MuseumsJournal 4/23

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Ausstellungen in Berlin und Potsdam

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MEYEROWITZ Fotografie in der Bildgießerei

BETRIEB

Wo die Kunst erschaffen wird

QUEER

Die fluide Welt von General Idea

OKTOBER NOVEMBER DEZEMBER

Vorarbeiten für den Bronzeguss: Auftragen der Wachsschicht auf die Silikonnegativform

Momentaufnahme

Kreativ besiegelt
Titel für den Herbst
Neue Häuser und gefährdete Orte PANORAMA Hand-Exoskelett 8
Adnan und Simone Fattal Künstlerischer Dialog im Kindl
in Aug’ mit Madonna
doch zum … Bahnhof Zoo. Oder, besser noch, ein Stückchen weiter
INHALT 12 Neue Nachhaltigkeit
Bücher Fünf
14 Aus den Museen
Etel
10 Blickfang Aug’
Geh
11
ÜBER DAS GEHIRN 11 BILDGIESSEREI NOACK 28
Das Medizinhistorische Museum hat Köpfchen
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der Kunst

40 Queer

Der Gropius Bau öffnet sich für die Subversionen von General Idea

43

Johann Joachim Quantz im Musikinstrumenten-Museum Fritz Schleifer in der Alfred Ehrhardt Stiftung Aufarbeitung im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit

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Lichtempfindlich

Die Berlinische Galerie zeigt Fotos von Pflanzen

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Eng verbunden

Das Jüdische Museum erzählt vom jüdischen Leben in der DDR

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Groß und klein

Mark Dion spielt in der Nikolaikirche

COVER JOEL MEYEROWITZ S. 30 28 Bildgießerei Noack Mit kühlem Kopf an heißen Öfen 32 Rahmen der Möglichkeiten Werkstattbesuch bei Restaurator Olaf Lemke 35 Holzschnitt Der Drucker Hans-Jürgen Wilke erinnert sich 36 Kreativ auf Kommando Über die Arbeit von Sculpture Berlin 18 Krisenstimmung Zur Situation der Berliner Künstlerateliers 20 Online-Tour Zu Gast in historischen Ateliers 22 Joe Chialo Der Kultursenator im Interview
DISKURS Künstlerateliers AUSSTELLUNGEN
FOKUS Gewerke
22 GENERAL IDEA 40
JOE CHIALO Joel Meyerowitz, »Jonathan, Lynette, Stephen«, Provincetown, Massachusetts, 1981 General Idea, »Aids«, 1987
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Der Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Unter Spannung

Die Sammlung der Neuen Nationalgalerie im Spiegel der Ideologien

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Rokoko-Raffinesse

Das Kunstgewerbemuseum feiert den Ebenisten José Canops

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Vergänglich

Wenn Edith Clever in der Akademie der Künste auf Luc Tuymans trifft

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Zerstreuter Dilettant

Das Gutshaus Steglitz stellt Jean Dubuffet vor

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Klimaprophet

Edvard Munchs Landschaftsbilder im Museum Barberini

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Art nouveau

Das Bröhan-Museum feiert ein besonderes Jubiläum

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Jazzy

Warum das Minsk an Louis Armstrong erinnert

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Luftbrücke

Im Alliiertenmuseum werden Blockaden gebrochen

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Peter László Péri

Das Kunsthaus Dahlem macht ein soziales Bekenntnis

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NS-Zwangswohnungen

Das Aktive Museum bringt Licht in ein dunkles Kapitel

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Jessica Backhaus im Haus am Kleistpark Utopien

im Haus am Lützowplatz

Reparaturen in der Akademie der Künste

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Fotojournalistin

Bei C/O Berlin geht es auf Reportagereise mit Mary Ellen Mark

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Moderne Gegenwart

Wofür sich Brücke-Museum und Schinkel Pavillon zusammentun

76

Andreas Dresen

Das Filmmuseum Potsdam kommt dem Regisseur näher

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Lee Ufan

Globale Moderne im Hamburger Bahnhof

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Grete Ring

Die Liebermann-Villa stellt eine Kunsthändlerin vor

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Weltentdeckungen in der Stiftung Reinbeckhallen Tiere

im Georg Kolbe Museum Picasso im Bode-Museum

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Coco Fusco

KW Institute übt Kritik an beschränkten Vorstellungen

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Vom Zeigen und Verschweigen

Albert Dieckmanns Fotografien im Museum Berlin-Karlshorst

60
EDVARD MUNCH
48
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MARY ELLEN MARK Edvard Munch, »The Yellow Log«, 1912
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Mary Ellen Mark in Paris, 1970

LÉON KRUIJSWIJK

Der in Berlin lebende Kurator und Autor Léon Kruijswijk befasst sich mit Themen wie Queer­ und Gendertheorie, Aktivismus und Institutionskritik. Dabei bewegt sich der 1989 geborene Niederländer sowohl in seiner kuratorischen Praxis als auch in seiner Freizeit zwischen bildender Kunst, Literatur, Film, experimenteller Musik, Tanz und Performance. Er ist viel unterwegs, und so trifft man ihn regelmäßig in Ausstellungen, im Theater oder auf der Tanzfläche von Clubs. Seit Ende 2018 arbeitet er für die KW Institute for Contemporary Art, seit Anfang 2023 als Kurator. An Coco Fusco reizte Kruijswijk vor allem die Vielschichtigkeit ihrer Arbeit als Künstlerin und Aktivistin.

EINBLICKE

JULIA EWALD

In Kassel aufgewachsen, wo sich im 17. Jahrhundert viele französische Protestanten angesiedelt hatten, sind ihr die Hugenotten schon seit der Kindheit ein Begriff. Julia Ewald hat in Marburg und Berlin studiert. Anschließend führte es die Kunsthistorikerin nach Wittenberg, wo sie für eine Ausstellungsassistenz in das Leben und Werk von Lucas Cranach dem Jüngeren eintauchte. 2016 übernahm sie die anspruchsvolle Aufgabe, gemeinsam mit einem Expertenteam die Dauerausstellung des Hugenottenmuseums nach über dreißig Jahren Bestehen neu zu konzipieren. Besonders wertvoll war dabei die Beteiligung der Hugenottengemeinde mit ihren gut 600 engagierten Mitgliedern. Sie hat uns die Früchte dieser Arbeit vorgestellt, die so erfolgreich verlief, dass Julia Ewald das Museum seit vergangenem Jahr auch leitet.

ANNA GROSSKOPF

Was können uns Kunst und Ästhetik der Jahrhundertwende heute noch sagen? Das ist für Anna Grosskopf eine Leitfrage bei ihrer Arbeit mit der Designsammlung des Bröhan­Museums. Seit 2015 ist die Kunsthistorikerin als stellvertretende Direktorin und Kuratorin mit zuständig für das Ausstellungsprogramm des Berliner Landesmuseums für Jugendstil, Art déco und Funktionalismus, das in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Jubiläum feiert. Sie kuratierte Ausstellungen zum Kuss in der Kunst, erforschte den Berliner Realismus und rückte zuletzt die Künstlerinnen der Sammlung in den Fokus. Nach Projekten zu Kunst und Design der 1920er­Jahre nimmt sie nun den französischen Art nouveau in den Blick und freut sich auf eine lustvolle Neubegegnung mit diesem extravaganten Stil.

88 Akt der Toleranz Das Hugenottenmuseum hat wieder geöffnet 90 Aus den Museen Von Flucht, Begegnung und Rückkehr 92 Sieben Sachen 94 Umgedreht 95 Bildnachweis 96 Kalender 110 Impressum 5 4 / 23 CONTRIBUTORS

KUNST BRAUCHT RAUM

DISKURS

Atelier von Peter Böhnisch in den Uferhallen

Wie bleibt Berlin doch Berlin?

Die Kunstszene schlägt Alarm: Immer mehr Arbeitsräume gehen verloren. Zumindest für die ATELIERS

in den Weddinger Uferhallen scheint es aber nun einen Lichtblick zu geben

Ein breites Bündnis aus Kulturinstitutionen und freier Szene befürchtet Einsparungen im Kulturetat und fordert Unterstützung für den Erhalt des besonderen Berliner Kulturökosystems. »Zukunft der Kultur in Berlin – auf der Kippe?« steht über ihrem offenen Brief an Kultursenator

Joe Chialo, Bürgermeister Kai Wegner und Finanzsenator Stefan Evers. Aktuell stünden nur drei Prozent des gesamten Berliner Haushaltsvolumens zur Verfügung. Gemessen an der Bedeutung der Kultur für die Stadt sei das verschwindend gering, heißt es in dem Schreiben. Obwohl die ständig steigenden Gewerbemieten schon seit Jahren ein virulentes Problem sind, nimmt der Druck immer weiter zu. Zu Inflation, hohen Energiekosten und Mieten kommt die angespannte Berliner Haushaltslage.

