
11 minute read
Zwischen Ackerbau und Raumfahrt
Bibliothek des Trinity Colleges in Dublin: Antiquiert aber schön
Die Welt der Literatur
Überraschung: Sie lesen doch!
Die Zeit, in dem die Republik gehorsam einem Literaturkanon folgte, aufgestellt vom „Großkritiker“ sind vorbei. Auch ein solider Schriftsatz auf Papier ist nicht mehr obligatorisch. Ein Verlust? Nicht unbedingt. Der wüste Mix aus Themen und Formaten macht das moderne Lesen spannend.
VON TIM HOLZHÄUSER
Der alte Professor war gestorben. Zurück blieb ein 876.000 Mal aufgerufen, pro Stunde. Dennoch lautet eines der Haus, in dem jeder Meter Wand mit Büchern be- hartnäckigsten Vorurteile über die modernen Deutschen: Sie ledeckt war. Literatur, Kunst, Architektur, Physik, Bo- sen nicht mehr. tanik – nahezu jedes Thema unserer Welt stand rechtwinklig in den Regalen. In der Luft der leicht Umsätze im Deutschen Buchhandel süßliche Museumsduft, der für große Mengen Papiers so typisch ist. Anwesend waren außerdem ein Antiquar und der staunende Sie lesen nicht mehr – angesichts der genannten Zahlen kann es Beobachter. Beide bemerkten, dass aus jedem zweiten Buch Zettel nicht stimmen, zumindest nicht, wenn wir das Thema ohne dieragten, was die Ehrfurcht noch verstärkte. sen Analog-Snobismus betrachten, laut dem nur das Papier Wahr-
Antiquar: „Tja, mit dieser Bibliothek wurde richtig gearbeitet!“ heit transportieren kann. Selbst wenn die gedruckten Auflagen
Beobachter: „Ist sie wertvoll?“ sinken, heißt das noch lange nicht, dass weni„Nein.“ „Ein klassisches Werk ger gelesen wird. Aber tun sie das überhaupt? Tatsächlich lag der Verkaufserlös bei einem Zehntel der erwarteten Summe. Hier und da bei Sammlern gefragte Erstausgaben, aber das ist ein Buch, das die Menschen loben, Tatsächlich ist das gedruckte Buch zwar nurmehr eine Quelle unter vielen, aber noch immer die wirtschaftlich wichtigste (dazu später Gros rangierte – Grillparzer und Schiller zum aber nie lesen.“ mehr). Seine kulturelle Bedeutung wird in Trotz – kurz vor Trödel. Der Grund hierfür ist schnell gefunden: Die Ernest Hemingway Deutschland auch von Staats wegen unterstrichen mit der Buchpreisbindung. Wenn S. Fimeisten Menschen haben eine solche Biblio- scher einen Krimi für 20 Euro rausbringt, dann thek in ungleich größerer Ausführung in der Hosentasche. Sie kostet er zwischen Flensburg und Augsburg exakt 20 Euro, bei liegt als App auf dem Smartphone, heißt meistens Wikipedia und Heymann und Hugendubel, aber auch bei Kortes. 20 Euro sind enthält allein in der deutschen Fassung über 2,5 Millionen Arti- der Preis, auch wenn der Wert des Buches nach der ersten Lektüre kel. Einige sind kurz und trivial, andere könnten bei Diogenes als auf einen Euro fällt (wer das nicht glaubt, mache das Ebay-ExpeHardcover erscheinen. Wikipedia wird allein in Deutschland riment).


Autorinnen wie Juli Zeh erreichen die Leser nach wie vor per gedrucktem Buch – mit hochaktuellem Inhalt Elternschreck Computerspiel. Neben stumpfem Geballer bietet die Branche mittlerweile jedoch auch Titel, die für Bücher zu einer echten Konkurrenz werden.
