffer, Juan Carlos Romero, Graciela Sacco ( alle AR ) / Hamburger Bahn hof, Museum für Gegenwart, Berlin, 10 9 2010 9 1 2011 / Stiftung Preußischer Kulturbesitz www.hamburgerbahnhof.de

das potosí-prinzip ausstellung, konferenz, vermittlungsprogramm, publikation Nicht nur Rohstoffe, sondern auch Bil der, materielle wie ideelle, wurden vom koloni alen Lateinamerika nach Europa transportiert. Zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeitsbewe gungen in Lateinamerika widmet sich das Haus der Kulturen der Welt zusammen mit Partnern in Spanien und Bolivien einem speziellen As pekt der Kolonialgeschichte: dem Zusammen hang von Handels- und Imagetransfers, von Wirtschafts- und Denkstrukturen zwischen La teinamerika und Europa. Das Projekt unter Lei tung von Andreas Siekmann, Alice Creischer sowie Max Hinderer (Santa Cruz / Berlin) und Silvia Rivera Cusicanqui (La Paz) untersucht, wie wirtschaftliche und bildpolitische Zusam menhänge seit dem 16. Jahrhundert bis heute die Weltordnung und damit auch unsere Wahr nehmung der Welt prägen. Anhand der Ge schichte der andinen Kolonialmalerei und zeit genössischen Werken, die Bezug nehmen auf den visuellen Transfer der Kolonialgeschichte, will die Ausstellung die systematische Ausbeu tung des Vizekönigreichs Peru, das einen Groß teil des südamerikanischen Kontinents umfass te, aufzeigen. Der Titel des Projektes verweist auf die Stadt Potosí im bolivianischen Hoch land, eine der legendären Silberstädte aus der Kolonialzeit, die jahrhundertelang ein Syno nym für Reichtum war. Noch heute ist der Aus druck »vale un Potosí« das ist ein Vermögen wert im Spanischen geläufig. Aus Sicht der Kuratoren ist das Potosí-Prinzip nicht auf Hispanoamerika beschränkt, sondern auf ande re geografische Räume und Zeiten übertragbar. Ein internationales Expertenteam beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen kapitalistischer Weltordnung und Bildproduktion und seinen Auswirkungen auf unser Weltbild. Die Untersuchungsergebnisse fließen in die Aus stellung und eine internationale wissenschaft liche Konferenz ein; zusätzlich ist ein Vermitt lungsprogramm geplant. Kooperationspartner und weitere Ausstellungsorte sind das Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, das Museo Nacional de Bellas Artes und das Museo Nacional de Etnografía y Folclore, beide La Paz (Bolivien).

Künstlerische Leitung: Andreas Siekmann / Künstler/innen: Alice Creischer, Max Hinderer ( AT , Silvia Rivera Cusican qui, Sonia Abían AR , Lotte Arndt, Isabel Carrillo, Chto Delat Anthony Davies GB Mattijs de Bruijne ( NL ) Zhao

ulrike grossarth — szeroka 28 ausstellung und buchprojekt Der einzigar tige Fotozyklus des Lubliner Fotografen Stefan Kielsznia (1911 1987) bildet das Leben im jü dischen Viertel von Lublin kurz vor der deut schen Besatzung und Zerstörung ab. 1938 von der Lubliner Stadtverwaltung beauftragt, fertigte Kielsznia circa 600 Fotografien von einzelnen Häusern und ganzen Straßenzügen des Stadtteils an. Damit entstand ein einmaliges Do kument jüdischen Alltagslebens in Polen wäh rend der Vorkriegszeit. Nach aktuellem Kennt nisstand ist noch ungefähr ein Viertel der Auf nahmen in Negativen erhalten. Sie sollen syste matisch erschlossen und digitalisiert werden. Entdeckt wurde der einzigartige Bildfundus von Ulrike Grossarth, Professorin an der Hoch schule für Bildende Künste in Dresden, auf ei ner ihrer vielen Reisen durch Osteuropa. Seit vielen Jahren setzt sich die Künstlerin mit der jüdischen Geschichte auseinander und lässt ih re Erkundungen in eigene künstlerische Arbei ten einfließen. Grossarth macht die Schwarz weiß-Fotografien von Geschäften, Schriftzügen und Werbetafeln aus den 1930er Jahren zum Ausgangsmaterial für Gemälde, in denen die Fotomotive teils abstrahiert, teils farblich rekons truiert wieder auftauchen. Eine Ausstellung in Dresden und eine Präsentation in Lublin zeigen die historischen Fotografien zusammen mit den neu entstehenden Werken Grossarths. In einer umfangreichen dreisprachigen Publikati on (deutsch, englisch, polnisch) soll der Fotozyklus erstmals veröffentlicht und wissenschaft lich untersucht werden.

Künstlerische Leitung: Silke Wagler / Kurator/in: Marcin Federowicz ( PL ) , Christiane Mennicke / Künstlerin: Ulrike Gross arth / Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegen wartskunst, 11 6.– 22 9 2010 ; Buchvorstellung Os´rodek »Bra ma Grodzka-Teatr« Lublin, Polen, September 2010 / Staat liche Kunstsammlungen Dresden, Kunstfonds www.skd-dresden.de

und politischer Aktualität eingebüßt hat, auf grund des schlechten Zustandes des 16 -mmOriginals kaum noch vorgeführt werden, wes halb das Material nun digital aufbereitet und ein hochwertiges Master erstellt wird. Nach sei ner Konservierung wird der Film in digitalisier ter Fassung als Kino-Projektion wie auch als DVD - bzw. Download-Version wieder einem in ternationalen Publikum zur Verfügung stehen. Nach Berlin Alexanderplatz : Remas tered , dessen Restaurierung die Kulturstif tung des Bundes anlässlich des 25. Todestages des Regisseurs ermöglichte, nimmt sich die Rai ner Werner Fassbinder Foundation nun mit Welt am Draht eines weiteren Epoche ma chenden Fassbinder-Films an, um ihn der Nach welt langfristig zu erhalten.

Künstlerische Leitung: Michael Ballhaus / Künstler/innen: Rai ner Werner Fassbinder (Regie, Co-Autor, Drehbuch) Mi chael Ballhaus (Kamera) Daniel F. Galouye (Romanvorla ge). Mit: Klaus Löwitsch, Mascha Rabben, Karl-Heinz Vosgerau, Barbara Valentin, Gottfried John, Günter Lamprecht, Margit Carstensen, Eddie Constantine ( F , Ivan Desny ( F ) , Adrian Hoven A , Rainer Langhans / Premiere Berlin (Berlinale), 11.– 21 2 2010 ; USA -Premiere New York ( M oM a), 1.– 8 5 2010 / Rainer Werner Fassbinder Foundation

film und neue medien

welt am draht new master digitalisierung des films Rainer Werner Fassbin der verfilmte 1973 den Roman Simulacron3 , in dem Daniel F. Galouye 1964 als einer der ersten Autoren das Phänomen virtueller Reali tät beschreibt. Mit dem zweiteiligen ScienceFiction-Film Welt am Draht beschritt Fass binder neue künstlerische Wege, wobei ihn Mi chael Ballhaus in kongenialer Zusammenarbeit hinter der Kamera unterstützte. Der Film ist ein frühes Zeugnis der intensiven und erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen den beiden und zeigt bereits alle wesentlichen Merkmale, die auch ihre späteren Gemeinschaftsprojekte auszeichneten. Heute kann das Werk, das zwi schenzeitlich nur wenig an gesellschaftlicher

