Infrarot 223

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M A G A Z I N F Ü R J U N G S O Z I A L I S T: I N N E N

Dezember 2021

INFRAROT


INFRAROT – EDITORIAL

Gestaltest du gerne?

EDITORIAL LIEBE*R LESER*IN Wir glauben es selber kaum: Die Neuauflage des Infrarots geht nun bereits in die zweite Runde! Umso mehr freut es uns, dass du diese Ausgabe - und sogar das Editorial - liest. In dieser Ausgabe widmen wir uns dem urlinken Thema Klassenkampf: War «Klassenkampf» zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch der Kampfbegriff der Linken, gehört er heute für viele in die politische Mottenkiste. Das liegt nicht zuletzt am Verschwinden des Klassenbegriffs aus den Analysen vieler linker Bewegungen und Parteien. Sogar diejenigen, die von einer Teilung der Gesellschaft in Arbeitende und Besitzende ausgehen, sind nicht immer überzeugt von der Notwendigkeit eines Kampfes zwischen den Klassen. Doch natürlich gibt es auch Ausnahmen: Ganz im Sinne von Rosa Luxemburgs Ausspruch “Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat” prangern wir JUSOs die Ausbeutung der 99% durch das 1% an und wollen mit unserer Politik unter den Arbeiter*innen ein Bewusstsein darüber schaffen, dass wir alle zu einer Klasse gehören, um dann gemeinsam den Kapitalismus zu überwinden. Der Klassenkampf bleibt für uns Jungsozialist*innen also zentral. Trotzdem verbinden viele den Begriff vor allem mit politischer Theorie. Unsere Autor*innen zeigen deshalb auf den nächsten Seiten, dass das Thema auch ausserhalb von Lesekreisen relevant und für unseren politischen Alltag von grosser Wichtigkeit ist. Daneben findest du aktuelle Infos zu den Sektionen, einen Rückblick auf die 99%-Initiative sowie einen Ausblick auf das neue JUSO-Projekt, einen Gastbeitrag aus Österreich, ein Interview mit Unia-Gewerkschafter Chris Kelley und eines zur Hausbesetzung in Liestal.

Viel Spass beim Lesen!

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JUSO SCHWEIZ

INHALTSVERZEICHNIS

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Wa s i s t K l a s s e n k a m p f ?

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Klassenkampf in Zahlen

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Historische Komponente Klassenkampf

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K l a s s e n k a m p f p ro / c o n t r a

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Zwei Kämpfe ein Ziel

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K a n n e s A n n a s c h a ff e n ?

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Eierkuchen vs. Klassenkampf

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Klimaschutz ohne Klassenkampf ist Gartenarbeit

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Sektionen Update

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Interview Gewerkschaften

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Interview zur Hausbesetzung in Liestal

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Rückblick auf die 99%-Initiative

EINE IDEE FÜR EINEN A RT I K E L ? LUST IM NÄCHSTEN INFRAROT EINEN BEITRAG Z U V E R FA S S E N ? MELDE DICH BEI UNS: R E D A K T I O N @ I N F R A R O T. N E W S Design: Noah Houriet

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Ausblick auf das nächste G ro s s p ro j e k t

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Im türkisen Sumpf der ÖVP

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INFRAROT – KLASSENKAMPF

Klassenkampf

Was ist Klassenkampf? Heutzutage existiert der Klassenkampf in den Köpfen unserer Gesellschaft kaum noch. Der Historiker Alessandro Barbero sagt dazu, das liege daran, dass der Klassenkampf von den Reichen gewonnen werde. Gegenwärtig dienen viele politische Entscheide, die in den verschiedenen Institutionen getroffen werden, den Interessen der Kapitalisten. Sie verschärfen die ungleiche Verteilung des Reichtums und reduzieren die sozialen Garantien und die Mittel zur Umverteilung so weit wie möglich. Dies obwohl die materiellen Voraussetzungen für den Klassenkampf noch nie so präsent waren wie in unserer historischen Periode. Diejenigen, die am meisten unter diesem System leiden, werden oft zu konservativem Gedankengut verleitet und somit wird das unterdrückerische System weiter gestärkt. Dabei geht es bei Marx und seinem Begriff des Klassenkampfes weniger um die Definition der Klassen, welche schon dazumal nicht einfach binär war. Denn in seiner theoretischen Ausführung fokussiert sich Marx mehrheitlich auf die unterschiedlichen Klasseninteressen. Diese stehen im Konflikt miteinander.

Auf der einen Seite stehen die, die an der Maximierung von Profit interessiert sind. Auf der anderen Seite stehen die, welche ihre Arbeitskraft verkaufen und für die aufgebrachte Zeit möglichst gut entlohnt werden möchten. Diese Interessen stehen in direktem Gegensatz zueinander. Profit kann nicht erzielt werden, indem man den Arbeiter*innen ihren vollen Wert der Arbeit ausbezahlt. Und als Arbeiter*in wird man nie gerecht für den Wert der geleisteten Arbeit bezahlt, solange jemand Profit mit der Arbeit machen will. Diese gegensätzliche Interessen haben sich seit der Industriellen Revolution nicht verändert, auch wenn heute Uberfahrer*innen mit ihrem Auto theoretisch Produktionsmittel besitzen, Menschen freelancen oder ihren eigenen Youtube-Kanal haben. Denn die Klasseninteressen verändern sich nicht und somit auch nicht der Klassenkampf. Klassenkampf ist der Konflikt zwischen den unterschiedlichen Klasseninteressen. Text und Bild: Siro Fadini, Silvan Häseli, Sandro Covo

Kapitalist*in

Arbeiter*in stellt Arbeitskraft zur Verfügung.

stellt Produktionsmittel zur Verfügung.

Mehrwertstheorie Resultat: Produkt/Dienstleistung Der Mehrwert wird von den Arbeitenden generiert. Die Kapitalisten verdienen Geld mit der Arbeit anderer.

Wert Produktionsmittel

Mehrwert entsanden durch Arbeit

Die Produktionsmittel an sich generieren keinen Wert für sich, sondern die Arbeit generiert einen Mehrwert. Wert Produktionsmittel

Intresse an der Profitmaximierung.

Profit

Mehrwert

Diese zwei Interessen stehen in direktem Gegensatz --> Klassenkampf

Der ganze Mehrwert wurde von den Arbeitenden erarbeitet, sie kriegen jedoch nur einen Teil davon ausbezahlt

