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EMOP Das Festival für Fotografie feiert Jubiläum MICHEL MAJERUS Zurück ins Jetzt! MONICA BONVICINI legt eine Ikone der Moderne in Ketten Ausstellungen in Berlin und Potsdam 1/23 JANUAR FEBRUAR MÄRZ 8,50 €
EMOP 20 INHALT 13 Institutionen Neuigkeiten aus den Berliner Museen und Ausstellungshäusern 14 Kolumne Wieder Gas geben – mit Wasserstoff Neue Bücher Das lesen wir im Winter 16 Tagesreise nach Herford Tobias Zielony erkundet die dunkle Datenwelt PANORAMA Zum EMOP stellt Anastasia Samoylova bei C/O Berlin aus: »Tourist Attraction«, Orlando, 2020
8 Michel Majerus Wie ein Reigen von Ausstellungen den früh verstorbenen Künstler zurück in die Gegenwart holt 11 Märzrevolution Ein Projekt erinnert an den Weg zur Demokratie in Deutschland 12 Digital Wo man der Kunst jetzt online begegnet
MAJERUS 8 2
Michel Majerus, ohne Titel, um 1993
MICHEL

FOKUS

EMOP –European Month of Photography

20

Zehnter Europäischer Monat der Fotografie

Über die berührende Jubiläumsausstellung im Amtsalon 24

Nan Goldin

Die Fotografin und Aktivistin erhält den Käthe­Kollwitz­Preis 27

William Eggleston C/O Berlin würdigt einen der einflussreichsten Fotografen 28

Industriefotografie

Das Deutsche Historische Museum vergleicht Motive aus Ost und West 30

Gregor Sailer

Die Alfred Ehrhardt Stiftung zeigt, warum Chinas neue Seidenstraße auch durch die Arktis führt

33

Gabriele Stötzer in der Galerie Pankow Musterstadt Ost im Meinblau Projektraum

34

Fotografinnen der Gegenwart in der Alten Münze Anett Stuth im Künstlerhaus Bethanien Cai Dongdongs Bildbearbeitungen in der Villa Heike

35

Deutscher Jugendfotopreis in der KulturMarktHalle Hashem Shakeri bei Anahita Contemporary

36

Drängende Gegenwart ein EMOP­Special Thomas Höpker im f3 – Freiraum für Fotografie

37

Susanne Keichel im Raum für drastische Maßnahmen Über die Gewalt des Kriegs in der Botschaft der Ukraine Johanna-Maria Fritz in der Artco Galerie

DISKURS

Streit und Kritik

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Konflikte

Wie das Museum für Kommunikation zur Streitkultur beiträgt

42 Kritik in der Krise So steht es um die Kunstkritik

3
Cover: Heinz Peter Knes, aus der Serie »Gesture Studies«, 2021, zu sehen in der Jubiläumsausstellung des EMOP

AUSSTELLUNGEN

46

Monica Bonvicini

Von männlich kodierten Räumen und wie man sie zertrümmert –in der Neuen Nationalgalerie

49

Eine Million Gefäße im Neuen Museum Leiko Ikemura im Georg Kolbe Museum Aktuelle Malerei in der Berlinischen Galerie

50 Grafikerinnen vor 1800 Das Kupferstichkabinett zieht eine feministische Bilanz

53

Maria Lassnig

Farbe mit Gefühl im Gutshaus Steglitz

54

Sozialistenträume

Das Kunstgewerbemuseum räumt Gestaltungsideen aus dem Ostblock auf

56

Erich Buchholz

Im Kunsthaus Dahlem kann man einer hybriden Existenz begegnen

58

Spuren der Erinnerung

Wie Mori Ōgai bis heute Identität stiftet, zeigt seine Gedenkstätte

60

Sonnig

Das Museum Barberini tritt in die solare Umlaufbahn ein 63

Reportagefotografie im Museum Berlin­Karlshorst Wechselhafte Wertschätzung in der Abguss­Sammlung Antiker Plastik Politisches Engagement im Mitte Museum 64

Denkmal

Im Mies van der Rohe Haus ist der Architekt als Erinnerungsgestalter zu besichtigen

66

Avantgarde

Das Jüdische Museum feiert das magnetische Paris 69

Kunst aus der Ukraine im Haus am Lützowplatz Objektbiografien im Werkbundarchiv Schall und Sound im Hamburger Bahnhof

Peter Paul Rubens, »Der Sturz des Phaeton«, um 1605 Monica Bonvicini, »Lightworks« in der Neuen Nationalgalerie, 2022
46 MUSEUM BARBERINI 60 4
MONICA BONVICINI

70

Spanische Kunst

Das PalaisPopulaire zeigt, wer nach der Franko­Diktatur eine Hauptrolle in der Kunst übernahm

72

Bindungen

Warum chinesischen Frauen einst die Füße verstümmelt wurden, erklärt das Tieranatomische Theater

74

Jürgen Wittdorf

Im Schloss Biesdorf wird dem DDR­Grafiker gehuldigt

77

Koloniale Migration

Das Schöneberg Museum zeichnet eine Familiengeschichte nach

78

Reparatur

Im Technikmuseum macht man sich an die Wiederherstellung einer Kulturtechnik

EINBLICKE

82

Kulturaustausch

Zur Bedeutung der Schlachtenkupferstiche im Ethnologischen Museum

84

Privatsammler

Das Bröhan­Museum freut sich über die Schenkung der Sammlung Wieneke­Zuschlag 88

Geheimnisverrat

Warum das Brücke­Museum jetzt alles transparent machen will 90

Frisch restauriert

Was ein Marinebild von den Sehnsüchten des Großen Kurfürsten erzählt 93

Zimmer mit Einsicht Wie sich die Dependance des Mitte Museums ihrer Vergangenheit besinnt

94 Sieben Sachen 96 Umgedreht 97 Bildnachweis 99 Impressum 100 Austellungskalender
William Menzel, »Kubistischer Kopf«, 1920er­Jahre
JÜRGEN WITTDORF 74
5 1 / 23 INHALT
Jürgen Wittdorf, »Sommerurlaub, Zyklus für die Jugend«, 1961

FOTOFESTIVAL

Der EMOP – European Month of Photography feiert Jubiläum

FOKUS

Porträt von Dorna und Sevda, beide 12 Jahre alt, in der neugebauten Stadt Parand südwestlich von Teheran; aus der Serie »Cast out of Heaven« (2016) von dem iranischen Fotografen Hashem Shakeri. Er stellt bei Anahita Contemporary aus (Seite 35)

Wie sehr uns die Bilder berühren

PHOTOGRAPHY

Diesen März feiern wir die zehnte Ausgabe des EMOP Berlin – European Month of Photography und damit zwanzig Jahre Fotofestivalkultur in der Hauptstadt. Berlin ist im Verbund mit seinen europäischen Partnerstädten Brüssel, Lissabon, Luxemburg, Paris und Wien eine der zentralen Spielstätten mit eigenem Programm, das nicht nur die Vielfalt fotografischer Diskurse sichtbar macht, sondern über Bilder auch Signale zur gegenwärtigen europäischen Verfasstheit (nicht nur) in seine europäischen Partnerstädte aussendet. Denn Bilder, zumal fotografische, zeigen, wie wir gelebt haben und leben. Das Berliner Fotofestival ist seit Beginn – über seine nationalen und internationalen Akteur*innen hinaus, die jeweils involviert sind – immer auch Ausdruck der Heterogenität und Diversität der Stadt. So bildet auch die kommende Ausgabe unter dem Leitmotiv »Touch« mit einem umfangreichen Ausstellungs­ und Veranstaltungsprogramm nationale wie internationale Entwicklungen der historischen und zeitgenössischen Fotografie

ab. Gleichzeitig erhalten lokale Netzwerke unter dem gemeinsamen Dach des Festivals für einen Monat verstärkte Sichtbarkeit. Mit rund hundert Ausstellungen in allen Berliner Stadtbezirken legt sich auch 2023 ein Netz fotografischer Fixpunkte über die Stadt, das in große Museen, kommunale und private Galerien, Kulturinstitute und Botschaften, aber auch in Ausbildungsstätten und viele Off­Spaces führt.