die frauen von ravensbrück das vi deoarchiv sicherung und nutzbar machung von interviews mit frauen aus dem konzentrationslager ravens brück Zwischen 1980 und 2008 führte Loretta Walz zahlreiche Interviews mit ehemaligen Häftlingen unter anderem aus dem Konzentra tionslager Ravensbrück und zeichnete die Ge spräche auf Video auf. Sie befragte die Überle benden dabei nicht allein nach ihren Erinne rungen an die Lager, sondern auch nach ihren Erlebnissen aus der Vor- und Nachkriegszeit. Auf diese Weise trug Walz mehr als 200 Inter views mit Häftlingen aus über 23 Ländern zu sammen. Ihre Sammlung, für die sie 2006 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wur de, ist heute mit Filmmaterial in einer Länge von etwa 7 500 Stunden auf rund 1 500 Video kassetten eine der größten ihrer Art in Deutsch land. Diese unwiederbringlichen Zeitzeugnisse sind in ihrer Substanz bedroht, da die Haltbar keit analoger Videobänder begrenzt ist. Daher soll nun ein großer Teil des Bestandes digitali siert, auf Festplatten gesichert und in eine Da tenbank eingearbeitet werden, die für die poli tische Bildungsarbeit, für wissenschaftliche Zwe cke und für eine breite Öffentlichkeit bereitge stellt werden soll. Um die Video-Interviews für eine vielfältige Nutzung einsetzen zu können, werden sie historisch-wissenschaftlich aufbereitet und in eine Präsentationsoberfläche ein gebunden, die eine umfassende Suche und den einfachen Zugang zu den filmischen Materi alien ermöglicht.

Künstlerische Leitung: Loretta Walz / Autoren: Karin Red lich, Knut Gerwers, Ulrich Rydzewski / Präsentation des Films und Online-Schaltung der Datenbank im Zeitraum 14.– 18 6 2010 / Waidak media e.V. www.waidak.de

digitalisierung des tonarchivs des li terarischen colloquiums berlin (lcb) fünf jahrzehnte deutscher literaturgeschichte online Bereits seit 1963 lädt das Li terarische Colloquium Berlin ( LCB ) Autoren zu Lesungen und Diskussionen an den Wannsee in der Absicht ein, das Zusammenwachsen von Europa durch geistigen Austausch zu fördern unter ihnen Schriftsteller von europäischem

neue projekte
Liang CHN David Riff ( RU Dimitry Vilensky RU ) u.a. / Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 26 8.– 14 11 2010 ; Konferenz 27.– 28 8 2010 / Haus der Kulturen der Welt www.hkw.de

Rang wie Günter Grass, Martin Walser, Herta Müller, Max Frisch, Felicitas Hoppe, Heiner Müller, Katja Lange-Müller, Cees Nooteboom und Marlene Streeruwitz. Alle Veranstaltungen Vorträge, Lesungen, moderierte Diskus sionen wurden auf Tonband mitgeschnitten und in der Sendereihe Studio LCB ausge strahlt. Über bald fünfzig Jahre hinweg hat sich so im LCB -Archiv ein Bestand von etwa 730 Tonträgern angesammelt, der die Rolle der In tellektuellen im Wandel der Gesellschaft spie gelt und einen Querschnitt durch ein halbes Jahrhundert deutscher Literaturgeschichte do kumentiert. Da diese Tonbänder in ihrer mate riellen Beschaffenheit vom Verfall bedroht sind, möchte das LCB diesen einzigartigen Fundus der Nachkriegsliteratur digitalisieren, redaktio nell bearbeiten und auf einer digitalen Plattform einstellen. Illustriert durch Filme und Fo tos, ergänzt um Informationen zu Autoren, be sprochenen Texten, Verlagen und Moderatoren, werden so die Veranstaltungen für ein interes siertes Publikum als zeithistorische Dokumente erschlossen. Langfristig ist für die Plattform vorgesehen, neben Veranstaltungen des LCB auch die anderer ausgewählter Literaturinstitu tionen zu präsentieren und sie für die bundes weite Archivierung von Wortveranstaltungen zu nutzen.

Künstlerische Leitung: Thorsten Dönges und Marcel Regen berg / Literarisches Colloquium Berlin, 1 6 2009 30 6 2011 / Literarisches Colloquium Berlin www.lcb.de

onsgeschichte , Tod am Kreuz ) sowie der europäischen Literaturgeschichte und ver bindet sie mit den Geschichten von Orten, in denen heute Mauern stehen oder errichtet wer den. Nach der Uraufführung in Berlin am 3 Oktober 2009 sind Aufführungen unter ande rem in Ramallah und Jerusalem geplant. Künstlerische Leitung: Hans-Christoph Rademann / Künst ler/innen: Samir Odeh-Tamimi ( IL ) , Christian Lehnert, Rias Kammerchor musikFabrik – Ensemble für Neue Musik / Konzert Philharmonie Berlin, 2 10 2010 ; Konzert Frauen kirche Dresden, 16 10 2010 ; Konzerte Jerusalem, Ramallah, Istanbul, Oktober 2010 ; Weitere Veranstaltungen in War schau, Amsterdam, Antwerpen / Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH, Berlin www.roc-berlin.de

musik und klang

hinter der mauer uraufführung an lässlich des 20. jahrestages der deut schen wiedervereinigung Der RIAS Kammerchor, 1948 als Rundfunkchor des RIAS in West-Berlin gegründet, widmet sich gezielt der Förderung der zeitgenössischen Musik, sei es durch Auftragswerke oder die Einstudierung und Uraufführung neuer Musik. Anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls hat der Chor zu einem Werk angeregt, das sich mit der jüngsten deutschen Geschichte und insbesondere dem Motiv der Mauer auseinandersetzt. Deutschland ist nicht das einzige Land mit einem Mauer schicksal. In Korea trennt eine Mauer noch heute den Süden des Landes vom Norden. In Zypern teilt eine Mauer, auch wenn sie durch lässiger wird, ebenfalls das Land. Israel erhofft sich durch die Errichtung einer Mauer die Be friedung des israelisch-palästinensischen Grenz gebiets und die USA versuchen mit einer Mauer die illegale Einwanderung aus Mexiko zu ver hindern. Mauern sind weltweit Zeichen von gewaltsamen Auseinandersetzungen und Frei heitsverlust. Für die Komposition konnte der palästinensisch-israelische Komponist Samir Odeh-Tamimi gewonnen werden. In seinen Wer ken verknüpft er europäische mit arabischen Motiven. Das Libretto verfasst der in Dresden geborene Christian Lehnert. Sein Text verwen det Motive der christlichen Religion ( Passi