Solchen Schutzmaßnahmen zum Trotz ist die Anzahl der Titel rund um den bereits erwähnten Platzhirschen Wikipedia. In in Deutschland nach Angaben des Börsenvereins des Deutschen Deutschland existieren Tausende von außerordentlich textlastiBuchhandels in den letzten Jahren tatsächlich zurückgegangen. gen Blogs. Autoren wie Maximilian Buddenbohm kommen aus Während im Jahr 2010 über 95.000 Titel er- der Bloggerszene. Der Lübecker schrieb seit schienen, waren es 2019 „nur“ noch knapp „Wenn du einen 2005 seine „Herzdamengeschichten“ im Netz. 79.000. Diese Zahlen relativieren sich jedoch im historischen Vergleich: 1960 erschienen 22.524 Bücher und seitdem geht es fröhlich Garten und eine Bibliothek hast, Alltägliche Beobachtungen, die im Laufe der Jahre an literarischer Qualität gewannen. Heute veröffentlicht Buddenbohm Bücher bei Roauf und ab (1970 waren es z. B. über 47.000 und nur ein Jahr später nur noch knapp 43.000). wird es dir an nichts fehlen.“ wohlt, tippt aber auch weiterhin online. Ein Beispiel von vielen
Ebenfalls relativierend wirkt die Umsatzent- Marcus Tullius Cicero Die Konkurrenz zum Lesen wicklung: Von 9,7 Milliarden Euro im Jahr 2010 ging der Umsatz zwar leicht zurück auf 9,3 Milliarden Für passionierte Leser sind die bisher geschilderten Aspekte gute (2019), aber die Größenordnung ist noch immer gewaltig. Nachrichten, vielleicht auch überraschend, denn die Konkurrenz der alternativen Medien ist ein veritables Monster. Allein CompuE-Books und Blogs versus gedrucktes Buch terspiele erbrachten in Deutschland im Jahr 2020 einen Umsatz von 5,3 Milliarden Euro. (Im selben Jahr machte auch der StreaInsgesamt wurden im letzten Jahr in Deutschland 35,8 Millionen ming-Gigant Netflix erstmalig Zahlen für Deutschland publik: E-Books verkauft. Das klingt viel, ist tatsächlich aber wenig. Nach rund eine Milliarde Euro.) Die gesamte Branche ist so vielfältig rasantem Wachstum in den ersten Jahren (ab ca. 2010) haben wie das Kino zu seiner besten Zeit: Martialisches Geballer steht sich die Zuwachsraten abgeschwächt. Der Anteil des E-Books an neben interaktiven Mystery-Titeln auf der Plattform Steam bereit. den Gesamtverkäufen startete damals bei ca. 0,5 Prozent, erreich- Weltweit sind hier 47 Millionen Nutzer unterwegs, pro Tag. te 2015 rund 4,5 Prozent und wurde von der Corona-Krise auf 5,9 Nun ließe sich beklagen, dass gerade Computerspiele von der Prozent befördert. Für die nächsten Jahre sind wieder moderate Kulturtechnik Lesen so weit entfernt sind wie Kegeln vom RapierWachstumsraten denkbar – denn die große Revolution ist ausgeblieben. Neben den unbe- „Einer der HauptFechten. Dieser Eindruck ist jedoch trügerisch. Kaum ein Medium entwickelt sich so rasant. streibaren praktischen Vorzügen des E-Books nachteile mancher Zwischen stumpfem Pixelgeschiebe wie „Pac stehen eben auch Nachteile: Die Dateien können weder verliehen noch verschenkt werden. Die Preise orientieren sich noch immer an den Bücher ist die zu große Entfernung Man“ und dem Survival-Drama „This War of Mine“ (in dem der Spieler als Zivilist einen Krieg überleben muss) liegen keine 40 Jahre. Print-Versionen. Das können viele Käufer nicht nachvollziehen – fallen doch Druck und Distribution weg. Und letztlich fehlt das haptische zwischen Titel- und Rückseite.“ Titel wie „Papers, Please!“, in dem der Spieler einen Grenzzugang kontrollieren muss und gleichzeitig seine Familie in Sicherheit – verErlebnis. Robert Lembke langt Lesekompetenz, strategisches Denken