Das vielstimmige Nebeneinander der fotografischen Szenen Berlins steht im Fokus der Jubiläumsausstellung »Touch. Politiken der Berührung« im Amtsalon. Vierzig in Berlin lebende Künstler*innen unterschiedlicher Generationen und Herkünfte – von Helga Paris bis Luise Marchand, von Herbert Tobias bis Paul Hutchinson – werden zueinander in Beziehung gebracht: »get in touch«! Das Motiv des Kontakts aber reicht weiter: Verstärkt durch die Erfahrung einer Pandemie wünschen wir uns Berührung –»being touched«. Wie aber können wir uns von Bildern berühren lassen? Ohne

Der EUROPEAN MONTH OF
präsentiert ein Medium in vielen Facetten. Dass Fotografie unsere Sicht auf die Wirklichkeit schärfen kann, zeigt vor allem die Jubiläumsausstellung »Touch«
Yalda Afsah, Filmstill aus »SSCR«, 2022
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Helga Paris, »Pauer«, aus der Serie »Berliner Jugendliche«, 1982

die Möglichkeit, sie anzufassen, wirken in der Betrachtung Mechanismen von Nähe und Distanz und fordern ein nicht­taktiles Sensorium der Berührung. Die technologischen Entwicklungen wiederum scheinen Momente der Distanz zur Abbildung aufzulösen: »Touch devices« suggerieren eine größere Nähe zum Objekt der Aufnahme. Wie verändert sich infolgedessen das Verhältnis von taktiler und optischer Wahrnehmung? Welchen Einfluss hat die Omnipräsenz digitaler Bilder in materiell ausformulierten künstlerischen Arbeiten?

Mit der Montage fotografischer oder fotografiebasierter Bilder geht die Ausstellung diesen Fragen nach und sensibilisiert für die Bedeutung von Fotografie in künstlerischen Zusammenhängen.

Akteur*innen aus Theorie, Praxis und Vermittlung kommen während der Opening Days zu aktuellen Themen ins Gespräch. Wir diskutieren mit Künstler*innen über den gesellschaftspolitischen Auftrag der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie, mit einem Fokus auf fotografischen Dokumentationen der postmigrantischen Gesellschaft und Verhandlungen von identitätspolitischen Fragen. Welche blinden Flecke fotografische Archive aufweisen, wie Fotograf*innen künstlerisch­performativ in sie intervenieren bzw. eigene Archive anlegen, ist ein weiterer Schwerpunkt. Auch wird sondiert, wie

angesichts von Klimawandel und Energiekrise nachhaltige Produktionsweisen in der fotografischen Kunst forciert werden können und was dies für die zukünftige Sicherung und Bewahrung bedeutet. In der Überzeugung, dass Kunst Brücken bauen kann, werden wir auch auf aktuelle politische Entwicklungen eingehen. So geben wir im Rahmen der Opening Days der wohl wichtigsten fotografischen Bewegung in der Ukraine, der Kharkiv School of Photography, Raum. Es wird um die kriegsbedingte Exilierung, über fünfzig Jahre nach Gründung dieser Institution, gehen und wie fotografisch­künstlerisch auf den Ausbruch eines Krieges in Europa reagiert wird.

Zudem haben wir zwei weitere Formate mit Akualitätsbezug entwickelt –die EMOP Specials. In »Archivgespräche: Disruptionen des 20. Jahrhunderts« finden an sechs Nachmittagen im März

Führungen durch Fotoarchive und Gespräche mit Expert*innen statt. Unter anderem in der Berlinischen Galerie, im Walter Benjamin Archiv und im Deutschen Historischen Museum werden historische Dokumente gezeigt, die nur selten den Weg an die Museumswand finden. Bilder und andere Archivalien stellen einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen vergangener Kriege und dem aktuellen Krieg her. Es zeigt sich, dass zivilisatorischer Fortschritt keine fortlaufende Entwicklung ist, sondern gerade in fragilen politischen Stimmungslagen immer wieder neu errungen werden muss.

»Drängende Gegenwart« ist eine Gemeinschaftsausstellung der Berliner Ausbildungsstätten für Fotografie – vom Lette Verein bis zur Ostkreuzschule. Die Arbeiten der Studierenden reflektieren die gesellschaftlichen und sozialen Umbrüche und Herausforderungen infolge vielfältiger

Annette Frick, aus der Serie »Gunter«, 1995 Paul Hutchinson, »Glare«, 2020
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Krisen. Erstmals erhalten die jungen Fotograf*innen in dieser Form einen Ort und eine Stimme auf dem Festival. Zugleich würdigt das Projekt die Vielfalt der Fotografieausbildung und die Arbeit privater und öffentlicher Bildungsinstitutionen.

Was ist die Aufgabe eines Fotografiefestivals, da doch das Medium längst in den großen Museen der Welt präsent ist?

Der Fotografie jetzt einen herausragenden Stellenwert einzuräumen, ist gerade mit Blick auf den enormen technologischen und sozialen Wandel, den das Medium durchlaufen hat, nötiger denn je. Zwanzig Jahre EMOP Berlin – European Month of Photography sind auch zwei Jahrzehnte Entwicklung der Fotografie hin zu einem immer präsenteren und stärker sozial verwendeten Medium. Deshalb muss es heute verstärkt darum gehen, das Medium in all seinen Facetten kritisch­reflexiv zu befragen und mit Bildern unsere Sicht auf die Wirklichkeit zu schärfen. Dies kann nur gelingen, wenn wir aufblicken vom Strudel der Bilder in den sozialen Medien, stattdessen die konkrete Begegnung suchen und uns von künstlerisch­fotografischen Bildern (wieder) berühren lassen. »Touch« –so lautet nicht nur das Leitmotiv der Festivalausgabe 2023, es ist uns auch programmatischer Auftrag.

Text MAREN

, künstlerische Leitung EMOP Berlin –European Month of Photography

EMOP BERLIN

European Month of Photography

Der EMOP Berlin – European Month of Photography Berlin, das größte, alle zwei Jahre stattfindende Festival für Fotografie in Deutschland, feiert 2023 seine zehnte Ausgabe mit rund hundert Ausstellungen in Museen, Kulturinstitutionen, Galerien, Ausbildungsorten und Projekträumen. Zur Eröffnung wird ein vielfältiges Programm mit Talks, Paneldiskussionen und Vorträgen prominenter Akteure der Fotografie angeboten. Die Opening Days sowie die Jubiläumsausstellung »Touch. Politiken der Berührung« mit vierzig in Berlin lebenden Künstlern finden im Amtsalon Berlin statt.

