Infrarot Nr. 198

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Zeitung der JungsozialistInnen •Journal de la Jeunesse socialiste Giornale della Gioventù socialista •Gasetta da la Giuventetgna socialista

3 Skandinavien – Schweiz Was hat die Sozialdemokratie in Schweden erreicht und taugt sie als Vorbild für die Schweiz? Wie steht es um die Politik in Island?

6 In eigener Sache Das infrarot glänzt mit einer veränderten Redaktion. Felix und Angelo sind neu dabei. Salome sucht nach langem Engagement neue Herausforderungen.

AZB 3900 Brig

rot rouge rosso cotschen +++JUSO.ch+++

JUSO Schweiz, Postfach 8208, 3001 Bern Nr. 198, November 2011

7 « Vol Spécial » Der neue Film von Fernand Melgar über ein Genfer Ausschaffungsgefängnis sorgt für heftige Diskussionen.

Wir sind die 99 Prozent! Viel mediales Geschirr wurde bereits im Vorfeld des 15. Oktober 2011 zerschlagen. Einige Medienhäuser hatten bereits die nächsten Krawallen herauf beschworen. Am Schluss kam auf dem Paradeplatz alles anders. Eine Reportage über Occupy Paradeplatz.

Foto: Angelo Zehr

Fabio Höhener

Selten sieht man so viele junge Leute an einem Samstagmorgen durch die Zürcher Bahnhofstrasse schleichen. Die verschlafenen Gesichter zeugen von einer kurzen Nacht, die auf einen feuchtfröhlichen Freitagabend folgte. Trotzdem stehen sie nun alle hier an diesem bitterkalten Tag auf der Pestalozziwiese. Viele von ihnen tragen die rote Fahne mit Faust und Rose auf den Schultern. Ironischerweise steht vor dem Platz, der dem grossen Schweizer Aufklärer, Pädagoge und Philosoph gewidmet ist, eine einsame ältere Dame. Der grosse mit lachender Sonne und den drei verhängnisvollen Buchstaben beschriftete Schirm, unter dem sie steht, verrät, dass sie hier in aller Frühe um Stimmen für die SVP buhlt. Die jungen Menschen, die sich immer enger auf den Platz und somit um die Dame drängen, sind ihr offensichtlich nicht ganz geheuer. Nur ein dumpfes «oh mein Gott» ist von Zeit zu Zeit zu hören. Zu befürchten hat sie nichts. Bei der müden aber friedlichen Menschenmenge handelt es sich um JUSOs, die aus der ganzen Schweiz angereist sind, um an diesem 15. Oktober 2011 an etwas ganz grossem beizutragen. Kaum haben sich alle versammelt, setzt sich die Gruppe wieder in Bewegung. Nächstes Ziel: Paradeplatz. Fortsetzung Seite 4


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INFRARot • JUSO • November 2011

Kommentar der Redaktion:

Wahlwerbung und andere Missgeschicke

« Werdet nicht gleichgültig! »

Von Felix Graf

Von Clau Dermont

Die Wahlen sind vorbei. Vorbei ist auch die Zeit, wo viele JUSOs auf die Strasse stehen und alles Mögliche verteilen - seien es nun Rosen, Äpfel, Flyer oder Gipfeli. Danke dafür! Wenn aber nicht nur die JUSO betrachtet wird, sondern die Jugendlichen allgemein, sieht es weniger positiv aus. Zivilgesellschaftliches Engagement - sei es nun politisch, sportlich oder kulturell - ist in den 00-Jahren in einem Niedergang. Mensch beteiligt sich nicht mehr, oder höchstens noch elektronisch per «gefällt mir» auf Facebook oder wenn die Freiwilligenarbeit entlohnt wird. Weniger als ein Drittel der 15–24 Jährigen engagieren sich laut dem BFS, weniger als ein Zehntel der Jugendlichen übernehmen Verantwortung in Form einer leitenden Position. Wieso engagieren sich junge Menschen unterdurchschnittlich, und wieso geht der Anteil zurück? Erleben wir eine politisch-gesellschaftliche Degeneration des Engagements, der Überzeugung, der Ideologie? Oder sind die Einheitsbrei-Medien zu sehr auf Lifestyle, Spass und Unverbindlichkeit getrimmt und verdrängen dadurch das Bewusstsein der Partizipation und Mitgestaltung der Gesellschaft und des öffentlichen Raumes? Liebe JUSOs: werdet nicht gleichgültig. Und regt die anderen 70 Prozent an, sich auch zu beteiligen. Bleibt aktiv, übernehmt Verantwortung, gestaltet die Gesellschaft. Denn das müssen wir täglich tun, nicht nur alle vier Jahre.