kulturstiftung des bundes magazin 1452

tonlagen festival dresdner festival der zeitgenössischen musik Die Dresdner Tage der Zeitgenössischen Musik sind in den 22 Jahren ihres Bestehens zu einem inter national anerkannten und qualitativ anspruchs vollen Festival für die aktuelle Musik geworden. Bisher konzentrierte sich das Festival, das all jährlich im Herbst vom Europäischen Zentrum der Künste Hellerau veranstaltet wird, vor allem auf die ernste Musik. Ab 2009 unter neuer künstlerischer Leitung von Dieter Jaenicke soll das Festival eine deutlich andere Ausrichtung bekommen, mit der die zeitgenössische Musik durch die Einbeziehung angrenzender Genres wie Tanz, Performancekunst, Film, Theater und Literatur breitere Publikumsschichten anspre chen soll. Auch elektronische Musikexperimente, Sound-Collagen und -installationen sowie avantgardistische Rock- und Popmusikkonzerte von u.a. The Knife oder Coco Rosie wer den künftig ins Programm aufgenommen. Die Konzentration auf die europäische Musik soll zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung zeit genössischer Musiken aus Indien, China, Latein amerika und Afrika überwunden werden. Langfristig möchte das TonLagen Festival durch seine neuen Akzente nicht nur neue Pu blikumsschichten gewinnen, sondern auch die Bedingungen für umfangreichere Kooperati onsmöglichkeiten mit anderen Festivals der zeit genössischen Musik in Europa verbessern.

Künstler/innen: Saâdane Afifi FR ) , Theo Bleckmann, Dresd ner Sinfoniker, Ellery Eskelin US , Ensemble Ascolta, En semble Courage, Ensemble des European Workshop for Contemporary Music, Fabrizio Cassol, Coco Rosie, Ex Novo Ensemble ( IT , Gary Versace ( US , Heiner Goebbels, John Hollenbeck ( US ) , Hotel Pro Forma ( DK ) , Klangforum Wien ( AT , musikFabrik , The Knife ( SE ) , Tony Malaby US ) , Xa vier Le Roy ( F / Festspielhaus Hellerau, Dresden, 1.– 18 10 2009 / Europäisches Zentrum der Künste Hellerau www.hellerau.org

rithaa ein jenseitsreigen musik theater über arabische totengesänge und trauerrituale Rithaa Ein Jenseits reigen , ein musiktheatralisches Werk über arabische Totengesänge und Trauerrituale aus Ägypten, entstand in Zusammenarbeit mit der Schweizer Komponistin Mela Meierhans. Es bildet den zweiten Teil einer Jenseitstrilo gie , die sich mit den Totenritualen der drei mo notheistischen Weltreligionen beschäftigt. In der gemeinsamen Produktion der Berliner Fest spiele / MaerzMusik und dem Gare du Nord, Bahnhof für Neue Musik Basel, treffen zwei ganz unterschiedliche Musikkulturen aufein ander: die arabische Volksmusik und die zeitge nössische europäische Musik. Rithaa Ein Jenseitsreigen gliedert sich in fünf musika

lische Bilder: Tod, Aufbahrung, Totenrasten, Grab und Gedenken. Wichtige Bestandteile der Komposition sind die stark durch Sprache und Poesie geprägte arabische Musik, die Rezitati onen einer Erzählerin, die von arabischen To tenritualen berichtet, und die traditionellen To tengesänge einer Klagesängerin, der Nadabah Aus der Gegenüberstellung von Überliefertem und Gegenwärtigem entwickelt das Stück Fra gen nach der Aktualität von Traditionen und Ritualen im Umgang mit dem Tod. Künstlerische Leitung und Komposition: Mela Meierhans ( CH / Stimme/Oud: Kamilya Jubran / Uraufführung: MaerzMusik Festival Berlin, 19.– 28 3 2010 ; Bahnhof für Neue Musik, Gare du Nord, Basel, 14.– 23 10 2010 ; Markan, Egyptian Center for Culture and Art, Kairo, 1.– 7 11 2010 / Gare du Nord, Bahnhof für Neue Musik, Basel

der blaue klang 40 jahre ecm re cords konzerte, symposium, festakt und dokumentation im rahmen von enjoy jazz Das Enjoy Jazz Festival würdigt in einem speziellen Jubiläumsfestival mit Konzerten, einem Symposium und einer Dokumentation die historische Leistung der Edition for Contemporary Music ( ECM ) für die zeitgenössische Musik. ECM wur de vor 40 Jahren vom Münchner Produzenten Manfred Eicher als Tonträger-Label gegründet. Zu Beginn konzentrierte es sich auf Jazz-Veröf fentlichungen; später kam mit der ECM New Series auch die musikalische Moderne in viel fältigen Stilrichtungen hinzu. Heute zählt ECM zu einem der weltweit bedeutendsten Labels für die zeitgenössische Musik und hat Herausra gendes auf diesem Gebiet geleistet: Ohne seine Einspielungen wären zahlreiche Kompositionen der vergangen Jahrzehnte unveröffentlicht ge blieben bzw. verloren gegangen. ECM hat den Jazz und die so genannte ernste Musik glei chermaßen gestärkt, zwischen beiden Bereichen Zusammenhänge gestiftet und auf diesem Weg den europäisch-amerikanischen Musikdialog gefördert. Auffällig ist die Sorgfalt und Perfekti on der Veröffentlichungen, angefangen bei den Aufnahmen über die Covergestaltung bis zu den Begleittexten. Viele renommierte Interpre ten und Komponisten haben daher große Teile ihres Oeuvres bei ECM veröffentlicht, darunter Keith Jarrett, Jan Garbarek, Arvo Pärt und György Kurtág.

Künstlerische Leitung: Rainer Kern, Hans-Jürgen Linke, Wolfgang Sandner / Künstler: Terje Rypdahl ( N ) u.a. / Schloss Mannheim, 22 .– 25 10 2009 / Enjoy Jazz, Heidelberg www.enjoyjazz.de

beat furrer wüstenbuch ein musik theater Das Musiktheaterprojekt des Kompo nisten Beat Furrer und des Autors Händl Klaus in Zusammenarbeit mit dem Theater Basel be schäftigt sich mit Todesbildern des Alten Ägyp ten. Ausgangspunkt des Theatertextes sind altägyptische Totentexte, die der Ägyptologe und Orientalist Jan Assmann erstmals entziffert hat. Sie beziehen ihre Faszination aus der Gleichzei tigkeit von Todesritual und vitaler Lebensfeier. In der ägyptischen Mythologie ist die Wüste eine Metapher für das Fremde und gleichzeitig für den Tod. Dort, aber auch in der europä ischen Tradition (vgl. die Eiswüsten Caspar Da vid Friedrichs oder die Zivilisationswüsten ver lassener Industrieanlagen), fungiert die Wüste als Projektionsfläche für die Angst vor dem Er innerungsverlust, der Leere und dem Fremden. Neben der Vorlage von Händl Klaus werden

Texte von Angel Valente, Nazim Hikmet und Ingeborg Bachmann ins Libretto aufgenom men. Beat Furrer komponiert dazu die Musik für ein kleines Orchester mit Sing- und Sprech stimmen. Regie führt voraussichtlich Christoph Marthaler.