Amtsalon Berlin Kantstraße 79, 10627 Berlin

Detaillierter Ausstellungs­ und Veranstaltungskalender unter emop­berlin.eu

Kristin Loschert, ohne Titel, aus der Serie »A Letter«, seit 2013
Laufzeit 2. März bis 31. März 2023 Eröffnung 2. März 2023, 19 bis 24 Uhr Opening Days 2. März bis 5. März 2023 »Touch. Politiken der Berührung«
11
19 Uhr
Jubiläumsausstellung Dienstag bis Sonntag
bis
öffentliche Führungen jeden Samstag und Sonntag 15 Uhr
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Hat die Kunstkritik ausgedient? Längst sind die Zeiten vorbei, in denen sich Kritiker noch als »Gatekeeper« des Kunstbetriebs verstanden. Ebenso massenhaft wie die Kritik produziert werde, werde sie auch ignoriert, befand bereits 2003 der amerikanische Kunsthistoriker James Elkins. »Jeder Mensch ist heute ein Kritiker« – in Anlehnung an das beuyssche Diktum lud die Akademie der Künste gemeinsam mit der Bundeskunsthalle Bonn zu einem sechstägigen Kongress an beiden Orten ein, der die »Zukunft der Kritik« verhandeln sollte.

Ein Ausgangspunkt für die Konferenz war die grenzenlose Ausweitung der kritischen Kampfzone angesichts neuer digitaler Schreib­ und Plattformen sowie kollektiver Praktiken von Kommunikationsnetzwerken. Jeder könne sich heute jederzeit zum Produzenten und Kritiker aufschwingen, so die Annahme der Initiatoren. »Ist das schon eine Demokratisierung der Kunst, und was unterscheidet sie vom Populismus?«, fragte Angela Lammert, Leiterin interdisziplinärer AkademieSonderprojekte, die den Kongress zusammen mit Kolja Reichert, Programmkurator der Bonner Kunsthalle, organisierte. Tatsächlich finden mit auffallender Regelmäßigkeit Veranstaltungen statt, die den Stellenwert der Kunstkritik kritisch beleuchten und neu bewerten möchten. Dies mag weniger Ausdruck einer sich zuspitzenden Krise sein, als vielmehr aus einer konstitutionellen und institutionellen Unsicherheit der Kritik selbst herrühren, wie auch diese Konferenz veranschaulichte.

»Multiperspektivität« war nur eines der Stichwörter, die man immer wieder

Kritik in der Krise

hörte. Heutige Formen der »Postkritik« wurden als demokratisch, vielstimmig und divers gefeiert. Erstaunlich wenig schien man sich daran zu stören, dass die Sichtbarkeit von Kritik nicht mehr durch ein Expertentum und die Auflagenstärke sogenannter »Legacy Media« – gemeint ist die alte Medienstruktur – bestimmt wird, sondern heute unter anderem der Logik von Algorithmen folgt. »Die Implosion der alten Medienstruktur mit der Verlagerung zu dezentraler Verteilung im Netz hat die Bedingungen der Aufmerksamkeit und der kulturellen Macht völlig verändert«, erfuhr man in der »Keynote« von Caroline Busta und Lil Internet, die mit »New Models« 2018 einen unabhängigen Medienkanal gegründet haben, der sich mit den aktuellen Auswirkungen digitaler Technologie auf die Kultur beschäftigt.

Sicher geht es nicht darum, ein digitales gegen ein analoges Publikum auszuspielen. Durch die sozialen Medien interessieren sich mehr und vor allem junge Menschen für Kunst und machen ihre Meinung öffentlich. Influencer übernehmen heute oft Funktionen, die früher Kritiker für sich beansprucht hätten. »Wofür brauchten wir Experten, als wir sie noch brauchten?«, hörte man auf dem Podium. Die verwendete Vergangenheitsform impliziert, dass man sich nicht in der Krise, sondern bereits im Status ihrer erfolgreichen Überwindung wähnt. Der Kritiker unternehme eine Deutung, die Masse tendiere hingegen zum spontanen Urteil, so die Kunsthistorikerin Julia Grosse. Auch das Lachen sei ein gängiges Mittel, Kritik zu üben. Solches nutzen zum Beispiel sogenannte Memes – Text­Bild­Parodien,

Sechs Tage lang wurde in Bonn und Berlin über die ZUKUNFT DER KRITIK diskutiert.
Ob sie eine hat, ist aber noch längst nicht ausgemacht
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die im Netz große Verbreitung finden. Die Organisatoren haben sich entschieden, die Konferenz über die gesamte Dauer von Memes auf dem Freeze­Magazine­Account, einer Art Meme­Plattform, kritisch begleiten zu lassen. Mit Memes könne er viel unverblümter und schneller auf aktuelle Ereignisse reagieren, meinte der Künstler Cem A., der auf Instagram die Kunstwelt kommentiert und inkognito am Panel teilnahm. Doch während eine kleine Gruppe von Insidern im Netz über Parodien des Kunstbetriebs lacht, versteht der Rest der Welt diese Art von Nischenhumor nicht. Es ist nicht neu, dass Inklusion und Partizipation das Kerngeschäft gerade der Reformbewegungen autonomer Kunst bilden. Wirklich neu aber sind heute andere Formen und Themen des Aktivismus. Dieser grundlegende Strukturwandel der Kunst bedingt auch die Maßstabsverschiebung der Kritik.

Kunstkritik entstand im ausgehenden 18. Jahrhundert aus dem Pariser Salon des Beaux Art und dem Aufkommen einer bürgerlichen Öffentlichkeit als Kriterium der Unterscheidung und war somit zuallererst ein Rangurteil, wie der Kunsttheoretiker und Philosoph Robert Kudielka in seinem Vortrag zur »Kunstkritik als Sprachspiel« verdeutlichte. »A quoi bon la critique?« (was nützt die Kritik?) – diese Frage stellte sich schon Charles Baudelaire. »Kunstkritik als Propädeutik herrschaftsfreier Kommunikation« erlange ihre Rechtfertigung aus dem Innersten der Sache selbst und so könne, laut Kudielka, eine Zukunft der Kritik nur »aus den Eingeweiden der Kunst selbst gelesen werden«.

Klassische Bewertungskriterien existieren schon seit Beginn der Moderne nicht mehr, starre subjektorientierte Kategorien haben sich in fluiden Kommunikationsformen aufgelöst. Ein Umstand, dem offenbar nicht nachzutrauern ist, wie man erfährt. Denn die guten alten Zeiten der unabhängigen Kritik habe es laut Julia Voss (ehemals Kunstredakteurin der »FAZ«) sowieso nie gegeben und jede Nostalgie sei fehl am Platz. Vieles sei früher einfach nicht zur Sprache gebracht worden. Es stelle sich vielmehr die Frage, wie sich die Kunstkritik im gesellschaftlichen Diskurs des 21. Jahrhunderts neu positionieren ließe, um wieder relevant zu sein. Eine Antwort darauf blieb sie dem Publikum schuldig.