Interesse an gerechter Entlöhnung des erarbeiteten Mehrwerts


JUSO SCHWEIZ

KLASSENKAMPF

DIE HISTORISCHE KOMPONENTE DES KLASSENKAMPFS Nachdem ihr auf den letzten Seiten bereits erfahren konntet, was Klassenkampf ist und wie er sich in Zahlen ausdrückt, möchte ich mich hier der Frage widmen, wie sich der Klassenkampf aus einer historischen Perspektive entwickelt hat. Zuerst einmal muss die Begriffsgeschichte vom Klassenkampf analysiert werden: Der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli, welcher im 15. und 16. Jahrhundert lebte, benutze schon eine Art Klassenkampfrhetorik. Er unterschied allerdings noch zwischen dem reichen Bürgertum und dem Adel und sagte, dass zwischen diesen beiden Bevölkerungsschichten erhöhtes Konfliktpotential bestünde. Klar ist, dass die Unterscheidung zwischen Adel und Bürgertum nicht die Art von Klassenkampf ist, die wir heute meinen. Der frühsozialistische Autor Henri de Saint-Simon bezeichnete die Französische Revolution, die zu seinen Lebzeiten stattfand, als eine Art Klassenkampf zwischen Adligen, Bürgertum und Armen. Dies beschreibt er so in seinen “Lettres d’un habitant de Genève”, welche er im Jahre 1802 veröffentlicht hat. Friedrich Engels bezeichnete diese Auffassung von Saint-Simon als “eine höchst geniale Entdeckung”. Wenn wir gerade bei Friedrich Engels sind, darf eine Person natürlich nicht fehlen, wenn wir die historische Komponente des Klassenkampfs anschauen: Karl Marx. Marx prägte den Begriff des Klassenkampfes wahrscheinlich so stark wie kein*e andere*r. “Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen”, schrieben Marx und Engels zum Beispiel im Manifest der kommunistischen Partei. Auch das bekannte Zitat: “die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren

als ihre Ketten,” stammt aus diesem Werk und ist sehr klassenkämpferisch. Marx Definition von Klassenkampf ist die heute geltende:: Es gibt zwei Klassen: Die Bourgeoisie, also die, die besitzen, und die Arbeiter*innenklasse, also die, die ausgebeutet werden. Nach Marx benutzten und benutzen auch politisch nicht zwingend Marx nahestehende Personen den Begriff des Klassenkampfes. So benutzte zum Beispiel der Soziologe Max Weber regelmässig diesen Begriff. Aber auch die Soziologen Ferdinand Tönnies und Michel Clouscard brauchten zum Beispiel diesen Begriff. Nachdem wir nun angeschaut haben, wie der Begriff Klassenkampf sich historisch entwickelt hat, möchte ich einige Beispiele von Klassenkämpfen aufzeigen. Im kommunistischen Manifest gibt es eine schöne Auflistung darüber, was die bisherigen Klassenkämpfe so sind: Da steht nach dem Satz: “die bisherige Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen,” zu Beginn des ersten Kapitels folgender Abschnitt, welcher die gesamte historische Komponente meiner Meinung nach sehr gut zusammenfasst: “Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigner, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zu einander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete, oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.” Text: Elias Erne

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INFRAROT – KLASSENKAMPF

Klassenkampf

Pro/Contra A n s i c h t e n z u m K a m p f b e g r i ff

Klassenkampf: In der Blütezeit des Marxismus ein klassischer Kampfbegriff der Linken, verlor er ab Mitte des 20. Jahrhunderts an Beliebtheit. Die Soziologie setzte ihren Fokus auf Milieus und Spaltungen innerhalb der Klassen, die Linke wandte sich vom klassischen Arbeiter ab und konzentrierte sich auf Unterdrückungsformen abseits der kapitalistischen Ausbeutung. Auch der Antikommunismus im Zuge des Kalten Krieges trug zur Abwertung des Begriffes bei. Wie steht es heute, im 21. Jahrhundert, um den Klassenkampf? Bildet der Begriff die Realität noch ab oder müssen neue Konzepte her?

Pro

Contra

Ob man zu Marx’ Zeiten in einer Fabrik Maschinenteile hergestellt hat oder heute in einer Bank, einem Spital oder einem Restaurant arbeiten muss – alle Arbeiter*innen müssen ihre Arbeitskraft den Besitzer*innen der Produktionsmittel verkaufen. Die Arbeitenden produzieren dabei mehr Wert, als ihnen die Kapitalist*innen in Lohn zahlen. Die Besitzenden profitieren also direkt vom Mehrwert der Arbeitskraft, den sie sich in Form von Profit und Zins aneignen. Erkennt man die Ausbeutung innerhalb des Kapitalismus an – und das ist einer der Grundpfeiler des Sozialismus, wie ihn die JUSO vertritt –, kann man sich schwer gegen die Notwendigkeit des Klassenkampfes aussprechen.

Ein in der Wissenschaft häufig verwendetes Gleichnis ist das der Zwerge und Riesen. Wie soll es uns Menschen, Zwergen, möglich sein, neues Wissen zu schaffen und weiter zu sehen, als das die Riesen, die klügsten Köpfe der gesamtheitlichen Geschichte, geschafft haben? Wir Zwerge sehen weiter, weil wir auf ihren Schultern stehen. Dieses Gleichnis beschreibt den Aufbau und das Verhältnis der Wissenschaft zu ihrer eigenen Vergangenheit, und würdigt dabei die Vorleistung all derer, welche die Erweiterung dieses Wissens möglich gemacht haben.

Ausgelöst durch die Corona-Pandemie befinden wir uns in der weltweit grössten Wirtschaftskrise seit der Grossen Depression in den 1930ern. Noch deutlicher als sonst zeigt sich aktuell der ausbeuterische Charakter des Systems: So meldeten beispielsweise trotz Coronahilfen 219 Firmen im ersten Quartal 2021 Dividendenausschüttungen an. Kapitalist*innen kassierten also Steuergelder der 99% – ganze 43,12 Mio. CHF! – direkt in Form von Kapitaleinkommen. Gleichzeitig mussten grosse Teile der Bevölkerung während eineinhalb Jahren aufgrund von Kurzarbeit mit nur 80% ihres Einkommens über die Runden kommen. Die Zahl der von Armut betroffenen in der Schweiz stieg bereits vor Corona kontinuierlich. Die abstrakte Diskussion über die Aktualität von Begriffen wie Klasse und Klassenkampf mag ein spannender Zeitvertreib für die akademische Linke sein – faktisch können wir den Klassenkampf aber bereits live beobachten, bloss in einem für uns nachteiligen Kräfteverhältnis. Wie der Grossinvestor Warren Buffet oft zitiert wird: «Klassenkampf findet

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Karl Marx ist Teil dieses Prozesses. Er selbst hat sich unter anderem immer wieder auf Hegel berufen und unzählige Gelehrte haben ihrerseits die Thesen von Marx untersucht, erweitert oder widerlegt. Laut Marx ist die Ökonomie die Grundlage allen menschlichen Handelns, und somit könne man anhand der Ökonomie auch das menschliche Handeln erklären. Die Staatsform, die Rechtsprechung, die Religion, die Kunst und Kultur, all dies sei ein Produkt der ökonomischen Entwicklungsstufe einer Gesellschaft. Diese These nennt er den «historischen Materialismus». Den historischen Materialismus hat Max Weber, einer der einflussreichsten Soziolog*innen des 20. Jahrhunderts, untersucht und ist dabei zu einer anderen, wissenschaftlich fundierten, Antwort gekommen. Der Kapitalismus konnte nur entstehen, aufgrund des «okzidentalen Rationalismus». Diese Erkenntnis beschreibt er in seinem Buch «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus.» Er stellte sich dabei die einfache Frage: weshalb ist der Kapitalismus nur im Abendland und nicht in anderen Regionen der Welt entstanden? Webers Antwort