Gleichzeitig haben sich Visionen von inter- und vor allem Empathie mit Charakteren. Es aktiven Büchern mit Ton- und Video-Einbettung als nicht alltags- erscheint nur noch als Frage der Zeit, bis die Gattung Buch und tauglich erwiesen. Technisch ist vieles möglich, was der Leser Computerspiel hier und da zu einer Einheit werden, die heute letztlich aber nicht nachfragt. Es ist daher wahrscheinlich, dass noch außerhalb der Vorstellungskraft liegt. das E-Book noch auf längere Zeit die praktische Alternative zum Druckwerk ist, es aber nicht ersetzt. Selbst Renaissancen hin zu Amazon versus lokaler Handel bibliophil aufgemachten Werken deuten sich hier und da an (zum Beispiel beim Hamburger Verlag „Mare“) Ein paar Jahre lang galt als sicher: Der US-Konzern würde mit der
Neben E-Books gibt es weiterhin das alltägliche Lesen im Netz, deutschen Buchhandlung kurzen Prozess machen. Das ist nicht
Tim Holzhäuser Nach Jahren mit deutschen Klassikern musste ich erkennen: Goethe nervt. Zur Zeit widme ich mich daher Comics und exzentrischen englischen Sachbüchern. Klare Empfehlung hier: HOW TO RUN A DRUG CARTEL. Der Titel ist reißerisch, aber letztlich ist es das anschaulichste und cleverste Wirtschaftsbuch, das mir je untergekommen ist. Ebenfalls großartig: THE DICTATOR’S HANDBOOK. Auch hier täuscht der Titel über den seriösen Inhalt hinweg. Danach versteht man Politik und die Handlungen der Akteure. Sophie Rhine Ich hab gar keine Lieblingsbücher und muss gestehen, dass ich echt wenig Bücher mehrmals lese. Da fallen mir spontan die HARRY POTTER- und die KÄNGURUReihen ein, die unterhalten mich jedes Mal aufs Neue. Aktuell verschlinge ich alle Thriller, besonders empfehlenswert sind die von Sebsastian Fitzek, der mich auch mit seinem aktuellen Buch DER ERSTE LETZTE TAG überzeugt hat. Beeindruckend und spannend fand ich auch die Biografien BECOMING und EIN VERHEISSENES LAND von Michelle und Barack Obama. Anna-Lena Walter Manche Bücher begleiten mich schon lange Jahre – sie gehören quasi zur Familie. Nicht auszudenken, wenn eines fehlen würde! Im Regal teilen sich Lily Bretts CHUZPE, Nina Blazons LIEBTEN WIR und alle Werke von Guillaume Musso den Platz. Aber ein Buch findet aktuell besondere Beachtung: STINA
UND DER LÜGEN-KAPITÄN
von Lena Anderson. Jeden Abend wünscht sich meine kleine Tochter diese Geschichte. So wie ich, vor 35 Jahren, als meine Mama mir das Buch schenkte – so lange gehört es schon zu mir. Michael Wendland Vor ein paar Jahren bin ich über Die
Pilgerjahre des farblosen
Herrn Tazaki gestolpert. Es war das erste Buch seit Jahren, das ich nicht weglegen konnte. Seither komme ich an Haruki Murakami nicht vorbei. Ständige Begleiter sind Menschenkind von Toni Morrison und eine Menge Lyrik. Sachbücher sind sonst nicht mein Fall, aber ich bin begeistert von Margarete Stokowskis Untenrum frei. Die besten Kinderbücher der Welt? Für mich Poo der Bär und die Reihe Little People, Big
Dreams.
Klaus Schümann Als Kampf leser – also ständig mit Buch in der Hand – gönne ich mir auch schon mal einen Flop und lege ihn nach wenigen Seiten weg oder wage später einen zweiten Versuch. Bei Julie Zehs ÜBER MENSCHEN war ich sauer, dass der Stoff nach 412 Seiten am Ende angelangt war. Sehr empfehlenswert. Und um bei den Bestsellern zu bleiben: JUNGE FRAU, AM FENS-
TER STEHEND, ABENDLICHT,
BLAUES KLEID, das Erstlingswerk von Alena Schröder, ging ich skeptisch an und war am Ende mehr als begeistert. Unbedingt beide lesen.