Viele der teilnehmenden Kritiker haben in andere, beispielsweise wissenschaftliche oder kuratorische Tätigkeitsfelder gewechselt. Freiberufliche Kritiker brauchen nicht nur einen fachlichen Überblick, sondern

auch einen gewissen Idealismus (oder finanzielle Unabhängigkeit), um auf dem umkämpften und schlecht bezahlten Markt zu bestehen. Die kapitalistische PlattformLogik hat die Situation für diesen Berufszweig nicht einfacher gemacht.

In vielen Statements wird deutlich, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Kunst, Kritik und Publikum grundlegend verändert hat. Hanno Rauterberg (Kunstredakteur der »Zeit«) bringt in diesem Zusammenhang den Begriff der »Wertegemeinschaft« ins Spiel und verweist damit auf den Rollenwechsel des Publikums vom Kunstrezipienten zum Kollaborateur. »Make friends, not art«, hieß das übersetzt auf der vergangenen Documenta. An der Documenta­Debatte über Antisemitismus könne man zudem die Wechselwirkungen zwischen etablierter Kritik und den sozialen Medien gut nachvollziehen, so Elke Buhr, Chefredakteurin des Kunstmagazins »Monopol«: »Man hat den Eindruck gewonnen, dass die Primitivität von Twitter und den sozialen Medien, wo es wirklich um das Skandalisierungspotenzial geht, eine Rückwirkung auf das Feuilleton hat, das dann doch nicht mehr so seriös erscheint, wie es vielleicht sein will.«

Während Rauterberg der Kritik weiterhin optimistisch die Rolle des »Störenfrieds« anvertraut, ist der Kunsthistoriker und Kurator Helmut Draxler der Meinung, dass sich nicht nur an dem DocumentaDebakel zeigen lasse, wie sehr sich »der kritische Jargon heute so verselbstständigt hat, dass ganze Kunstzeitschriften eine Art Mainstream an Kritikalität performen«. Gerne würde man hier konkrete Beispiele hören, ohne die eine derart streitbare These selbst in die eigene Falle der Plattitüde tappt. Gleichwohl hätte man sich mehr Provokationen dieser Art gewünscht im Verlauf der allzu theorielastigen Tagung. Zu Recht meint Draxler: »Kritik verlangt auch immer eine Form systemischer Selbstkritik, sonst ist Kritik einfach nicht zu machen.«

Die Zukunft der Sprache, auch das machte der Kongress mehr als deutlich, müsste ebenso zur Diskussion stehen wie die der Kritik. Heinrich Dunst, der in seiner Kunst die medialen Schnittstellen von Sprache, Bild und Skulptur untersucht, äußerte sich dadaistisch irritiert über das Symposium und die dort »eingenommenen Sprechpositionen«: »Die Sprache muss in eine Kollision treten«, forderte er. »Das Stottern bekommt eine neue Dimension. Die Form hat keinen Ort mehr. Sie springt in ein Waschbecken.«

Die leiseste Stimme des Kongresses war die der amerikanischen Künstlerin und Aktivistin Cassie Thornten. Sie hatte den japanischen Performancekünstler Michiyasu Furutani in die Bundeskunsthalle eingeladen, der im Saal zwischen dem Publikum saß und still vor sich hinweinte. Für die Journalistin Jina Khayyer demonstrierte diese Performance die Verletzlichkeit der Künstler, aber auch die der Kritiker, die sich hinauswagen und eine These formulieren. Das erfordere Mut.

Lediglich um eine ästhetische Betrachtung von Kunstwerken geht es in der Kritik weniger denn je. In einer Zeit, in der die Kunst oftmals politisch ist und aktives Handeln einfordert, kann die Kritik nicht dahinter zurückstehen. Die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan spricht davon, wie politische Probleme heute auf die Kunst projiziert werden: »Der Bundeskanzler geht aus Protest nicht zur Documenta, verteilt aber kurz danach in Saudi­Arabien großzügig seinen Handschlag.« Dazu hätte es keine Kritik in deutschen Leitmedien gegeben, so Dhawan. Der mit rund neunzig internationalen Gästen personell und thematisch deutlich überfrachtete Kongress zeigte sich an vielen Stellen bemüht um eine notwendige Blickerweiterung in einer globalen Welt, in der die politische Zensur in zahlreichen Ländern ebenso Auswirkungen auf Kunstproduktion und Kunstkritik hat.

Wie wenig handlungsfähig bisweilen die Kritik und damit wie realitätsfern Diskurse über ihre mögliche Krise letztlich sind, machten der Autor Danson Kahyana aus Uganda, die Künstlerin Sara Nabil aus Afghanistan und der Künstler und Kurator Barış Seyitvan aus der Türkei mit ihren bewegenden Berichten über Folter, Gewalt und Berufsverbot in ihren Heimatländern erschütternd sinnfällig.

Nach sechs langen Konferenztagen blieben mehr Fragen als Antworten. Bei aller Kritik der Kritik, keine Spur von Zukunftsvision. Immerhin der Künstlerin Hito Steyerl fiel in ihrem Schlussplädoyer eine Antwort ein: »Wir sprechen über die Zukunft der Kritik, ohne die Zukunft zu denken«. Und mit einem Verweis auf die blinde Zerstörungswut der Klimaaktivisten als neue Form der Kritik und die rohen Fakten, die alles in einen neuen Rahmen setzen, ist ihr dystopisches Fazit: »Wir müssen uns auf eine Zukunft ohne Energie, ohne Internet, ohne Infrastruktur einstellen!« Und damit ohne Kritik?

Text
HAUN-EFREMIDES 43 1 / 23 DISKURS
ANNE

AUSSTELLUNGEN

Blick in die Ausstellung »I do You« von Monica Bonvicini in der Neuen Nationalgalerie mit der Arbeit »Breach of Decor«, 2020–22

In Schutt und Ketten

Mit ihren spektakulären Installationen greift MONICA BONVICINI den männlich kodierten Raum an. Dafür zertrümmert sie sogar das Image einer Architekturikone

Mit Monica Bonvicini setzt die Neue Nationalgalerie die Bespielung der Ausstellungshalle mit einer starken weiblichen Position der Gegenwartskunst fort. Während Barbara Kruger zuvor den ikonischen Museumsraum Mies van der Rohes in seinen Grundelementen unangetastet ließ und ausschließlich auf den Boden fokussierte, nimmt Bonvicini sehr markante architektonische Eingriffe vor und bricht dadurch die nahezu sakrale Wirkungsmacht der Halle auf.

Der Architektur widmet sich Monica Bonvicini seit Jahren intensiv. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf den oft übersehenen, verdeckten Mechanismen der westlichen Moderne: Sexuelle Einschreibungen werden ebenso wie die damit einhergehenden Mythisierungen von der Künstlerin offengelegt und ironisch­spielerisch destabilisiert. Bonvicinis Ausstellungen sind meist ortsspezifisch angelegt und entstehen aus einer genauen Reflexion des jeweiligen Raumes, den sie nicht selten aggressiv attackiert. So zieht sie zusätzliche Wände oder Zäune ein, stellt Gerüste auf, baut Treppen oder verwendet Spiegelungen.