Komposition: Beat Furrer CH ) / Autor: Händl Klaus ( CH ) / Re gie: Christoph Marthaler ( CH / Musiker/innen: Klangforum Wien ( AT , Vokalensemble / Schauspielerinnen: Isabelle Menke und Sylvie Rohrer AT ) / Haus der Berliner Festspiele, Ber lin, 19.– 21 3 2010 / Berliner Festspiele www.maerzmusik.de

multimediale amazonas oper musiktheater, technologie, wissenschaft Der Amazonas ist das größte zusammenhän gende Waldgebiet und der größte Wasserspei cher der Erde. Die dramatische Gefährdung seiner einmaligen Artenvielfalt durch Rodung, Viehzucht, Monokulturen, Energie- und Roh stoffgewinnung und die Zerstörung der Lebens grundlage zahlreicher dort lebender indigener Völker ist der Weltöffentlichkeit zwar grund sätzlich bewusst, es mangelt jedoch an sofor tigen und langfristig wirkungsvollen Gegen maßnahmen. Geht die Entwicklung so weiter wie bisher, ist damit zu rechnen, dass der ama zonische Wald bis zum Jahr 2080 durch Aus trocknung weitgehend zerstört ist mit weitreichenden Folgen für das Klima weltweit. Der Sorge um einen unwiederbringlichen Verlust, dem »amazonischen Schmerz« (Peter Sloterdijk), Ausdruck zu verleihen, ist das Ziel dieses multimedialen Opernprojektes. Komponisten, Me dienkünstler, Wissenschaftler, Schamanen der Yanomami, einem der letzten großen indigenen Völker Südamerikas, sowie Anthropologen und Soziologen entwickeln gemeinsam ein Kon zept, das aktuelle wissenschaftliche Erkennt nisse und die indianische Kosmologie und Spi ritualität gleichermaßen einbeziehen soll. Die künstlerische Auseinandersetzung soll dazu beitragen, das Bewusstsein für die bedrohliche Entwicklung zu schärfen. Ein umfangreiches begleitendes Education-Programm richtet sich an Kinder und Jugendliche; geplant sind zudem Symposien, Ausstellungen und Publikationen. Künstl. Leitung: Peter Ruzicka / Regie: Michael Scheidl ( AT ) / Autor: Laymert Garcia dos Santos ( BR / Komposition: Tato Taborda ( BR , Klaus Schedl / Autoren: Michael Scheidl ( AT ) und Bruce Albert FR / Bildende Künstler/innen: Nora Scheidl AT ) , Leandro Lima BR ) , Gisela Motta ( BR / Reithalle München, 9.– 13 5 2010 ; Teatro San Carlos, Lissabon (Portugal), 20.–23 5 2010 ; SESC SP , São Paulo, Brasilien, 19.– 22 8 2010 ; Schouwburg, Rotterdam, Niederlande, 18.– 22 5 2010 / Kulturreferat Landeshauptstadt München www.muenchen.de/kulturreferat

musica mobile was hören wir? das musikalisierte land Das Musik- und Klangkunst-Festival Was hören wir ? Das musikalisierte Land , das alljährlich im ländlichen Raum zwischen Leipzig, Dresden und Chemnitz einen musikalischen Höhe punkt bildet, erschließt in seinen nächsten drei Ausgaben neue Aufführungsorte und -formen unter dem Motto einer jeweils anderen Fortbe wegungsart: 2009 wird die musikalisierte Stadt in einem Klangspaziergang zu Fuß er kundet, 2010 wird auf einem musikalisier ten Radweg eine Klangwanderung mit dem Fahrrad unternommen und 2011 der musika lisierte Fluss per Boot entdeckt. Die mo bile Form ist eine Herausforderung sowohl für das Publikum als auch für die beteiligten Künst ler: Die entstehenden Werke müssen sich auf ei

nen konkreten Landschaftsraum beziehen und darüber hinaus mobil rezipierbar sein. Der dra maturgische Ablauf der geplanten Konzerte, Performances und (Klang-)Installationen stellt daher eine besonders große Herausforderung dar. Kuratiert wird das Projekt von dem renom mierten Klangkünstler Erwin Stache. Künstlerische Leitung: Erwin Stache / Klangkünstler/innen: Atonor, Roswitha von den Driesch, Jens-Uwe Dyffort, Frauke Eckardt Christina Kubisch Giuliamo Modarelli ( IT , Mia Zabelka AT , Iñigo Zibikoa ES / Komponisten: Peter Ablinger AT , Wolfgang Heisig, Berlind Preinfalk ( AT , Oliver Schneller / Klangspaziergang Grimma, 12 9 2009 ; Klang wanderung per Rad Muldental-Radweg, 11 9 2010 ; Klang expedition per Boot, Mulde bei Grimma, 11 9 2011 / Denk malschmiede Höfgen www.hoefgen.de

openop! european festival of smallscale-musictheatre »Musiktheater in menschlichem Maß« nennt die Neuköllner Oper ihre Produktionen der kleinen Form, des small scale-musictheatres. In bewusster Abgrenzung zu Opern, wie sie an großen Bühnen und für Festivals produziert werden, stammt der Stoff für jene Opern aus dem Lebensalltag der kleinen Leute. Die Neuköllner Oper möchte das unter dem Namen New Op begründete internatio nale Netzwerk von small-scale-musictheatre -Pro duzenten ausbauen. Open OP ! versteht sich deshalb gleichermaßen als Publikumsfestival, Messe und Labor. Internationale Gastspiele unter anderem aus Holland, Tschechien, Bel gien und Estland zeigen aktuelle Produkti onen und sollen die gemeinsame Entwicklung neuer Projekte dieses Typs durch wechselsei tigen Erfahrungsaustausch fördern. In Arbeits treffen und bei einem Workshop im Rahmen des Festivals sollen neue Inszenierungen rund um das Thema Migration vorbereitet werden. Künstlerische Leitung: Andreas Altenhof, Bernhard Glock sin, Christian Römer / Künstler: Moritz Eggert, Franznobel ( A ) , Volker Schmidt ( A ) , Hans Platzgumer ( A ) , Sommer Ulrickson US ) , Peeter Jalakas ( EE , Jiri Adamek ( CZ ) , Susanne Marx ( NL ) , Evrim Demirel ( TUR , Joachim Brackx B , Oscar van den Boogard ( B ) , Filip Rathé ( B ) , Steven van Watermeulen ( B ) , Vicent van den Elshout ( B ) , Daniel Capelletti ( IT ) , Francis Pollet ( F ) Michaela Bartonovoa & Martin Kadelec ( CZ ) u.a. / Neuköllner Oper, Berlin, 8.– 18 4 2010

www.neukoellneroper.de

des Werks macht und er dessen Idee realisiert.