Ja, ja - wieder mal Wahlen, wieder mal war jede freie Wand vollgepflastert mit Köpfen. Darunter ein schlauer Spruch, etwa «Haas schlägt keine Haken» oder «Man muss nicht unbedingt ein Cowboy sein, aber es hilft». Manchen reichte es auch, einfach den eigenen Namen über ihrem/seinem Kopf zu platzieren. Noch ein Farbklecks dazu und fertig war das Wahlplakat (Beispiel: Thomas «Das Doppelkinn» Fuchs). Aber auch im Wahlcouvert fanden sich einige Schlaumeiereien und sprachliche Unikate...

« Man muss nicht ein Cowboy sein, aber es hilft »

Die Jungfreisinnigen priesen sich als Vorreiter bei der Offenlegung der Parteigelder an: «Wir warten nicht mit löchrigen Transparenzinitiativen auf, wie dies von anderen Jungparteien gemacht wird (...)». Stattdessen ging die JFDP laut Wahlprospekt sogar einen Schritt weiter und

bot den Wählenden an, die «Wahlkampffinanzen online in Echtzeit» mitverfolgen zu können. Da gab es bestimmt viele Klicks... Schade ist dabei nur: Von Ende September, als man die Wahlunterlagen erhielt, bis zum 17. Oktober, hat sich beim Parteifinanzen-Livestream gar nichts getan. Das Beste kommt aber noch: 42 Prozent der Gelder der JFDP stammen laut Grafik von der Mutterpartei, die es ja bekanntlich nicht so mit der Transparenz hat. Also weiss man über fast die Hälfte der Gelder der JFDP genauso wenig wie vorher. Einziger Lichtblick: Sollte nach dem Wahlkampf noch etwas Geld übrig bleiben, spendet man dies einem «karitativen Zweck»...

Biel, Thun, Hongkong

Derweil beeindruckten die Schweizerdemokraten durch pointierte Beispiele: «Jedes Jahr wandert die Bevölkerung der Städte Biel und Thun zusammen in die Schweiz ein». Meine Güte, das braucht Organisation! Ausserdem wollte die SD eine «Grossagglomeration im Mittelland im Stile Hongkongs» verhindern. Konfuzius meint dazu: ein treffender Vergleich.


The Nordics 3

Das schwedische Auslaufmodell? Von Sozialromantikern hochgelobt, von Liberalen verteufelt: Was ist übrig geblieben von 65 Jahren sozialdemokratischer Regierung in Schweden? Von Samira Marty

Ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat, kostenlose Kinderbetreuung, eine landesweit gut akzeptierte Besteuerung von rund 50 Prozent und gleichzeitig ein starkes Wirtschaftswachstum: Schweden gilt nicht nur bei Linken als Wunderland. Seit der historischen Wahlschlappe 2006 ist eine Mitte- Rechts Koalition mit Ministerpräsident Reinfeldt an der Macht. Was hat sich seither verändert? Liberale Baustellen sind zum Beispiel die Privatisierung des öffentlichen Verkehrs oder die taktische Veränderung der Stadtplanung von sozialem Wohnungsbau hin zur Attraktivierung gewisser Quartiere zwecks Anziehung einer «nachhaltigen Mieterschaft», das heisst, steigende Mieten in gemeindeeigenen Gebäuden zur sanften Vertreibung der «weniger nachhaltigen» Mieter. Zudem wird

das schwedische Schulmodell in diesem Jahr komplett reformiert. Das bisherige Schulsystem, das sich die Chancengleichheit für Rasse, Geschlecht und Klasse zum

« Ist das sozialdemokratische Schulsystem in Schweden gescheitert?»

Ziel gemacht hat, ist von den Sozialdemokraten selbst 2006 als gescheitert bezeichnet worden. Schulabbrecher, Jugendarbeitslosigkeit und die zunehmende Dichte von «Problemschulen» in Vorstadtgebieten hat das Schulsystem mehr reproduziert als zu verhindern versucht.