Ein weiteres Charakteristikum sind Skulpturen und Installationen, die die Künstlerin mit einem Bewegungsmoment ausstattet, wie die Installation »Breathing« aus dem Jahr 2017, bei der eine motorbetriebene Peitsche auf den Boden und die Wände des Ausstellungsraumes einschlägt. Eindrücklich sind auch Bonvicinis Filmarbeiten, in denen Frauen in einen körperlich­emotionalen Dialog mit der Architektur treten: »Wallfuckin’«, bereits 1995/96 entstanden, zeigt eine nackte Frau, die an einer Wand masturbiert. In »Hammering out (an old argument)« von 2013/14 sieht man den Arm der Künstlerin, der mit einem Vorschlaghammer auf

eine weiße Wand einschlägt, bis das Mauerwerk frei liegt. All diese Kunstwerke führen eine selbstbewusst­emanzipierte Aneignung des Raumes durch die Frau vor, denn Architektur ist für die Künstlerin grundlegend männlich kodiert.

Mit ihrer Kunst greift Bonvicini einen Machismo an, wie er etwa von Le Corbusier, einem der Überväter der architektonischen Moderne, formuliert wurde: »I believe in the skin of things as in that of women« – ein Zitat, das Bonvicini zum Titel einer Arbeit machte, mit der sie die Auszeichnung des Goldenen Löwen der 48. Biennale von Venedig erhielt. Dort beschrieb sie die Innenwände eines Raumes mit Aussagen berühmter männlicher Architekten und übersetzte diese in karikaturistische Zeichnungen, womit sie den sexistischen Tenor der Zitate entlarvte. Bonvicinis künstlerische Interventionen lesen sich als Angriff einer Frau auf die chauvinistische Vormachtstellung, die sich in der Architektur vielfach widerspiegelt, und als Versuch, den Raum zurückzugewinnen und neu zu besetzen.

In konsequenter Fortführung dieser Ansätze eignet sich Bonvicini mit ihrer Installation in der Neuen Nationalgalerie den von Mies van der Rohe konzipierten Raum feministisch an. Der als Imperativ formulierte Ausstellungstitel »I do You« ist dabei doppeldeutig zu verstehen: Die Künstlerin verweist auf die Macht von Mies, der den hier ausstellenden Künstler*innen einen fulminanten Rahmen bietet und »etwas aus ihnen macht«. Gleichzeitig liest sich »I do You« unmissverständlich als Provokation an den berühmten Architekten – eine Drohung, die Bonvicini durch eine drastische Umwertung des Gebäudes in ihrer Ausstellung einlöst. Bereits der Eingang des Gebäudes ist mit einer Wand verstellt,

Monica Bonvicini, »2 Tonnen Alte Nationalgalerie«, 1998 / Ausstellungsansicht »I do You«, Neue Nationalgalerie, 2022 (links)
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die an das hohe Dach gelehnt ist und dieses überragt. Im Innenraum hat die Künstlerin ein großformatiges, begehbares Podest installiert, wodurch der auf Weite, Klarheit und Transparenz basierende Raum völlig neu definiert wird.

Dem Publikum werden ungewohnte Perspektiven eröffnet, wenn es nach dem Eintreten in den Museumsraum durch die verspiegelte Verkleidung der Plattform zunächst mit sich selbst und der eigenen Präsenz im Raum konfrontiert wird und anschließend die rundum verglaste Halle und die äußere Umgebung aus einer erhöhten Perspektive betrachten kann. Neben den großen architektonischen Eingriffen sind ausgewählte skulpturale Arbeiten aus Bonvicinis Œuvre in der Ausstellung platziert, mit denen die Besucher*innen teils interaktiv und performativ umgehen können. Im Zusammenspiel mit Licht­, Film­ und Soundarbeiten vermittelt die Ausstellung Bonvicinis Medienvielfalt und ihre zentralen Themen Feminismus und Architektur sowie die damit verbundene Infragestellung der Rolle der Institution, ohne eine klassische Retrospektive zu sein.

Mit der Nationalgalerie verbindet die Italienerin Monica Bonvicini, die in Berlin studierte und nach Stationen in Los Angeles, London und Wien seit ihrer Berufung an die Universität der Künste 2017 hier auch wieder ihren Lebensmittelpunkt hat, eine lange Beziehung. Bereits 1998 entstand die Arbeit »2 Tonnen Alte Nationalgalerie«, für die Bonvicini im Zuge der Sanierung Unmengen Schutt und Schmutz von der klassizistischen Fassade des Schinkel­Baus abtrug und im Ausstellungsraum installierte. 2005 wurde die damals 40­jährige Künstlerin mit dem Preis der Nationalgalerie ausgezeichnet, was für sie einen großen Karrieresprung bedeutete. Dafür installierte sie im Hamburger Bahnhof ihre Arbeit »Never Again«, bei der man sich durch eine Installation aus Hängematten, Baugerüsten und Stahlketten bewegte.

Auch Mies van der Rohe war in den vergangenen Jahren immer wieder ein konkreter Bezugspunkt für einzelne Werke. Mit »Mies Corner« aus dem Jahr 2002 präsentierte Bonvicini in ein Edelstahlgerüst eingefasste Zeichnungen, die homoerotische Sadomaso­Szenen in einem Setting zeigen, das Mies’ Architekturentwürfen entlehnt ist, und nahm damit den »Boys’ Club« der Architektur aufs Korn. Bonvicinis möbelähnliche Objekte aus schwarzen Herrengürteln, wie »Belts Couch #1« von 2004, verweisen auf die berühmten Designklassiker von Mies van der Rohe. Vielen wird nicht bekannt sein, dass zahlreiche der dem Architekten zugeschriebenen Inneneinrichtungen und Möbelentwürfe, darunter die überall in der Neuen Nationalgalerie verteilten »Barcelona Chairs«, auf einer kongenialen Zusammenarbeit mit der Innenarchitektin und Designerin Lilly Reich basieren.

Mit der Einladung Bonvicinis zu einer Einzelausstellung würdigt die Neue Nationalgalerie eine Künstlerin, die von Berlin aus international bekannt geworden ist und in ihrer Kunst beharrlich dazu auffordert, überholte Kategorien zu hinterfragen und bislang übersehene Aspekte des Museums zu untersuchen.

Text IRINA HIEBERT GRUN, Kuratorin an der Neuen Nationalgalerie Monica Bonvicini. I do You bis 30. April 2023

Neue Nationalgalerie

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Monica Bonvicini, »Twisted«, 2022

EINE MILLION GEFÄSSE im Neuen Museum

Uli Aigner hat es sich zur Aufgabe gemacht, bis an ihr Lebensende eine Million weiße Essgefäße aus Porzellan zu schaffen. Diese entstehen in eigenständigen, aufeinanderfolgenden Projekten, jedes Objekt ist nummeriert. Zudem wird ein interaktiver Datensatz angelegt, der Form und Standort eines jeden Stückes auf einer digitalen Weltkarte verzeichnet. Im Neuen Museum werden die Arbeiten als Interventionen in Form von Film, Installation und Skulptur präsentiert. Uli Aigner schlägt eine Brücke zwischen zeitgenössischer angewandter Kunst und der Formgebung in Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit. Dem Publikum wird so ein neuer Blick auf prähistorische Gefäßkeramik ermöglicht.