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statt, aber von oben – und es ist meine Klasse, die dabei ist, ihn zu gewinnen». Die dreckigen Deals zwischen den Mächtigen werden in den Hinterzimmern der Parlamente und den Teppichetagen der Grossunternehmen geschlossen: Verbesserungen der Lage der arbeitenden Klasse werden verhindert, bestehende Errungenschaften abgebaut, während die Kapitalist*innen für sich Vorteile rausholen. Das äussert sich in der Form von Angriffen auf die Sozialwerke und Sparpaketen, während für das 1% die Steuern gesenkt werden. Nach aussen wird propagiert, dass wir alle im gleichen Boot sässen, das zwar ab und zu von Krisenwellen durchgeschüttelt wird, aber im Großen und Ganzen gehe es uns allen gut. Nicht zufälligerweise spricht die Economiesuisse im Kontext der 99%-Initiative vom «Klassenkampf im Land der guten Löhne». Die 735’000 von Einkommensarmut Betroffenen in der Schweiz existieren für sie anscheinend nicht. Während die Besitzenden in Villen leben, predigen sie für die 99% den Verzicht: würden wir weniger Avocadotoasts essen, könnten wir uns das Wohnen leisten, würden wir auf Strohhalme verzichten, wäre das Problem der Umweltverschmutzung gelöst. Unser Konsumdenken sei das Problem, nicht ihre Ausbeutung von Mensch und Natur. Das perfide daran: Durch die Märchen des 1% ist den meisten Arbeiter*innen nicht bewusst, dass sie Teil einer ausgebeuteten Klasse sind. Diese Spaltung der 99% spielt dem 1% natürlich in die Hände – je grösser die Zersplitterung, desto einfacher ihr Kampf. Das geht so weit, dass die 99% gegen ihr eigenes Interesse handeln: so scheiterte bisher jede JUSOInitiative an der Urne. Es ist somit Aufgabe der Linken – und damit auch der JUSO – den 99% bewusst zu machen, dass es nicht Herkunft oder Geschlecht sind, die die Gesellschaft teilen, sondern die Klassenzugehörigkeit. Deshalb sind die Initiativen, Aktionen und Diskussionen der JUSO so wichtig. Auch Ereignisse wie Frauen*- und Klimastreiks zeigen den Arbeiter*innen, wie mächtig sie sein können. Mit einer geeinten, organisierten Arbeiter*innenklasse, die sich ihrer eigenen Kraft bewusst ist, ist ein Wandel möglich: Wir können den Kapitalismus überwinden. Und so stimmt Marx und Engels’ Analyse auch 150 Jahre später noch: «Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen».

drauf ist ein enger Zusammenhang des Kapitalismus und des Protestantismus. Im Protestantismus, insbesondere dem Calvinismus, ist Tüchtigkeit und finanzielle Umsichtigkeit eine grosse Tugend, und mehr Wohlstand ist indessen ein Zeichen von Gottes Wohlwollen. Der Katholizismus hingegen predigt von der materiellen Entbindung als der Weg zu Gott. Der Kapitalismus ist demnach keine historische Zwangserscheinung aufgrund der sich verändernden Produktionsmittel, wie es Marx annahm, sondern manifestierte sich in unserer Gesellschaft anhand eines veränderten Wertesystems. Der Kapitalismus ist nicht die Krankheit, lediglich ein Symptom einer Gesellschaft, die materiellen Wohlstand als bedingungslos gut und unproblematisch ansieht. Der Klassenkampf ist der Versuch, eine Krankheit mit Schmerzmittel zu bekämpfen. Es wird nur kurzfristige Linderung geschaffen und hält uns davon ab, die eigentliche Ursache des Kapitalismus anzugehen. Denn im Grundsatz ist der Klassenkampf und das Klasseninteresse die universelle Forderung nach «mehr» und der Ausdruck von materieller Unzufriedenheit. Eine neue «Entfachung» des Klassenkampfs wird uns nicht dabei helfen, unseren menschengeschaffenen Materialismus zu überwinden. Pauschal zu proklamieren, die 99% verdienen «mehr», ist genau die Wertevorstellung, die uns den Kapitalismus beschert hat. Am Rande einer Klimakatastrophe stehend, braucht es Diskussionen über «genug» und nicht «mehr». Das westliche Konsumverhalten ist nicht universalisierbar und die Linke sollte sich hüten, unhaltbare Versprechen zu machen. Sonst ist globale Verteilungsgerechtigkeit und die Abwendung der Klimakatastrophe unmöglich. Und der Weg liegt nicht darin, nur noch in SecondhandLäden zu kaufen, und das Gefühl zu haben, man sei damit nicht mehr Teil des kapitalistischen Kreislaufes und der darin ausgedrückten materialistischen Werte und Normen. Denn weniger materialistisch wird man dadurch nicht. Zur Überwindung des Kapitalismus, zur Abwendung der Klimakatastrophe, müssen wir uns individuell, sowie als Gesellschaft fragen, ob es wichtigere Dinge als materiellen Wohlstand, und folglich Effizienz und Wettbewerb gibt. Eine Umverteilung ist nur dann nötig und sinnvoll, solange materieller Wohlstand unser einziger Weg bleibt zu verstehen, was ein gutes Leben ausmacht. Und damit sind die 100% gemeint. Text: Daria Vogrin und Silvan Steinegger

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INFRAROT – KLASSENKAMPF

KLASSENKAMPF UND IDENTITÄTSPOLITIK

ZWEI KÄMPFE, EIN ZIEL Bei dem Begriff Identitätspolitik, kurz: Idpol, geht es darum, auf Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen, die sich auf Merkmale wie Herkunft, Geschlecht oder «Rasse» beziehen. Oft werden wir Linke genau dafür kritisiert. Francis Fukuyama, ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler, argumentierte, dass linke Identitätspolitik, also der Fokus auf angebliche Partikularinteressen wie z.B. Feminismus, LGBTIQA+Rechte oder die Rechte von Migrant*innen zum Aufstieg der Rechten geführt hätte. Es heisst «Man darf ja nichts mehr sagen» und immer öfter stellt sich aber die Frage: Wer darf, kann und sollte sich in öffentlichen Debatten zu solchen Themen äußern? Alle oder nur Betroffene? Und wo müssen wir eine rote Linie ziehen, wenn wir Meinungsvielfalt abbilden, aber demokratie- oder menschenfeindlichen Stimmen keinen Platz bieten wollen? Während wir uns bei der Identitätspolitik auf benachteiligte Gruppen und individuelle Rechte und Anerkennung konzentrieren, geht es beim Klassenkampf um die grosse Gruppe der ökonomisch ausgebeuteten Personen, sprich: die Arbeiter*innenklasse. Diese Unterschiede sollten aufgehoben werden und zu einer vollständigen Gleichberechtigung führen. Die JUSO verbindet diese beiden Kämpfe, obwohl diese gerne als gegensätzlich dargestellt werden. Wie kann man also eine vollständige Gleichstellung Aller wollen und gleichzeitig den Fokus auf die Diskriminierung einzelner Minderheiten legen? Der Grund dafür lässt sich anhand des Beispiels von Rassismus und Migration erklären: Rassismus wurde historisch gesehen als ein Herrschaftsmechanismus benutzt, der von der herrschenden Klasse und dem Staat gezielt dazu verwendet und gefördert wurde, um die Arbeiter*innenklasse zu spalten. Der Forscher Satnam Virdee meint, dass «der Rassismus eine unverzichtbare Waffe im Arsenal der staatlichen Eliten darstellte, die zur Eindämmung der Klassenkämpfe der untergeordneten Bevölkerungen eingesetzt wurde, um das System für die Kapitalakkumulation sicher zu machen».1 In ihrem Streben nach Profit suchen Kapitalist*innen stets nach Wegen, tiefere Löhne zu zahlen und Arbeitnehmerrechte abzubauen. Besonders

