Infrarot 225 - Gesundheit, Profit mit System

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INFRAROT

MAGAZIN FÜR JUNGSOZIALIST*INNEN Nr. 225 Dezember 2022

In dieser Ausgabe beschäftigen wir uns mit dem Thema Gesundheit. Denn: Kaum in einem anderen Bereich wird so sehr sichtbar, dass der Kapitalismus nicht auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse ausgelegt ist, sondern auf Profitmaximierung. Wer einmal versucht hat, einen kassenfinanzierten Therapieplatz zu bekommen, wegen hohem Selbstbehalt eine riesen Arztrechnung zahlen musste, oder in der Pflege arbeitet, hat das bereits am eigenen Leib erfahren.

Und die Lage wird nicht besser: Sobald in den Kantonen Sparpakete geschnürt werden, geht es dem Gesundheitsbereich an den Kragen. Weil die Personalkosten im Care-Bereich vergleichsweise hoch sind, wird Lohndumping betrieben. Zusätzlich wird mit Methoden zur Effizienzsteigerung versucht, die Profite zu vergrössern. Die Tätigkeiten in der Pflege lassen sich aber nur schwer standardisieren. Das Resultat: Die Qualität der Pflege leidet, der Druck auf die Pflegenden steigt. Viele Pflegende werden selber krank oder wechseln den Job.

Gleichzeitig bieten immer mehr private Unternehmen Leistungen im Gesundheitsbereich an, die sie als profitabel ansehen und füllen so die Lücken, die durch den Rückzug der öffentlichen Hand entstanden sind. Das ist kein Zufall: Der Kapitalismus muss, um zu überleben, laufend Bereiche erschliessen, die noch nicht (vollständig) der Logik des Warentauschs unterworfen sind. Gesundheit wird so zum Luxusgut für eine kleine Minderheit, während für die Mehrheit ein marodes Gesundheitssystem zurückbleibt.

Wie vielfältig die zerstörerischen Verstrickungen von kapitalistischer Landnahme und Gesundheit sind, beleuchtet diese Ausgabe. Wir hoffen, dass ihr beim Lesen etwas Neues lernen könnt – und euch dabei auch Ansporn für eure politische Praxis holen könnt.

Wie immer gilt: Wir freuen uns über Rückmeldungen oder neue Autor*innen! Meldet euch bei uns unter redaktion@infrarot.news

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Mangelnde Ausbildungsplätze in der Humanmedizin Das Geschäft mit unserer Gesundheit Globuli Die Zimov Hypothese und das Ramba Zamba in meinem Kopf «Stop twierdza Europa» Psychische Gesundheit im Kapitalismus Cis-Heteronormativität in der Schulmedizin Gesundheitssystemwechsel Der Fall «Einheitskasse» Linke Massnahmen in der Coronakrise Krise als Normalzustand Revolutionäre Medizin Das Schweizer System 04 05 08 08 09 10 12 13 16 17 18 20 14 06 Kein Molekül ist illegal Inhalt
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Photo: Vidal Balielo Jr.

Das Schweizer System

1. Die Kantone zahlen 55% der stationären Behandlungen, bei ambulanten Behandlungen zahlt nur die Krankenkasse. Deshalb wollen Kantone möglichst viele ambulante Behandlungen. Kosten für Anreise, Hotels usw. fallen bei den Patient*innen an.

2. Die Krankenkassen legen die Prämien für das nächste Jahr fest, der Bund muss diese genehmigen.

3. Für Menschen mit tiefen Einkommen, stellen die Kantone Prämienvergünstigungen zur Verfügung.

4. Die Franchise ist der Betrag, den Patient*innen selber bezahlen müssen, bis die Krankenkassen Kosten übernimmt. Je höher die Franchise, desto tiefer ist die Prämie, aber desto mehr muss man selber für Medikamente und Behandlungen bezahlen, bevor die Krankenkasse bezahlt.

5. Versicherte bezahlen regelmässig die Prämien an die Kassen. Die Krankenkassen vergüten dafür die Kosten für Medikamente, Behandlungen und andere Ausgaben für die Gesundheit. (Sobald die Franchise erreicht worden ist)

6. In der Schweiz gilt ein Versicherungsobligatirium: Alle müssen eine Grundversicherung bei einer Krankenkasse haben. Was die Grundversicherung alles abdeckt, ist gesetzlich festgehalten. Grundsätzlich werden «notwendige» Behandlungen und Medikamente übernommen. Die Massnahmen müssen aber „wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich“ sein. (Auch Kosten für die medizinische Angleichung der primären und der sekundären Geschlechtsmerkmale müssen von den Krankenkassen übernommen werden)

7. Neben der Grundversicherung gibt es auch noch Zusatzversicherungen. Bei diesen können die Krankenkassen frei festlegen, welche Leistungen sie übernehmen und welche nicht. Sie können dort z. B. Zahnärztliche Behandlungen übernehmen.

8. Das Bundesamt für Gesundheit legt die Höchstpreise der zugelassenen Medikamente fest. Dabei stützt es sich auf die Preise im Ausland und für ähnliche Medikamente.

Text: Sandro Covo
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Das Geschäft mit unserer Gesundheit

Dass grosse Pharmakonzerne mit unserer Gesundheit riesige Profite machen ist nichts neues. Aktuell schiessen die Preise für Medikamente erneut durch die Decke. Die Folge: Medikamente, die sich nur noch die Reichen leisten können. Kaum irgendwo zeigt sich die menschenverachtende Radikalität des kapitalistischen Systems so deutlich, wie beim Geschäft mit unserer Gesundheit.

Pharmaindustrie

Medikamente mit schädlichen Nebenwirkungen, verunreinigte Medikamente oder solche ohne jegliche Wirkung: Die Liste der Verbrechen der Pharmaindustrie scheint endlos. Geforscht wird an jenen Wirkstoffen, die Milliardenprofite versprechen. Warum sollte man also an Wirkstoffen gegen jene Erreger forschen, die mehrheitlich im globalen Süden vorkommen? Das denken sich viele Pharmakonzerne, wie beispielsweise Novartis, und ziehen sich aus der Forschung nicht-profitabler Antibiotika zurück. Dabei ist die Forschung in dem Bereich dringend nötig, denn Antibiotikaresistenzen sind ein wachsendes Problem. Insbesondere die Menschen im Globalen Süden werden davon viel härter getroffen: Schätzungsweise werden 2050 etwa zehn Millionen Menschen jährlich an Antibiotikaresistenzen sterben, davon leben acht Millionen in Afrika oder Asien. Gleichzeitig wird die Produktion in den globalen Süden verlagert, wo der Umweltschutz inexistent und die Arbeiter*innen möglichst widerstandslos ausgebeutet werden können. So werden diese Regionen doppelt getroffen.

Die Profitraten von Medikamenten, die sich zwischen 10% und 60% des Umsatzes bewegen, gehören zu den grössten aller Wirtschaftsbranchen. Grund dafür sind die Monopolstellungen, über die Pharmakonzerne für gewisse Medikamente verfügen. Ein Patent für ein Medikament sichert einem Konzern das alleinige Recht zur Herstellung und Vermarktung eines Medikamentes für zehn bis fünfzehn Jahre. Diese Monopolmacht wird rigoros ausgenutzt und führt zu stark überhöhten Medikamentenpreisen. Die Zahlen sprechen für sich: Roche und Novartis, die zwei grössten Schweizer Pharmaunternehmen gehören zu den 30 Unternehmen mit dem grössten Börsenwert der Welt.

Medikamente machen jedoch heute «nur» 12.7% der Gesundheitskosten der Schweiz aus.

«Rentabilität wird zur höchsten Maxime unseres Gesundheitssystems.»

Der Kapitalismus strebt aber laufend nach einer Ausweitung der Gebiete, auf denen Gewinne erzielt werden können. Also soll nun auch der Rest unseres Gesundheitssystems für private Profitzwecke genutzt werden können.

Gesundheitsinsitutionen

Ein gebrochener Arm, ein entzündeter Blinddarm, eine Gehirnerschütterung oder sogar ein Tumor –wenn wir verunfallen oder krank werden möchten wir nur eines: Möglichst schnell wieder gesund werden. Ist das auch im Interesse der Gesundheitsinstitutionen? Natürlich, würde man denken. Doch die privaten Aktionär*innen haben ein anderes Ziel: Profit. Deshalb erleben wir, wie immer mehr Gesundheitsinstitutionen privatisiert werden. Das Ziel: Den Gesundheitsbereich für das Kapital weiter zu öffnen. Rentabilität wird zur höchsten Maxime unseres Gesundheitssystems.