»Arm, aber sexy« ist lange vorbei. Mit gezielter Inwertsetzung von Sub- und Gegenkulturen zementierte man Anfang der Nullerjahre den Berlin-Mythos, während gleichzeitig ein politischer Sparkurs durchgesetzt wurde. Mieten waren relativ günstig, die Brachen im Stadtbild – und damit Freiräume für Improvisationen – noch präsent. Der legendäre Berliner Ruinenschick lockte nicht nur Kreative aus der ganzen Welt, sondern bald auch Investoren. Es folgte, was aus vielen anderen Großstädten bekannt ist: Gentrifizierung.

Die Berlin anhaftende Verheißung einer unbeschwerten, dynamischen Kunstszene wird schon längst von der Realität überholt. Raumnot ist heute die größte Baustelle für viele Künstler in der Hauptstadt. Nun schlägt auch eine Studie zur aktuellen

Ateliersituation Alarm. Martin Schwegmann, der Atelierbeauftragte des Berufsverbandes bildender Künstler*innen Berlin (BBK Berlin), veröffentlichte sie im Juni parallel zu den Haushaltsverhandlungen des neuen Senats. Von den laut BBK mindestens 10.000 in Berlin lebenden und arbeitenden bildenden Künstlern haben 1673 an der Umfrage teilgenommen. Davon gaben rund 60 Prozent an, kein Atelier zu haben oder es zu verlieren. Seit 2017 sind nach Schätzungen des BBK Kulturwerks mindestens 1500 Ateliers allein in Berlin weggefallen.

Kultureller Kahlschlag

Was bleibt, wenn die Produktionsbedingungen für die Kunst nicht mehr stimmen und nicht nur Subkultur und Projekträume der Profitmaximierung weichen, zeigt sich derzeit rund um Kottbusser Tor und Oranienstraße. Die alteingesessene Ateliergemeinschaft von vierzig Kunst- und Kulturschaffenden in der Adalbertstraße 9, der Kunstverein NGBK, das Museum der Dinge und der Buchladen Kisch & Co. mussten oder müssen aus ihren Gewerbehöfen ausziehen, weil die Mietverträge von den Eigentümern – großen Immobiliengesellschaften – gekündigt wurden. Als Reaktion auf diesen »kulturellen Kahlschlag des Bezirks« protestierten die betroffenen Künstler im Juni mit der Ausstellung »Speculative Properties«, die das fortschreitende Ateliersterben und Wegbrechen künstlerischer Netzwerke thematisierte. Den Slogan »Kunst zieht an und nicht aus« nutzte das Atelierhaus an der Mengerzeile schon vor Jahren. Der BBK hat ihn jüngst auf Jutebeutel und Plakate drucken lassen. Wenn man die Existenzgrundlage für Künstler abschaffe, seien sie weg, warnt der BBK eindringlich. Für die Kulturinstitutionen im Oranienkiez springt das Land ein und stellt Ausweichstandorte zur Verfügung.

Planungssicherheit für Künstler garantieren lediglich landeseigene oder senatsgeförderte Liegenschaften. Immerhin stehen derzeit 1214 vom Land Berlin subventionierte Ateliers zur Verfügung. Der Bedarf ist laut BBK aber fast dreimal so hoch, zudem gelten alle Förderungen

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Alfredo Jaar, »Be Afraid of the Enormity of the Possible«, 2015/23 Die Arbeit ist Teil der Ausstellung »Frequently Asked Questions, Uferhallen 2023« bei der Berlin Art Week

bisher nur für einzelne Künstler. Kollektive sind von der Vergabe ausgeschlossen. Seit über zwanzig Jahren gibt es das Berliner Atelierprogramm, die Senatsverwaltung unterstützt es finanziell. Neue Angebote oder frei werdende Räume koordiniert und kontrolliert die gemeinnützige Kulturraum GmbH. Eine vom Senat berufene Auswahlkommission entscheidet über die Vergabe, als Kriterien legt sie die professionelle und soziale Dringlichkeit an. Es handele sich »um eine Strukturförderung und keine Exzellenzförderung«, so Schwegmann. Grundsätzlich sei die Situation der Künstler sehr prekär. Der Hälfte der Befragten stünden im Monat nur maximal 1000 Euro zur Verfügung, das sei nahe am Existenzminimum. Durchschnittlich verdienen Künstler in Berlin laut Künstlersozialkasse rund

14.000 Euro im Jahr. Die Studie untersuchte auch die Konsequenzen der Atelierverluste.

Fast 40 Prozent der Künstler gaben an, Berlin dann verlassen zu müssen. Auch betonen sie immer wieder, dass es unmöglich sei, ohne Atelier professionelle Kontakte zu Kuratoren und Galerien aufzubauen.

Um eine vielfältige und kritische Kunstproduktion jenseits der Marktförmigkeit aufrechtzuerhalten, sei, so Schwegmann, das Atelieranmietungsprogramm die mit Abstand wichtigste Fördermaßnahme und ein eigener Haushaltstitel für den Ausbau zwingend erforderlich. Darüber hinaus wären unter anderem eine gemeinschaftsorientierte Liegenschaftspolitik und eine Stärkung von künstlerischen Selbstverwaltungsstrukturen vonnöten, nah am Bedarf und bürokratiearm.

Kampf um die Uferhallen

Auch der jahrelange Kampf um die Uferhallen in Berlin-Wedding steht exemplarisch für Verdrängung und Gentrifizierung in der Stadt. Das Areal mit seinen denkmalgeschützten Gebäuden gehörte früher der Berliner Verkehrsgesellschaft, die hier ihre Straßenbahnen wartete. Nach der Stilllegung 2007 siedelten sich Künstler an und bauten die Räumlichkeiten eigenständig aus. 2017 wurde die Aktienmehrheit an dem 18.900 Quadratmeter großen Industriegelände von der Marema GmbH übernommen, die im Zusammenhang mit einem der Samwer-Brüder steht, den Gründern von Zalando und Immobilieninvestoren. Es sollen hochpreisige Mietwohnungen und Büroflächen entstehen. Nach jahrelangem

Hin und Her war im Herbst 2021 vom Bezirksamt Mitte ein Bebauungsplanverfahren beschlossen worden mit dem Ziel, den Verbleib aller ansässigen Mieter zu sichern, ein Sondergebiet Kultur zu schaffen und dem Eigentümer ein angemessenes Bauvorhaben zu genehmigen. Diese Bebauungspläne wurden aus wirtschaftlichen Erwägungen seitens der Marema GmbH Anfang des Jahres aufgekündigt – die Situation für die ansässigen Mieter schien wieder völlig offen. Im April alarmierte der Uferhallen e. V. die Berliner Kulturszene, dass das Areal mit über achtzig Ateliers, Konzert- und Proberäumen, Tonstudios, Werkstätten und Kleingewerbe erneut in akuter Gefahr sei. Auf dem Gelände arbeiten auch viele international renommierte Künstler wie Katharina Grosse oder Monica Bonvicini, die sich für die Sache einsetzen. Letztere wunderte sich erst Mitte Mai in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur: »Ich frage mich manchmal wirklich, hat man nichts aus den Neunzigerjahren gelernt?« Sie appellierte an die Verantwortung der Politiker, nicht alles an Investoren und Spekulanten abzugeben, »denn was ist das für eine Stadt, wenn wir nur noch Wohnungen, Arbeitsplätze und Malls haben? Das ist dann auch kein Berlin, oder?«, so Bonvicini. »Ohne die Freiräume, die Berlin früher angeboten hat, wäre Berlin nicht das, was es jetzt ist.« Die Künstlerin betonte die große Bedeutung der Uferhallen als Ort der Kunstproduktion, aber auch »des Treffens, Wissens und Lernens«.

Heiner Franzen in seinem Atelier in den Uferhallen
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Event in den Uferhallen

Hoffnung für die Künstler?

Mit dem Amtsantritt des neuen Kultursenators Joe Chialo kam wieder Bewegung in die Verhandlungen. Tatsächlich wurde einvernehmlich von allen Beteiligten ein Rettungsplan skizziert: Das Land Berlin soll über die Kulturraum GmbH für dreißig Jahre Generalmieter der Uferhallen-Ateliers werden und direkt an die Künstler weitervermieten. Der Senat hat zugesichert, die Mieterhöhungen auszugleichen und dafür im Doppelhaushalt 2024/25 rund eine Million Euro einzuplanen –vorbehaltlich der Zustimmung des Parlaments. Antje Blumenstein, Künstlerin und Vorstand des Uferhallen e. V. sprach gegenüber dem RBB von einem »Riesenschritt«. Wenn eine Lösung gefunden würde, die auch für nicht etablierte und junge Künstler die Ateliers in den Uferhallen bezahlbar machte, dann sei das wegweisend für alle anderen Standorte in Berlin, so Blumenstein. Beschlossen wurde außerdem, die Uferhallen vertraglich explizit und langfristig als Kulturgebiet zu definieren. Noch sind jedoch viele Fragen offen. Der Künstler Heiner Franzen ist einer derjenigen, deren Ateliers sich im ehemaligen Pferdestall der Uferhallen befinden, ein Gebäude, das wegen der Bauvorhaben definitiv verloren ist. Sein Atelier soll zusammen mit zehn weiteren in die Seitenhalle umgesiedelt werden, die dafür umgebaut werden muss. Wann das sein wird, weiß er nicht. Anlässlich der diesjährigen Eröffnung der Berlin Art Week hat er begonnen, die rund 50.000 Gegenstände, die sein 130 Quadratmeter großes Atelier füllen, in Form einer Kunstaktion einzupacken. In den nächsten drei Monaten können Besucher dem Prozess des Auszugs beiwohnen und haben gleichzeitig mittels VR-Brillen den Ursprungszustand immer vor Augen. »Es geht mir bei der Aktion um den Raumbegriff. Das Atelier funktioniert für mich wie ein externes Gehirn und ist, wie jeder Arbeits- oder Wohnraum, nichts weiter als die Kurzschrift einer gesellschaftlichen Umgebung. Mit der Aktion thematisiere ich diesen Prozess des Abräumens, wie er gerade in der ganzen Stadt passiert.«