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in Krisenzeiten wird dabei auf ausländische Arbeiter*innen zurückgegriffen, die sich aufgrund von Aufenthaltsstatus und Sprache weniger gut für ihre Rechte einsetzen können. Somit stehen ausländische Arbeiter*innen in Konkurrenz mit «inländischen» Arbeiter*innen. Das begünstigt den Rassismus, denn so sind die Schuldigen für die schlechten Arbeitsbedingungen schnell gefunden – nicht die Chef*innen sind schuld an schlechten Arbeitsbedingungen, Lohnsenkungen, Sozialabbau und Stellenverlust, sondern die Ausländer*innen, die eine andere Sprache sprechen oder eine andere Hautfarbe haben. Auch in der Schweiz können wir das beobachten: Zwischen 1970 bis 2000 gab es 25 Volksabstimmungen, in denen es um das «Ausländer*innenproblem» ging. Durch die Angst der «Überfremdung» in den letzten Jahren und der harten Einwanderungspolitik wurde ein tiefer Keil zwischen Schweizer*innen und Ausländer*innen getrieben. So werden die 99% gespalten: der Fokus liegt auf den Unterschieden innerhalb der Klasse, statt auf dem Unterschied zwischen dem ausbeuterischen 1% und den ausgebeuteten 99% - dabei ist es auch migrantischen Arbeiter*innen zu verdanken, dass die Schweiz zu einem der reichsten Länder der Welt wurde. Genau deshalb sieht die JUSO die Identitätspolitik nicht als Widerspruch zum Klassenkampf: Der Kapitalismus befeuert die Unterdrückung von Minderheiten, weil sie ihm direkt nützt. Der einzige Weg aus dieser Sackgasse ist der Klassenkampf. Das beginnt dabei, dass die Ungleichheiten benannt werden. Wir müssen Betroffenen aktiv zuhören und auch bereit sein unser eurozentrisches Denken zu hinterfragen. Doch der Kampf führt darüber hinaus: Dem Rassismus wird erst mit der Überwindung des Kapitalismus endgültig der Nährboden entzogen. Erst in einer Gesellschaft, in der die Menschen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, können die Vorurteile im Kopf überwunden werden. 1

Satnam Virdee, Racialized capitalism: An account of its contested origins and consolidation, The Sociological Review 2019, Vol. 67(1) 3 –27

Text von Eleonora Trifunović


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WIESO CHANCENGLEICHHEIT E I N V I E L S C H I C H T I G E S T H E M A I S T.

KANN ES ANNA SCHAFFEN? Gespannt öffnet Anna das Couvert. Hat sie den Job bekommen? Schon wieder eine Absage. Dabei hatte sie sich doch extra noch einen neuen Blazer fürs Bewerbungsgespräch gekauft. Dieses lief ihrer Meinung nach auch ganz gut, auch wenn sie etwas nervös war. Mit ihrem Abschluss und ihrer Berufserfahrung hätte sie auch zum Anforderungsprofil gepasst, aber dennoch muss sie jetzt weitersuchen. So wie der fiktiven Anna geht es vielen Menschen und an Ihrem Beispiel lässt sich einiges über die Chancengleichheit in der Schweiz erklären. In der allgemeinen Auffassung herrscht in der Schweiz, wie in den meisten westlichen Gesellschaften, die Meritokratie. Das bedeutet, dass Machtpositionen in Politik, Wirtschaft und Kultur nicht durch Vererbung, Verwandtschaft oder ab Geburt vergeben werden, sondern durch die Leistung einer Person verdient werden. Ob dies allerdings wirklich zutrifft, ist eine entscheidende Frage mit vielen Implikationen für demokratische Grundwerte. Allerdings ist diese Frage auch schwierig zu beantworten.

aufpassen musste, während andere lernen oder arbeiten konnten. Annas Eltern konnten ihr nicht jeden Monat Geld zum Studieren geben, sie musste neben dem Studium genug arbeiten, um alles selber bezahlen zu können. Vielleicht waren Studierende in Annas Umfeld rar und die Vorstellung, mehrere Jahre knapp über die Runden zu kommen, abstossend. All das und mehr sind Hindernisse für Menschen wie Anna auf dem Weg zum sozialen Aufstieg. Man muss dazu festhalten: Nicht alle brauchen oder wollen einen Uniabschluss und der ist auch nicht nötig, um ein glückliches Leben zu führen. Jedoch sollte Nicht alle brauchen es für alle, die dies wollen und gemäss dem meritokratischen Prinzip hart dafür oder wollen einen arbeiten, gleich einfach sein.

Uniabschluss und der ist auch nicht nötig, um ein glückliches Leben zu führen. Jedoch sollte es für alle, die dies wollen und gemäss dem meritokratischen Prinzip hart dafür arbeiten, gleich einfach sein.

Chancengleichheit wird in der Soziologie oft anhand der sozialen Mobilität gemessen. Diese beschreibt, wie einfach es für Menschen ist, die soziale Klasse zu wechseln, auf- oder abzusteigen und wie oft das vorkommt. Oder: Wie oft schafft es jemand aus einer Handwerkerfamilie auf den Chefposten eines Unternehmens und wie selten schliesst der Juristensohn nur die obligatorische Schule ab? Die Studienlage hierzu ist in der Schweiz nicht riesig, dennoch deuten die vorhandenen Ergebnisse auf eine mangelhafte soziale Mobilität hin. Laut einer Studie des Schweizer Soziologen René Levy haben Kinder, deren Eltern nur die obligatorische Schule besucht haben, zu 40% ebenfalls nur einen obligatorischen Schulabschluss. Gar nur 4% erreichen einen Uniabschluss. Bei Kindern aus Haushalten mit einem Universitätsabschluss sind es ganze 49%, welche ebenfalls an einer Uni abschliessen. Annas Eltern haben beide einen Lehrabschluss, dass sie studiert hat, ist nicht die Norm. Die Gründe dafür sind schwierig zu benennen. Es könnte sein, dass Anna auf ihre kleinen Geschwister

Erschwerend für die Chancengleichheit ist ein weiterer, diffuser Faktor: In der Soziologie Habitus und Distinktion genannt, beschreiben diese Begriffe Gewohnheiten und die daraus resultierenden Abgrenzungen von Menschengruppen. Gleich und Gleich gesellt sich gern und gewöhnt sich dabei eine eigene Art an. Anna, in deren Umfeld keine CEOs oder Manager vertreten waren, bewegt und verhält sich beim Bewerbungsgespräch in der Grossbank anders, als das der Junge aus dem Botschaftsviertel tut. Mit einem vollen Konto der Eltern im Rücken redet es sich entspannter, als mit einer Aushilfsstelle auf 19 Franken Basis und ohne Erspartes. Dass im Schweizer Schulsystem früh nach “Leistung” und dementsprechend auch nach Bildungsstand der Eltern und Habitus sortiert wird, hilft nicht wirklich. Anna wird vermutlich trotz all dem eine geeignete Stelle finden. Auf ihrem Weg wäre sie dennoch froh über ein bedingungsloses Grundeinkommen oder andere politische Massnahmen froh gewesen. Und ob sie wohl vor Justus befördert wird? Text von Fabian Eckstein