»Der Porzellan Code. One Million by Uli Aigner«, bis 28. Mai 2023 smb.museum

LEIKO IKEMURA im Georg Kolbe Museum

Die Wesen der Künstlerin Leiko Ikemura machen das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Natur sowie die Vergänglichkeit des Lebens erfahrbar. Als Hybride aus Mensch und Tier oder Pflanze wirken sie fremdartig und vertraut zugleich und entfalten eine hypnotische Wirkung. Ikemuras Schaffen umfasst gleichberechtigt die Gattungen Zeichnung, Malerei, Skulptur und Fotografie. Die Ausstellung widmet sich vornehmlich ihrem dreidimensionalen Werk von den Jahren bis heute. Im Dreidimensionalen beschäftigt sich die ausgebildete Malerin mit dem Auflösen von Konturen und dem Ausloten der malerischen Möglichkeiten von Materialien. So sind insbesondere die Oberflächen der Bronzen mit farbiger Patina versehen. Jüngst entstandene Objekte aus Glas spielen mit

»Leiko Ikemura. Witty Witches« Januar bis 1. Mai 2023 georg-kolbe-museum.de

AKTUELLE MALEREI in der

Berlinischen Galerie

Die Ausstellung ist eine Liebeserklärung an die Berliner Malerei der Gegenwart. Mit zehn bemerkenswerten Künstlern will sie eher Teaser denn Bestandsaufnahme sein. Berlin­Themen oder ein spezieller Berlin­Stil sind nicht auszumachen. Vorbei ist der alte Streit zwischen Abstraktion und Figuration. Die sprichwörtliche Coolness der Stadt ist einer selbstverständlichen Internationalität gewichen. Der Ort der Produktion lässt sich kaum noch an den Werken ablesen. Wie also präsentiert sich die Malerei der Stadt? Vital, vielfältig, gelassen und mit einem großen Interesse an Tradition und Diskurs. Der Griff zu Pinsel und Farbe scheint nach wie vor naheliegend, um sich mit der Welt und aktuellen Fragen der Kunst auseinanderzusetzen. »Paint it all! Aktuelle Malerei aus Berlin« bis 6. Februar 2023, berlinischegalerie.de

AUSSTELLUNGEN
Leiko Ikemura, »Usagi headed Hoshi«, 2018 Uli Aigner
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Tatjana Doll, »CAR_Crankcase«, 2008–18

Sie schrieben am Buch der Geschichte

Beim gesellschaftlichen Wandel Spaniens nach der Militärdiktatur übernahmen FRAUEN eine Hauptrolle. Wie sich das in der Kunst widerspiegelt

Schon als ich eingeladen wurde, diese Ausstellung zu kuratieren, stand fest, dass damit eine besondere Aufgabe verbunden war: Es sollte eine Präsentation spanischer Künstlerinnen sein. Auch wenn Frauen in der Kunstgeschichte seit den 1970er­Jahren eine sehr wichtige Rolle gespielt haben, stellte sich zunächst die Frage, ob eine geschlechtsspezifische Auswahl im Jahr 2022 wirklich noch notwendig sei – eine Frage, die ich gerne auch an das Publikum richten möchte.

Der Titel »Schreibt all ihre Namen« ist inspiriert von einem Werk von Dora García, »100 obras de arte imposibles« (100 Werke unmöglicher Kunst) von 2001. Es besteht aus einer Auflistung von einhundert Sätzen, die auf die Akzeptanz des Scheiterns, auf die Unmöglichkeit, etwas zu verwirklichen, verweisen: »Die Träume anderer träumen«, »Das Leben anderer leben«, »Mit jedem menschlichen Wesen zusammen sein, auch wenn es nur für eine Sekunde ist« sind einige dieser nicht realisierbaren Vorschläge. »Schreibt all ihre Namen« suggeriert eine poetische Handlung, aber auch poetische Handlungsfähigkeit. Die Künstlerinnen aus Spanien und Lateinamerika stellen ihre unterschiedlichen Denkweisen, ihre subjektiven Wahrnehmungen und Lebensweisen vor.

Die meisten der ausgewählten Werke haben auch einen Bezug zur Schrift und zum Schreiben. Sehr unterschiedliche Schreibformen lassen sich entdecken: performatives und erzählendes Schreiben, die Notation von Musik oder Partituren, das Umschreiben der Kunstgeschichte oder eine persönliche Interpretation der Literatur anderer. Das muss nicht ausschließlich Handgeschriebenes sein. Sprachen sind mit Poesie, Linguistik, Mathematik, Musik, Philosophie, Natur und Sexualität verbunden: ein roter Faden, der sich durch das Schaffen und die gezeigten Werke der fünfzehn Künstlerinnen aus drei Generationen zieht. Unabhängig davon, ob sie sich als Feministinnen verstehen, vermitteln sie uns andere Sicht­ und Lebensweisen. Durch diese subjektiven Aneignungen können wir die Welt begreifen und uns ein Bild von ihr machen.

Im ersten Teil der Ausstellung zeigen Elena Asins und Esther Ferrer, deren künstlerische Anfänge in den 1960er­Jahren liegen, wie sie Themen der Linguistik, Mathematik, Philosophie und Musik in ihren Arbeiten umsetzen. Als alternative Formen von Verschriftlichung können die verschlungenen Knoten der Textilskulpturen

von Aurèlia Muñoz oder die surrealistischen Arbeiten von Eva Lootz verstanden werden. Vera Chaves Barcellos, Sarah Grilo und Soledad Sevilla entführen uns auf die Straße. Der öffentliche Raum und seine Mauern werden als Erinnerung an eine Stadt, als Ausdruck der Bewohner*innen oder als Schauplatz literarischer Erzählungen gezeigt.

Im zweiten Teil der Ausstellung entwickeln Cristina Iglesias, Susana Solano, Montserrat Soto und Carmen Laffón eine Poesie, die eng mit der Natur verbunden ist: Sie erzählen von Landschaften, die bedroht sind oder nur noch in Überlieferungen existieren. Erlea Maneros Zabala und Ángela de la Cruz stellen die Kunstgeschichte – hier die Geschichte der Helden in der von Männern dominierten Malerei – infrage. Eulàlia Valldosera und Dora García laden mit filmischen Sequenzen, Texten und Zitaten dazu ein, über Frauen und ihre historischen Rollen in Bezug auf Liebe, Sexualität und Familie nachzudenken.

Alle Werke stammen aus der Sammlung von Helga de Alvear, einer führenden Galeristin und Kunstsammlerin Spaniens. Seit Entstehung der Sammlung in den 1960er­Jahren hat sich die politische, soziale und kulturelle Realität Spaniens grundlegend gewandelt. Das Ende der vierzigjährigen Militärdiktatur im Jahr 1975, der Übergang zur Demokratie und der Beitritt zur Europäischen Union wurden von einem gesellschaftlichen Umbruch begleitet, in dem junge Menschen und insbesondere Frauen die Hauptrolle übernahmen. Diese Realität hat sich auch auf die Künstlerinnen ausgewirkt und spiegelt sich seitdem in ihren Werken und einer steigenden Präsenz in Ausstellungen. Aber sie bleibt auch – wie überall auf der Welt – ein Thema, für das es sich weiterhin zu kämpfen lohnt.