Durch Privatisierungen wird das Interesse grösser, die sogenannten «Pensionskosten» im Spital auszubauen. Will heissen: Es wird versucht möglichst viel Gewinn über das Zimmer, die Verpflegung oder andere Zusatzdienstleistungen zu machen. Während sich die Gesundheitsversorgung für die Reicheren verbessert, wird bei den Leistungen für die Mehrheit gespart. Im Bereich der Langzeitpflege verhält es sich nicht anders. Mit den Gesundheits- und Pflegedienstleistungen an sich lässt sich kaum Profit machen. Also werden die Kosten hier auf ein Minimum reduziert. Dieser Kostendruck führt dazu, dass immer effizienteres Arbeiten im Bereich der Pflege gefordert wird. Kostenreduktion, wo immer möglich. Doch hier stösst das System an seine Grenzen: Denn Pflege umfasst viele Arbeiten, die nicht rationalisiert werden können. Die Folgen: chronischer Personalmangel, ein Mangel an Betten, Mangel an Zeit, die pro Patient*in zur Verfügung steht und ein immenser Druck auf die Pflegefachkräfte. Letzten Endes bedeutet das auch, dass ungenügende medizinische Versorgung aufgrund von Fehlern und unzureichende medizinische Behandlung in Kauf genommen werden. Wer es sich nicht leisten kann, eine Zusatzversicherung abzuschliessen, riskiert damit seine Gesundheit. Und das in dem Land, das sich als jenes mit dem «besten Gesundheitssystem» weltweit rühmt. Der Zugang zu moderner medizinischer Behandlung ist zwar weitgehend für alle möglich, jedoch existieren bei der Pflege massive Unterschiede.

Gesundheit als öffentliches Gut Unsere Gesundheit darf kein Konsumprodukt auf dem freien Markt sein: Gesundheit darf nicht vom Einkommen abhängig sein. Doch wie erreichen wir das? Die JUSO-Variante wäre die Verstaatlichung des gesamten Gesundheitsbereiches und eine gratis Gesundheitsversorgung, die direkt über die Steuern finanziert wird. Die Preise für Medikamente müssen auf das Niveau, das den Produktions- und Entwicklungskosten entspricht.

«Die Profitraten von Medikamenten, (...) gehören zu den grössten aller Wirtschaftsbranchen.»
«Unsere Gesundheit darf kein Konsumprodukt auf dem freien Markt sein.»
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Gesundheitssystemwechsel

Interview mit Mattea Meyer, geführt von Diego Loretan & Fabian Eckstein

Vor gut einem Jahr machte die SP mit einer ungewohnt resoluten Forderung Schlagzeilen: Die Novartis-Tochter Sandoz solle verstaatlicht werden! Nach einer ersten Aufregung hat man nichts Neues mehr darüber gehört. Deshalb fragten wir uns: Wie steht es um die Verstaatlichungspläne? Hat die SP implizit das grössere Ziel einer ganz staatlichen Phramabranche geäussert? Und findet sich diese Entschiedenheit auch ganz generell im Gesundheitsprogramm der Partei? Im Interview mit Mattea Meyer versuchten wir – der präsidialen Mässigung zu trotzuns diesen Fragen anzunähern.

werden. Mit einer Einheitskasse nach dem Vorbild der Suva könnten wir zudem dafür sorgen, dass eine gute medizinische Versorgung wieder für alle bezahlbar ist.

Die Krankenkassenprämien werden für viele Familien und Einzelpersonen zu einer immer grösseren Belastung. Während die Löhne und Renten seit Jahren gleichbleiben, haben sich die Krankenkassenprämien in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Und die Situation spitzt sich zu: Im nächsten Jahr kommt es zu einem massiven Prämienschock. Darum müssen wir endlich handeln und die Kaufkraft der Menschen schützen. Mit unserer Prämien-Entlastungs-Initiative sorgen wir dafür, dass kein Haushalt mehr als 10 % des verfügbaren Einkommens für Krankenkassenprämien ausgeben muss. Das macht auch volkswirtschaftlich Sinn: Nur wenn die Menschen genügend Geld im Portemonnaie haben, können sie sich mal ein Abendessen im Quartierrestaurant oder einen Kinobesuch leisten.

Was siehst du persönlich als optimales Gesundheitssystem?

Alle sollen Zugang zu einer qualitativ hochstehenden Gesundheitsversorgung haben. Dafür braucht es eine verstärkte Orientierung an den Gesundheitsbedürfnissen der Bevölkerung und eine sozialverträglichere Finanzierung. Um die Versorgungsqualität für die zunehmende Zahl älterer und chronisch kranker Patient:innen zu verbessern, muss die integrierte Versorgung als Grundmodell verankert

Wie ist der aktuelle Stand der Verstaatlichungspläne von Sandoz?

Unser Nationalrat und Vizepräsident Samuel Bendahan hat dazu eine Motion eingereicht, mit dem Titel: «Für ein Pharmaunternehmen im Dienste der Bevölkerung». Die Motion beauftragt den Bundesrat, Verhandlungen aufzunehmen, um das Unternehmen Sandoz, ein Teilkonzern des Pharmakonzerns Novartis, zu erwerben. Ziel ist es, dass der Bundesrat die wirtschaftliche Kontrolle über das Unternehmen erhält, um eine Unternehmensführung im Dienst des Gemeinwohls einrichten zu können – zum Beispiel im Bereich der Zugänglichkeit von Arzneimitteln, der Versorgungssicherheit sowie der partnerschaftlichen Forschung und Entwicklung. Die Motion wurde noch nicht beraten.

Was ist das grösste Problem im Gesundheitswesen?
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“Ein radikaler Systemwechsel in der Krankenversicherung ist unabdingbar”

Bürgerliche Albträume

Fändest du eine komplett verstaatlichte Pharmabranche erstrebenswert?

Eine komplette Verstaatlichung des Pharmawesens hätte durchaus Vorteile: So könnte man zum Beispiel die exorbitanten Gewinne der Pharmabranche dämpfen. Grundsätzlich war die SP stets dafür, anhand staatlicher Kontrolle private Gewinnmaximierung zu unterbinden – so beispielsweise auch bei einer Abkehr von der unsozialen Kopfprämie bei den Krankenkassen.

Was denkst du persönlich über eine Einheitskrankenkasse und wann rechnest du mit einem neuen Anlauf zur Schaffung dieser?

Ein radikaler Systemwechsel in der Krankenversicherung ist unabdingbar, denn die Schwachstellen des heutigen Systems sind bekannt: Prämienexplosion, Risikoselektion, Diskriminierung von alten und kranken Versicherten, intransparente Reserven, Millionen-Boni für Manager und aggressive Werbung. Darum muss eine einheitliche öffentliche Krankenkasse mit einkommensabhängigen Prämien mittelfristig das Ziel bleiben. Wir bleiben als SP dran.

Sobald das Wort «Verstaatlichung» bloss fällt, kriegen Bürgerliche Angstzustände und Schweissausbrüche. Uns ist aber klar: Die Wirtschaft muss den Menschen dienen und nicht dem Profit. Nur so bleibt die Welt der Zukunft lebenswert. Verstaatlichungen sind ein Weg zu diesem Ziel. (Anmerkung der Redaktion)

Mattea Meyer

Falls es JUSOs gibt, die es noch nicht wissen:

Mattea Meyer ist Nationalrätin und ist Teil der Immunitätskommission sowie der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit.

Von 2009 bis 2013 war sie Vize-Präsidentin der Juso Schweiz.

Seit Oktober 2020 teilt sie sich das Präsidium der SP Schweiz zusammen mit Cédric Wermuth.

Bild: Vera Diener
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«Guten Tag» oder «Grüezi». Wie wurdest du das letzte Mal begrüsst, als du einen Termin bei einem*r Ärzt*in hattest?

Schon lange ist das Problem bekannt, dass in der Schweiz viel zu wenige Ärzt*innen ausgebildet werden. So erstaunt es auch nicht, dass die FMH in der Ärztestatistik 2021 angab, dass fast 40% der in der Schweiz tätigen Ärzt*innen ihre Ausbildung im Ausland absolviert haben. Dies allein wäre an sich kein Problem, allerdings ist es bezeichnend für ein System, das sich in den Industrienationen der Welt etabliert hat: Das im Inland mangelnde Fachpersonal wird aus ärmeren Ländern abgeworben. So wird das Problem aus reicheren Ländern immer mehr in ärmere verlagert, sodass letztendlich Entwicklungsländer, die schon genug finanzielle Probleme haben, zusätzlich die versäumte Ausbildungspolitik der Industrienationen bezahlen.

Aber weshalb bilden wir zu wenige Ärzt*innen aus?

Der Grund ist der Preis. Das Medizinstudium kostet, laut einer (unvollständigen) Rechnung des Bundesrats, über eine halbe Million Franken pro Person für sechs Jahre und ist somit das teuerste Studium der Schweiz. Was ist also die Lösung einer Nation, die von Sparwahnsinnigen regiert wird? Das Problem ins Ausland zu verlagern.

Mangelnde Ausbildungsplätze in der Humanmedizin Globuli

Wer einmal an einem Numerus clausus für Medizin gewesen ist, hat zweifelsohne bemerkt, dass das Humanmedizinstudium eine genügend hohe Attraktivität besitzt, um ausreichend Studierende zu finden. Das Problem sind die mangelnden Plätze. 2009 betrug die Anzahl Studiumsabgänger*innen noch 676. Seither haben die Schweizer Universitäten sich das Ziel gesetzt bis 2024 mindestens 1300 Abschlüsse pro Jahr zu ermöglichen. Im entsprechenden Schlussbericht des 2.12.21 von swissuniversities wird davon ausgegangen, dass dieses Ziel bis 2024 erreicht werden kann. Die Frage ist nur, ob es dann auch reichen wird. Ärzt:innen an, mindestens einmal jährlich homöopathische Arzneimittel zu verschreiben. Von diesen 23% gab wiederum die Hälfte an, die Mittel zu verschreiben, um die in der Packungsbeilage versprochene Wirkung zu erzielen.

Präparate, die so stark verdünnt werden, dass sich kein Wirkstoff mehr darin befindet – nein, heute geht es nicht um die Entwicklung der Sozialdemokratie, sondern um Globuli.