Ob Berlin irgendwann zu einem Ort wird, der nur mehr von der Aura des Vergangenen lebt, wird sich zeigen. Künstler sind bekanntlich gut darin, jeden Raum zu nutzen, der sich bietet. Dafür steht Berlin auch wie kaum eine andere Stadt. Aber ohne diese Freiräume sieht es schlecht aus. Dass Gentrifizierung keine unveränderbare Naturgewalt ist, hat das Ringen um die Uferhallen zumindest bewiesen.

Text ANNE HAUN-EFREMIDES

Zauberbude, früher

ist’s her, dass es in Berlin noch BEZAHLBARE ATELIERS gab.
gibt es online
Lang
Besichtigungstermine
20
Iwan Puni in seinem Berliner Atelier, 1921

Historische Ateliers in Berlin erinnern an eine Zeit, in der Künstler*innen im Herzen der Stadt eine bezahlbare Arbeitsstätte fanden. Noch um die Jahrhundertwende waren selbst in beliebten Gegenden wie am Kurfürstendamm in den Mietshäusern des Großbürgertums nicht selten auch Ateliers vorgesehen: Die zwar spärlich ausgestatteten Räume in den Dachgeschossen boten mit hohen Decken und Sprossenfenstern gute Arbeitsbedingungen.

In den 1920er-Jahren wurden im pulsierenden Quartier rings um den Ku’damm zahlreiche Fotoateliers eingerichtet, viele davon unter weiblicher Leitung. In die Nachbarschaft von Frieda Riess, Lotte und Ruth Jacobi, Suse Byk und anderen zog es auch Marta Astfalck-Vietz, die 1927 ein eigenes Fotostudio gründete. Zwar stand Frauen der Beruf der Fotografin eher offen als das Studium an einer Kunstakademie, ein eigenes Studio war trotzdem ein Privileg. Von ihrer Familie unterstützt, finanzierte die 26-Jährige die drei Räume in der Markgraf-Albrecht-Straße 10 unter anderem mit der Gestaltung von Seidentüchern. Neben diesen kommerziellen Arbeiten konnte Astfalck-Vietz hier aber auch Experimente wagen: Vor verschiedensten Hintergründen, zu denen sie Stoffe, Mobiliar und Dekor immer wieder neu arrangierte, fotografierte sie Porträts, Akte und szenische Darstellungen. Auf diese Weise wurde ihr Studio zugleich Inhalt ihrer Fotografie.

Subtiler, aber dennoch spürbar, ist das Atelier auch in Max Liebermanns Werk eingeschrieben. Gute 45 Quadratmeter groß und sechs Meter hoch war der Arbeitsraum, den der Maler 1899 im obersten Stock seines Palais neben dem Brandenburger Tor einrichten ließ. Hans Grisebach hatte dafür ein Dach aus Eisen und Glas entworfen, das sich in kühner Wölbung über dem Pariser Platz erhob. Die sachliche Konstruktion empörte den Kaiser und trieb den Denkmalschutz auf die Barrikaden. Liebermann prozessierte zwei Jahre, bis er bauen durfte. So wurde das von Tiergarten und Unter den Linden weithin sichtbare Atelier zum Triumph der Moderne. Schließlich diente es nicht einer akademischen Malerei, sondern jener unter freiem Himmel, dem Einfangen natürlicher Atmosphären und Stimmungen. Auf einem Fotoporträt Fritz Eschens ist gut zu sehen, wie die durch die gläserne Architektur einfallende Sonne auf Liebermanns Leinwand zu malen scheint.

In der Kleiststraße 43 arbeitete Iwan Puni unter weniger lichten Bedingungen.

Gemeinsam mit seiner Frau, der Malerin Xenia Boguslawskaja, war er aus der russischen Heimat geflohen und im Oktober 1920 in Berlin angekommen. Dem jungen Paar erging es dabei wie vielen anderen aus Mittel- und Osteuropa Emigrierten, die in den Jahren der Weimarer Republik an die Spree zogen und zwischen Nollendorf- und Wittenbergplatz in der Diaspora lebten. Das Paar fand eine Bleibe in einem notdürftig hergerichteten Zimmer unter dem Dach, in dem Arbeiten und Leben zugleich unterkommen mussten: »Auf dem Fußboden, auf den Stühlen, auf dem Bett lagen Farbtuben«, berichteten Besucher*innen Punis. Das spärlich improvisierte Atelier des Malers – in dem einige seiner bedeutendsten Werke entstanden – war regelmäßiger Treffpunkt der Berliner Avantgarde und damit eine der vielen kleinen Drehscheiben zwischen Ost und West in der Hauptstadt. 1933 hatten viele Künstler*innen ihre Ateliers und die Stadt schon verlassen. Für manche, die blieben, wurde der Arbeitsraum zum Schutzraum. In einem der Dachgeschossateliers am Ku’damm überstand Jeanne Mammen Nationalsozialismus und Krieg, während sie im Verborgenen weiter arbeitete. Ihre »Zauberbude«, wie die Künstlerin ihre vier Wände nannte, hatte sie mit selbstgebauten Möbeln, ihren Bildern, Büchern und zahlreichen Erinnerungsstücken eingerichtet. Hannah Höch wiederum suchte 1939 in einem Häuschen in Heiligensee am Rande Berlins Zuflucht, nachdem sie sich in Friedenau nicht mehr sicher gefühlt hatte. Dort versteckte sie ihre eigene Kunst sowie die Werke von Freund*innen. Schränke, Tische, Wände und Schubladen füllte sie mit mehr als 12.000 biografischen Objekten, kulturhistorischen Artefakten und auch kuriosen Dingen – eine »Lebenscollage« ganz im Sinne des Dadaismus.

Im Onlineprojekt »Mapping the Studio. Berliner Ateliers im Wandel« (berlinischegalerie.de/mapping-the-studio) öffnen die Volontär*innen der Berlinischen Galerie die Türen historischer und zeitgenössischer Ateliers der Hauptstadt. Neben Essays zu Arbeitsräumen des 19. und 20. Jahrhunderts erzählen Videointerviews mit zeitgenössischen Künstler*innen von der Vielfalt und den individuellen Bedeutungen der Orte sowie von den aktuellen Kämpfen um Arbeitsraum in unserer Stadt.

Text NILS PHILIPPI, wissenschaftlicher Volontär

Mimi (stehend) und Jeanne Mammen (sitzend) vor dem Bücherschrank in ihrem Berliner Atelier am Kurfürstendamm, um 1920
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Marta Astfalck-Vietz, Selbstporträt im Atelier, um 1927

»Wir wollen die Anzahl der Kulturräume im Besitz Berlins bis 2030 verdoppeln«

Joe Chialo, Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt des Landes Berlin

Seit einem halben Jahr ist JOE CHIALO Kultursenator von Berlin. Viel Zeit hatte er nicht, die vielen Kultureinrichtungen der Stadt kennenzulernen. Als ehemaliger Labelmanager gilt er manchen noch als Mann der Musik. In seinem neuen Amt hat er jüngst mit dem Vorschlag überrascht, die Zentrale Landesbibliothek im Gebäude der Galeries Lafayette unterzubringen. Aber wie blickt Chialo auf die angespannte Ateliersituation? Auf die Herausforderungen für die Museumslandschaft? Wir haben ihn gefragt.

MUSEUMSJOURNAL: Haben Sie ein Lieblingsmuseum in Berlin?

Joe Chialo: In den vergangenen Wochen war ich mehrmals ausgiebig auf Museumstour und habe mich mit den Leiterinnen und Leitern unterhalten. In den meisten Häusern war ich auch vor meinem Amtsantritt schon zu Besuch, aber hinter die Kulissen blicken zu dürfen, das ist doch etwas anderes. Die Berliner Museen haben alle ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Charme. Jedes Haus begeistert mich auf seine Weise.

Viele Häuser stehen vor großen Herausforderungen, um ihr Publikum zu halten und neue Besucherinnen und Besucher zu erreichen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben durch die Inflation und hohe Energiekosten. Im Koalitionsvertrag halten Sie am eintrittsfreien Sonntag fest. Mit welchen Maßnahmen wollen Sie die Museen darüber hinaus unterstützen?