Die Präsentation schildert die Welt aus weiblicher Perspektive. »Schreibt all ihre Namen« – den Namen jeder einzelnen auf Seiten, die zuvor von anderen zur Geschichtsschreibung beansprucht wurden. Denn etwas zu benennen, erzeugt Bedeutung und symbolische Ordnung.

Text LOLA HINOJOSA MARTÍNEZ, Kuratorin der Ausstellung und Sammlungsleiterin am Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid

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Ángela de la Cruz, »Vertical«, 2004

Carmen Láffon, »La sal, Salinas de Bonanza, Sanlúcar de Barrameda«

Sarah Grilo, »America Has Changed« (Amerika hat sich verändert), 1967

Eva Lootz, »Ella vive en el traje que se está haciendo« (Sie lebt in dem Kleid, das gerade entsteht), 1994 (im Uhrzeigersinn)

Escribir todos sus nombres. Schreibt all ihre Namen

bis 27. Februar 2023 PalaisPopulaire db­palaispopulaire.de

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Neue Freunde

Von der Staatsobrigkeit argwöhnisch beäugt, begeisterte JÜRGEN WITTDORF die DDR-Jugend. Seine Bilder behaupten sich auch im Dialog mit aktueller Kunst

Jürgen Wittdorf, »Unter der Dusche«, 1964

Anlässlich seines neunzigsten Geburtstages ehrt eine Ausstellung den Grafiker Jürgen Wittdorf mit über 250 Werken – der bisher umfassendsten Präsentation seines Schaffens. Mit Veneta Androva, Norbert Bisky, Harry Hachmeister und Bettina Semmer korrespondieren vier künstlerische Positionen auf unterschiedliche Art und Weise mit Wittdorfs Arbeiten.

Jürgen Wittdorf, 1932 in Karlsruhe geboren, wächst in Hamburg, Königsberg (heute Kaliningrad) und ab 1945 im erzgebirgischen Stollberg auf, wo er ab 1950 Zeichenunterricht bei Walter Schurig nimmt. An der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig studiert er von 1952 bis 1957 im Fachbereich Grafik. 1957 wird Wittdorf Mitglied der SED und des Verbandes Bildender Künstler. Von 1967 bis 1970 ist er Meisterschüler bei Lea Grundig an der Deutschen Akademie der Künste in Berlin.

In den 1960er­Jahren fällt Wittdorf mit Bildern von unangepassten Jugendlichen auf, die in Jeans dem Kofferradio lauschen oder knutschend am Hauseingang lehnen. Seine Werke nennt er »Parisurteil« oder »Noch keinen Bartwuchs und schon Vater«. Die Jugend ist begeistert und fühlt sich anerkannt. Doch die Staatsführung betrachtet seine Werke argwöhnisch. Wittdorf findet Unterstützung bei der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Jugendorganisation der DDR. Sein Artikel »Muss ein Grafiker auch Hürdenläufer sein?« 1963 in der »Jungen Welt«, dem Zentralorgan der FDJ, lässt kritische Töne zu. Er thematisiert die Ablehnung seiner Werke durch die Funktionäre, die undurchsichtige Preispolitik im Kunsthandel und den Papiermangel. Wittdorf, wie er rauchend vor seiner Plattensammlung auf dem Sofa lümmelt, und zahlreiche seiner Werke werden dazu abgebildet – ein Clou. Im selben Jahr produziert der Verlag »Junge Welt« 10.000 Mappen vom »Zyklus für die Jugend« mit je neun Blättern. Bekannt und beliebt, erhält Wittdorf Preise, und seine Arbeiten verkaufen sich

bestens im staatlichen Kunsthandel. Zu dieser Zeit avanciert er neben Walter Womacka und Kollegen zum Kassenschlager. Kurz darauf beauftragt ihn die Sporthochschule in Leipzig mit Kunst am Bau. Die fünfteilige Serie »Jugend und Sport«, eins der wichtigsten Werke Wittdorfs, ist die letzte öffentliche Arbeit, in der Wittdorfs »Hang zu Männern« offensichtlich wird, vor seinem inneren Coming­out. Danach verlassen die unzähligen Akte von gut gebauten jungen Körpern nur noch im privaten Rahmen das Haus. Homosexualität ist in der DDR, anders als in der BRD, bereits seit 1968 nicht mehr verboten, jedoch in der Gesellschaft wenig akzeptiert.

Wittdorf richtet sich im DDR­Alltag ein. Er bekommt regelmäßig Aufträge, gibt Zeichenunterricht und organisiert Ausstellungen, ein Häuschen im mecklenburgischen Carwitz dient der Sommerfrische und als Atelier. Die Wende trifft Wittdorf hart, so wie viele Künstlerinnen und Künstler der DDR. Er wird arbeitslos, aber nicht tatenlos. Er genießt seine neue schwule Freiheit, zieht zeichnend durch die Kneipen und Clubs im Westen der Stadt, findet neue Bewunderer und Käufer. Er hält sich über Wasser.

Sein großes Glück: Der Kurator und Mitbegründer des Schwulen Museums, Andreas Sternweiler, entdeckt im Jahr 2000 Wittdorfs Arbeiten für sich. Er stellt ihn aus, wird sein Förderer, es entwickelt sich eine langjährige Freundschaft. Wittdorf stirbt 2018 nach langer Krankheit; er ist verschuldet, unzählige seiner Arbeiten landen bei einer Zwangsversteigerung seines Haushaltes. Es folgt eine beispiellose Rettungsaktion durch private Sammler, die Wittdorfs Werk sichert. 2020 verschafft eine Ausstellung im KVOST, dem Kunstverein Ost in Berlin, Wittdorfs Schaffen über den schwulen Kontext hinaus wieder Sichtbarkeit.

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Jürgen Wittdorf, »Sommer in Mecklenburg«, 1967

Warum nun Wittdorf in einer Schau mit Veneta Androva, Norbert Bisky, Harry Hachmeister und Bettina Semmer? Das Aktmodell in Androvas Video könnte einem von Wittdorfs Bildern entsprungen sein. Eine Gruppe von Ingenieuren, allesamt Männer, entwickelt den Prototyp einer humanoiden Künstlerin namens AIVA. Sie soll mehr Vielfalt und eine stärkere weibliche Perspektive in die Welt bringen; zu diesem Zweck wird sie mit Unmengen von Daten gespeist. Am männlichen Aktmodell beginnt AIVA den menschlichen Körper und seine Formen zu verstehen. Der Film gipfelt in einer vor Testosteron strotzenden Einzelausstellung des neugeborenen KunstmarktSternchens. In ihrer Animation nimmt uns Androva mit auf die Reise in eine immer noch männerdominierte Kunstwelt.

Auch Norbert Biskys Arbeiten sind bekannt für wohlproportionierte Körper, anders als bei Wittdorf verlassen die Modelle jedoch ihre Komfortzone. Auf Biskys Leinwänden und in seinen Spiegelwerken treten sie in Aktion, wirbeln schreiend durch die Luft oder haben miteinander Spaß. In den frühen Papierarbeiten, die im Schloss Biesdorf zu sehen sind, verarbeitet Bisky seine Jugend in der DDR – der Welt, in der sich Wittdorf so gut eingerichtet hatte. Weltfestspiele der Jugend, Fahnenappelle und Wehrlager sind die Themen der zart anmutenden Blätter. Sie erinnern an Wittdorfs lichte Strandszenen, die dieser vor Ort im Freien zeichnete.