Neu wird die Privatisierung von Schulen vorangetrieben, Benotung zwecks Wettbewerbsfähigkeit und härtere Strafen für Schüler eingeführt. Trotzdem -  oder gerade deshalb  sind all diese neulichen Änderungen mit grosser allgemeiner Skepsis verbunden, schliesslich gilt die parlamentarische Monarchie immer noch als ein «liberales Baby» im europäischen Vergleich.

«Mach Reinfeldt arbeitslos. Bevor du es selbst wirst.» Quelle: SSU (=Schwedische Jusos)

Die eigensinnigen Insulaner Laut aktuellen Umfragen würde eine knappe Mehrheit der IsländerInnen einen EU-Beitritt ablehnen. Das kommt nicht von ungefähr. Von Anna Steffen

Die « Pots and Pans Revolution » auf welche sich aktuell sogar AktivistInnen der Occupy Bewegung berufen ist in Island schon fast zu einem Tabuthema geworden. Vieles läuft auf der kleinen Insel wieder in alten Mustern. Die damals sehr zielgerichtete BürgerInnenbewegung scheint wie paralysiert von der Tatsache, dass die Politik « ihrer » sozialdemokratischen Regierungsmitglieder sich erstaunlich wenig von der ihrer VorgängerInnen unterscheidet. Viele IsländerInnen sind mit dem Blick auf andere krisengebeutelte Länder in Europa zufrieden mit der vermeintlichen Unabhängigkeit der isländischen Währungs- und Wirtschaftspolitik. Dies entspricht der Mentalität vieler Isländerinnen. Die 600 Jahre währende Fremdherrschaft hat in der noch jungen Republik ihre Spuren hinterlassen. Der Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness trifft es mit seinem Roman «Sein ei-

gener Herr» sehr genau. Er erzählt darin die Geschichte des Schafbauern Bjartur, der in der Hoffnung künftig sein eigener Meister zu sein, seine ganze Unabhängigkeit freiwillig aufgibt und dabei immer mehr Schulden machen muss. Mit Berufung auf die traditionellen Werte wird auch noch nach dem Wirtschaftskollaps diese Einstellung der Inselbewohnerinnen von der Politik forciert

wirtschaftlichen Elite kommt wird von der Mehrheit der Bevölkerung ignoriert.

« Die IsländerInnen wollen ihr eigener Herr sein »

und instrumentalisiert. Nun da alle aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hätten wolle sich doch niemand von Brüssel diktieren lassen wie sie leben sollen. Dass diese Reden vor allem von der

«Damn Fucking Fuck» ist der vermutlich beliebteste Protestslogan in Island


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INFRARot • JUSO • November 2011

Retten wir Menschen statt Banken! Von Fabio Höhener

Die «Empörten»

Die Bewegung, die unter dem Motto «Occupy Wall Street» am 17. September in New York auf dem von Demonstranten besetzten Zuccotti Park und später von denselben in Liberty Plaza umgetauften Platz in New York begann, schwappte an diesem Tag auf ganz Europa und viele weitere Städte der Welt über. Die Ursprünge können aber bereits auf das Protestcamp der Indignados (Empörte) vom 15. Mai in Madrid zurückverfolgt werden. In der Schweiz riefen neben der JUSO und den Jungen Grünen auch die umstrittene Gruppe «We are change» zur Besetzung des im Bankenviertel liegenden Paradeplatzes auf. Die Gründe für die Aktion waren so vielfältig wie die Teilnehmer, doch auf eine Botschaft hatte man sich im Vorfeld einigen können: Retten wir Menschen statt Banken! Man habe genug vom kapitalistischen Diktat der Topverdiener, Superreichen und Grosskonzerne, liess die JUSO Schweiz in einer Medienmitteilung verlauten und forderte zugleich: «Banken müssen verstaatlicht und unter die demokratische Kontrolle der Menschen gestellt werden. Die Finanzwelt muss endlich auch international an die Kandare genommen und reguliert werden.»