Erfreulicherweise haben sich die meisten Museen erholt und verzeichnen wieder Besucherzahlen wie vor der Pandemie. Selbstverständlich bleibt es unser kulturpolitisches Ziel, weitere Besuchergruppen aus verschiedenen Milieus zu erreichen. Museen müssen für alle zugänglich sein. Der eintrittsfreie Museumssonntag ist ein wichtiger Baustein für die kulturelle

Teilhabe – die Publikumsresonanz spricht für sich. Um die Resilienz der Berliner Museen zu stärken, setze ich mich auch dafür ein, dass es im Bereich der Digitalisierung vorangeht. Allem voran durch die Förderung von digitalen Kompetenzen und Prozessen. Das wollen wir zum Beispiel durch die Einrichtung eines Fonds für den digitalen Wandel erreichen und durch das Entfristen der sogenannten Resilienz-Dispatcher in den Museen. Diese leisten eine tolle Arbeit, um die Digitalisierung voranzutreiben. Die Dispatcher kennen die Bedarfe am besten, denn sie sind vor Ort in den Kultureinrichtungen, sie sind von der Ideenskizze der Ausstellung bis zur Eröffnung dabei. Aber auch das Thema künstliche Intelligenz muss mitgedacht werden. Da müssen alle zusammenarbeiten. Nicht zuletzt wollen wir den Berliner Museumsverband personell und finanziell stärken. Die Museen geben uns zu dessen Arbeit sehr positives Feedback. Wir möchten außerdem spezielle Kompetenzstellen schaffen, eine für Nachhaltigkeit an der Berlinischen Galerie und eine weitere für die Verwaltung von Künstlernachlässen.

Sie möchten laut Koalitionsvertrag auch »die organisatorische Neuaufstellung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) vor allem bei der Stärkung der einzelnen

Museen, der Reduzierung der Länder im Stiftungsrat und der besseren Finanzierung« unterstützen. Was heißt das genau?

Ich möchte zunächst hervorheben, dass die Stiftungsleitung und das gesamte Team seit der Zusammenführung der Bestände nach 1990 enorm viel gemeistert und geleistet haben. Trotz dieser Erfolge muss man feststellen, dass insbesondere die Strukturen bei den Staatlichen Museen zu Berlin in einigen Bereichen suboptimal sind. Wir wollen die Aufgabenbereiche im Verbund der Stiftung Preußischer Kulturbesitz so umstrukturieren, dass sowohl die Einrichtungen als auch die einzelnen Häuser eigenverantwortlicher und effektiver handeln können. Dass die Zusage besteht, ab 2026 die Länderbeiträge zu erhöhen, ist ein guter erster Schritt.

Die Museen arbeiten seit einiger Zeit die koloniale Vergangenheit ihrer Bestände auf. Welche Position haben Sie in der Diskussion um Restitutionen?

Rückgaben symbolisieren vor allem den Willen, einen Teil des begangenen Unrechts zu korrigieren. Es steht uns dabei nicht zu, mit erhobenem Zeigefinger Ratschläge darüber zu erteilen, was mit Beutekunst in den jeweiligen Herkunftsländern geschehen sollte.

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Provenienzforschung ist die nötige Grundlage für diese Aufarbeitung. Wie wollen Sie die Institutionen darüber hinaus unterstützen?

Ich möchte die Museen dabei unterstützen, offen und proaktiv mit dem Thema umzugehen. Mehr feste Stellen für die Provenienzforschung sind dabei ein wichtiger Schritt. Darüber hinaus wünsche ich mir auch, dass einschlägige Ausstellungsobjekte noch besser kontextualisiert werden. Der Blick nach vorne ist mir jedoch genauso wichtig: In Berlin sollten wir Zukunftsprojekte mit Künstlerinnen und Künstlern aus Afrika initiieren und so eine partnerschaftliche Zukunft mit unserem Nachbarkontinent gestalten.

Auf die Häuser der Bundeseinrichtung SPK haben Sie nur bedingten Einfluss. Wie wollen Sie die Berliner Landesmuseen gegenüber den dominanten Staatlichen Museen zu Berlin fördern?

Die Berliner Landesmuseen sind ein wichtiger Teil der Berliner Museumslandschaft und verfügen jeweils über ein eigenes Profil und Alleinstellungsmerkmale. Sie sind attraktiv und erfolgreich. Das zeigen auch die Besucherzahlen des vergangenen Jahres: Insgesamt hatten die Berliner Landesmuseen 7,5 Millionen Besucherinnen und Besucher zu verzeichnen. Deshalb möchte ich hier weniger den Fokus auf Konkurrenz legen, sondern vielmehr auf Kooperation. Beispiele wie der Museumssonntag oder der Museumsverband zeigen, dass auch jetzt schon viel zusammengearbeitet wird.

Die Stiftung Stadtmuseum steht vor größeren Veränderungen. Das Märkische Museum wird jahrelang geschlossen sein. Jetzt verliert die Stiftung auch ihren Direktor Paul Spies.

Das ist richtig, Paul Spies wird auf eigenen Wunsch vorzeitig ausscheiden, um sich verstärkt freiberuflichen Tätigkeiten zu widmen. Das ist ein herber Verlust, er hat eine hervorragende Arbeit gemacht. Bei der Langen Nacht der Museen hatte ich Gelegenheit, ihm das persönlich zu sagen. Die Direktion der Stiftung wird zeitnah ausgeschrieben. Wir gehen davon aus, die Stelle in der ersten Hälfte des kommenden Jahres neu zu besetzen. Paul Spies wird den Übergangsprozess begleiten und eine gute Übergabe sicherstellen.

Was können Sie uns noch über die Zukunft des Stadtmuseums sagen?

Das derzeit größte Projekt des Stadtmuseums ist das Museums- und

Kreativquartier am Köllnischen Park. Das Märkische Museum wird grundlegend saniert und modernisiert und mit dem Marinehaus um eine neue Präsentationsund Produktionsfläche ergänzt. Die Berlinerinnen und Berliner können sich auf 2028 freuen. Dann soll der Standort wieder voll in Betrieb gehen.

Am Kulturforum liegt die größte Kulturbaustelle Berlins. Das neue Haus der Nationalgalerie »Berlin Modern« soll 2026 eröffnen. Die seit Jahrzehnten unwirtliche städtebauliche Situation am Kulturforum ist damit nicht gelöst. Klaus Biesenbach will jetzt Blumenkübel und Pflanztröge aufstellen und er würde gern die Straße zwischen Neuer Nationalgalerie und dem Neubau für den Autoverkehr schließen. Wie stehen Sie zu den Plänen? Und haben Sie eigene für das Kulturforum?

Die Pläne von Klaus Biesenbach gefallen mir sogar sehr gut. Im Neubau steckt eine große Chance. Das Areal birgt in der Tat noch Potenzial. Der Mauerfall liegt über dreißig Jahre zurück, und ich begrüße es sehr, dass die benachbarten Einrichtungen sich zu einer gemeinsamen Aktion zusammentun. Dafür wurden schon erste Schritte getan – in dezentralen Ausstellungen, Stadtgesprächen und Kunstaktionen, zum Bespiel auch der Festakt im vergangenen Jahr mit Konzerten und einer Sperrung der Straße. Das Kulturforum soll ein Ort werden, der zum Verweilen einlädt. Ein idealer Treffpunkt, der Bildungsstätte und Kunstoase gleichzeitig ist. Auch die Pläne für die Begrünung des Areals finde ich sehr gut. Für den geplanten »Museumsgarten« stellen wir – gemeinsam mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – Fördermittel bereit. Beim Thema Autoverkehr ist aber selbstverständlich meine Kollegin Manja Schreiner im Lead. Wir werden uns zur gegebenen Zeit mit diesem Thema beschäftigen.

Das Humboldt Forum erweist sich als Berlins Publikumsmagnet. Was kann es für die Stadt außerdem leisten?

Aktuell haben wir im Humboldt-Forum viele Institutionen unter einem Dach. Über die Rolle Berlins im Humboldt-Forum wird noch zu sprechen sein. Dazu bin ich mit Claudia Roth und allen anderen Akteuren im Dialog, um diese Frage zu erörtern.

Im Koalitionsvertrag steht, Sie wollen »ein Stadtentwicklungskonzept Kultur erarbeiten«. Was kann man sich darunter vorstellen?

In der Berliner Kulturpolitik muss Infrastruktur immer ganz vorne mitgedacht werden. Berlin ist eine wachsende Stadt, und es gibt eine verstärkte Konkurrenz um Räume. Die Interessen der Künstlerinnen und Künstler, der Einrichtungen und Gruppen – die müssen hart mit anderen Nutzungsansprüchen verhandelt werden. Deshalb müssen Räume für die Kultur erfasst, erhalten und weiterentwickelt werden. Darüber ist meine Verwaltung in intensivem Austausch mit dem Stadtentwicklungsressort, denn ohne dieses geht das nicht im großen Stil. Aktuell entwickeln wir ein Kulturkataster. Dieses Instrument bietet einen guten Ausgangspunkt, um bei dem Thema konkreter zu werden. Ich will auf diese komplexen Herausforderungen nicht mit noch komplexeren Masterplänen reagieren, sondern mit agilen Prozessen, digitalen Werkzeugen und guten Kooperationen. Ich will die Leute an einen Tisch bringen, wie wir es schon bei den Uferhallen mit Erfolg gemacht haben.