Die Ausstellung will zeigen, dass Choreografie nicht nur über das Notieren oder Dokumentie ren von Bewegungsabläufen, sondern ebenso durch skulpturale Arbeiten und Installationen erfolgen kann, wenn der Besucher beispielswei se erst durch die Streckung seines Körpers oder durch sein Gewicht oder Balanceübungen eine Installation in ihrem Potenzial verwirklicht. Solcherlei Begegnungen mit Objekten im Raum verändern gleichzeitig die Selbstwahrnehmung des Besuchers als eines lebendigen Parts des Werks und irritieren darüber hinaus seine Er wartungen an den üblicherweise Distanz ver langenden Umgang mit Kunstobjekten. Gezeigt werden Arbeiten seit den 1960er Jahren, ange fangen bei den Korridorarbeiten Bruce Naumans, die sich mit der Reduktion von Mobilität auseinandersetzen, bis hin zu Werken wie Scattered Crowd (2002 ) von William Forsythe, einem Raum mit tausenden weißen Ballons, die auf Bewegungen des Besuchers reagieren und eine sich ständig ändernde skulp turale Umgebung formen. Historische Werke bzw. deren Rekonstruktionen stehen neben neu en Arbeiten, die speziell für diese Ausstellung geschaffen werden. Ein umfangreiches Perfor manceprogramm außerhalb der Ausstellungs räume ergänzt die Ausstellung.

Künstlerische Leitung: Stephanie Rosenthal, Nicky Molloy, André Lepecki ( FR / Künstler/innen: Jerôme Bel ( FR ) , Pablo Bronstein ( UK ) , Trisha Brown ( US , Alain Buffard, Rosemary Butcher UK , Boris Charmatz ( FR , Gustovo Ciriacs, Marie Cool ( FR und Fabio Balducci ) , Vinent Dupont, William Forsythe US ) , Simone Forti ( US , Allan Kaprow US ) , Latifa Laâbissi FR , Thomas Lehmen, Marcela Levi BR ) , Kate Mcintosh ( NZ , Ohad Meromi IL ) , Mathilde Monnier ( FR , Robert Morris ( US Jennifer Nelson ( US ) Miguel Pereira AR Robin Rhode ZA ) , Xavier le Roy FR , Peter Welz, Franz West ( AT ) / Kunsthalle Hamburg, ab Mai 2010 ; im Anschluss: The Hayward, Southbank Center, London GB / The Hayward www.haywardgallery.org.uk

gruppen und als Ausgangsort für einen wechselseitigen Stipendiatenaustausch dienen. Als Standort sind Burkina Faso, Tansania oder Mo sambik im Gespräch. Der Bau selbst soll das mitteleuropäische Theater- und Opernmodell mit der traditionellen lokalen Bau- und Objekt kunst verbinden. Bereits die Entwicklungspha se ist Teil des künstlerischen Projektes, das in Gestalt einer Installation bei den Festwo chen Herrenhausen präsentiert wird. Künstlerische Leitung: Christoph Schlingensief / Beratung: Diédédo Francis Kéré ( BF ) / Festwochen Herrenhausen, 1.–30 6 2010 : Die Suche nach einem geeigneten Ort auf dem afrikanischen Kontinent ist Teil des Projektes. www.festspielhaus-afrika.com

über die spezifischen Verhältnisse in China exemplarisch hinausweisen soll. Die Auffüh rungen in Peking, Berlin und in Swansea (Großbritannien) werden durch Ausstellungen er gänzt, die Einblicke in die umfangreichen Re cherchen und die Probenarbeiten mit chine sischen Tänzer/innen vermitteln.

Inszenierung, Choreografie: Jutta Hell und Dieter Baumann / Dramaturgie: Björn Dirk Schlüter / Komposition: Yang Ze Hua ( CHN ) / Tanz, Choreografie: Tao Ye Cheng Kai Ling Xi Li, Wang Hao, Er Gao, Duan Ni ( alle CHN ) / Tao Studio Peking, 7.– 9 5 2010 ; Yunna Studio Guangzhou, 16. 18 7 2010 ; Ra dialsystem V. Berlin, 26.– 29 8 2010 ; Taliesin Arts Centre Swansea, Wales ( GB ) , 2 .– 4 9 2010

bühne und bewegung

choreographing you art & dance of the last 50 years Choreographing You ist die erste Ausstellung, die das Zusammenspiel von Kunst und Tanz unter dem Aspekt der Cho reografie, dem Erfinden und Gestalten von Be wegungsabläufen, betrachtet. Sie vereint Instal lationen von Künstlern und Choreografen, die sich nur dann in ihrer ästhetischen Qualität und Intention erfahren lassen, wenn der Besu cher bestimmte Bewegungen vollführt. Die choreographische Ausgangsidee dieser Arbei ten ist, dass sich der Besucher mit Bewegungen, zu denen das Werk auffordert, zum Bestandteil

kulturstiftung des bundes magazin 1453

planung und entwicklung festspielhaus afrika eine soziale plastik von christoph schlingensief Christoph Schlingensief plant mit der Errichtung eines Festspielhauses in Afrika eine Stätte für Kultur und Alltag auf dem afrikanischen Kontinent, die weder einem europäischen Vorbild nachei fern noch als Entwicklungshilfe verstanden wer den soll. Im Gegenteil: Der »absteigenden Zivi lisation Europas« soll der Austausch mit der »aufsteigenden schwarzen Kultur« (C. Schlingen sief) ermöglicht werden. Nach Ansicht Schlin gensiefs steckt die Oper, das Aushängeschild europäischer Hochkultur, in einer Krise der Er starrung und der sozialen Entfremdung. Im Festspielhaus Afrika soll sie, so Schlingensief, »resozialisiert« werden und wieder einen stärke ren Bezug zum Lebensalltag finden. Durch die Öffnung für die Kultur Afrikas und die Rückbesinnung auf die Potentiale der Oper das Freisetzen von Fantasie und Kreativität sowie die Reflexion sozialer Verhältnisse erhofft sich der Künstler eine Wechselwirkung: Die Afrikaner können die Oper als kreativen Motor nutzen, die Europäer sie wieder als sozialen Or ganismus begreifen. So werden in beidseitigem Transfer »aus Hilfsbedürftigen (…) Helfer, aus Missionaren Missionierte« (C. Schlingensief). Das Festspielhaus ist als Begegnungsstätte für afrikanische und deutschsprachige Künstler ge plant, die dort gemeinsam Inszenierungen erar beiten. Es soll offen sein für alle Bevölkerungs

ödipus rex internationales tanzprojekt Mit der Neuinszenierung des Opern-Ora toriums Oedipe Roi von Igor Strawinsky und Jean Cocteau betritt die Argentinierin Cons tanza Macras künstlerisches Neuland, indem sie erstmals einen Opernstoff bearbeitet. Mac ras will mit ihrer Neuproduktion dieses moder nen Klassikers, einer Oper mit sinfonischem Orchester und Chor, eine zeitgemäße Fassung mit den Mitteln des modernen Tanztheaters schaffen, dabei aber die ursprünglichen Prin zipien einer Abkehr vom Bühnenrealismus und dem Verzicht auf eine psychologisierende Deu tung beibehalten. Die Handlung der Oper lässt Macras durch acht Tänzer darstellen. Eine wei tere Abweichung gegenüber dem Original ist die Aufteilung des Zweiakters in fünf Spielsze nen. Jede Szene gleicht einem lebendigen Gemälde, so dass eine choreografierte Abfol ge von Tableaux Vivants entsteht, die von Gre gory Crewdsons fotografischem Hyperrealis mus und Jeff Walls inszenierter Fotografie in spiriert sind. Der lateinische Gesangstext aus der Fassung von Cocteau/Strawinsky, der die überzeitliche Thematik des Stoffes unterstreicht, bleibt auch in Macras’ Inszenierung erhalten. Ödipus Rex ist eine Koproduktion mit dem Europäischen Zentrum der Künste Hellerau, dem Teatro Comunale di Ferrara sowie dem Festival MESS Sarajevo. Künstlerische Leitung: Constanza Macras ( AR ) / Musikalische Leitung: Max Renne / Dramaturgie: Carmen Mehnert / Tanz: Chiharua Shiota ( JP ) / Europäisches Zentrum der Künste Hellerau, 19.– 21 11 2009 / Constanza Macras / Dorky Park, Berlin