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INFRAROT – KLASSENKAMPF

KLASSENKAMPF

EIERKUCHEN VS. KLASSENKAMPF Der Begriff des Konsenses ist einer, mit dem die Der historisch wohl wichtigste Eierkuchen ist die bürgerliche Schweiz nicht immer etwas anfangen Aufnahme der SP in die Bundesregierung 1943 und kann. Nahezu heilig ist er jedoch, wenn es um die 1959. Diese Beteiligung am Konkordanzsystem politische Entscheidungsfindung machte aus einer «hungrigen» in unserer Konkordanzdemokratie SP mit ambitionierten Zielen eine Sie sagt ja zum System der geht. Eine Vielzahl von Akteuren weitaus zufriedenere und damit Konkordanzdemokratie, setzt sich gemeinsam an einen auch gemässigtere, um nicht zu dass sie dazu zwingt, mit Tisch, mit dem Ziel, dass am sagen sattere Partei. Dem ersten drei bürgerlichen Parteien Ende ein ebensolcher Konsens Eierkuchen folgten viele weitere. Kompromisse auszuhandeln In den letzten Jahren sind hier der herauskommt. Das macht das Regieren in der Schweiz zu einer und den daraus resultierenden STAF-Deal und das CO2-Gesetz äusserst stabilen Angelegenheit, zu nennen. Aufwendig gekochte Konsens mitzutragen. bei der alle mitmachen dürfen. Ramen-Suppen wie zum Beispiel Friede, Freude, Eierkuchen! die Überwindung des Kapitalismus wurden und werden auf die lange Bank geschoben. Ach ja, Eierkuchen. Auch wenn sie nicht danach aussehen: Eierkuchen machen schnell satt. Garniert man sie dann noch mit Zimtzucker, ist die RamenSuppe mit selbstgemachter veganer Miso-Brühe, die man heute eigentlich kochen wollte, im Nu vergessen und der Klassenkampf unterdrückt. Wie bitte? Was ein Übermass an mit Zimtzucker garnierten Eierkuchen mit der Unterdrückung des Klassenkampfes zu tun hat? Das lässt sich ganz einfach zeigen. Dazu müssen wir zunächst aus der hungrigen Person und der Ramen-Suppe, die sie kochen will, die politische Linke der Schweiz und ihre ambitioniertesten Forderungen machen. Aus den Eierkuchen mit Zimtzucker machen wir Kompromisse und Zugeständnisse an die Adresse der Linken.

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Lasst mich zum Schluss aus der Küche gehen, um es deutlich zu formulieren. Mit dem Angebot der Regierungsbeteiligung stellte die bürgerliche Schweiz die SP vor eine Wahl: Klassenkampf oder Klassenkompromiss. Die SP hat sich damals für letzteres entschieden und diesen Entscheid seither immer wieder aufs neue bestätigt. Sie sagt ja zum System der Konkordanzdemokratie, dass sie dazu zwingt, mit drei bürgerlichen Parteien Kompromisse auszuhandeln und den daraus resultierenden Konsens mitzutragen. Dass am Ende einer solchen Verhandlung jemals die Überwindung des Kapitalismus stehen wird, ist ziemlich schwer vorstellbar. Text von Pedro Schön


JUSO SCHWEIZ

Klimaschutz ohne Klassenkampf ist Gartenarbeit

Sektionen Update

Klassenfrage zeigt sich auch in der Klimapolitik: entweder man ist Verursacher*in der Klimakrise oder man leidet unter deren Folgen.

In dieser Ausgabe stellen wir euch beim Sektionen-Update drei verschiedene Sektionen vor. Dies sind das die Sektionen beider Basel und die Sektion Luzern.

Das bedeutet aber nicht, dass es bourgeois ist, Avocados zu essen, oder mal in die Ferien zu fliegen. Es bedeutet, Profite aus der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ziehen. Doch die Schuld für die Klimakrise wird oft auf Konsument*innen abgewälzt, während Firmen ungestraft davonkommen. Dabei wird bewusst verschwiegen, dass die meisten Konsument*innen gar nicht die Möglichkeit haben, ob finanziell oder anderweitig, mit ihrem Konsum einen Unterschied zu machen. Auf der anderen Seite sind es die, die am wenigsten ausrichten können, die am stärksten von den Folgen der Klimakrise betroffen sein werden. Die Klimakrise ist also eine Klassenfrage und der Klassenkampf spielt eine wichtige Rolle. Dieser Klassenkampf kann nur von der Strasse ausgehen, denn in den Machtpositionen kann nur sitzen, wer sich mit dem Kapital gemein macht und in dessen Interesse dafür sorgt, dass die Ausbeutung von Mensch und Erde weiter geht. Regierungen, die versuchten sich dem Kapital zu widersetzen, würden von den institutionalisierten Machtapparaten der Industrie abgestraft werden und könnten sich nicht lange halten. Die einzige Klimapolitik, die dieses Wirtschaftssystem zulässt, ist diejenige, die keine Profitinteressen in Frage stellt. Doch so eine Politik geht nicht über das Pflanzen von Bäumen und das Begrünen von Dächern hinaus. Alles andere würde das System in Frage stellen. Eine klassenkämpferische Klimapolitik muss international solidarisch sein, sich gegen die Profitinteressen des Kapitals stellen und nichts Geringeres als einen Systemwandel fordern. Diese Bewegung muss die Macht von oben nach unten verteilen, und damit allen die Möglichkeit geben, tatsächlich etwas gegen die Klimakrise zu tun. Alles andere ist Gärtnerei.

Beginnen wir mit der Stadtsektion, nämlich der JUSO Basel-Stadt: Das aktuelle Grossprojekt der JUSO Basel-Stadt ist die Hafeninitiative oder wie es im offiziellen Titel heisst: “Hafen für alle - Freiräume statt Luxusprojekte!” Wie der Name eigentlich schon impliziert, geht es darum, dass die beiden Hafengebiete West- und Klybeckquai, in öffentlicher Hand und öffentlich zugänglich bleiben, anstatt dass dort Luxuswohnungen gebaut werden. Es sollen gemeinnützige Wohnungen gebaut werden. Im Baselbiet hingegen steht der hoffentlich bald kostenlose, öffentliche Verkehr im Zentrum der JUSO: Im August reichte die JUSO Baselland die Initiative “ÖV für alle” mit über 2100 Unterschriften ein. Ziel dieser Initiative ist es, das U-Abo (das Abonnement des Tarifverbundes Nordwestschweiz) für alle im Baselbiet wohnhaften Personen kostenlos zu machen. Die JUSO Luzern hat vergangenen Winter die Reuss-Oase-Initiative eingereicht. Die kommunale Volksinitiative “Reuss-Oase: Ein Freiraum für Alle!” fordert, dass die Stadt Luzern “Massnahmen zur Attraktivierung, Steigerung der Sicherheit und des ökologischen Wertes des Reussufers” (Zitat Initiativtext) prüft und diesen unkommerziellen Freiraum für die Bevölkerung mit Sonderkrediten bewilligt. Die Initiative wurde am 22. Dezember mit 959 gültigen Unterschriften bei der Staatskanzlei eingereicht. Des Weiteren hat die JUSO Luzern einen Podcast. Dieser “inoffizielle offizielle Podcast” heisst “RotGeflüster” und ist bisher fünf Mal erschienen (stand Redaktionsschluss). Wir wünschen allen drei Sektionen mit Ihren Initiativprojekten viel Erfolg! Text: Elias Erne

Text: Simona Roth

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I N F R A R O T – Ü B E RT H E M A

I N T E RV I E W

GEWERKSCHAFTEN

Die Gewerkschaften sind die Interessensvertretungen der Arbeitenden und als solche untrennbar mit der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung verbunden. Die grösste Gewerkschaft der Schweiz, die Unia, organisiert Arbeitende in Industrie, Gewerbe, Bau und im privaten Dienstleistungsbereich und hat über 180’000 Mitglieder.