Den Berliner Künstlerinnen und Künstlern fehlt es an Ateliers. Die Räumlichkeiten, um zu arbeiten, werden immer knapper, die Mieten höher. Mit welchen Maßnahmen wollen Sie die Atelierkrise angehen?

Wir gehen da mit einer Raumoffensive heran. Wir werden die Sicherung und weitere Akquise von Kulturräumen in Berlin fortsetzen, das ist im Koalitionsvertrag festgelegt. Derzeit verfügen wir über etwa 2000 Kulturräume und 500 sind in der Entwicklung. Unser Ziel ist es, die Anzahl der Kulturräume, die sich im Besitz des Landes Berlin befinden, bis zum Ende der Dekade zu verdoppeln.

Über die Zukunft der Uferhallen in Wedding wird seit Jahren diskutiert. Sie sind in Gesprächen mit den Eigentümern des Areals. Was konnten Sie bisher erreichen? Der Hilferuf der Künstlerinnen und Künstler erreichte mich direkt zu Beginn meiner Amtszeit. Als eine meiner ersten Amtshandlungen habe ich alle Beteiligten an einen Tisch gebracht. Jetzt haben wir einen Entwurf für einen Generalmietvertrag für die Uferhallen vorliegen. Diesen prüfen wir momentan gemeinsam mit der Kulturraum GmbH. Ziel ist es, dass das Land Berlin Generalmieter wird und die Künstlerinnen und Künstler zu fairen Konditionen Mieter des Landes werden.

Können Sie Ersatzstandorte für Künstler anbieten, die dort ihre Ateliers verlassen müssen?

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Das wird voraussichtlich nicht nötig sein. Wenn vertraglich alles steht, können die Künstlerinnen und Künstler bleiben, beziehungsweise nach einer Umsetzzeit und den erfolgten Sanierungsarbeiten zurückkehren. Das freut mich natürlich sehr!

Welchen Stellenwert hat bildende Kunst in Ihrem Leben?

Bildende Kunst ist für mich Genuss und Erlebnis zugleich. Ich lasse mich gerne von neuen Positionen überraschen und schätze es, wenn mir ein versierter Kunstvermittler Geschichte anhand von Kunst näherbringt. Auch auf Reisen lerne ich neue Städte gerne über ihre Kunstorte kennen. Die neuen Sonderausstellungen in Berlin finde ich klasse und ich freue mich auf die Berlin Art Week und auf das kommende Gallery Weekend. Berlin hat in diesem Bereich wirklich sehr viel zu bieten.

Die freie Szene ist besorgt, dass sie unter Sparmaßnahmen der Kulturverwaltung leiden könnte.

Erstmal dürfen wir festhalten, dass unser Kulturhaushalt den Rekordbetrag von einer Milliarde überschreiten wird. Ja, in einer Zeit der Inflation, der Verschärfung von Raummangel in Berlin und einiger weiterer schwieriger Punkte, die wir schon angesprochen haben, braucht es mehr als das. Da braucht es auch mehr als Geld. Aber angesichts des aktuellen Doppelhaushalts sehe ich auch Chancen.

Welche politische Strategie verfolgen Sie, um Berlin als Ort der Kunst zu bewahren und zu stärken?

Meine Strategie ist ganz klar, Resilienz in allen Bereichen zu fördern. Eben durch Digitalisierung, durch effiziente Förderung, durch das Erschließen neuer Räume und Potenziale. Denn ein solcher Rekordhaushalt ist keine Selbstverständlichkeit.

JOE

in Bonn geboren. Er machte Abitur an einem katholischen Internat, eine Ausbildung zum CNC-Fräser und viel Musik. Das Geschichtsstudium gab er zugunsten eines Plattenvertrags und einer Karriere als Sänger der Band Blue Manner Haze auf. 2009 gründete er die heutige Airforce1 Music Group und 2018 das Musiklabel Afroforce1, das die kreative und ökonomische Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas fördert. 2020 wurde er Manager bei Universal Music in Berlin. 2016 trat Chialo, nachdem er in den 1990er-Jahren Mitglied der Grünen gewesen war, in die Berliner CDU ein. Seit dem vergangenen Jahr gehört er dem Bundesvorstand der Partei an. Am 27. April 2023 wurde er zum Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Kabinett von Kai Wegner berufen.

Sammeln Sie selbst Kunst?

Ich besitze eine bescheidene Anzahl an Kunstwerken. Die Arbeiten hängen bei mir zu Hause und in meinem Büro. Von systematischem Sammeln würde ich nicht sprechen.

Seit einigen Jahren gibt es keine bedeutende Kunstmesse mehr in Berlin. Die landeseigene Berliner Messegesellschaft ist schon vor Jahrzehnten aus der Unterstützung des Kunsthandels ausgestiegen. Wird das so bleiben? Oder gibt es Pläne, die Galerieszene besser zu fördern? Vielleicht auch gemeinsam mit der Wirtschaftssenatorin?

Für den Kunstbetrieb in Berlin ist eine starke Galerieszene als Produktions- und Reflexionsort für Künstler, Kuratoren, Kritiker unerlässlich. »Gemeinsam« ist hier das Stichwort. Mit der Wirtschaftssenatorin stehe ich in gutem Kontakt. Wir sehen manche Dinge ähnlich und planen auch gemeinsame Vorhaben. Messen und künstlerische »Wirtschaftsbetriebe« fallen tatsächlich zunächst in ihr Aufgabengebiet. Wir stehen noch am Anfang unserer gemeinsamen Arbeit. Geben Sie uns Zeit, um wirklich funktionierende Projekte anzustoßen, die dann auch einen Mehrwert für alle bieten.

Das Gallery Weekend im Frühling ist das wichtigste Event für den kommerziellen Kunstbetrieb. Die Berlin Art Week im Herbst ist die Großveranstaltung der Stadt. Wäre da nicht noch Potenzial, um mehr aus dem Mythos von Berlin als Stadt der Kunst herauszuholen?

Der Mythos mag eine Rolle spielen, aber ich glaube, dass wir diesen Mythos nicht brauchen, um das künstlerische Potenzial Berlins zu heben. In unserer Stadt leben weit über 20.000 Künstlerinnen und Künstler, die diese kreative Energie täglich

zum Ausdruck bringen! Jetzt gilt es, für Zusammenhalt in der ganzen Stadt zu sorgen und sicherzustellen, dass ausreichend Räume für die Kultur und Kreativwirtschaft vorhanden sind. Das dient der Resilienz und ja, auch der Wirtschaftlichkeit unserer Stadt. Formate wie das Gallery Weekend und die Art Week leisten einen ganz wichtigen Beitrag dazu, dass die lebendige Kunststadt Berlin zusammenfindet.

Die Kulturwirtschaft gilt Ihnen im Koalitionsvertrag als »Berlins größte produzierende Branche«. Wie wird der Berliner Kunstmarkt wettbewerbsfähiger?

Ich begreife das Feld von Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft ganzheitlich. Denn auch die Biografien der Künstler orientieren sich ja nicht an Ressortgrenzen oder unseren Abgrenzungen von gemeinwohlorientierter oder kommerzieller Kulturarbeit. Deswegen will ich, wie bereits gesagt, eng mit der Wirtschaftsverwaltung zusammenarbeiten, um die Förderung der Kreativwirtschaft mit der Kulturförderung an den vielen Schnittstellen bestmöglich zu verzahnen. Zusätzlich können Weiterbildungsangebote auch im nichtkünstlerischen Bereich, wie Finanzcoachings oder Selbstvermarktungstrainings, ins Spiel kommen, um die Künstlerinnen und Künstler bestmöglich für den Kunstmarkt zu qualifizieren. Die Schaffung guter Arbeitsund Lebensbedingungen für die Künstlerinnen und Künstler Berlins ist eines meiner wichtigsten Anliegen. Wenn es die Kulturpolitik schafft, die Akteure auf dem Kunstmarkt zu stärken und sie resilient gegenüber andauernden Krisen zu machen, dann bleiben diese Menschen gerne in Berlin.

CHIALO wurde 1970 als Sohn einer tansanischen Diplomatenfamilie
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Joe Chialo eröffnet die Lange Nacht der Museen 2023

AUSSTELLUNGEN

Der Pudel Herrn

GENERAL IDEA war seiner Zeit stets weit voraus.