mern mit Sprüchen, Parolen und Forderungen beschriftet werden. Das Angebot wird sofort rege genutzt. «United Bandits of Switzerland» und «Fertig Koks!» sind zu lesen. Daneben hängen bereits ausgefüllte Listen, in denen sich die UnterstützerInnen eintragen können. Bis am Abend wird sich kaum mehr eine weisse Fläche auf dem Papier finden lassen. Für Aufsehen sorgt auch die Gruppe der «Gold Armee», die grell glitzernd mit versteinerter Miene und vergoldeten Karton-Gewehren den Eingang der Credit Suisse bewacht. Eine Gruppe von Freiwilligen verteilt den TeilnehmerInnen Blumen, die sofort als Zeichen einer gewaltfreien Bewegung angesteckt werden. Gerade wegen diesen

am Abend werden über tausend TeilnehmerInnen gezählt werden. Grosser Jubel bricht aus, als Marco Kistler, ehemaliges Geschäftsleitungsmitglied der JUSO Schweiz, über das Mikrophon verlauten lässt, dass die VBZ wegen den vielen Menschen vor Ort den Trambetrieb der Haltestelle Paradeplatz einstellt. Am Dach der Traminsel und an den Gebäuden der Grossbanken hängen unzählige Transparente. Das eine fordert: «Reiche Eltern für alle» und ein weiteres ist dem internationalen Slogan der Occupy-Bewegung gewidmet: «Wir sind die 99 Prozent!». Ein viel beachtetes Protestschild gibt augenzwinkernd in Anlehnung an das bekannte Volkslied zu verstehen: «My Boni ist over

« Wir haben Genug vom Diktat der Abzocker »

Buntes treiben

In der eisigen Luft dieses Herbstages liegt der Duft von frischem Kaffee. Ein erster Stand verkauft für einen freiwählbaren Solidaritätsbeitrag den Biokaffee «Café RebelDia» einer zapatistischen Kooperative in Mexiko. Zum guten Glück: Die Frühaufsteher der heutigen Aktion haben sich bereits um 10 Uhr auf dem Paradeplatz eingefunden, darunter auch zahlreiche JUSOs mit ihren Fahnen. Gestärkt durch die heisse Brühe, machen sich die ersten an die Umgestaltung des Bankenplatzes. Nach kurzer Zeit versprüht der Platz, durch die bunt mit Kreide gemalten Parolen, einen ganz neuen Charme. Am Gebäude der UBS werden lange Papierrollen angebracht. Sie sollen von den Teilneh-

Bild: Angelo Zehr

originellen Aktionen präsentiert sich die Stimmung äusserst friedlich. Durch die Boxen dröhnt inhaltsschwere, aber auch Gute-Laune Musik von Rap bis Reagge. Auf dem Platz wird getanzt, geklatscht und mitgesungen. Eine junge Frau zeigt mit einem «Hula-Hoop» Reifen passend zur Musik wahrlich erstaunliche Kunststücke. Junge und Alte, Kinder mit ihren Eltern, ob geschminkt mit Schild, Fahne oder Kostüm: Das bunte «Volksfest» wie das Onlineportal der NZZ bereits titelt, ist im vollen Gange. Immer mehr Leute strömen auf den Platz. Hunderte Besetzerinnen und Besetzer befinden sich gegenwärtig auf und rund um den Platz. Bis

the ocean». Sofas, eine Suppenküche und ein grosses Monopoly deuten darauf hin, dass der «Piraten-Platz» gegen Mittag nun vollends von den «Empörten» besetzt ist.

Gefängnis Paradeplatz

Es wird zur Vollversammlung gerufen. Die Menschenmassen drängen sich zu den Lautsprecherboxen. Ein Sprecher lässt verlauten, dass man in kleinen Gruppen über die Besetzung und die Forderungen weiterdiskutieren und später dann die Resultate zusammentragen wolle. Die Vollversammlung gestaltet sich anders, als man sie aus Madrid und New York kennt. Auf die Kommunikation mittels Handzei-