Die Zuckerkügelchen mit einer Aura von Medizin. Sie machen es sich mal unter meiner Zunge, mal in der Verfassung der Schweiz gemütlich. Zwar werden Globuli darin nicht namentlich erwähnt. Sie sind aber die wohl prominentesten Vertreter der Komplementärmedizin. Diese wurde von der Stimmbevölkerung im Mai 2009 mit dem Artikel 118a79 bedacht: «Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die Berücksichtigung der Komplementärmedizin.»

So weit so schwammig. Konkret hat dieser Artikel beispielsweise dazu geführt, dass Globuli in der Schweiz mittlerweile von der Grundversicherung bezahlt werden. Davon wird gerne Gebrauch gemacht: 2021 haben die hiesigen Krankenkassen laut dem Beobachter homöopathische Leistungen mit einem Wert im tiefen zweistelligen Millionenbereich übernommen, fünf Millionen Franken davon fielen auf Globuli und andere homöopathische Arzneimittel. In einer 2017 erschienenen Studie gaben 23% der befragten Zürcher

Das ist zunächst beruhigend, konnte doch die Wirkung von Globuli und Co über den Placeboeffekt hinaus seit der Erfindung der Homöopathie nie nachgewiesen werden. Gleichzeitig gibt es mindestens Anlass zum Nachdenken, wenn eine beträchtliche Anzahl an Ärzt:innen «Medikamente» verschreibt, an deren Wirkung sie nicht glaubt. Offenbar lässt es unser Gesundheitssystem nicht zu, dass sich Mediziner:innen Zeit nehmen, um auf die Bedenken derjenigen Personen einzugehen, die gegenüber der Schulmedizin oder von Komplementärmedizin mit tatsächlicher Wirkung Bedenken haben. Kosteneffizienter ist es anscheinend, Diskussionen zu vermeiden und Patient:innen mit glorifizierten Tic Tacs nachhause zu schicken.

Das kann man so wollen. Sich dann aber darüber zu wundern, dass die Schweiz in der Corona-Pandemie eine der tiefsten Impfquoten hatte – man müsste schon ein:e Zürcher Ärzt:in sein, um mit einem derartigen Widerspruch fertig zu werden. Wem das hingegen Kopf-, Bauch- oder sonstige Schmerzen bereitet, kann ich wärmstens empfehlen, sich eine Suppenkelle Globuli unter die Zunge zu bugsieren. Das hat schliesslich noch immer geholfen.

Quellen: https://soz.li/quellen225/

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Der Fall «Einheitskasse»

Bereits vier Mal hat sich die Schweiz eingehend mit der Einführung einer Einheitskasse beschäftigt (1994,2003,2007,2014). Noch nie konnte sich das Anliegen eine Mehrheit bei der Stimmbevölkerung sichern. Für die Befürworter*innen gibt es allerdings einen Lichtblick: Die Zustimmung ist kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 1994 sagten 23 Prozent ja, zwanzig Jahre später waren es bereits 38.5%.

Santesuisse, ein einflussreicher Branchenverband der Krankenkassen, äusserte sich zur gewonnenen Abstimmung von 2014 stolz: «Damit haben sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger mehrmals klar für Wettbewerb und Wahlfreiheit in der solidarisch finanzierten Grundversicherung ausgesprochen.»1

Die Ironie sticht ins Auge: «Wettbewerb» im selben Atemzug mit «solidarisch» zu verwenden, und diese als sich komplementierende Eigenschaften zu verstehen, wirkt grotesk. Es deckt sich aber mit den durchaus fragwürdigen Argumentationen der Krankenkassen und ihren Verbänden. Wie kommt es, dass die Krankenkassenprämien in diesem privatwirtschaftlichen System jährlich steigen, das doch für eine optimale Allokation von Ressourcen sorgen sollte? Die einfache, sich jährlich wiederholende, Antwort: Der Preisanstieg sei linear zu den erbrachten Leistungen. Oberflächlich betrachtet, scheint dieses Argument immerhin bis zu einem gewissen Grad schlüssig: Die Alterung der Bevölkerung, die gestiegenen Erwartungen an die medizinische Behandlung und die fortschreitenden technischen Möglichkeiten sind dabei die tragfähigsten Argumente. Es ist aber bestenfalls eine oberflächliche Analyse des strukturellen Problems, welches sich in der Gesundheitsversorgung kontinuierlich verschlimmert.

Denn hier kommen wir zu den Aspekten, die von Profiteuern des Status Quo verschwiegen werden. Eine Studie von 2021 verglich in zehn Ländern (GB, NO, FR, DE, SE, NL, CA, AU, CH, NZ, US), welcher Prozentsatz der Bevölkerung Einschränkungen in der medizinischen Grundversorgung aufgrund von Finanzierungsproblemen erhalten hat. Die ernüchternde Bilanz: nur die USA schneiden noch schlechter als die Schweiz ab.2

Im sonstigen internationalen Vergleich brilliert die Schweiz. Die erbrachte Qualität gehört zu

den besten der Welt, wobei die Behandlungen, die aufgrund zu hoher Kosten nicht erfolgen, natürlich nicht in diese Statistik mit einfliessen. In qualitativer Hinsicht gibt es zwei andere Länder, die mit der Schweiz vergleichbar sind – Norwegen und Dänemark. Also ein Indiz dafür, dass die privaten Krankenkassen wirklich für einem Qualitätszuwachs sorgen? Wohl kaum. Dänemark besitzt eine Einheitskasse und Norwegen hat beinahe das gesamte Gesundheitswesen verstaatlicht. Woher kommen also diese nicht qualitätsbezogenen Kosten? Private Krankenkassen sind an der Optimierung der Quartalszahlen interessiert – Das heisst, dass Prävention, die zwar langfristig kostengünstigste aber kurzfristig teuerste Behandlungsmöglichkeit für den Grossteil aller Krankheiten, wird wie ein unliebsames Stiefkind behandelt. Der gewinnorientierte Aktionär denkt nur bis ins nächste Quartal und interessiert sich nicht für eine Präventivbehandlung die frühstens in 15 Jahren Gewinn abwirft.

Longchamps Analyse im SRF Abstimmungsstudio von 2014: Je höher die Krankenkassenprämien in einem Kanton waren, desto höher auch die Zustimmung zur Einheitskasse. Heisst auf dem momentanen Kurs schaufeln sich die privaten Krankenkassen ihr Grab selbst. Bei aller Freude, die darüber aufkommen mag, ist das nur ein schlechter Trost für diejenigen, die sich heute eine medizinische Behandlung nicht leisten können.

Quellen: https://soz.li/quellen225/

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«Nur die USA schneiden noch schlechter als die Schweiz ab.»

Kein Molekül ist illegal

Weit zurück liegen die 90er und damit die Erinnerungen an die offenen Drogenszenen am Platzspitz oder am Berner Kocherpark. Für diesen ersten Ausbruch aus der bürgerlichen Repression feiern sich Linke in der Schweiz auch noch heute. Bleibt die Frage: Wie geht›s nun weiter?

Wir müssen reden: Die Sozialdemokratie hat ein Drogenproblem. Denn seit den Neunzigern hat sich hierzulande wenig getan in Sachen Drogenpolitik. Schlimmer: Vergangene Jahre scheinen mangels entkriminalisiertem Konsum von so mancher Substanz nicht einmal zur kritischen Auseinandersetzung mit fortschrittlicheren Alternativen zum Betäubungsmittelgesetz, einer feinsäuberlichen Auflistung davon, was böse sein soll, geführt zu haben.

Zwar ist mittlerweile von den meisten, mit der üblichen Ausnahme der SVP, anerkannt, dass Repression in Sachen Drogenkonsum nicht zielführend sein kann. So scheint mittlerweile Konsens darüber zu herrschen, dass beispielsweise Cannabis in der Schweiz legalisiert werden muss. Zudem ebenfalls erfreulich: Unter Sucht leidende Individuen haben heute immerhin (theoretisch) die Möglichkeit, sich einigermassen (vor-)urteilsfrei helfen zu lassen. Theoretisch - denn häufig werden Drogen noch immer als Grund vorgehalten, um Menschen an den Rand der Gesellschaft zu drängen, polizeilich ins Visier zu nehmen und wegzusperren. Sehen wir jedoch davon ab, hat sich in den Köpfen einiges getan. Auf dem Weg zur Erkenntnis, Drogen seien nicht per se eine böse Erfindung Satans, fehlt jedoch ein grösserer Plan.

Experimentierartikel freut in erster Linie die Industrie

Gesetzgeberisch hat sich erst neulich, spezifisch im Fall von Cannabis etwas bewegt. Nach einigen erfolglosen Anläufen, den Stoff unter wissenschaftlicher Begleitung in Umlauf zu bringen (wie zum Beispiel 2017 in der Stadt Bern), trat im Mai letzten Jahres der sogenannte «Experimentierartikel» nach einigem Hin- und Her in Form einer Änderung des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) in Kraft. Jener Abschnitt schafft eine juristische Grundlage für wissenschaftliche Pilotversuche unter kontrollierter Abgabe von Cannabis. Im Juni desselben Jahres widmete ihm die WOZ (#22 2021) einen Artikel. Daraus wird eines klar: Über das Gesetz freuen sich vor allem Firmen, die am durch gesetzliche Lockerungen eröffneten Markt für CBD-Cannabis mitmischen und nun auch THC-haltiges Hanf anbie-

ten wollen. Ein wichtiger Name fällt: Die Pure Holding AG. Hier sei angemerkt, dass jenes Unternehmen nun zu einer Organisation mit eigener Forschungsabteilung angewachsen ist. Mit pharmakologischer Grundlagenforschung hat man dort aber wenig am Hut. Es geht primär um eines: Durch Profit motivierte Produktentwicklung.