Jetzt geht die Kunst des subversiven Trios endlich auch in Berlin viral

General Idea hat das Verhältnis von Kunst, Medien und Aktivismus im Kontext der Aids-Krise neu definiert. Nun präsentiert der Gropius Bau die erste Retrospektive der wegweisenden Künstlergruppe in Deutschland. Die Ausstellung, die in engem Austausch mit dem seit 2013 in Berlin lebenden Gründungsmitglied AA Bronson konzipiert wurde, zeichnet über fünfzig Jahre des einzigartigen künstlerischen Schaffens von General Idea nach, von ihren Anfängen 1969 in Toronto über ihr vorzeitiges Ende 1994 bis hin zum Nachwirken ihrer Praxis in der Gegenwart. Mit fast 200 Werken, darunter die subversiven und ikonischen Skulpturen und Installationen, Malereien, Videos, Publikationen sowie Archivmaterial, Tapeten und Logos, ist es die bisher umfassendste Überblicksschau des Künstlertrios, entwickelt in Zusammenarbeit mit der National Gallery of Canada und dem Stedelijk Museum Amsterdam.

General Idea begann als Gruppe von Freund*innen, die sich im Sommer 1969 in Toronto, Kanada, zusammenfand und gemeinsam lebte und arbeitete. Durch ein Missverständnis kam sie im folgenden Jahr zu ihrem Namen – »General Idea« war ursprünglich der Titel eines ihrer Werke. Als dieses 1970 im Rahmen der Ausstellung »Concept 70« in der Nightingale Gallery (heute A Space) in Toronto gezeigt wurde, hielten die Organisator*innen den Titel für den Namen der Gruppe: eine Zuweisung, die dem Selbstverständnis der Künstler*innen – ein genderdiverses Kollektiv – entsprach. 1973 hatte sich General Idea als Trio etabliert: AA Bronson, Felix Partz und Jorge Zontal. 25 Jahre lang bestanden sie darauf, dass drei Köpfe besser seien als einer.

General Idea erfand fiktive Identitäten und Geschichten für sich selbst, spielte mit Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität und adaptierte Formate aus der Popkultur wie Schönheitswettbewerbe und Talkshows. Auf diese Weise setzte sich das Trio mit Themen auseinander, die den heutigen fluiden Umgang mit sexuellen und geschlechtlichen Identitäten, digitalen Avataren, sozialen Medien und Reality-TV vorwegnahmen. Das Werk von General Idea ist bis heute ein ermutigendes Zeugnis für die radikalen Möglichkeiten der künstlerischen Kollaboration.

Nach dem Aufkommen von Performance und konzeptueller Kunst in den 1970er-Jahren wurde die Malerei von vielen in der Kunstwelt als konservatives Medium betrachtet, das sich dem Markt anbiedere: Gemälde ließen sich leichter verkaufen. General Idea beteiligte sich an diesen Debatten und verwendete Malerei subversiv, indem sie ein traditionelles Format wählte, um provokative Inhalte vorzubringen: schwules Begehren und Sex. General Ideas Malereien »Mondo Cane« –die orgiastische Pudel in verschiedenen Sexstellungen zeigen – referieren auf die Protractor-Gemälde von Frank Stella aus den späten 1960er-Jahren. Während Stellas Arbeiten streng geometrisch waren, wandte sich General Idea der figurativen Malerei mit sexuellen Anspielungen zu. Als Wachhunde und schwule Begleiter können die Pudel auch als Avatare der Künstler verstanden werden. Der Raum mit allen zehn Bildern der Serie »Mondo Cane Kama Sutra« (1984) wird nur im Gropius Bau gezeigt.

Im Jahr 1986 zog General Idea von Toronto nach New York. Nach seinem Erfolg in Europa wollte das Trio mit dem Ortswechsel den Kontakt zu internationalen Galerist*innen, Kurator*innen und Sammler*innen aufrechterhalten. Während General Idea auf dem Höhepunkt ihres künstlerischen Erfolgs stand, befand sich die queere Community in New York in einer schweren Krise. Konfrontiert mit der zerstörerischen Aids-Epidemie in der Stadt, schuf General Idea im Juni 1987 ihr erstes Gemälde, das sich das Design der Arbeit »Love« (1964) des Pop-Art-Künstlers Robert Indiana aneignete. Die vier Buchstaben ersetzte das Trio durch das Wort »Aids« – ähnlich wie es im Jahr 1972 die Zeitschrift »Life« als »File Megazine« adaptiert hatte. Das Projekt »Imagevirus« erreichte seine größte Sichtbarkeit und Wirkung jedoch nicht als Gemälde in einer Galerie, sondern in Form von Postern und Plakatwänden auf der Straße. »Ins Herzblut der Kommunikation, Werbung und Transportsysteme injiziert«, schrieb AA Bronson später, habe es sich »wie ein Virus im öffentlichen Raum verbreitet«. Bis heute ist es eines der sichtbarsten und umfangreichsten Projekte der Gruppe. Fast alle dieser Werke wurden noch vor Felix Partz’ und Jorge Zontals eigenen HIV-Diagnosen realisiert: Partz erfuhr im Januar 1990 von seiner Infektion, Zontal später im selben Jahr.

»Wir nehmen jede mögliche Form an, welche auch immer unsere dreifache queere Männlichkeit braucht: eine Pudelgang, ein Baby­Liebesdreieck, ein Theater aus Ärzten. Drei Köpfe sind besser als einer.«
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AA Bronson

Zu dieser Zeit entstand auch die Installation »Fin de siècle« (1990), die den Lichthof des Gropius Baus einnimmt. Im Zentrum ruhen drei künstliche Plüsch-Robbenbabys auf einem bühnenartigen Eisblock aus Styropor: »eine Meerlandschaft in totalem schneeblindem Weiß. Ein gewaltiges Trugbild aus zerklüfteten Eisschollen [...] ein Trio weißer Robbenbabys [...] wie tiefgekühlte amphibische Schneepudel.« Das Setting erinnert an Caspar David Friedrichs »Das Eismeer« (1823/24) und versteht sich als ironisches Selbstporträt der drei Künstler, die sich in einer kritischen Lage befanden. Das Werk, das zu den komplexesten und größten Installationen der Gruppe gehört, wirft ein kritisches und buchstäblich kaltes Licht auf die große Aufmerksamkeit, die damals den angeblich gefährdeten Robbenbabys, gegen deren Abschlachten unter anderem Brigitte Bardot in einer Kampagne öffentlichkeitswirksam protestierte, zuteil wurde – im Gegensatz zu der fehlenden Empathie für Menschen, die in den 1980er-Jahren mit HIV lebten und an den Folgen von Aids starben. »Es ist einfacher, ›Rettet die Robben‹ zu verkaufen [...], weil sie niedlicher sind als drei Homosexuelle mittleren Alters«, schrieb Zontal über das Werk. Damit stellt »Fin de siecle« die drastische Frage, welches Leben als schützenswert gilt – eine Frage, die in Anbetracht anhaltender Krisen wie der Covid-Pandemie, des Sterbens an den europäischen Außengrenzen, rassistischer Polizeigewalt und der Klimakatastrophe keineswegs an Dringlichkeit verloren hat.

Die Frage nach dem Verhältnis zum Gedenken im öffentlichen Raum stellt ein weiteres Werk der Aids-Serie: Vor dem Gropius Bau findet sich eine große, neue »Aids Sculpture«. Die erste ihrer Art wurde 1989 geschaffen, und dennoch scheint es, als wären die Strategien des Brandings und der viralen Bildzirkulation unserer heutigen Aufmerksamkeitsökonomie bereits bei der Konzeption berücksichtigt worden. Die exponierte Position lädt dazu ein, Notizen, Graffiti, Aufkleber oder andere Markierungen zu hinterlassen. Anstatt diese Eingriffe als Vandalismus zu kriminalisieren, werden sie zum partizipativen Moment der Arbeit und machen die Skulptur so zu einem Speicher, der die Spuren des Lebens in Berlin trägt und mit der fortbestehenden Präsenz von HIV/Aids konfrontiert. Entscheidend ist, dass die heutigen Behandlungsmöglichkeiten das Leben mit HIV drastisch verändert haben – für diejenigen, die Zugang zum Gesundheitssystem haben.

»Als General Idea erstmals 1982 in Berlin ausstellte, waren wir uns des legendären queeren und anarchistischen Undergrounds der Stadt bewusst. […] Seitdem ich 2013 dauerhaft nach Berlin

gezogen bin, habe ich die lange Tradition aktivistischer Basisbewegungen hier erleben können, die von unterschiedlichen Communitys der Stadt initiiert und getragen werden – darunter auch Aids-Aktivismus. Vieles von dem, was wir damals gesehen haben, existiert immer noch, und ich kann die Energie und Präsenz dieser Geschichte in unserer Gegenwart spüren«, sagt AA Bronson. Die Nachwirkungen und die Bedeutung der mutigen und erfindungsreichen Arbeit von General Idea sollte nicht unterschätzt werden. Indem es sowohl die heteronormative Deutungshoheit als auch die Omnipräsenz der Konsumkultur infragestellte, ebnete das Trio den Weg für weitere Praktiken der Infiltration und Subversion der Kunstwelt. Partz und Zontal starben 1994 an den Folgen ihrer Aids-Erkrankungen. Die Werke der letzten Periode, die den Kanon der Kunst konsequent herausgefordert und vielleicht sogar verändert haben, spiegeln den intimen Charakter, die Freundschaften und den Spott der frühen Anfänge der Gruppe wider. General Idea hat verdeutlicht, wie kühn disziplinenübergreifend eine Praxis sein kann und wie die Bedeutung der Kunst, ja sogar ihre Existenz, von denen definiert werden kann, die sie produzieren und wahrnehmen. Die künstlerischen Mittel des Selbstausstellens, der partizipativen Performance und der kritischen Bildanalyse haben vielen zeitgenössischen Künstler*innen Möglichkeiten aufgezeigt, Geschichten anders zu erzählen und sich mit Gleichgesinnten zu verbünden, um gemeinsam eine fluidere, kollektivere Welt zu imaginieren.