Hallo Chris. Wie sieht deine tägliche Arbeit bei der Unia aus? Der wichtigste Teil ist die Planung und die nationale Koordination des gewerkschaftlichen Aufbaus, der Kampagnen und Mobilisierungen für grosse Demos und Streiks auf dem Bau, um eine genügend grosse Verhandlungsmacht aufzubauen, damit wir dann auch Verbesserungen in den Verhandlungen mit dem Arbeitgeberverband erreichen. Dabei arbeite ich mit vielen Leuten zusammen, von den regionalen BauVerantwortlichen der Unia bis zu den besonders aktiven Bauarbeiter*innen selbst. Was bringt dich zur Gewerkschaft? Quer durch die westliche Welt ist die Linke nicht in ihrer besten Verfassung. Das ist einerseits das Resultat von knallharten Angriffen der Reichen und Mächtigen gegen die arbeitende Klasse. Der Milliardär Warren Buffet hat das sehr schön gesagt: Klar gibt es Klassenkampf – aber es ist seine Klasse, die der Reichen, die diesen Kampf führt und ihn aktuell auch gewinnt. Auf der anderen Seite müssen wir selbstkritisch festhalten, dass sich Teile der Linken von den Arbeitenden stark entfernt haben und sich mit Themen beschäftigen, die vor allem gut ausgebildeten, eher privilegierten Schichten wichtig sind. Das ist ein ziemlich fatales Problem. Denn die Linke war immer ausschliesslich dann stark, wenn sie wirklich tief in der arbeitenden Klasse verankert war und Kämpfe führte, die von den Arbeitenden als ihre eigenen Kämpfe wahrgenommen wurden. Historisch gesehen sind das bspw. der Kampf für den AchtStunden-Tag, eine anständige Rente, das Frauenstimmrecht, Löhne, von denen man leben kann, usw. Deshalb bin ich davon

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überzeugt, dass Organisationen wie die Gewerkschaften matchentscheidend sind. Ziel ist es, wieder Verankerung in der arbeitenden Bevölkerung zu gewinnen, nämlich als Mitmachorganisation, die aus Betroffenen Beteiligte macht und so auch gemeinsam die Machtverhältnisse ändert. Was ist für dich die Aufgabe von Gewerkschaften, einerseits in der Schweiz, aber auch in Bezug auf das grössere Ganze, den Klassenkampf? Gewerkschaften sind die grundlegendste Organisationsform für die Arbeitenden. Das Prinzip ist einfach: Gemeinsam sind wir stark. Solange Arbeiter*innen individuell mit dem Chef verhandeln, ziehen sie den Kürzeren: Der Chef besitzt die Produktionsmittel und kann die Leute entlassen, wie er möchte. Wenn sich die Arbeiter*innen zusammenschliessen, nutzen sie ihre kollektive Kraft. Das kann in einem einzelnen Betrieb passieren, aber auch auf einer grösseren Skala, z.B. auf Branchenebene. Die Unia hat mit hunderten Betrieben und Branchen sogenannte Gesamtarbeitsverträge. Wie gut aber diese GAVs sind, ist nicht nur eine Frage von Verhandlungskünsten oder Goodwill des Arbeitgebers, sondern eine Frage der gemeinsamen Macht. Sprich: Wie viele Arbeiter*innen sind bereit, in der Gewerkschaft aktiv zu werden oder gar zu streiken? Ein Streik ist nicht das einzige, aber doch das stärkste Mittel: Er erzeugt Druck, ökonomisch und politisch, weil er die Profitkette unterbricht. Mit anderen Worten, die Hauptaufgabe der Gewerkschaft ist es, die Arbeiter*innen als Gewerkschaftsmitglieder zu organisieren, aber auch, sie handlungsfähig zu machen, damit sie für ihre Interessen als Arbeiter*innen kämpfen. Wir müssten aber noch stärker, mobilisierungsfähiger und verankerter sein. Diese Frage löst sich nicht nur mit gutem Willen, sondern in der alltäglichen Praxis, mit beharrlicher Präsenz und Engagement dort, wo die Leute sind: an den Arbeitsplätzen, in den Quartieren, in den Vereinen. Nur so können wir das nötige Vertrauen aufbauen und in der Breite handlungsfähig werden. Ich glaube, da müssen alle Gewerkschaften besser werden.


JUSO SCHWEIZ

Wenn wir gerade bei GAVs sind: Wie stehst du persönlich zur oft kritisierten Sozialpartnerschaft? Wenn man damit meint, dass eine Gewerkschaft auf das Recht zu streiken und so letztendlich überhaupt verzichten muss, für die Interessen der arbeitenden Leute einzustehen, dann wäre das das Ende der Gewerkschaftsbewegung. Das war beispielsweise in der Nachkriegszeit der Fall. Damals waren Gewerkschaften so stark, dass sie tatsächlich auch ohne Mobilisierung am Verhandlungstisch Resultate erzielt haben. Zusätzlich boomte in den 50er, 60er Jahren die Wirtschaft. Aber das zusammen mit dem politischen Klima des Kalten Krieges hat auch dazu geführt, dass konservative Kräfte innerhalb der Gewerkschaften stärker wurden, die ganz grundsätzlich auf Arbeitskämpfe und Mobilisierungen verzichten wollten. Das Resultat war, dass, als der Wirtschaftsboom endete und gleichzeitig der Neoliberalismus an Dominanz unter der Arbeitgeberschaft gewann, die Gewerkschaften verlernt hatten zu kämpfen und in einigen Fällen unfähig waren, den Angriffen der Arbeitgeber und der rechten Politik Widerstand zu leisten. Das darf nie mehr passieren. Gleichzeitig darf man den Begriff nicht mit der Vertragspartnerschaft per se verwechseln. GAVs zu vereinbaren ist durchaus sinnvoll, weil wir so verbindliche Verbesserungen für die Arbeiter*innen herausholen können. Nehmen wir als Beispiel den Bau: Kaum eine andere Branche ist mobilisierungsund streikfähiger. Das erlaubt uns, immer wieder für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne einzustehen. So haben die Bauarbeiter*innen 2002 die Rente mit 60 mit grossen Streiks und einer Blockade erreicht und dann im entsprechenden GAV geregelt. 2018 haben die Gewerkschaften und die Bauarbeiter die Rente mit 60 verteidigt, Angriffe auf die Arbeitszeit abgewehrt und 160.- Lohnerhöhung für jeden Arbeiter erreicht. Die Arbeiter*innen spüren dabei ihre eigene Kraft und, dass es sich lohnt zu kämpfen. Solche Resultate erreichen wir durch Mobilisierungen und Streiks und sichern sie mit vertraglichen Vereinbarungen. Historisch gesehen sind die Gewerkschaften eng verbunden mit verschiedenen Bewegungen und Parteien. Wie gestaltet sich heute die Zusammenarbeit mit anderen politischen Akteuren? Die Arbeiter*innenbewegung ist eine breite Bewegung, bestehend aus Gewerkschaften, Parteien und anderen Organisationen. Wir arbeiten daher sehr eng mit progressiven Parteien und sozialen Bewegungen