Vermeintlich fehlende Erfahrungen als Vorwand für Stillstand

In der Politik stellen sich nun Enige die Frage, wie weit die Marktliberalisierung fortschreiten darf. Gerade mit Hinsicht auf Firmen wie Pure und mit Blick auf Entwicklungen in den USA sind Sorgen berechtigt. In Übersee wuchert eine massive Industrie, die nicht nur den Cannabismarkt, sondern auch die Politik auf undemokratische Weise beherrscht.

Hierzulande scheinen solche berechtigten Fragen nicht der Grund für den Stillstand zu sein. Oft wird als vermeintliches Argument für das zögerliche Handeln genannt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen und sich der Experimentierartikel erst bewähren müsse. Diese Aussagen sind bedingt glaubwürdig, insofern die Kernfrage längst bereinigt ist: Drogenpolitik mit repressiven Ansätzen führt nicht zur Minderung des Konsumverhaltens. Im Wissen um diesen Umstand bleibt als sofortiger nächster Schritt bloss, eine Drogenpolitik zu entwickeln, die auch über den Tellerrand der kapitalistischen Weltsicht blickt.

Linke, spezifisch die SP, sind hier nicht auszunehmen. So ist das Ziel der Entkriminalisierung zwar grundsätzlich anerkannt und gut gemeint, aber hier fehlt - as a surprise to no one - eine grössere Vision. 2006 befasste sich die SP zuletzt intensiver in einem Positionspapier mit der Suchtpolitik. Trotz umfangreicher Analyse und grundsätzlich interessanten Folgerungen, widerspricht sich das Papier in Sachen Fortschrittlichkeit durch die Unterstützung des sogenannten «Vier-Säulen-Modells», sprich der nun heutige gültigen Fassung des Betäubungsmittelgesetzes, samt repressiven Aspekten, selber. Wild werden zudem neoliberale Argumentationen herumgeworfen, die in der Sucht die Gefahr eines Verlusts an «Humankapital» sehen.

Geblieben ist selbst von dieser vergangenen Positionierung bis heute wenig. Ausser den immer wiederkehrenden Abwägungen um Preise, Lenkungsabgaben und sonstigen technische Aspekten zu

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«Drogenpolitik mit repressiven Ansätzen führt nicht zur Minderung des Konsumverhaltens. «

Instrumenten, welche die Zugänglichkeit bewusstseinsverändernder Substanzen beeinflussen könnten. Die Sucht- und Drogendebatte auf solche technischen Punkte zu reduzieren, ist nicht zielführend. Fast klingt es so, als beschränke sich das Wissen über psychoaktive Stoffe in SP-Kreisen darauf, das Kiffverhalten der eigenen Sprösslinge irgendwie notdürftig ins eigene kleinbürgerliche Weltbild einquartiert zu haben.

Drogenpolitik bedingt eine allgemeine Gesundheitsversorgung

So darf die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und Veränderungen des eigenen Bewusstseins kein Privileg sein. Oder nicht auf der sozialliberalen Illusion beruhen, ein Markt im kapitalistischen Sinn lasse sich beliebig fein einstellen, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Die Linke muss im Sinne einer universellen Gesundheitsversorgung konsequenterweise fordern, den Zugang zu Substanzen, wenn schon komplett von marktwirtschaftlichen Überlegungen zu entkoppeln. Die allgemeine Verfügbarkeit von bewusstseinsverändernden Verbindungen könnte jenseits der Logik, bei der es primär darum geht, wer die Kosten der Gesundheitsversorgung trägt, automatisch mit der entsprechenden medizinischen und psychologischen Betreuung verknüpft werden.

Konkrete Ansätze sind quasi griffbereit. Unter dem Ansatz von «harm reduction», wörtlich «Schadenbegrenzung», unterstützen bereits heute Organisationen wie «Rave it Safe» einen möglichst sicheren und informierten Konsum psychoaktiver Substanzen durch Beratung und Analyse von Substanzproben der zu konsumierenden Stoffe (drug checking). Eine Ausweitung dieses Konzepts über die Kontrolle der Substanzen hinweg wäre somit einleuchtend. Funktioniert dürfte dies vor allem dann, wenn der Zugang über einen solchen «regulären» Weg in jedem Fall einfacher bliebe, als die Beschaffung über die Märkte - ungeachtet ob geregelt oder schwarz.

Regulatorische Aspekte als Hürde

Jeder vergehende Tag, ohne ein grundsätzliches Umkrempeln drogenpolitischer Instrumente, hat das Potential zu töten. Folglich ist keine Zeit mit regulatorischen Kleinkarriertheiten zu verlieren. Denn viele Abwägungen sind sinnlos: Welche Drogen denn «hart» genug seien, um mit entsprechend restriktiven Massnahmen kontrolliert zu werden, ist oft eine Frage der Perspektive. Letztendlich lässt sich kein Konsum auf gesellschaftlicher Ebene steuern. Zudem kennen Moleküle keine klaren regulatorischen Grenzen: Stoffe wie LSD oder Psilocybin sind schlichtweg nicht abschliessend kategorisierbar. Manchmal dürften sie in die Schublade der Medikamente fallen. Etwa hoch dosiert im Rahmen einer begleiteten Psychotherapie. Heute bleibt diese Anwendung aber gesetzlich eingeschränkt, da die Wahrnehmung dieser Substanzen als «Drogen» überwiegt. Plus: Wie verhielte es sich nun mit Microdosing? Unter dem Strich: In einer postkapitalistischen Welt dürfte dies idealerweise keine Rolle spielen. Wirklich materiell relevant sind nur die Angaben über Struktur, Reinheit und Menge, sowie dass Konsum informiert, beziehungsweise - noch besser - begleitet stattfindet.

Aus wissenschaftlicher Sicht liegt das Interesse heute vor allem daran, Licht in unsere neurobiologische Schattenwelt zu werfen. Drogen sind dabei sowohl ein interessantes Gebiet, als auch Werkzeug. Ein Blick in die längst vorhandene Fachliteratur würde genügen, um zu überzeugen, dass für Grundlagenforschung keine fancy Ausnahmeartikel, wie sie für Cannabis im BetmG geschaffen wurden, erforderlich sind. Aber eben: Offenbar soll der Status quo noch ein bisschen länger zementiert werden. Dass sich der spezifische Fall von Cannabis etwas weniger zögerlich bewegt ist kaum Zufall: Dessen Lobby samt Armee von ETH-Techbros, Investor*innen et al verführt auch weniger vorwärtsdenkende Akteur*innen. Eigene Ideen davon überrollen zu lassen, wäre somit ein Fehler. Die Zeit des stillen Beobachtens ist vorbei, jetzt müssen unsere Forderungen folgen.

Kreativer Aktivismus

Memes for socialism! Nächstes Artpack: Schick uns deine Meme Kreationen! Die besten veröffentlichen wir in einem Gemeinsamen Artpack Format: Quadratisch Bis: 12. März An: redaktion@infrarot.news Mit: Name und Sektion im Mail JUSO Schweiz | 11

Psychische Gesundheit im Kapitalismus

Warum Neoliberale Produktionsverhältnisse krank machen

Die Zahl psychischer Erkrankungen in westlichen Gesellschaften steigt seit Jahrzehnten an. Besonders junge Leute sind zunehmend von Angststörungen, Depressionen und psychischer Belastung betroffen. So kommt es, dass 9% der Schweizer Bevölkerung unter Depressionen leiden, während 15% Symptome mittlerer oder hoher psychischer Belastung aufweisen1. Diese Zahlen haben, zum einen im Rahmen der Covid-19 Pandemie, zum anderen als Folge eines stetigen Aufstiegs, einen neuen Höhepunkt erreicht. Doch wie hängt diese Gegebenheit mit dem Kapitalismus zusammen? Und warum war insbesondere in den letzten Jahrzehnten eine Verschlimmerung feststellbar?

listischen System keinen Bezug zum hergestellten Produkt mehr haben, was den Arbeitsprozess zunehmend unbefriedigend macht4 .

Dieses Phänomen beschreibt Karl Marx als die «Entfremdung des Menschen»

Dass ein leistungs- und profitorientiertes System, wie der Kapitalismus eines ist, zu Stress und Druck bei den Akteur*innen führen kann, wirkt intuitiv nachvollziehbar. Da Gewinnmaximierung und Effizienz im Vordergrund stehen, kann nicht auf individuelle Bedürfnisse der Arbeiter*innen eingegangen werden. Wenn es jedoch darum geht, den Zusammenhang mit dem heutigen Zustand der psychischen Gesundheit der Arbeiter*innenklasse herzustellen, ist vor allem der Übergang zum neoliberalen Kapitalismus relevant. Die sogenannte «neoliberale Wende» ereignete sich grösstenteils in den 1970er Jahren. Mit dem Ziel, Profitraten von Grosskonzernen zu erhöhen, fand eine Deregulierung der Arbeitsmärkte, ein Abbau des Wohlfahrtsstaats und die Privatisierung zuvor staatlicher Unternehmen statt. Man wandte sich also vom kontrollierten Nachkriegskapitalismus ab und stieg auf einen flexibilisierten Finanzmarkt um2 .