Occupy Paradeplatz 5

chen zur Konsensfindung wird verzichtet. Anstelle davon tritt ein offenes Mikrophon, dass allen ermöglichen soll, ein Statement abzugeben. Die ersten RednerInnen plädieren für die Umsetzung neuer Werte. Der Begriff «Liebe» ist immer wieder zu hören. Es dauert eine Weile bis die Voten auch konkret politischer Natur sind. Mattea Meyer, Vizepräsidentin der JUSO Schweiz, tritt vor das Mikrophon und erinnert an einen Satz des ehemaligen Résistance-Kämpfer und hochaktuellen Intellektuellen Stéphan Hessel: «‘Ohne mich‘ ist das Schlimmste was man sich und der Welt antun kann». «Deshalb», so Meyer, «soll man sich nicht nur empören, sondern muss sich auch engagieren und organisieren.» Für ihr engagiertes Statement erntet sie grossen Applaus. Ebenfalls grosse Zustimmung erhält JUSO Präsident David Roth für seine feurige Ansprache gegen den von der Realwirtschaft abgekoppelten Kasino-Kapitalismus: «Die Gebäude der Grossbanken auf dem Paradeplatz müssen ein Gefängnis sein, denn auch hier gebe Bild: Angelo Zehr

es viele Kriminelle in einem Haus». Roth bemerkt, dass das Geld zwar da sei, aber sich am falschen Ort konzentriere. Damit die Banken wieder den Menschen dienen, müssen sie verstaatlich werden. Zur selben Schluss kommt auch der renommierte Globalisierungskritiker und ehemaliger SP Nationalrat Jean Ziegler, der am späten Nachmittag per Telefon über die Lautsprecher der Menge zugeschaltet ist und eine Grussbotschaft ausrichtet. Gerne wäre er dabei gewesen, jedoch habe er seinen Flug von Genf nach Zürich verpasst.

«My Boni ist over the ocean»

Es geht weiter

Gegen Abend diskutiert eine grössere Gruppe was nun folgen soll. Nach einiger Zeit hat man sich geeinigt: Die Besetzung des Paradeplatzes soll weitergehen, mindestens bis kommenden Montag. Dieser Entscheid ist jedoch an zwei Bedingungen geknüpft: Ersten wollen die Besetzer friedlich abziehen, falls dies von der Polizei offiziell gefordert wird und zweitens räumen sie das Camp, falls es zu Ausschreitungen kommen sollte. Als alternativer Ort für ein Basiscamp wird der Lindenhof vorgeschlagen. Doch im Moment zeugt nichts davon, dass man schnell wieder verschwinden wird. Fleissige Aktivisten errichten aus Holz einen massiven «Banking-Watchtower», von dem aus man die Lage auf dem Finanzplatz weiter beobachten wolle. Die ersten Zelte stehen und der Glühwein wird auf Temperatur gebracht. Man stellt sich auf eine lange Nacht ein. Es wird bestimmt nicht die letzte dieser neuen Bewegung sein.


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INFRARot • JUSO • November 2011

Liebe Salome

Du hast geschrieben, organisiert und «gekrampft». Seit der Neulancierung des infrarots warst du bei jeder Ausgabe dabei und hast unserem Heft deinen persönlichen Stempel aufgedrückt. Damit hast du dafür gesorgt, dass wir und die JUSO auf dieses Magazin stolz sein können. Du hast in den stürmischsten Zeiten die Übersicht behalten, als wir uns geistig von der Ausgabe schon verabschiedet haben. Vor allem mir musstest du immer wieder Beine machen, damit auch ich die Deadline einhalte. Unvergesslich deine mehrere Seiten langen Mails. Anmerkungen speziell an mich hast du oftmals fett und mit Ausführungszeichen gekennzeichnet. Auch wenn ich oft nicht so reagiert habe, bin ich jetzt doch froh, dass du uns allen so eingepeitscht hast. Das Resultat konnte sich jedes Mal sehen lassen. Neben deinen redaktionellen Qualitäten, bleibt mir vor allem die gute Zeit in Erinnerung, die wir trotz allem Stress immer wieder zusammen erleben durften. Dank dir freute ich mich sogar auf die Reise nach Basel an eine Redaktionssitzung. Als Zürcher ist das nicht selbstverständlich. Jetzt hast du beschlossen neuen Leuten in der Redaktion Platz zu machen. Wir akzeptieren deine Entscheidung und danken dir für deinen unermüdlichen Einsatz. Du wirst uns allen in der Redaktion sehr fehlen. Am Schluss bleibt aber die Gewissheit, dass du uns und der JUSO als liebe Genossin und gute Freundin erhalten bleibst. Wir wünschen dir für deine nächsten Projekte alles Gute und werden dir für einen allfälligen Artikel als Gastautorin immer eine Seite frei lassen.