zusammen, sei das im Parlament, in der Öffentlichkeit oder auf der Strasse. Im Parlament z. B. als vor kurzem die Bürgerlichen die flankierenden Massnahmen, den Lohnschutz, abbauen wollten. Beim Kampf auf der Strasse denke ich bspw. an den Frauenstreik und auch die grosse Demonstration im September in Bern, als 15’000 Frauen und Männer gegen die Erhöhung des Rentenalters demonstrierten. Für die gesamte Linke ist der Internationalismus eine wichtige Säule. Daher ist die Unia aktives Mitglied mehrerer internationaler Gewerkschaftsföderationen. Wir sind aktiv auf den Baustellen für die WM in Katar und haben z. B. 2015 Aktionen vor der FifaGeneralversammlung in Zürich gemacht und haben selbst Kontrolleure nach Katar geschickt, um die Einhaltung der minimalen Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen zu überwachen. Gleichzeitig ist natürlich auch klar, dass wir Gewerkschaften ein unabhängiger Akteur bleiben und nicht der verlängerte Arm einer einzelnen Organisation oder Partei sein können. Warum sollten wir als JUSOs Gewerkschaftsmitglieder werden?

eigentlich

Wie vorhin erwähnt sind die Gewerkschaften die primäre Organisation der Arbeitenden. Deshalb sollten alle aktuellen aber auch künftigen Arbeitenden wie Lernende oder Studierende Mitglieder werden. Zusätzlich ist es für linke Aktivist*innen eine unglaubliche Chance, die Verankerung der Linken innerhalb der Arbeiter*innenklasse aufzubauen. Das war auch der Grund, warum ich in die Gewerkschaft eingetreten bin: Der Anspruch, diese Verankerung aufzubauen und diese zu nutzen, um insgesamt die Linke zu stärken. Und wie hilft mir die Unia konkret, wenn mein*e Chef*in meine Rechte verletzt? Als Mitglied hat man Anspruch auf Rechtsberatung und Rechtsschutz. Im Falle einer juristischen Auseinandersetzung stellt die Unia ihren Mitgliedern Jurist*innen zur Seite, gegebenenfalls bis vor Gericht. Aber auch der beste Rechtsschutz nützt nichts, wenn das jeweilige Gesetz oder der GAV-Artikel nicht im Sinne der Arbeitenden ausgestaltet ist. Man muss sich organisieren, um Recht vor Gericht zu bekommen, aber auch, um die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass man überhaupt Recht bekommen kann. Das Gespräch führten Daria Vogrin und Diego Loretan

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I N F R A R O T – Ü B E RT H E M A

I N T E RV I E W

HAUSBESETZUNG IN LIESTAL Während sich die meisten von uns am Dienstagmorgen dem 10. August zur Arbeit schleppten, besetzten fünf Aktivistinnen aus der Region Basel ein leerstehendes Haus im kleinen und ruhigen Städtchen Liestal. Wir haben die fünf Hausbesetzerinnen über den Aktivismus in ländlichen Regionen und über die erfahrene Repression ausgefragt. In der aktuellen Ausgabe des Infrarots geht es um den Klassenkampf. Seht ihr die Squatter-Bewegung (Squatting ist ein anderer Begriff für Besetzen) als Teil des Klassenkampfs oder sind dies zwei voneinander getrennte Kämpfe? Die Squatter-Bewegung ist klarer Ausdruck des Klassenkampfes. Land, Wohnungen und Immobilien liegen in den Händen der besitzenden Klasse, während die Arbeiter*innenklasse sie bewohnt und dafür gezwungen ist, ihr Einkommen an die besitzende Klasse abzugeben. Ihr habt ein älteres Haus in Liestal besetzt; was ist die Geschichte dieses Hauses? Das Haus, welches wir besetzt haben, stand seit mehreren Jahren leer und soll auch Opfer der in Liestal gängigen Gentrifizierung werden. Die charmante und wunderschöne, bewohnbare Liegenschaft soll zerstört werden, um auf ihren Trümmern neue Luxuswohnungen zu erbauen. Dies verspricht im herrschenden kapitalistischen System massiven Profit. Da die Cheddite AG, die Besitzerin der Liegenschaft, jedoch im Rechtsstreit ist, lässt sie das ganze Areal leerstehen. Das Areal verrottet und zerfällt, obwohl es solidarisch genutzt werden könnte. Dies wäre aber nicht profitversprechend und so steht es nun leer. Wären die Reaktionen auf eure Besetzung von Gesellschaft, Staat und Politik anders gewesen, wenn diese in zum Beispiel der Stadt Basel stattgefunden hätten? Gentrifizierung ist überall eine Problematik, nicht nur in den Städten. Überall muss dieser Kampf gegen

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Verdrängung geführt werden. Tatsache ist jedoch, dass der politische Kampf in der Stadt zentralisiert ist. Wir wollen auch auf dem Land auf diese Problematik aufmerksam machen. Obwohl allgemein bekannt ist, dass ländliche Regionen eher konservativ gesinnt sind, befinden sie sich im selben globalen Kapitalismus wie urbane Regionen. Freiräume und Wohnraum braucht es überall. Wurde euer Anliegen von der Politik gehört oder hat sich sogar schon etwas verändert? Die Antwort des Staates war wie zu erwarten Gewalt und Repression. Wir haben Widerstand gezeigt, doch wird dieser nicht das Wirtschaftssystem ändern. Was wir verändern können, ist das Bewusstsein der Menschen, indem wir Politik machen. Damit meinen wir eine klare ausserparlamentarische Politik, welche leider systematisch kriminalisiert wird. Diese ist nicht reformistisch, und wird im Interesse der herrschenden Klasse unterdrückt. Die Polizei Baselland reagierte auf die Besetzung mit starker Repression und sexualisierter Gewalt*. Wurdet ihr durch die Repression gebrochen oder konntet ihr neuen Mut finden und falls ja, wo und wie? Wir waren uns bewusst, mit welchen Repressionen wir konfrontiert werden. Vom Polizeiapparat geht Gewalt in Form von gezielter Einschüchterung und Erniedrigung aus, um jegliche Form von Widerstand gegen das herrschende System mundtot zu machen. Diese institutionelle Gewalt wird uns jedoch nicht davon abhalten, weiterhin Ungerechtigkeit aufzuzeigen und zu bekämpfen, denn genau dies ist die Idee hinter der Repression.