Diese Liberalisierung hatte eine Explosion des Dienstleistungssektors zur Folge. Der Grossteil der Bevölkerung, in Grossbritannien sind es aktuell 80%, beschäftigte sich also nicht mehr mit der Herstellung von Gütern, sondern mit dem Verkauf dieser und dem Anbieten von Dienstleistungen. Dies wiederum führte zu einer grossen Unzufriedenheit unter den Arbeiter*innen. Heute geben 55% der arbeitenden Brit*innen an, dass sie am Arbeitsplatz regelmässig unter massivem Druck stehen. 40% empfinden ihren Job als nutzlos und sind der Ansicht, dass dieser keinen wichtigen Beitrag leistet. Beide Zahlen sind seit den 1970er Jahren enorm gestiegen3 . Dieses Phänomen beschreibt Karl Marx als die «Entfremdung des Menschen». Er besagt, dass die Arbeiter*innen in einem kapita-

Dies ist jedoch nicht die einzige negative Auswirkung des Neoliberalismus auf das Berufsleben. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes brachte nämlich auch die Notwendigkeit der Flexibilität der Arbeiter*innen mit sich. Folglich verbringen diese heute nur noch halb so viel Zeit an einer Arbeitsstelle wie in den letzten Jahrzehnten. Damit verbunden ist auch ein neuer Leistungs- und Optimierungsdruck, der früher in dieser Form nicht existierte5. Ausserdem brachte der neoliberale Wandel eine Vergrösserung der sozialen Ungleichheit mit sich. Während ein Rückgang der Mittelschicht zu beobachten war, leben nun mehr Menschen unter der Armutsgrenze. Zusätzlich wurde es schwieriger, ökonomisch aufzusteigen. Dies ist prekär, vor allem da der negative Effekt von Armut auf die psychische Gesundheit immer wieder belegt wird6 Unzufriedenheit, Leistungsdruck und Armut sind Folgen des neoliberalen Kapitalismus, die sich negativ auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung auswirken. Und auch wenn wohl eine Reihe anderer Faktoren zum Anstieg von psychischen Erkrankungen beiträgt, muss auf die Verbindung zum Neoliberalismus aufmerksam gemacht werden. Denn psychische Erkrankungen sollten nicht länger zum Problem des Individuums gemacht werden. Sie gehören umfassend in die Politik aufgenommen und systematisch bekämpft.

«Unzufriedenheit, Leistungsdruck und Armut sind Folgen des neoliberalen Kapitalismus.»
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Quellen: https://soz.li/quellen225/

Krise als Normalzustand

Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist seit Jahrhunderten klar: Männer stehen in gesellschaftlichem Ansehen und Entlöhnung über den Frauen. Dass diese Geschlechterhierarchie sich auch im Kapitalismus so hartnäckig hält, ist kein Zufall, sondern direkt verbunden mit der Art, wie Reproduktionsarbeit innerhalb der Gesellschaft organisiert ist.

In zahlreichen Workshops in der JUSO haben wir es schon gehört: Im Kapitalismus besitzt eine Klasse die Produktionsmittel, die andere Klasse lediglich ihre Arbeitskraft und ist daher dazu gezwungen ihre Arbeitskraft an die besitzende Klasse zu verkaufen, um zu überleben. Sprich: Für unsere Arbeitskraft, die wir in verschiedenen Jobs einsetzen, erhalten wir einen Lohn. Dieser Lohn reicht – idealerweise – dazu aus, unsere Arbeitskraft wiederherzustellen, also zu reproduzieren. Wir alle müssen uns also um uns selbst kümmern - essen, duschen, schlafen, etc. - damit wir am nächsten Tag einigermassen ausgeruht und satt wieder zur Arbeit zurückkehren können.

«Das hierarchische Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist für den Kapitalismus zu einer Notwendigkeit geworden»

Damit die Produktion am Laufen bleibt, braucht es also die Reproduktion. Ohne sie wäre es weder möglich, dass die Arbeiterschaft Tag für Tag wieder arbeitsfähig am Arbeitsplatz auftaucht, noch wäre sichergestellt, dass Personen, die zeitweise nicht arbeitsfähig sind, versorgt sind.

Gleichzeitig widersprechen die kurzfristigen Bedürfnisse der herrschenden Klasse ihren längerfristigen Interessen: Auf kurze Sicht zählen Profite und daher die maximale Aneignung des Mehrwerts, also maximale Ausbeutung. Längerfristig brauchen die Kapitalist*innen dafür aber eine Klasse, die diese Mehrarbeit leistet.

Dadurch steht die Reproduktionsarbeit unter konstantem Druck. Warum? Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse interessiert das Kapital nur in dem Masse, wie damit die Arbeitskraft wiederhergestellt wird: «Eine 40-Stunden-Woche und die Unterwerfung der Arbeiter_innen unter die Belange des Unternehmens bzw. des Staates entsprechen mit keiner Silbe den menschlichen Bedürfnissen nach freier Entfaltung, freier Zeit und der Sorge für sich und andere. Die aktuellen Arbeitsbedingungen machen es quasi zu einem Ding der Unmöglichkeit, Lohn- und Sorgearbeit zufriedenstellend unter einen Hut zu bringen» (Mohs 2018: 154). Der Druck auf die Reproduktion kann durch sozialstaatliche Massnahmen gemildert werden, während Wirtschaftskrisen sowie das neoliberale Diktat von Sparzwang und Privatisierung den Druck verstärken.

An dieser Stelle wird das Geschlecht relevant. Denn: Wer geht einkaufen, wer kocht das Abendessen, wer pflegt die Alten und wer erzieht die Kinder? Diese Aufgaben fallen innerhalb von Familien und vielen anderen Beziehungsformen meistens der Frau zu (vgl. Mohs 2018: 150). Entsprechend hoch ist der Druck auf Frauen in ihrer Doppelrolle als Verantwortliche für Hausund Sorgearbeit bei gleichzeitiger Einbindung in die Lohnarbeit – all das, während sowohl die Reproduktionsarbeit als auch die Lohnarbeit von Frauen gesellschaftlich schlechter bewertet wird.

Das hierarchische Verhältnis zwischen den Geschlechtern ist für den Kapitalismus zu einer Notwendigkeit geworden: Würde die unbezahlte Reproduktionsarbeit nicht von Frauen übernommen werden, könnte das System in seiner Form so nicht weiterbestehen. Die Krise der Reproduktion ist also das Resultat einer Produktionsweise, die nicht auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtet ist, sondern auf Kapitalvermehrung. Das Dilemma ist daher nur mit einer anderen Wirtschaftsweise zu lösen. Für die Praxis bedeutet das aber nicht, dass wir uns zurücklehnen und auf den Sozialismus warten können. Ganz im Gegenteil: Der Kampf der Frau gegen ihre Rolle als Hauptverantwortliche für die Reproduktionsarbeit hat das Potential, aufzuzeigen, wie absurd und menschenfeindlich die kapitalistische Wirtschaftsweise wirklich ist.

Zum Weiterlesen:

Mohs, Charlotte. No Women’s Liberation without Socialism! No Socialism without Women’s Liberation! In Koschka Linkerhand (ed.), Feministisch streiten: Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen, 146–159. Berlin: Querverlag.

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Linke Massnahmen in der Coronakrise

Die Pandemie ist nicht vorbei, ganz im Gegenteil: Welle um Welle schwappt durch das Land. Täglich stecken sich Menschen mit COVID-19 an - unternommen wird nichts. Zwei Jahre Pandemie haben gezeigt: Bund und Kantone schaffen es nicht, solche Krisensituationen angemessen zu bekämpfen. Stattdessen gewichten die Regierungen das Wohlergehen der Privatwirtschaft höher als Menschenleben. Seit die Omikronvariante das Infektionsgeschehen dominiert, haben die Regierungen jeglichen Anspruch verloren, die Pandemie in den Griff zu kriegen.

Einerseits führen die regelmässig auftauchenden Wellen zu vielen Ansteckungen, die auch bei einer weniger tödlichen Mutation das sowieso bereits überlastete Gesundheitssystem an die Belastungsgrenze treiben. Andererseits sind die gesundheitlichen Folgen auch bei “milden” Verläufen nicht zu vernachlässigen. Laut Schätzungen des BAG leiden 25% der Erkrankten 6 Monate später noch an LongCovid-Symptomen.

Ebenso wenig wie die Pandemie vorbei ist, kann sich auch die Politik nicht aus der Verantwortung ziehen, Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen. Wie auf einer realpolitischen Ebene von Links reagiert werden sollte, wird im Folgenden aufgezeigt.

Infrastruktur: Gute Luft für alle

In Schulen, Hochschulen und öffentlichen Räumen muss auf genügend Frischluftzufuhr geachtet, Luftfilter müssen installiert werden. Der Bund muss schnellstmöglich ein Aktionsprogramm zur Beschaffung und Inbetriebnahme solcher Filter auflegen. Die Filter in Fahrzeugen des ÖV müssen ebenfalls auf den bestmöglichen Stand gebracht werden. Diese Massnahmen werden auch noch dann nützen, wenn die Pandemie überstanden ist, da auch die Verbreitung anderer, über die Luft übertragbarer Krankheiten gebremst wird und eine bessere Luftqualität gerade in der Schule beim Lernen hilft.