Text ZIPPORA ELDERS, Leitung Kuratorische Abteilung und Outreach, CHRISTOPHER WIERLING, kuratorische Redaktion

General Idea bis 14. Januar 2024

Gropius Bau gropiusbau.de

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General Idea, »Fin de Siecle«, 1990, Installationsansicht Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 1992 »P is for Poodle«, 1983/89 (vorherige Seite) »Mondo Cane Kama Sutra«, 1984 (S. 38-39)

JOHANN JOACHIM QUANTZ im

Musikinstrumenten­Museum

»Quantz ist der Gott der Musik«, schwärmte Kronprinz Friedrich 1732 über seinen Flötenlehrer. Nur dieser durfte später sein Flötenspiel kritisieren. Tatsächlich war der später am Hof Friedrichs II. wirkende Flötist und Komponist Johann Joachim Quantz ein Phänomen. Als einer der ersten Musiker brachte er Instrumentenbau, eigene Kompositionen, Überlegungen zur Musikästhetik sowie Reflexionen zur musikalischen Interpretation zusammen. Er steht damit prototypisch für ein übergreifendes musikalisches Wirken, das sich in den umfassenden Forschungsfeldern des Staatlichen Instituts für Musikforschung widerspiegelt. Die Ausstellung anlässlich seines 250. Todestages würdigt Leben und Werk. Im Zentrum stehen die Flöten aus dem Besitz von Quantz und Friedrich II., die zu den wertvollsten Objekten des Berliner MusikinstrumentenMuseums zählen.

»Johann Joachim Quantz zum 250. Todestag« bis 11. Februar 2024, simpk.de/museum.html

FRITZ SCHLEIFER in der Alfred Ehrhardt Stiftung

Ausstellungsansicht

AUFARBEITUNG im Dokumentationszentrum für NS­Zwangsarbeit

Fałków, 1941. Der 15-jährige Pole Walerian Wróbel wird zur Zwangsarbeit nach Bremen verschleppt. Er hat Sprachprobleme und Heimweh. Nach zehn Tagen legt er Feuer, weil er hofft, nach Hause geschickt zu werden. Die Bäuerin Luise lässt ihn von der Gestapo abholen. Wróbel wird ins KZ Neuengamme gebracht und am 25. August 1942 hingerichtet. Luise war die Urgroßmutter von Stefan Weger. Der Fotograf stellt sich mit der Ausstellung seiner Familiengeschichte. Er suchte Familienfotos, erkundete das zugewachsene Gelände um den alten Bauernhof und trug Akten des Falls zusammen. So entstand ein dichtes visuelles Porträt einer Familiengeschichte im Nationalsozialismus, das um Vergessen und Bewusstmachung kreist. »Luise. Archäologie eines Unrechts«, bis 28. Januar 2024 ns­zwangsarbeit.de

Das fotografische Werk des am Bauhaus ausgebildeten Architekten, Zeichners und Fotografen Fritz Schleifer ist zum großen Teil verloren. Die Entdeckung von 128 Vintageprints war daher ein Glücksfall. Die bestechende Qualität der Aufnahmen stellt Schleifer in die erste Riege der Avantgarde-Fotografen der 1930/40er-Jahre. Die Ausstellung zeigt eine Auswahl von 48 Fotos, die sich durch eine ungewöhnliche Bildkomposition sowie eine prägnante Motivwahl auszeichnen. Schleifer ist fasziniert vom menschlichen Eingriff in die Natur. Seine Bilder tragen die Handschrift eines Konstrukteurs, der »ideen geometrischer abwandlungen mit grafischen mitteln sichtbar« macht.

»foto fritz schleifer: küstenland« bis 23. Dezember 2023, aestiftung.de

Fritz Schleifer, »Langeness«, 1930er-/40er-Jahre

Johann Friedrich Gerhard, »Porträt Johann Joachim Quantz«, 1735
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Im Dienste der Arbeiterklasse

Kunst um der Kunst willen war ihm zuwider: Das Werk des Bildhauers PETER LÁSZLÓ PÉRI ist ein soziales und gesellschaftliches Bekenntnis

Peter László Péri, »Swings«, 1936

Peter László Péri emigrierte 1933 von Berlin nach London. Verfolgt aus politischen und rassistischen Gründen, war dem gebürtigen Ungarn die deutsche Hauptstadt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten keine Heimat mehr. Dabei hatte er hier zunächst beachtliche Anerkennung erfahren. Seit 1920 arbeitete der Bildhauer in Deutschland. Der renommierte Galerist Herwarth Walden stellte seine Beton- und Holzskulpturen sowie seine Raumkonstruktionen Anfang der 1920er-Jahre zusammen mit Werken von László Moholy-Nagy gleich mehrfach aus, produzierte ein Mappenwerk und zeigte seine Arbeiten auch in der Galerie-Zeitschrift »Sturm«. 1923 zierte eine der Raumkonstruktionen sogar das Titelblatt.

Doch Peter László Péri selbst zeigte sich zunehmend unzufrieden mit seiner Arbeit und seinem künstlerischen Umfeld. In der vornehmlich praktizierten Abstraktion sah er einen »konstruktiven Ästhetizismus«, der den Lebensrealitäten der Unterschichten kaum entspräche. Zwar schrieb der ungarische Autor Ernő Kállai noch 1925 eben diesem Werk eine politische Ausdruckskraft zu, indem er ausführte: »In ihrer Monumentalität, in ihren dunkelbraunen, grauen und schwarzen Tönen ist das Gefühl einer niedergezwungenen, aber trotzdem emporstrebenden Kraft verkörpert. Peri ist Sozialist. Das düstere Pathos seiner Raumkonstruktionen wirkt als drohend zusammengeraffte, ragende Konzentration anonymer Massenkräfte«. Doch Péri hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon vom Kunstschaffen distanziert und war von 1924 bis 1928 als Architekt am Berliner Stadtbauamt tätig. In der Architektur sah er zunächst eine Möglichkeit, den Belangen der Arbeiterklasse zuzuarbeiten. Doch auch dieses Ansinnen scheiterte. Schließlich arbeitete er zunehmend figurativ – um seiner politischen Haltung Ausdruck zu geben. Nur wenige Arbeiten aus dieser Zeit sind erhalten. Denn 1933 sahen er und seine britische Ehefrau, Mary Macnaghten, sich gezwungen, aus Deutschland zu fliehen und nach England zu emigrieren. Hier wurde der Künstler rasch in politischen Kreisen aktiv, war Mitbegründer der Artists International Association – eines Verbands, der sich um exilierte und emigrierte Künstler*innen kümmerte und Ausstellungen organisierte. Péris Spätwerk im Exil ist figurativ. Auch im Werkstoff vollzieht er eine deutliche Wende: Anstelle von Bronze arbeitet er nun vornehmlich in Beton. »Pericrete« – dem englischen Wort für Beton (»concrete«) und seinem Namen entlehnt – bezeichnet eine von ihm entwickelte Technik, bei der der Werkstoff farbig gefasst wird. Zwar konnte László Péri noch in den 1930er-Jahren erste Ausstellungen in seiner neuen Heimat umsetzen, doch der große öffentliche Durchbruch, vor allem aber wirtschaftlicher Erfolg blieben ihm verwehrt. Selbst die öffentlichen Aufträge für Kunst am Bau konnten die missliche finanzielle Situation nicht auffangen. Péri lebte bis zu seinem Tod 1967 in einfachen Verhältnissen. Still und zurückgezogen war er indes nicht. Auch im Londoner Exil blieb er seinen politischen Idealen treu und meldete sich wiederholt diesbezüglich zu Wort. Insbesondere dann, wenn es um die Rolle der Kunst in der Gesellschaft ging. 1954 schrieb er in einem Beitrag des »Architectural Association Journal«, dass Bildhauer oft behaupteten, Architekten hätten kein Interesse an der Skulptur. Das wäre, »natürlich nicht zutreffend«, so Péri. »Formal war sie in Gänze Teil der Architektur und ihr Inhalt war Spiegelbild des sozialen Lebens. Dies war in Europa bis zum Beginn der Renaissance der Fall. Aber dann begann sich die Einstellung zur Bildhauerei zu verändern«, schrieb Péri. »Skulptur war nicht länger zentraler Bestandteil eines Gebäudes, sondern wurde zunehmend dekoratives Element.« Auf ein solches Element könnte

man als Bauherr nur allzu gut verzichten, wenn es darum ginge, die Kosten niedrig zu halten.