pochende zeit, so schnell körper_china Jutta Hell und Dieter Baumann, Tänzer und Choreografen der Berliner Tanzkompanie RUBATO , interessieren sich dafür, welche Spu ren der Zwang zum Funktionieren in einer auf permanente Produktivität ausgerichteten Ge sellschaft in den menschlichen Körpern hinter lässt. In chinesischen Städten wie Shanghai, Pe king und Guangzhou, emblematische Orte des Turbokapitalismus, fanden sie ideale Bedin gungen, um für ihr Tanzprojekt zu recherchie ren. Sie besuchten Textilarbeiterinnen in Ma nufakturen und Wanderarbeiter auf Baustellen, Konsumenten in Einkaufszentren oder Reisen de auf Bahnhöfen, um Aufschluss darüber zu bekommen, wie sich Arbeit, Verausgabung und Erschöpfung physisch und psychisch auswir ken können. Dokumentarisches Material Be obachtungen, Gespräche, Interviews, Fotos, Tonband- und Videoaufzeichnungen wurde zur Grundlage einer Dramaturgie und Choreo grafie des Funktionierens, aus dem ein beunru higendes und berührendes Stück entsteht, das

festival-kolumbien theaterfestival und vorträge Die Weltöffentlichkeit verbin det derzeit mit Kolumbien überwiegend Schre ckensmeldungen: Bürgerkriege und Korrupti on, Drogenkartelle und Latifundienwirtschaft, bewaffneter Kampf von Paramilitärs und Gue rillagruppen sowie Greueltaten an der Zivilbe völkerung. Im Jahr 2010, wenn die nächsten Prä sidentschaftswahlen mit dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung des Landes zusam menfallen, wird Kolumbien mit zahlreichen öffentlichen Feierlichkeiten, aber auch mit Pro testveranstaltungen aus der Bevölkerung auf sich aufmerksam machen. Aus diesem Anlass wendet sich das Theater Hebbel am Ufer mit der Frage an kolumbianische Künstler, ob es über haupt einen Grund zum Feiern gibt: Wie geht man in Kolumbien mit der eigenen Geschichte um, die tiefe Spuren im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft hinterlassen hat? Wie themati sieren die Künstler dieses Festjahr wie ihren Alltag? Zwei Tanzkompagnien und drei Thea tergruppen sollen mit ihrer Umsetzung sozialer Themen die öffentliche Wahrnehmung um die Perspektive von Künstlern erweitern, die sich kritisch mit der gesellschaftspolitischen Realität ihres Landes auseinandersetzen und Ängste und Hoffnungen seiner Bevölkerung artikulieren. Ein Rahmenprogramm mit Arbeiten von bildenden Künstlern, mit aktuellen Filmen über die politische und soziale Situation in Ko lumbien sowie mit Vorträgen und Podiumsge sprächen ergänzt das Festival eines Landes, das trotz widriger politischer Zustände und feh lender Fördersysteme über eine äußerst vielfäl tige kulturelle Szene verfügt.

Künstlerische Leitung: Gustavo Liano ( CO , Kirsten Hehmey er / Künstler/innen: Manuel Orjuela Cortés ( CO , Rolf & Heidi Abderhalden ( CO , Tino Fernandez ( CO u.a. / Hebbel am Ufer Berlin, 19 4.– 2 5 2010 www.hebbel-am-ufer.de

choreographic captures 2009 2011 2008 wurden erstmals Choreografen, Medienund Filmkünstler aufgefordert, sich an einem internationalen Wettbewerb mit ihren Choreo graphic Captures zu beteiligen Arbeiten eines damals neuen Formats, das sich im Medium des Kurzfilms mit verschiedenen Darstellungsund Realisierungsformen von Choreografie und Kunstfilm auseinandersetzt. Fünf der ein gesendeten Clips wurden inzwischen ausge zeichnet und sind derzeit deutschlandweit in ausgewählten Kinos zu sehen. Mit Choreo graphic Captures 2009 2011 soll das als Prototyp erfolgreich entwickelte Projekt nun über einen Zeitraum von drei Jahren weiter etab liert werden. Neben der jährlichen Durchfüh rung eines professionellen Wettbewerbes wird die Website zu einem mehrsprachigen, interaktiven Portal ausgebaut, das als internationale

neue projekte

Plattform für den choreografischen Kurzfilm dient. Die Erweiterung um interaktive Möglichkeiten soll dieser Kunstform neue virtuelle Räume eröffnen und einen breiten Interessentenkreis motivieren, sich mit künstlerisch anspruchsvollen Beiträgen zu beteiligen. Der künstlerische Leiter Walter Heun möchte im Verbund mit internationalen Kulturschaffen den die Choreographic Captures in der medialen (Jugend-)Kultur verankern und ihre internatio nale Distribution gewährleisten. Um die Inter aktion von Choreografie und Medienkunst vor anzutreiben, sollen neben der Verbreitung der Filme über das Internetportal weitere digitale Vermittlungswege gefunden werden.

Künstlerische Leitung: Walter Heun / Juroren: Andreas Ströhl, Thierry de Mey ( B ) , Frédéric Mazelly ( F / Europaweite Film screenings und interaktive Onlinepräsentation, 16 6 2009 November 2011 / Joint Adventures www.jointadventures.net

unter menschenfresser leuthen post koloniale perspektiven. zeitgenössisches theater aus brasilien und deutschland Was kennzeichnet heute nach fast 500 Jahren Kolonialgeschichte das Verhältnis zwischen Europäern und Lateiname rikanern? Sind Ausbeutung und Abhängigkeit überwunden oder lebt der reiche Kontinent auf der nördlichen Halbkugel immer noch auf Kos ten des ärmeren in der südlichen Hemisphäre? Anhand dieser Leitfragen untersucht das aus vier Teilen bestehende Theaterprojekt Unter Menschenfresser Leuthen , welche Vor behalte, Komplexe und Tabus in den postkolo nialen Gesellschaften auf beiden Kontinenten fortleben. Kuratiert wird das Theaterprojekt, an dem deutsche und brasilianische Theaterma cher beteiligt sind, von dem deutschen Drama turgen Matthias Pees in Kooperation mit dem Brasilianer Ricardo Muniz Fernandes. Künstlerische Leitung: Matthias Pees / Dramaturgische Mitar beit: Ricardo Muniz Fernandes BR ) / Regie: Dimiter Gotscheff, Tilmann Köhler, Florian Loycke, Nicola Nord/ Alexander Karschnia / Autoren: Tina Rahel Völker, Alex andre del Farra BR ) u.a. / Beteiligte Künstler/innen: Das Hel mi, ancompany&Co., Centro de Pesquisa Teatral / Antunes Filho BR ) Grupo Tablado de Arruar BR u.a. / Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, Forum Freies Theater Düsseldorf, Ringlokschuppen Mühlheim/Ruhr, Ballhaus Ost Berlin, Servigo Social do Comércio de São Paulo ( BR ) , Festival Internacional de Artes Cênicas in Salvador de Ba hia, 1 7 2009 31 12 2010 / Interior Produções Artisticas In ternacionais www.prod.art.br