Wiedereinführung von Infektionsschutzmassnahmen

Die Infektionszahlen werden auch diesen Winter erneut stark steigen. Es muss gehandelt werden, bevor die Betten auf den Intensivstationen wieder überfüllt sind. Darum gilt es, gewisse CoronaMassnahmen aus den vergangenen Jahren wieder einzuführen, wie beispielsweise die Maskenpflicht in allen öffentlichen Innenräumen und im ÖV. In Einrichtungen des Gesundheitswesens muss eine FFP2-Maskenpflicht eingeführt werden. Weiter müssen Vorkehrungen getroffen werden, um wieder systematische PCR-Tests, insbesondere an Schulen, durchzuführen. Diese Infrastruktur kann auch für kommende Pandemien einsetzbar bleiben.

Isolationspflicht ist Arbeiter*innenschutz!

Eine Studie aus Deutschland zeigt: Fast jede*r zehnte COVID-Infizierte geht trotz hohem Infektionsrisiko zur Arbeit. Der Druck auf Seite der Unternehmen ist gross und seit der Aufhebung der Isolationspflicht wird mehrtägiges Wegbleiben vom Arbeitsplatz aufgrund einer COVID-Infektion ohne Krankheitszeugnis oft nicht akzeptiert, ein positives PCR-Testresultat reicht dafür nicht aus. Verheerend: Risikopatient*innen können sich auch an ihrem Arbeitsplatz nicht im Geringsten sicher fühlen. Deshalb ist eine Wiedereinführung der Isolationspflicht unumgänglich. Ausserdem muss dafür gesorgt werden, dass Angestellte mit einem positiven PCR-Test im HomeOffice arbeiten dürfen, um sich und Mitarbeitende zu schützen.

Long Covid bekämpfen

Long Covid zerstört Leben. Betroffenenberichte gibt es unzählige - offizielle Zahlen keine. Die Schweiz hat es bis jetzt verpasst, ein Patientenregister anzufertigen. So kann nur anhand von Erhebungen aus anderen Ländern vermutet werden, wie viele Menschen hierzulande betroffen sind. Mal wird hierzulande von 73’000, mal von 500’000 Long-Covid-Erkrankten gesprochen. Die Folge: ohne Betroffenenzahlen kein ausreichendes Behandlungsangebot. Betroffene werden von Versicherungen praktisch immer im Stich gelassen - im Jahr 2021 wurde nur bei 3% der angemeldeten LongCovid-Fälle eine IV-Rente gesprochen, viele der restlichen Erkrankten wurden aus ihrem Job entlassen. Es braucht deshalb eine Long-Covid-Taskforce, wie es Ärzt*innen und Betroffene fordern. Zusätzlich müssen Spezialkliniken zur Behandlung und Rehabilita-

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tion von Long Covid eingerichtet werden. Um die Stigmatisierung von Betroffenen zu vermindern, muss Long Covid als Krankheitsbild neuroimmunologischer Ursache anerkannt werden. Zudem braucht es eine breite wissenschaftsbasierte Informations- und Sensibilisierungskampagne für die Öffentlichkeit. Um die Forschung bezüglich Long Covid voranzutreiben, muss sich die Schweiz an der Datenaustauschplattform der WHO beteiligen.

Effektive Behandlungsmethoden einsetzen

Neue Studien zeigen: Das COVID-Medikament Paxlovid kann durch frühzeitige Anwendung das Risiko von schweren Krankheitsverläufen bei Ü65-jährigen um 70-80% senken. Trotz genügend Vorräten wird das Medikament hierzulande noch zu wenig verwendet. Es braucht eine angemessene Sensibilisierung der Ärzt*innen, damit das geändert werden kann. Ständige Mutationen verringern den Impfschutz. In der EU wurde deswegen bereits ein Booster-Impfstoff gegen die momentan dominierenden COVID-Varianten BA.4 und BA.5 zugelassen, nicht aber in der Schweiz: Heute wird lediglich der Boosterimpfstoff-BA.1 verimpft. Die Schweiz muss der EU unbedingt folgen und die neuere Variante des Booster-Impfstoffs zulassen. Des Weiteren muss eine effektive Impfkampagne geführt werden.

Risikogruppen schützen!

Menschen mit chronischen Erkrankungen und durch Krebsbehandlungen, Transplantationen oder Autoimmunerkrankungen immunsupprimierte Patienten werden heute im Stich gelassen. Durch das Fehlen von Schutzmassnahmen müssen sich Risikopatient*innen weitgehend aus dem öffentlichen Raum zurückziehen, wenn sie ihr Leben nicht gefährden wollen.

Die Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen hat sich während der Pandemie akut und nachhaltig verschlechtert, wie ein Bericht des Bundes zeigt. Trotzdem wurden psychische Erkrankungen noch immer nicht im Katalog der Risikogruppen aufgenommen. Sie erhalten also beispielsweise keinen erleichterten Zugang zu Impfungen. Verschiedene Studien zeigen, dass sich das Leiden von psychisch Vorerkrankten während der Pandemie massiv verstärkt hat. Der Ausbau von psychiatrisch-psychotherapeutischen Angeboten muss schnell und grossflächig erfolgen.

Für uns muss klar sein: Wir können nicht jede Infektion verhindern, aber wir können die Zahl der Betroffenen, der Todesopfer und den Schaden, welche die Gesellschaft von der mehrjährigen Pandemie davonträgt, vermindern.

HAST DU UNSERE INITIATIVE SCHON UNTERSCHRIEBEN? AKTIV WERDEN FÜR EINE BESSERE ZUKUNFT! JUSO Schweiz | 15

Cis-Heteronormativität in der Schulmedizin

Die cis-heteronormative Matrix ist immer noch fest in der Gesellschaft verankert und so verwundert es nicht, wenn sich dieses Modell auch in der Schulmedizin (letztendlich eine gesellschaftliche Institution) wiederfindet. Klar wurden in der Vergangenheit wesentliche Verbesserungen erreicht, etwa indem Homosexualität und «Transsexualismus» (ein inzwischen veralteter Begriff) seit 1991 respektive 2021 nicht mehr als psychische Krankheiten gewertet werden2

Dennoch wird das selbst erklärte Ziel der Weltgesundheitsorganisation WHO, jeder Person die bestmögliche Gesundheitsversorgung zukommen zu lassen3, verfehlt. Dies zeigt sich mit Blick auf die LGBTQIA+Community besonders klar, einerseits durch Diskriminierungen des medizinischen Personals und unnötige Wissenslücken durch eine Vernachlässigung des Themas in der medizinischen Ausbildung4 , andererseits aber auch systemisch durch das vorherrschende undifferenzierte und binäre Geschlechtermodell.

Das Geschlecht einer Person lässt sich in Komponenten aufteilen. Relevant für die medizinische Versorgung sind hierbei das somatische Geschlecht (Anatomie, Chromosomen, Hormoninteraktionen, etc.), die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität (wie definiere ich mein Geschlecht für mich) 5. Während die Aufnahme der Geschlechtsidentität inklusive des bevorzugten Pronomens der Kommunikation zwischen Ärzt*in und Patient*in dient, ist die Festhaltung des somatischen Geschlechts, zumindest bei der zentralen medizinischen Ansprechperson (in der Regel der/die Hausärzt*in), besonders für Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung («intersex») und trans Personen essenziell. So benötigt etwa ein trans Mann, der noch eine Gebärmutter hat, gynäkologische Vorsorgeuntersuchungen.

Ein weiteres Problem, das die cis-heteronormative Matrix schafft, ist die generelle Annahme einer Heterosexualität. Zumindest für die medizinische Vorsorge wäre eine korrekte Erfassung der sexuellen Orientierung der Patient*innen von Vorteil, etwa mit Blick auf die höhere Prävalenz von STDs bei Männern*, die Sex mit Männern* haben.

Diese Massnahmen stellen praktisch keinen Mehraufwand dar, würden aber einen enormen Benefit in der Gesundheitsversorgung der LGBTQIA+-Community erbringen.

Die Medizin musste sich in ihrer Geschichte sowie in ihrer Gegenwart ständig neuen wissenschaftlichen Entdeckungen anpassen.

Es wäre wieder Zeit für Reformen, diesmal handelt es sich jedoch nicht um handfeste Belange wie Asepsis, Epidemiologie oder die Entwicklung neuer Krankheitsbekämpfungen. Jetzt geht es um inklusivere Gesundheitsversorgung, um die Behebung von unnötigen Wissenslücken und einer diskriminierungsfreieren Medizin.

Quellen: https://soz.li/quellen225/

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und somit
.
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In ihrem Buch «Gender trouble» hat die Philosophin Judith Butler das Konstrukt der cis-heteronormativen Matrix beschrieben. Diese Matrix definiert aufgrund der unterschiedlichen Körperlichkeiten von Frauen* und Männern* Normen und Werte. Sie ist die Grundlage für das traditionelle gesellschaftliche Verständnis von Geschlechtern und erzeugt ein Geschlechtermodell, das nach der Soziologin Maria Victoria Carrera-Fernàndez, «binär, entgegengesetzt, hierarchisch und komplementär
zwingend heterosexuell» ist1
« (...) unnötige Wissenslücken durch eine Vernachlässigung des Themas in der medizinischen Ausbildung. »

Revolutionäre Medizin

Der wahrscheinlich kleinste Impfstoffhersteller der Welt

Die gute Nachricht: Das kubanische Gesundheitssystem funktioniert auch in einer grossen Gesundheitskrise hervorragend. Kuba ist der kleinste Staat, der eine COVID-Impfung selbst entwickelte – eine Aufgabe, die nur wenigen Staaten gelang. Die schlechte Nachricht: Kuba hat keine andere Wahl, als dass sein Gesundheitssystem funktioniert.