Péri trat – selbst immer wieder mit Kunst im öffentlichen Raum beauftragt – als vehementer Befürworter einer baubezogenen Plastik auf, forderte aber zugleich ein soziales und gesellschaftliches Bekenntnis. Kunst solle und dürfe nicht ohne die Belange der Bevölkerung gedacht werden. Eine Kunst um ihrer selbst willen war ihm zuwider. In diesem Licht sind auch die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten zu verstehen: als sich zurücknehmender Blick eines Porträtisten seiner Zeit. Péri fokussierte in seinen farbigen Reliefs und Porträtbüsten nahezu ausnahmslos auf Darstellungen der ärmeren Bevölkerungsschichten, klagte vielfach aber auch politische Missstände an. Insbesondere in seinen grafischen Zyklen kommt dies zum Ausdruck. Es wundert wenig, dass sich sein kritischer Blick auch immer wieder auf Deutschland richtete – jenes Land, aus dem er vertrieben wurde und in dem er so zahlreiche Werke unwiederbringlich zurücklassen musste. Ganz brach er den Kontakt in seine alte Heimat allerdings nicht ab. Im politischen System der DDR sah er das bessere Deutschland, beteiligte sich Ende der 1950er-Jahre sogar an einem internationalen Grafikwettbewerb in Leipzig und hielt enge, freundschaftliche Kontakte zu links-politisch aktiven Intellektuellen in Ost-Berlin.

Haben Peter László Péris frühe Werke der 1920er-Jahre jüngst vermehrt öffentliche Anerkennung erfahren, so ist das Werk, das nach seiner Emigration entstand, weitgehend unbekannt. Auf diesen Teil des künstlerischen Œuvres fokussiert nun die Ausstellung im Kunsthaus Dahlem.

Little People –Peter László Péri bis 18. Januar 2024 Kunsthaus Dahlem kunsthaus-dahlem.de

»Help Your Neighbour«, ca. 1960

69 4 / 23 KUNSTHAUS DAHLEM

Wenn Erinnerung Materie wird

Kriege und Unterdrückung hinterlassen auch Spuren in der Kunst. MODERNE

UND GEGENWART zeigen

erstaunliche Parallelen

Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit bis 7. Januar 2024 Brücke-Museum / Schinkel Pavillon bruecke-museum.de schinkelpavillon.de

Fragment von Johanna SchützWolffs Bildteppich »Der Tote«, 1930

Zitrusfrüchte, daneben die Saftpresse und eine gefüllte Wasserkaraffe. Das Motiv, das Karl Schmidt-Rottluff – inspiriert von einem Italienaufenthalt – in seinem Ölgemälde »Römisches Stillleben« von 1930 einfing, könnte auf den ersten Blick nicht harmloser sein. Für die Nationalsozialisten, die 1933 ihre Machtübernahme mit Fackelzügen durch das Brandenburger Tor feierten, schien es jedoch – wie letztlich alle Werke des Expressionismus –keinesfalls harmlos. Die Freiheit in Motivwahl und Malstil verstand das nationalsozialistische Regime als Bedrohung für die Umsetzung der Ziele Hitlers, die auch in der Kunst gespiegelt sein sollten. Und so wurde das Stillleben 1937 aus der Nationalgalerie entfernt, nachdem es nur kurz zuvor Teil der Sammlung geworden war. Die diffamierende Propagandaausstellung »Entartete Kunst«, die durch das Deutsche Reich wanderte und die Kunst der Moderne an den Pranger stellte, präsentierte das Werk neben zahlreichen anderen. Die Neue Abteilung der Nationalgalerie wurde 1919 in dem unweit des Stadtschlosses gelegenen Kronprinzenpalais eingerichtet. Von Direktor Ludwig Justi begründet, war sie eine der weltweit ersten öffentlichen Sammlungen avantgardistischer Kunst. Alfred Barr, Gründungsdirektor des New Yorker Museum of Modern Art, bewunderte den innovativen Ansatz: »Our institution seeks to fulfil the function of a Kronprinzenpalais.« (Unsere Institution will die Funktion des Kronprinzenpalais erfüllen.) Doch nach der Beschlagnahme einzelner Werke wurde die Abteilung 1936 geschlossen. Wie viele moderne Künstler*innen erhielt Schmidt-Rottluff ein Berufsverbot, zahlreiche Werke wurden verbrannt. 1945 zerstörte ein Bombenangriff das Kronprinzenpalais.

Das »Römische Stilleben« überstand den Zweiten Weltkrieg. Über Umwege gelangte es in das von seinem Urheber initiierte Museum. 1967 in West-Berlin eröffnet, wurde das Brücke-Museum als eine Art Wiedergutmachung im Sinne eines demokratischen Neuanfangs zelebriert. Es widmet sich der Künstlergruppe Brücke, der Schmidt-Rottluff angehörte, und strebt heute eine vielseitige Beschäftigung mit dem historischen Vermächtnis an – nicht zuletzt in Form von Kooperationen. Die zur Berlin Art Week eröffnete Ausstellung ist die erste Zusammenarbeit mit dem Schinkel Pavillon. Der 2007 gegründete Kunstverein befindet sich im Gebäudeensemble des wiederaufgebauten Kronprinzenpalais. Schmidt-Rottluffs Gemälde kehrt so an jenen Ort zurück, dem es einst entrissen wurde. Nicht zuletzt knüpft der Schinkel Pavillon mit seinem Fokus auf Gegenwartskunst an die Tradition des Ortes an, aktuelle künstlerische Tendenzen zu präsentieren.

Nussbaum wurden im Nationalsozialismus ermordet. Mit der zeitgenössischen Kunst erweitert sich das Thema auf spätere Kriege an anderen Orten. So verweisen die Arbeiten von Simone Fattal auf den libanesischen Bürgerkrieg (1975–90), ihre Keramikskulpturen können zugleich als zeitlose Widerstandssymbole gelesen werden.

Der Blick richtet sich auch auf aktuelle Brennpunkte, zum Beispiel den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit der Rauminstallation von Kateryna Lysovenko. Die im Schinkel Pavillon präsentierte Neuproduktion inszeniert einen Wartesaal. Sei es ein Bahnhof oder die Vorstellung davon – Lysovenko reflektiert das Ausharren in den schwierigen Zeiten von Flucht, Mobilisierung, Deportation und Verlust. Die Zeichnungen von Leo Breuer, die der Künstler Anfang der 1940er-Jahre im Internierungslager St. Cyprien anfertigte, wirken erschreckend zeitlos, könnten sie doch ebenso aus einem heutigen Camp für Geflüchtete stammen.

Inozemtseva hinterfragt mit ihrem kuratorischen Konzept die Linearität von Zeit. Der Titel der Ausstellung ist dem gleichnamigen Film von Alexander Kluge aus dem Jahr 1985 entliehen. In der episodisch angelegten Erzählung verbinden sich die Geschichten dreier Figuren, deren Leben auf dem fragilen Fundament von Erinnerungen an die tragischen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs basiert. Die schreckliche Zeit, die zuvor von anderen erlebt und bezeugt wurde, wird in der fiktiven Geschichte durch das Erinnern in körperlicher Gestalt wiederbelebt. Der am 24. Februar 2022 begonnene Einmarsch der russischen Armee in das Gebiet der unabhängigen Ukraine wurde für Europa zu einem ähnlichen Moment. Die Vergangenheit erfährt seitdem eine nicht für möglich gehaltene Materialisierung in der Gegenwart.

»Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« lautet der Titel der von Katya Inozemtseva kuratierten Schau. Mit der komplexen Verbundenheit der beiden Partnerinstitutionen erhebt die Ausstellung den historischen Schnittpunkt des Krieges zum thematischen Kern. Sinnlos und unaufhörlich begleiten Kriege die Menschheitsgeschichte. Sie zerreißen Biografien oder setzen diesen ein gewaltsames Ende. Auf eindringliche oder subtile Weise dokumentieren Kunstwerke seit jeher solche dunklen Kapitel. Nicht nur Provenienzen erzählen davon, direkte Kriegserfahrungen spiegeln sich auch in der Kunst selbst, damals wie heute. Erinnerungen werden aus individueller Perspektive künstlerisch festgehalten, auch um die traumatischen Erlebnisse überhaupt verarbeiten zu können. Die rund 25 Positionen der Gruppenausstellung sind Ergebnis künstlerischer Arbeit und geben zugleich Zeugnis von Kriegsgewalt. Unter diesem Fokus führt die Ausstellung Kunstwerke des frühen 20. und des 21. Jahrhunderts spannungsreich zusammen. Künstler*innen wie Elfriede Lohse-Wächtler, Maria Luiko oder Felix Karl Schmidt-Rottluff,

BRÜCKE MUSEUM / SCHINKEL PAVILLION
75 4 / 23
»Römisches Stilleben«, 1930
www.museumsjournal.berlin
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