Im Namen der Redaktion, Fabio Höhener

Angelo Zehr ist neustes infrarot-Redaktionsmitglied

Felix Graf ist neustes infrarot-Redaktionsmitglied

Kommentar von Angelo Zehr

Kommentar von Felix Graf

Das UN Flüchtlingshochkommissariats hält momentan folgende Zahlen fest: In Tunesien sind 160‘000 libysche Flüchtlinge stationiert, in Jemen wurden weitere 170‘000 aufgenommen und täglich kommen tausende dazu. Auf Lampedusa kamen die letzten Monate 34’000 Flüchtlinge an. Zum Vergleich: In den 1990er-Jahren nahm allein Deutschland etwa die zehnfache Zahl an Bosnienkriegsflüchtlingen auf. Doch heute heult Europa auf und will die Grenzen schliessen. Sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge seien das. Solche die nur unsere Jobs wegnehmen. Dies ist das traurige Resultat der ausbeuterischen Geschichte Europas, die seit Jahrhunderten alle jene ausnutzt, die sich nicht wehren können. Gleichzeitig wollen uns die drei schweizliebenden Parteien weis machen, wir müssten unsere humanitäre Tradition aufrechterhalten. Die Ironie liegt auf der Hand. Die bürgerliche Mehrheit Europas steckt Jahr für Jahr mehr Millionen in die private Grenzschutzorganisation Frontex, die den Auftrag hat, Europa nach aussen hin abzuschotten. Dass dabei die Menschenrechte nicht eingehalten werden, hat man schon oft beobachtet. Man weiss von Booten, die von der Küste Italiens direkt nach Libyen zurückgebracht wurden, obwohl die Flüchtlinge dazu berechtigt gewesen wären, in Europa Asyl zu beantragen!

«Solidarität mit den Flüchtlingen auf Lampedusa.»

Zeigen wir endlich Solidarität mit unseren Mitmenschen. Es darf nicht sein, dass diese Leute mit einer solchen Perspektivlosigkeit allein gelassen werden, während wir hier unseren eigenen Kuchen immer weiter vergrössern. Geben wir ihnen endlich eine faire Chance!

Für eine knappe Mehrheit der Wahlberechtigten – wenn überhaupt – stellte sich in den letzten Wochen die Frage, wen man am 23. Oktober ins Parlament nach Bern schicken sollte. Die Antworten fielen gewohnheitsmässig unterschiedlich aus. Doch hat es sich eigentlich geloht, wählen zu gehen? Die Möglichkeit eines aktiven Wahlboykotts hat wohl nur eine verschwindend geringe Anzahl von Wahlberechtigten wahrgenommen. Trotzdem gibt es diejenigen, die das Wählen für sinnlos halten. Und ihre Beweggründe sind nachvollziehbar.

« Wählen oder nicht wählen, das ist hier die Frage. »

Wer unser kapitalistisches System überwinden möchte, vorbehaltlos, wer es weder renovieren noch reformieren möchte, ist je nach Auslegung besser beraten, nicht zu wählen. Denn gibt es unter den Parteien, die im Parlament in Bern vertreten sind, wirklich solche, die eine radikale Abkehr vom herrschenden System befürworten? Solche, die wahrhaftig überwinden statt verbessern wollen? Die Beantwortung dieser Frage fällt je nach Radikalität der eigenen Einstellungen unterschiedlich aus. Selbstverständlich gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Parteien. Und es gibt auch solche, die den Kapitalismus grundsätzlich ablehnen. Doch wie weit haben sich die parlamentaristischen politischen Gruppierungen schon dem System angepasst? Inwiefern darf man Kompromisse eingehen? Darf es überhaupt eine Zusammenarbeit mit Kapitalisten geben? Vier Jahre Zeit haben wir nun wieder, um uns über diese Fragen Gedanken zu machen.


infraciné 7

«VOL SPÉCIAL» «Was ich mit meinen Filmen zeigen will, ist dass Asylsuchende oder Sans-Papiers auch Menschen sind». Das sagt Fernand Melgar über seinen zweiten Film «Vol spécial», der im Ausschaffungsgefängnis von Frambois in Genf spielt. Er dokumentiert darin verschiedene Geschichten von Menschen, die keine Kriminellen sind, sondern Asylsuchende oder schlicht und einfach Leute, die keine Papiere besitzen und deshalb ausgeschafft werden. Dabei werden ihre Menschenrechte mit Füssen getreten. Von Angelo Zehr