Viele Ärzt*innen, schlecht verteilt

Als Fidel Castro, Ernesto ‘Che’ Guevara und die revolutionäre Bewegung des 26. Juli 1959 die Macht auf Kuba übernahmen, übernahmen sie ein verhältnismässig gutes Gesundheitssystem: Ende der 1950er hatte Kuba relativ zur Bevölkerung die höhere Anzahl Ärzt*innen als Grossbritannien und eine tiefere Kindersterblichkeitsrate als mehrere westeuropäische Staaten. Dieses System war jedoch wie die vorrevolutionäre Wirtschaft ungerecht, denn die meisten Ärzt*innen lebten in den Städten, die Landbevölkerung blieb medizinisch unterversorgt. Kurz nach der Revolution flüchtete dann die aufgeschreckte bürgerliche Oberschicht von der Insel –darunter rund die Hälfte aller Ärzt*innen. Die USA verhängten eine Wirtschaftsblockade gegen Kuba und organisierten eine konterrevolutionäre Militäroperation. Eigentlich schlechte Prognosen für jede Revolution – es sei denn, sie hat mit Ernesto ‘Che’ Guevara nicht nur einen kampferfahrenen Guerillero in den eigenen Reihen, sondern auch einen ausgebildeten Arzt mit einer politischen Vision.

Revolutionäre Medizin

Guevaras Vision der Revolutionären Medizin beinhaltete die grossflächige und kostenlose medizinische Versorgung aller Menschen, Forschung und Lehre in der medizinischen Prävention und die Bildung der breiten Bevölkerung in Sachen Gesundheit und Hygiene. In den letzten 60 Jahren entwickelte Kuba ein Gesundheitssystem, das regelmässig durch die WHO als vorbildlich gelobt wird aufgrund der Zugänglichkeit und Qualität der medizinischen Leistungen, dem hohen Stellenwert von Gesundheitsthemen in der Politik, dem sozialen Engagement der Ärzt*innen, dem Einbezug der Patient*innen in medizinische Entscheide und den Erfolgen in medizinischen Kennzahlen wie Impfraten, Kindersterblichkeit oder Lebenserwartung.

Heutige Kubaner*innen gehen nicht zur Ärzt*in, die Ärzt*innen kommen zu den Menschen: Erste Anlaufstellen sind die Familienärzt*innen. Diese sind strategisch in jedem Dorf und jedem Quartier verteilt und machen mehr als nur Symptombekämpfung. Sie sind sozial in ihr Quartier eingebettet, besuchen jede Familie einmal pro Jahr und arbeiten mit Bevölkerung und Verwaltung zusammen, um Gesundheitsrisiken in ihrem Quartier zu erkennen und die Hygiene zu verbessern. Leichte bis mittlere Behandlungen werden in regional verteilten Polikliniken durchgeführt, unter Einbezug von Spezialist*innen, während die Spitäler in den Grossstädten für schwere Fälle vorgesehen sind. Trotz dieser engmaschigen Versorgung, ist Personalmangel auf Kuba ein Fremdwort – statistisch gesehen kommt auf 170 Einwohner*innen ein*e Ärzt*in – globaler Spitzenwert.

Nebenwirkungen des Embargos

Jedoch hat das kubanische Gesundheitssystem mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Medizin ist knapp, Geräte sind selten und oftmals veraltet. Die Behandlung ist zwar für alle kostenlos, faktisch können viele Behandlungen jedoch nur durchgeführt werden, nachdem die Patient*innen Medikamente selbst organisiert haben. Dem kubanischen Staat mangelt es chronisch an Geld und selbst wenn er welches hätte, verunmöglicht es das US-Embargo, dieses effizient für den Gesundheitssektor auszugeben. Seit 2000 sind zwar Medizingüter von der Handelsblockade ausgenommen, jedoch machen die Finanzsanktionen die Bezahlung dieser Güter zu einem mühseligen Prozess, denn viele Banken weltweit verweigern, in vorauseilendem Gehorsam, Transaktionen mit Kuba, auch wenn sie nicht unter US-Jurisdiktion fallen. So sind Medikamente mit US-Patenten praktisch unmöglich zu bekommen. Kubanische Ärzt*innen müssen viel Improvisationstalent aufbringen: So werden Knochenbrüche auch mal mit Pappmaché gegipst, Krücken und Prothesen aus Altmetall geschweisst und die modernste Analysesoftware läuft

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halt irgendwie auf Windows 95. So verwundert es nicht, dass Kuba seit Jahrzehnten auf Eigenentwicklungen in der Impfstoffproduktion setzt; es hat keine andere Wahl, will es die Bevölkerung immunisieren.

Medizinischer Internationalismus

Trotz, oder vielleicht gerade wegen dieser Erfahrungen, sind kubanische Ärzt*innen in der ganzen Welt solidarisch unterwegs. Kuba entsendet seit Jahrzehnten jährlich tausende Ärzt*innen in andere Staaten des globalen Südens, sei es als permanente Hilfsmissionen oder kurzfristige, humanitäre Hilfe. Das besondere an kubanischen Ärzt*innen ist, dass sie dorthin gehen, wo niemand sonst hingeht – Bürgerkriegsgebiete oder andere isolierte, von der Weltgemeinschaft ausgeschlossene Staaten, wie Venezuela, Westsahara, Syrien oder der Iran. Diese Zusammenarbeit bringt allen Akteuren Vorteile und findet auf Augenhöhe statt: Kuba lässt sich die Leistungen mit Öl aus Venezuela oder dringend benötigten Devisen bezahlen. Die Zielländer bekommen die medizinische Hilfe, die ihnen der Westen verweigert. Und die Kubaner*innen im Einsatz senden ihren Familien im Ausland eingekaufte Güter, die wegen des Embargos sonst nicht auf die Insel kommen.

Die lange Erfahrung mit Isolation und Mangel hat das kubanische Gesundheitssystem zäh gemacht. Auch wenn es auf der ganzen Insel nur ein Spektrometer gibt, haben die Kubaner*innen zwei COVID-Impfstoffe entwickelt, die nach klinischen Tests eine Schutzwirkung von 92% aufweisen und nun bereits in den Iran und nach Vietnam exportiert werden. Auch mit der nächsten Gesundheitskrise werden die revolutionären Ärzt*innen fertig werden.

Hier erwartest du vielleicht einen informativen Leadtext, der dich auf den Artikel einstimmt, der dann folgt. Dann muss ich dich wohl enttäuschen. Ich habe nämlich keinen Hauch einer Ahnung, wie ich dich auf das Chaos in meinem Kopf vorbereiten kann. Ich fühle mich ja selbst nicht vorbereitet genug, meinen Kopf zu handhaben. Nur soviel: Die meisten Protagonist*innen haben zwei bis vier Füsse. Vermutlich.

Das Enkelkind an der Hand, wandert der alte Russe durch die Tundra. Er zeigt auf die Enten, beugt sich mit ernstem Gesicht zum kleinen Kind und sagt: «So wie es hier jetzt Enten hat, war die Ebene früher von Mammuts bevölkert.»

Durch meinen Kopf schiessen Bilder von winzigen Mammuts, die auf Wasserflächen schwimmen. Dann bevölkern gigantische Enten mit zotteligem Pelz und Stosszähnen meine Phantasie.

Es dauert einige Zeit bis die Erzählung der Arte-Doku wieder zu mir durchdringt. Dann

Die Zimov Hypothese und das Rambazamba in meinem Kopf
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schaue ich die Doku weiter. Mich fasziniert das Thema. Es geht um einen russischen Forscher, Sergej Zimov, und seinen, inzwischen ebenfalls forschenden, Sohn, Nikolai.