eingetreten. Dennoch: Amazon wächst weiter und erzielte allein in Deutschland 2020 einen „Bücher haben Überlebenswichtig ist hier aber die Einbindung in einer kulturell interessierte NachbarUmsatz von 29,5 Milliarden Euro, mit einer Vielzahl von Waren. Bei Büchern erreicht Amazon hierzulande einen Marktanteil von ca. Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, schaft. Ein gutes Beispiel hierfür ist die bereits erwähnte Buchhandlung Kortes. 20 Prozent. Das ist für ein Einzelunternehmen kommen sie nicht Relikte viel, aber noch keine übermächtige Dominanz in der Gesamtbetrachtung. Allerdings ist der mehr zurück.“ Sprechen wir über das Fernsehen. Lange Zeit Konzern findig, wie sich in der Zustellung Theodor Fontane waren „Literaturpäpste“ wie der 2013 verstorzeigt. Welcher Händler kann es sich leisten, bene Marcel Reich-Ranicki aus dem TV nicht ein eigenes Postsystem aufzubauen? Genau das hat Amazon ge- wegzudenken. Im „Literarischen Quartett“ besprach er mit Sidetan. Wer heute etwas bestellt, bei dem hält zwei oder drei Tage kicks und üppigem Zeitbudget aktuelle Titel. später ein Amazon-Bote und liefert an den überlasteten DHL-Mit- Heute ist das Budget auf wenige Minuten zusammengearbeitern vorbei das Buch, die Handtasche, das Kinderpiel. schrumpft und der „Großkritiker“ im Wesentlichen ausgestorben.
Wir erinnern uns: Amazon konzentrierte sich anfangs auf Bü- Zwar haben Persönlichkeiten wie Elke Heidenreich und Denis cher, weil sie einfach zu lagern und zu verschicken sind. Mit ei- Scheck noch immer großen Einfluss auf die Bestsellerlisten, aber nem eigenen Zustelldienst, kann so gut wie jede Ware verkauft sie teilen sich die Influencer-Rolle mit einer Vielzahl an Journalisten werden. Es ist daher anzunehmen, dass Amazon seinen Gesamt- und Bloggern. Karla Paul etwa erreicht in den sozialen Netzwermarktanteil nicht unbedingt mit Büchern erweitern will, sondern ken über 100.000 Leserinnen und Leser, moderiert darüber hinaus mit Produkten, die ein noch höheres Potenzial bieten. mit großem Erfolg Lesungen und andere Kulturveranstaltungen.
Tatsächlich werden heute nur noch die Hälfte aller Bücher in Gerade abseits des großen Genres „moderner Roman“ orientieren Läden gekauft, die andere im Internet. In Deutschland gibt es sich Leser eher an den Influencern ihrer jeweiligen Szene. aber noch immer ca. 6.000 stationäre Buchhandlungen. Laut ei- Die Aufmerksamkeit ist also fragmentiert und hinzu kommt: ner Untersuchung der „Zeit“ geben etwa 100 Elefantenrunden wie das „Literarische Quarpro Jahr auf – im Einzelfall ein Drama, in der Gesamtbetrachtung aber kein katastrophaler „Ein Buch muss tett“ wirken heute so leichtfüßig wie Bielefelder Barock. Man vergleiche etwa die berüchRückgang. Die Gründe sind vielfältig: Neben wirtschaftlichen Miseren stehen Schließungen aus Altersgründen und eben auch Abwandern ins Netz. Software-Lösungen wie Shopify sind die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ tigten Monologe Reich-Ranickis mit dem rasant-cleveren Massaker von Denis Schecks „Druckfrisch“ – einem fünfminutigen Format ohne Längen, in dem Scheck die aktuelle Spieauf kleine Anbieter zugeschnitten und erlauben quasi über Nacht das Erstellen eines OnFranz Kafka gelbestseller auseinandernimmt. Vielleicht ist die Zeit des Literaturfernsehens – bis auf Ausline-Shops. Aber auch in der Pflege des noch nahmen – auch einfach vorbei. bestehenden Kundenstamms zeigen lokale Buchhändler Erfin- Die Klage, dass Bücher im TV keine „Lobby“ mehr hätte, könnte dungsgeist und Willen zum Service. Kaffeemaschine, abendliche daher bedeuten, dass Heidenreich & Co. für den PublikumsgeLesung und Bestellmöglichkeiten für den nächsten Tag sind ein schmack mittlerweile zu behäbig daherkommen. Die Klagen attraktives Trio, das auch kleine und mittlere Buchhhandlungen könnten bedeuten, dass moderne Leser heute flexibler sind als die erhält. Wortführer der Branche.


