«Illegale», «Asylanten», «Papierlose» – und mit noch weitaus schlimmeren Bezeichnungen wird diesen Herbst wieder Wahlkampf betrieben. Man versteckt sich hinter Statistiken und populistischen Hasstiraden und blendet aus, dass hinter jeder Zahl, hinter jedem Prozent Menschen stehen. Genau dagegen kämpft Fernand Melgar an. Doch seine Filme urteilen nicht, sie halten nur fest. Man sieht die Geschichte von Jeton, einem jungen Roma, der in Deutschland lebte und sich für Hochzeitsvorbereitungen in der Schweiz aufhielt. Doch bei einer Routinekontrolle auf der Autobahn nimmt man ihn fest und steckt ihn ins Ausschaffungsgefängnis. Seine Familie, sein Sohn und seine Freunde besuchen ihn immer wieder, aber geht es nach Schweizer Recht, darf man ihn noch zwei Jahre eingesperrt lassen. Oder aber von Serge, ein Kongolese, der seit über 10 Jahren in der Schweiz lebt, hier eine Familie gründete, arbeitete und Steuern bezahlte. Um dann plötzlich eingesperrt und ausgeschafft zu werden. Doch glücklicherweise wird er kurz vor seiner Abschiebung ohne ersichtlichen Grund wieder frei gelassen. Leider das einzige Happy End im Film. Geordry, Ragip, Serge, Julius und Alain haben weniger Glück und werden einer nach dem anderen vor laufender Kamera in Fesseln gelegt und zum Flughafen gebracht. Die meisten von ihnen werden mit Respekt behandelt – zumindest im Rahmen des Möglichen, denn Teil die-

«Ich bin Filmemacher und kein Politiker»

ser Routine ist auch eine Leibesvisitation. Dabei muss sich die Person vor sämtlichen Beamten entblössen. Aus Sicherheitsgründen – so will es das Gesetz. Und so zeigt sich in diesen Szenen eine grosse Stärke dieses Films. Denn

auch den beteiligten Beamten fällt nicht leicht, was sie machen müssen. Ihnen sind die Bewohner des Gefängnisses zum Teil sehr ans Herzen gewachsen. Als Zuschauer empfindet man tiefes Mitgefühl, sowohl für die Menschen, die ausgeschafft werden, als auch für jene, die sie ausschaffen müssen. Der Film macht sich stark für all jene, die sonst keine Stimme erhalten in der Gesellschaft. Was bis hierhin friedlich klingen mag, kann aber offensichtlich auch ganz anders ablaufen. Als die Dreharbeiten schon fast abgeschlossen waren, gibt es vor einem «vol spécial» einen Todesfall. Opfer ist ein junger Nigerianer, der in einer sogenannten «Level IV-Ausschaffung» hätte ausgeschafft werden sollen.

Bei diesem Verfahren werden Hände und Füsse an einen Stuhl gebunden und man bekommt ein Helm aufgesetzt, sodass man sich nicht mehr bewegen kann. Amnesty International fordert zu Recht ein Verbot dieser «unmenschlichen, gefährlichen und unverhältnismässigen Praxis». Ganz bewusst stellt der Regisseur selbst keine derartigen Forderungen. «Ich bin Filmemacher, kein Politiker. Wenn diese den Film sehen werden, ist es an ihnen, etwas zu tun.» Also schauen wir nicht weg! Stellen wir die Forderungen! «Kein Mensch ist illegal!»


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INFRARot • JUSO • November 2011

Occupy Paradeplatz am 15. Oktober 2011

Bilder: Angelo Zehr

Impressum Herausgeber: Infrarot – Infrarouge –Infrarosso – Infracotschen · Spitalgasse 34, PF 8208, 3001 Bern, www.juso.ch,

www.jss.ch · Kontakt: infrarot@juso.ch, 031 329 69 99 · Redaktion: Clau Dermont, Felix Graf, Fabio Höhener, Samira Marty, Kristina Schüpbach, Angelo Zehr · Design & Layout: art.I.schock GmbH, Zürich, www.artischock.net · Druck: S & Z Print, 3902 Brig-Glis · Abo: Fr. 20.- / Jahr – Infrarot erscheint 6 Mal pro Jahr.


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