Körperertüchtigung spielt für Harry Hachmeister eine wichtige Rolle, aber wie bei Wittdorf ist sie nur Mittel zum Zweck. Seine Werke irritieren, pendeln zwischen Witz und Ernst, zwischen feminin und maskulin. Handgeformte Hanteln, aus Keramik anstatt aus kühlem Stahl, machen es sich auf kleinen gepolsterten Hockern gemütlich. Sie haben Dellen, tragen rosa oder gelb gefärbte Glasuren und scheinen miteinander zu kommunizieren – über die nächste Transformation, von der Hantel zur Handtasche?

Bettina Semmers zarte Zeichnungen der Serie »Intimate drawings« spiegeln eine Realität, die auf Datingseiten ihren Ursprung hat, aber nicht anonym im Chat verbleibt, sondern nackter Männlichkeit direkt begegnet. Die Figuren schweben losgelöst im Raum, erinnern an Wittdorfs schnelle Studien, bei denen er keine Zeit für Hände, Füße oder Inventar verschwendete. Die Männer, die sich dort anbieten, wollen sympathisch wirken oder Semmer möchte sie so zeigen. Sie sind nackt, selten gut gebaut, mal mit Buch, mal bondagiert, und verbergen selten ihr Genital. Semmer feiert – wie Wittdorf einst die Schönheit der Jugend – eine neue emanzipierte Normalität.

Wittdorfs Biografie ist voller Brüche: Zeit seines Lebens war er mit immer neuen inneren wie äußeren Herausforderungen konfrontiert. Seine Werke wurden gefeiert, vergessen, wiederentdeckt und fanden neue Freunde. Sie inspirieren und stehen doch für sich. Niemals aus der Zeit gefallen, sind sie aktueller denn je.

bis 10. Februar 2023 Schloss Biesdorf schlossbiesdorf.de

Jürgen Wittdorf mit Veneta Androva, Norbert Bisky, Harry Hachmeister und Bettina Semmer
Norbert Bisky, »Berlin D.Y.«, 2021
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Veneta Androva, »AIVA«, 2020

Familienaufstellung

KOLONIALE MIGRATION: Wie die Dieks um Selbstbehauptung und für Gleichberechtigung kämpften

Vor fünf Jahren eröffnete im Schöneberg Museum eine erste Ausstellung über die kolonialhistorische Vergangenheit des Bezirks. Sie stellte die Forschungsergebnisse über Institutionen, Verbände und Einrichtungen vor, die die deutsche Kolonialherrschaft mit ihrer rassistischen Rechtfertigungsideologie aktiv unterstützt hatten. Der Blick der Ausstellung damals richtete sich vor allem auf die »weißen« Kolonialakteur*innen. Die neue Ausstellung rückt nun die Perspektiven und Positionen Schwarzer Menschen in den Mittelpunkt.

Die Geschichte von Mandenga Diek und seiner Familie wird ausgehend von der Migrationsbewegung erzählt, die Ende des 19. Jahrhunderts aus den gewaltvoll eroberten afrikanischen Gebieten nach Deutschland einsetzte. Diek wurde 1891 im Alter von zwanzig Jahren zu Ausbildungszwecken von Kamerun nach Hamburg geschickt. Hier begann er zunächst eine Schusterlehre, die er abbrach, als er sich im Schaufenster des Geschäfts als vermeintliche Attraktion zur Schau stellen sollte. In den Folgejahren gelang es Diek, sich in Hamburg und später in Danzig als erfolgreicher Geschäftsmann und Kolonialwarenhändler zu etablieren. 1896 erhielt er als einer der wenigen aus den Kolonialgebieten Eingewanderten die deutsche Staatsbürgerschaft und heiratete 1919 in zweiter Ehe Emilie Wiedelinski. Die beiden bekamen die Töchter Erika und Dorothea.

Die Ausstellung folgt den Lebenslinien der einzelnen Familienmitglieder und ihres Umfeldes über mehrere Generationen. Die verschiedenen Epochen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik brachten große Umbrüche im Alltag und im Berufsleben mit sich. Sie waren durchweg vom Kampf um Selbstbehauptung, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung geprägt. Mandenga Diek nahm innerhalb der ersten Selbstorganisationen Schwarzer Menschen in Deutschland eine zentrale Rolle ein. Schon im Kaiserreich setzte er sich für die Gemeinschaft der Schwarzen ein und übernahm für Menschen aus Kamerun den Kontakt zu deutschen Behörden. 1919 war er Mitunterzeichner der »Dibobe­Petition«, in der die Gleichberechtigung von Menschen in und aus den ehemaligen kolonialen Gebieten gefordert wurde.

Die menschenverachtende Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus führte zu einer Eskalation der kolonialen Gewalt. Zitate und Dokumente zeigen die Kontinuitäten rassistischer Ausgrenzung, Ausbeutung und Entrechtung innerhalb der »weißen« Mehrheitsgesellschaft. Stereotype und koloniales Herrschaftsdenken setzten sich von Generation zu Generation fort und werden bis heute nicht ausreichend hinterfragt. In den 1980er­Jahren legten Teile der Schwarzen Frauenbewegung den Grundstein für die Erforschung Schwarzer Geschichte in Deutschland. In ihrem 1986 erschienenen Buch »Farbe bekennen. Afro­deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte« forderten May Ayim und Katharina Oguntoye mit weiteren Autor*innen

das Selbstverständnis Deutschlands als »weiße« Nation heraus. Neben Gedichten, wissenschaftlichen Arbeiten und persönlichen Essays enthält das Buch ein Interview mit den beiden Töchtern Mandenga Dieks, Erika und Dorothea. Trotz Unverständnisses und fehlender Unterstützung aus dem universitären Umfeld erforschte Katharina Oguntoye die Familiengeschichte der Schwestern weiter. Ihre Arbeit ist eine wegweisende Grundlage für die Geschichte Schwarzer Menschen in Deutschland.

Die Ausstellung greift diese Forschungsarbeiten auf. In enger Abstimmung mit den Familienangehörigen werden sie um persönliche Erinnerungen, Dokumente, Fotos und Zitate ergänzt. So entsteht ein sehr persönliches Bild der Lebensumstände von der Zeit des Kaiserreichs bis heute. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die Nachkriegszeit, in der die Familie Diek nach Tempelhof zog. Bis heute sind Teile von ihr eng mit dem Bezirk verbunden. Zeitgenössische Positionen der Künstlerinnen Nontsikelelo Mutiti, Otobong Nkanga und Kapwani Kiwanga erweitern die Ausstellung und betonen die Kontinuität kolonialer Strukturen in den Gebieten ehemaliger Kolonialherrschaft sowie in Deutschland.

Text IRENE VON GÖTZ, Leiterin der Museen Tempelhof­Schöneberg, MARIE BECKER und PHILIPP HOLT, Kuratoren der Ausstellung

Geschichten Schwarzer Menschen in Tempelhof-Schöneberg. Auf den Spuren der Familie Diek 27. Januar bis 1. Oktober 2023 Schöneberg Museum museen­tempelhofschoeneberg.de

SCHÖNEBERG MUSEUM
Mandenga und Emilie Diek mit ihren Töchtern Erika und Dorothea, Danzig, 1920er­Jahre
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