le bal. allemagne eine deutsch-deut sche geschichte Das Tanztheaterprojekt greift die Idee der berühmt gewordenen Thea terinszenierung Le Bal des Théâtre du Campag nol aus den 1980er Jahren auf. Die Tanzschau thematisiert die französische Gesellschaftsge schichte und wurde mit großem Erfolg von Et tore Scola verfilmt ( Le Bal , 1983). In chronolo gisch gereihten, episodenhaften Szenen begeg nen sich in einem Ballsaal Menschen, die in ihren Geschichten, ihrer Mode und der Musik, zu der sie tanzen, ihre jeweilige Generation und den Zeitgeist repräsentieren. Das fran zösische Vorbild wurde international vielfach adaptiert, in Deutschland bezeichnenderweise zweimal: Die westdeutsche Inszenierung von Jochen Schölch und die ostdeutsche von Stef fen Mensching erzählen jeweils die Geschichte ihres deutschen Staates. Mit der Neubear beitung des Stückes, die das ursprünglich aus schließlich nonverbale Tanztheater um Dialo-

kulturstiftung des bundes magazin 1454

ge erweitert, wollen nun Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaog˘lu eine gesamtdeutsche Fassung auf die Bühne bringen, die die deutsch-deutsche Nachkriegsära bis zur friedlichen Revolution thematisiert. Insbesondere vor dem Hin tergrund der Migrationsgeschichten beider deut scher Staaten wird das Stück sich mit dem Pro blem einer deutschen Identität ausein andersetzen. Ein internationaler Künstleraus tausch mit den drei Partnerspielstätten in Lon don, Tel Aviv und Istanbul soll dabei Impulse geben, die über Deutschland hinausgehen. Künstlerische Leitung: Shermin Langhoff / Regie: Nurkan Erpulat ( TR / Komposition: Enis Rotthoff / Autor /Dramaturg: Tunçay Kulaog˘lu ( TR / Bühne: Alexander Wolf / Ballhaus Naunynstraße Berlin, 1.– 30 4 2010 / Kultursprünge e.V. im Ballhaus Naunynstraße www.ballhausnaunynstrasse.de

elucidations science-fiction musik theaterstück Die ungarische Choreografin und Performancekünstlerin Eszter Salamon entwickelt zusammen mit der bildenden Künst lerin Dominique Gonzales-Foerster und einem Komponisten der elektronischen Musik ein Sci ence-Fiction-Musical. Erzählung, Musik und Choreografie werden darin nach Vorbild der al ten griechischen Theaterform choréia verknüpft, die durch absolute Gleichwertigkeit der drei Ausdrucksformen Dichtkunst, Tanz und Musik gekennzeichnet ist. Ausgangspunkt des Stückes ist die Frage, wie die Zukunft aus den Bedin gungen der Gegenwart heraus gedacht werden kann. Die Erzählung kreist um sieben fiktive landscapes, die aus Klang- und Gedankensphären sowie Charakteren gebildet werden, die ein post-biologisches Zeitalter imaginieren. Elucidations setzt diese Zukunftsvisionen jedoch nicht als in sich kohärente Plots in Szene, sondern versucht, sie mittels Klang, Licht, Stim men, Bewegung und Gerüchen assoziativ er fahrbar zu machen. Durch das Zusammenwir ken von Imagination und Empfindung soll ein theatraler und poetischer Reflexionsraum ent stehen, in dem der Zuschauer sich selbst als konstitutiven Teil der Performance erlebt.

Künstlerische Leitung: Eszter Salamon / Dramaturgie: Bojana Cvejic RS ) Gérald Kurdian FR ) Eszter Salamon H / Mit Sas¸a Asentic´ BA , Bojana Cvejic´ RS/NL ) , Gérald Kurdian FR ) , Eszter Salamon H u.a. / Musikassistenz: Gerald Kurdian FR ) / Mu sikberater: Berno Odo Polzer A / Bühne: Dominique Gon zales-Foerster ( FR ) / Kaaitheater Brüssel, Kunstfestivaldes arts, Mai 2010 ; Hebbel am Ufer Berlin, Tanz im August, August 2010 ; Weitere Aufführungen: Kampnagel Ham burg und PACT Zollverein – Choreographisches Zentrum NRW, Essen / Botschaft GbR

musictheatresamples zeitgenössisches musiktheater im zeichen des samples MusicTheatreSamples ist ei ne Reihe von vier Musiktheaterproduktionen, die sich mit der zeitgenössischen Kunststrategie des Recyclens von bestehendem Material be schäftigen: Das Stück Life and Times des Nature Theater of Oklahoma ( NYC ) basiert auf dem Mitschnitt eines mehrstündigen Telefon gespräches einer anonymen Frau, die ihr Leben chronologisch erzählt. Der Komponist Robert M. Johanson entwickelt aus dem Material eine Oper für kleine Besetzung, die sich am Tonfall, Rhythmus und Tempo der Erzählerin orientiert und ihren Sprachduktus nachempfindet. Chris tian von Borries schafft für das Stück Global Design aus Texten dreier Wirtschaftsspezialis ten ein neues Libretto für westliche Kunstmusik. Als Interpreten können sich Musiker

über Youtube bewerben; die Aufnahme der Aufführung soll wiederum auf Youtube einge stellt werden. Ausgangspunkt des Musikthea ters El Gallo des Teatro de Ciertos Habi tantes aus Mexiko-City sind die Proben für ei nen fiktiven Chorwettbewerb. Ein Zusammen schnitt der Improvisationen der Schauspieler und Musiker während der Proben bilden das fi nale Theaterstück. Barbara Weber geht schließ lich in der Hip Hop Hype History dem Ur sprung des Samplings nach, das in den 1970er Jahren im Hip-Hop entstand. Hier stehen deut sche Hip-Hop Musiker auf der Bühne, übernehmen die Rollen ihrer Vorbilder, Feinde, Ideale und stellen berühmte Battles nach. Alle vier Projekte verweisen auf eine neue Qualität zeit genössischer Kunstproduktion: bereits existie rendes Material nachzustellen, neu zu interpre tieren, mit eigenen Ideen zu verknüpfen und Kategorien wie Kreation und Kopie, Konsump tion und Produktion zunehmend zu vermi schen.