Es geht um ein einzigartiges Projekt, welches manchen Forschenden zufolge unsere bisher einzige Hoffnung ist, das Schmelzen des Permafrosts zumindest zu verlangsamen. Es ist nicht die erste Doku über Sergej, die ich schaue. Ich bin längst Fan des Paleoparks. Und schon seit einigen Monaten denke ich darüber nach, einen Text darüber zu schreiben. Doch nach wenigen Zeilen kamen immer die Zweifel. Ich habe keine Ahnung von Geobiochemie oder so. Überhaupt, komplexe Themen in aufschlussreiche Artikel zu verwandeln, ist nicht mein Ding. Ich schweife lieber ab. Vertiefe mich in unwichtige Details oder lasse mich von verwandten Themen ablenken. In einer komplexen Welt, in der alles zusammenhängt, kann man endlos abdriften. Vor allem ich. Ich habe ADHS. Nicht sonderlich überraschend, nicht selten, nicht neu. Doch wenn ihr meine Texte lest, meine Illus? seht oder mit mir plaudert, begeg nen euch immer wieder Spuren davon. Es prägt mein Leben, mein Umfeld und alles, was ich erschaffe. Meine Texte schreibe ich fast immer last minute. Nicht pünktlich zur offiziellen Deadline, nicht knapp zur inoffiziellen Deadline, sondern so, dass sie in der allerallerallerletzten Minute doch noch da sind. Jedes Mal will ich es besser machen. Und immer wieder lasse ich mich von Themen fesseln, vertiefe mich so sehr, dass ich ein Buch schreiben könnte. Zumindest, wenn ich dafür die Ausdauer hätte. Und die Geduld. Für ein anderes Heft schrieb ich vor einiger Zeit über Nandus. Am Anfang dieser Texte stand ein zweiminütiges Filmchen auf Youtube. Einige Wochen später habe ich mich stundenlang auf der Website des Landwirt schaftsministeriums von Mecklenburg-Vorpommern aufgehalten, Artenschutzabkommen und Jagdgesetze verglichen und Landtags debatten auf Youtube geschaut. Ich beschäftigte mich mit Sommerraps und Winterraps, sinnvollen Fruchtfolgen, dem Aalvorkommen in Norddeutschland und mit Kormoranen. Ich las eine Diplomarbeit über Nandumonitoring, dank der ich lernte, dass Nandus gefangen werden können, indem man zwei Jonglierbälle mit einer Schnur aneinander befestigt und dieses Ding dann so wirft, dass es sich um die Vogelbeine wickelt. Meine Fresse, ich las Tabellen über die Bestandteile der Vogelkacke. Und zwei Tage vor dem Abgabetermin (also dem allerletzten) versuchte ich, all das Wissen zu einem zusammenhängenden Text zu kürzen. Und wie sollte ich meine sprunghaften Gedanken vernünftig erklären? Nandus und Mammuts hängen irgendwie zusammen. Global gesehen. Eine ausgestorbene

Klima zu retten und eine Spezies, die in ihrer Heimat vom Aussterben bedroht ist und in der Fremde als invasiv angesehen wird. Aber der wohl wichtigste gemeinsame Nenner: Beide haben meine Aufmerk samkeit gewonnen. Es sind Nischenthemen, die weder den Kapitalismus überwinden, noch das Klima retten. Doch sie sind lustig. Wenn ich daran denke, dass in Sibirien ein alter Mann mit einem Bulldozer aus Sowjetzeiten den Wald niederwalzt, um das Klima zu retten, «vertätscht» es mich immer ein wenig vor Lachen. Und wenn mir langweilig ist, kann ich auch ein sechstes Mal die Landtagsdebatte schauen, in der die AfD Nandus und Kormo rane zum Abschuss freigeben will und sich ein ganzes Parlament mit Ornithologie beschäftigen muss, um in flammenden Reden über unsere gefiederten Freund*innen zu dozieren.

Eigentlich wollte ich hier einen etwas anderen Text über ADHS schreiben und darüber, wie es sich anfühlt, in der JUSO (hyper) aktiv und autistisch zu sein. Von den Schwierigkeiten, den eigenen Erwartungen und den Erwartungen der Anderen gerecht zu werden. Der andere Text ist noch nicht fertig. Ich bin zu sehr abgeschweift. Mal wieder. Stattdessen recycle ich nun einen bereits veröffentlichten Artikel. Es ist kein Text über ADHS, sondern vielmehr ein Text mit ADHS.

Ein relativ unzensierter Einblick in mein Kopfchaos.

Ich möchte diesen Text nutzen, um all jenen zu danken, die mit Menschen wie uns geduldig sind. Und die uns an Sitzungen auch noch aushalten, wenn wir drei Energydrinks getrunken haben und wenn unsere Medis nicht wirken. Merci an alle, die sich nicht aus dem Konzept bringen lassen, wenn ernste Gespräche unterbrochen werden müssen, weil zuerst die Frage geklärt werden muss, ob es Umschnalldildos mit Lautsprechern gibt. Und wenn ihr mal keine Geduld mehr habt, denkt daran: hr müsst unsere Köpfe nur einige Stunden aushalten. Wir verbringen 24/7 damit.

PS: Ad(h)S ist so viel mehr, als nur das hier Beschriebene, wohl bekannteste, Chaossymptom. Es hilft sowohl Betroffenen wie auch den Menschen rund herum, sich ausführlicher damit zu befassen. Erst nach meiner recht späten Diagnose begann ich, Stück für Stück zu verstehen.

Eine Quelle, die mir dabei enorm geholfen hat, ist der Insta-Account Adhd-Alien von Pina.

Wichtig: Internet ersetzt keine professionelle Diagnose!

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«Stop twierdza Europa»

Im Sommer dieses Jahres wurde der erste Teil des Grenzzauns an der polnisch-belarussischen Grenze fertiggestellt. Seither soll er Menschen daran hindern, nach Europa zu gelangen. Politische Kollektive und Aktivist*innen unterstützen Menschen, die ihn überwunden haben, vor Ort.

An der polnisch-belarussischen Grenze wird die «Festung Europa» ein weiteres Mal sichtbar: 5,5 Meter hoch und 187 Kilometer lang ist der Grenzzaun aus Stahl und Nato-Draht. In den nächsten Monaten soll dieser erste Zaun noch durch Bewegungsmelder und Videokameras ergänzt werden. Gekostet hat alles 336 Millionen Euro. Das Ziel: Migrationsbewegung nach Polen, respektive in die EU, verhindern.

Nicht nur Menschen werden gehindert, sich frei zu bewegen. Der Zaun führt mitten durch den Białowieża-Urwald, der letzte seiner Art in Europa, und gefährdet dessen Ökosysteme. So verwehrt der Zaun zum Beispiel vielen Wildtieren wie Wisenten, Elchen oder Hirschen, sich in ihren gewohnten und natürlichen Mustern zu bewegen.

Die Reaktionen auf den Grenzzaun sind unterschiedlich: Die einen begrüssen ihn als Bollwerk gegen Russland. Für andere ist dieses Stück «Festung Europa» die Manifestierung des tödlichen Migrationssystems. Und wiederum andere sind froh, dass nach der Fertigstellung des Stahlzauns die Sicherheitszone aufgehoben wurde, in der sich ab September 2021 nur Anwohner*innen und Menschen mit spezieller Bewilligung aufhalten durften. Dies führte zur Isolation etlicher Dörfer und deren Bewohner*innen in Grenznähe. Auch Medien, NGOs und Aktivist*innen wurde der Zugang verwehrt.

Gewalt entlang des Grenzzauns ist zum Alltag geworden

Doch mit dem Bau des Grenzzauns und der Aufhebung der Sperrzone hat sich die Situation nicht beruhigt: Alle Arten von Brutalität, die von anderen europäischen Grenzen bekannt sind, wurden auch an der polnisch-belarussischen Grenze zur Realität.

Mauern und Zäune verhindern Migration nicht, sie machen den Weg unsicher und tödlich. People on the Move graben sich unter dem Zaun hindurch oder klettern drüber; oft tragen sie dabei

Schnittwunden durch den Nato-Draht davon oder brechen sich Knochen durch Sprünge oder Abstürze. Alternativ zur Überwindung des Zauns wählen viele den Weg durch Flüsse und sind nach der Durchquerung nass, ausgekühlt und erschöpft.

Schläge von Grenzbeamt*innen beider Länder sind Alltag. Belarussische Grenzbeamt*innen zwingen die Menschen teilweise gewaltsam dazu, die Grenze zu überwinden. Polnische Beamt*innen gehen ebenfalls brutal gegen People on the Move vor: Es gibt etliche Berichte von zerstörten Smartphones, gestohlenem Geld und Verletzungen durch Fusstritte und Stockschläge.

Propaganda und Widerstand

Ein Netzwerk von polnischen Aktivist*innen und Kollektiven organisiert die Unterstützung der Menschen nach der Grenzüberquerung. Über eine Notfallnummer können People on the Move Kontakt aufnehmen und so Kleidung, Nahrung, Powerbanks, Handys, Medikamente und weitere überlebensnotwendige Mittel erhalten. Diese Unterstützungsarbeit wird jedoch kriminalisiert. Aktivist*innen werden regelmässig kontrolliert und bisweilen auch verhaftet. Neben den Notsituationen entlang des Grenzzauns sind Aktivist*innen auch konfrontiert mit einem politischen Narrativ der Bedrohung und einem gesellschaftlichen Vergessen. Die Gewalt gegen People on the Move passiert im Verborgenen. Pushbacks wurden von der polnischen Regierung legalisiert, um diese als Verteidigung gegen die «hybride Kriegsführung» von Belarus darzustellen, die Polen durch Migration destabilisieren solle. Der Zaun soll nun die «Lösung» bringen. Etwas mehr als ein Jahr nach der Gewalteskalation an der polnisch-belarussischen Grenze verblasst das Bewusstsein um die Notsituation von People on the Move in den Wäldern und Lagern Polens. Doch die Notrufe kommen nach wie vor. Die Arbeit geht weiter.

Edition: Infrarot · Theaterplatz 4, 3011 Bern, www.juso.ch – Kontakt: redaktion@infrarot.news, 031 329 69 99 Redaktion: Sandro Covo, Kassandra Frey, Diego Loretan, Pedro Schön, Nathalie Ruoss, Alain Styger, Barbara Keller, Jérémie Reusser, Silvan Steinegger, Vera Diener, Fabian Eckstein, Mirjam Hostetmann, Daria Vogrin, Silvan Häseli Cover Art: Oliver Hofer · Design und Layout : Silvan Häseli Druck : Druckerei AG Suhr, 5034 Suhr · Das Infrarot erscheint zweimal im Jahr.
Gewalt und Widerstand entlang des polnischbelarussischen Grenzzauns
NoBorders Team Grupa Granica
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