Künstlerische Leitung: Amelie Deuflhard / Mit Arbeiten von: Pavol Liska ( US ) , Kelly Copper US , Claudio Valdés Kuri MEX , Christian von Borries, Barbara Weber ( CH ) / Kampnagel Hamburg, 1 5.– 1 10 2009 / Kampnagel Internationale Kul turfabrik www.kampnagel.de

Literaturhaus Berlin, Literaturhaus Köln, Literaturhaus Rostock, Stadtbibliothek Bremen im Frühjahr 2011 ; Audio produktion, bundesweit, 1 5 2009 1 3 2011 / supposé www.suppose.de

wort und wissen

geschichten vom nullpunkt einer gesellschaft die isländersagas in freier erzählung Die Isländersagas gehören zu den Urtexten frühmittelalterlicher Literatur und sind einzigartige Kunstwerke der isländischen Kultur. Im Gegensatz zu den klassischen Sagen der nordischen Mythologie kommen jene Er zählungen ohne phantastische Elemente aus: Sie berichten von der Entstehung und Entwick lung der frühen isländischen Gesellschaft in den Jahren 930 bis 1030, als die ersten Siedler auf die Insel kamen; sie erzählen von deren Konf likten um die Aufteilung des Landes und von den ständigen Kämpfen gegen extreme Natur gewalten. Die Geschichten kreisen sämtlich um jenen sozialhistorischen Nullpunkt einer Gesellschaft. In Island selbst sind die Sagas noch heute allgegenwärtig, darüber hinaus sind sie aber weitgehend unbekannt. Um die Isländersa gas auch einem deutschsprachigen Publikum zu erschließen und das Potenzial freien Erzäh lens für die literarische Tradition und Wissens vermittlung in Europa aufzuzeigen, lädt Klaus Sander die isländische Bevölkerung an histo rische Schauplätze, damit sie dort ihre Sagas noch einmal erzählen. Die Geschichten werden anschließend übersetzt, kompiliert und als Audiobuch veröffentlicht als lebendige Ver gegenwärtigung mündlich tradierter Literatur. Vermittler und Übersetzer auf dieser Reise ist Arthur Björgvin Bollason, der ehemalige Leiter des Isländischen Sagamuseums. Künstlerische Leitung und Regie: Klaus Sander / Erzähler und Übersetzer: Arthur Björgvin Bollason ( ISL / Produktions- und Aufnahmeleitung: Thomas Böhm / Literaturhaus Stuttgart,

von gärten und traurigen elefanten — die poesie der grenze internationale autorentage zu dzˇevad karahasan Dzˇevad Karahasan, 2004 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verstän digung ausgezeichnet, stammt aus Sarajevo, wo sich islamische und katholische, orthodoxe und jüdische Lebenswelten durchdringen. Der bosnische Schriftsteller beschäftigt sich inten siv mit den Ursachen der west-östlichen Missver ständnisse. Ausgehend vom Werk Karahasans suchen die Internationalen Autoren tage in Ostwestfalen Antworten auf die Frage, wie westliche und östliche Kulturen und Religi onen in einen Dialog miteinander treten kön nen, der sich durch einen neuen Kosmopolitis mus auszeichnet und die Pluralität unterschied licher Kulturen achtet. Ziel der Veranstaltung ist der gegenseitige Kulturaustausch: Lesungen, Vorträge und Gespräche arbeiten Differenzen und Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Literaturen und Religionen heraus; Hörspiele und Theateraufführungen untersuchen unter anderem die Grenze als Begegnungsort und kul turelles Phänomen. Die Ausstellung Bosnien und Herzegowina 1888 2008 und ein Konzert altislamischer, jüdischer und altchrist licher Gesänge ergänzen das Programm. Ab schließend laden Lesungen die Besucher zu ei ner literarischen Exkursion an historische Orte der interkulturellen Begegnungen in Sarajevo. Künstlerische Leitung: Brigitte Labs-Ehlert / Autoren: Dzˇevad Karahasan ( BA Ilma Rakusa ( CH ) Constantin von Barloe wen u.a. / Verschiedene Orte in Ostwestfalen, 1 10.– 31 12 2009 www.literaturbuero-detmold.de

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Rücktitel ➞ Ohne Titel, Nachlass Jenny Gertz, undatiert, unbekannter Fotograf

gremien

stiftungsrat Der Stiftungsrat trifft die Leitentschei dungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kultur stiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amts zeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre.

Bernd Neumann

Vorsitzender des Stiftungsrates für das Auswärtige Amt für das Bundesministerium der Finanzen für den Deutschen Bundestag

als Vertreter der Länder als Vertreter der Kommunen

als Vorsitzender des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur

Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien Dr. Peter Ammon Staatssekretär

Werner Gatzer Staatssekretär Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident Wolfgang Thierse Bundestagsvizepräsident Hans-Joachim Otto Vorsitzender des Kulturausschusses Dr. Valentin Gramlich Staatssekretär, Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt Prof. Dr. Joachim Hofmann-Göttig Staatssekretär, Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur Rheinland-Pfalz Klaus Hebborn Beigeordneter für Bildung, Kultur und Sport, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund Stanislaw Tillich Ministerpräsident des Landes Sachsen Senta Berger Schauspielerin, Präsidentin der Deutschen Filmakademie Durs Grünbein Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

stiftungsbeirat Der Stiftungsbeirat gibt Empfeh lungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungs tätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten.

Dr. Christian Bode Generalsekretär des DAAD Prof. Dr. Clemens Börsig Vorsitzender des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im BDI e.V. Jens Cording Präsident der Gesellschaft für Neue Musik e.V. Dr . Michael Eissenhauer Präsident des Deutschen Museumsbundes e.V. Prof. Dr. Max Fuchs Vorsitzender des Deutschen Kulturrats e.V. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts Isabel Pfeiffer-Poensgen Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder Prof. Dr. Oliver Scheytt Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und Kulturdezernent der Stadt Essen Johano Strasser Präsident des P E N. Deutschland Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di e.V. Prof. Klaus Zehelein Präsident des Deutschen Bühnenvereins e.V.

jurys und kuratorien Rund 50 Experten aus Wis senschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstif tung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezi fischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter www. kulturstiftung-bund.de bei den entsprechenden Projekten.

vorstand team

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Friederike Tappe-Hornbostel [Leitung] / Tinatin Eppmann / Diana Keppler / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier

Torsten Maß [Leitung] / Bärbel Hejkal / Steffi Khazhueva Wissenschaftliche Mitarbeit Dorit von Derschau / Eva Maria Gauß / Anita Kerzmann / Antonia Lahmé / Anne Maase / Annett Meineke / Dr. Lutz Nitsche / Uta Schnell Verwaltung

Allgemeine Projektförderung

Steffen Schille [Leitung] / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe / Kristin Salomon / Kristin Schulz Zuwendungen und Controlling Anja Petzold [Leitung] / Ines Deák / Anne Dittrich / Susanne Dressler / Marcel Gärtner / Andreas Heimann / Doris Heise / Berit Koch / Fabian Märtin / Marko Stielicke

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Herausgeber Kulturstiftung des Bundes / Franckeplatz 1 /06110 Halle an der Saale / Tel 0345 2997 0 / Fax 0345 2997 333 /info@kulturstiftung-bund.de / www.kulturstiftung-bund.de

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Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Mitarbeit Tinatin Eppmann / Christoph Sauerbrey Organisation Versand Arite Studier / Christoph Sauerbrey Auflage deutsch 24.000 / englisch 4.000 Gestaltung +Bildredaktion cyan Berlin Herstellung hausstætter herstellung Redaktionsschluss 10.8.2009

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbe dingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes.

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Hortensia Völckers
Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor
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