* Die Besetzerinnen haben ein Statementvideo zu diesen Vorfällen gemacht. Dieses kann zum Beispiel auf Instagram auf folgenden Kanälen angeschaut werden: baselnazifrei, oat_basel, juso_bl Text von Xaver Bolliger


JUSO SCHWEIZ

Ein Rückblick a u f die 99%-Initiative

Make the rich pay for cl i m a t e c h a n g e !

Die Abstimmung zur 99%-Initiative ist vorbei, und auch wenn sie abgelehnt wurde, hat sie doch einiges bewirkt. Sie hat die JUSO gestärkt und den Steuerabbauplänen der Bürgerlichen einen Dämpfer verpasst.

Nach der Abstimmung über die 99% Initiative steht das nächste Projekt bereits in den Startlöchern. Dass wir jetzt da sind, kommt nicht von nicht von nichts. Das Grossprojekt der JUSO ist schon seit mehr als einem Jahr in Planung, wurde aber durch die Pandemie verzögert. Nachdem wir deshalb den Entscheid 3x verschieben mussten, konnten wir im letzten Juni in Wettingen den Entscheid fällen: Make the Rich Pay for Climate Change!

Die Kampagne hat die JUSO gestärkt: Wir konnten zahlreiche Neumitglieder gewinnen und die Sektionen in die Planung ihrer eigenen Kampagne einbeziehen. Für die Sektionen war die Kampagne auch eine Herausforderung, doch an dieser konnten sie wachsen. In der ganzen Schweiz konnten wir fast 150’000 Bierdeckel verteilen. Wir haben nicht bloss ein Buch herausgegeben, sondern zwei. Daneben lief noch viel mehr, damit könnte man mehr als ein Infrarot füllen... Doch auch die Gegner*innen waren nicht still. Was sie an Aktivismus und Kreativität vermissen, versuchten sie durch Geld wett zu machen. Wie viel sie ausgegeben haben, wissen wir nicht, doch wir können es erahnen. Alleine die mehr als 250 Inserate gegen die Initiative dürften mehrere Hundertausend Franken gekostet haben. Oberflächlich waren sie damit erfolgreich und die Mehrheit der Schweizer*innen haben gegen ihre Klasseninteressen gestimmt und die Initiative abgelehnt. Doch die Umfragen haben auch gezeigt, dass die Mehrheit hinter mehr Steuergerechtigkeit steht. Auch in der NZZ hat sich eine Mehrheit von Ökonom*innen für eine gerechtere Besteuerung ausgepsrochen. Für die kommenden Steuerabbaupläne der Bürgerlichen sind das schlechte Aussichten. Text:: Sandro Covo

Das Projekt wird die JUSO über viele Jahre prägen. Zuerst müssen wir die Initiative ausarbeiten und einen Text finden, der zum einen der Bundeskanzlei gefällt und zum anderen unseren Ansprüchen genügt. Erst dann können wir die Initiative ganz offiziell lancieren und mit der Unterschriftensammlung beginnen. Dabei werden wir wieder die versammelte Energie der ganzen Partei benötigen. Neben dem Initiativtext brauchen wir natürlich auch Inhalte. Wir brauchen Zahlen, Fakten, Argumente, müssen die Gegenargumente kennen und so weiter. Dafür arbeitet seit Anfang Oktober Oliver Daepp bei der JUSO Schweiz. Er wird in den kommenden Monaten die Inhalte und die Initiative vorbereiten. Text: Sandro Covo

„Hallo! Ich bin Oli, 25 und verantwortlich für das neue Initiativprojekt. Ursprünglich aus Muri, Aargau, wo ich vor langer Zeit mal die JusoFreiamt mitgegründet habe. Nun via Luzern und Bern in der Stadt Basel gelandet, um mich meinem Masterstudium in Sustainable Development zu widmen. Zudem bin ich ein grosser Fan von alten Kneipen, indifferent gegenüber Fussball und ein Gegner von Thunfisch-Salat. Starten wir gemeinsam die sozialistische Klimaoffensive!“


MITGLIEDERZEITUNG JUSO SCHWEIZ I N T E R N AT I O N A L

IM TÜRKISEN SUMPF DER ÖVP ÖSTERREICH

Lange Zeit galt er als Shootingstar der europäischen Konservativen, doch auf einen Schlag ist alles anders: Nachdem am 6. Oktober die Staatsanwaltschaft mit dem Verdacht der Inseratenkorruption Hausdurchsuchungen in der ÖVP-Zentrale und im Bundeskanzleramt durchführte, überschlugen sich die Ereignisse und führten schließlich zum Rücktritt des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz. Um diesen Skandal zu verstehen, werfen wir einen Blick in das Jahr 2016: Damals war die ÖVP Juniorpartner in einer Koalition mit der SPÖ und stellte den Vizekanzler. Die ÖVP lag damals in Umfragen abgeschlagen auf Platz 3 bei etwa 16-18%. Das Ziel des damalige Außenminister Sebastian Kurz: Die Macht in der ÖVP und in der Regierung zu erringen. Geleakte interne Strategiepapiere (dem sogenannten “Projekt Ballhausplatz”) zeigen, wie er seine Machtübernahme minutiös plante. 2017 tritt Mitterlehner nach von Kurz und seinen Verbündeten angefachten internen Querelen zurück und Kurz wird Parteivorsitzender. Es kommt zu Neuwahlen, die nunmehr türkise (statt ehemals schwarze) Kurz-ÖVP wird stärkste Partei und koaliert mit der rechtsextremen FPÖ. Im Mai 2019 gelangt ein Video an die Öffentlichkeit, dass die Bereitschaft zur Korruption vom FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache zeigt. Kurz kündigt die Zusammenarbeit auf und legt bei den kommenden Wahlen nochmal zu. Seit Anfang 2020 regiert die ÖVP mit den Grünen. Jetzt wird gegen Kur und seine Vertrauten wegen Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit ermittelt. Anlass der Durchsuchungen waren Chats von Kurz‘ Vertrauten Thomas Schmid, die Teil einer früheren Untersuchung waren. Die Vorwürfe beziehen sich Großteils auf den Zeitraum, zu dem Kurz Außenminister war. Sie lauten, dass Steuergelder des Finanzministeriums vom damaligen Generalsekretär Schmid veruntreut wurden. Da Kurz 2016 nicht auf die Finanzen der ÖVP zugreifen konnte, wurde offensichtlich das Budget des Ministeriums genutzt. Der Ring um Kurz bestellte angeblich bei der ehemaligen und ÖVP nahen Familienministerin Sophie Karmasin, Erbin eines Meinungsforschungsinstitutes, Umfragen und parallel wurde sie vom Finanzministerium dazu beauftragt, weitere Umfragen zu bestimmten Themen durchzuführen. Die Aufträge sollen in die Rechnungen des Finanzministeriums eingepreist worden seien. Diese von

Kurz beauftragten Umfragen waren frisiert. Beispielsweise wurden einmal die Werte von SPÖ und ÖVP einfach getauscht. Als Mitterlehner noch an der Macht war, wurden wohl möglichst schlechte Werte für die ÖVP publiziert, um ihn zu schwächen. Mit Kurz an der Macht dann wurden plötzlich deutlich überdurchschnittliche Umfragen veröffentlicht. Die Botschaft: Unter Mitterlehner ist die ÖVP verloren, unter Kurz ist sie stark. Komplize soll vor allem die Boulevardzeitung „Österreich“ gewesen sein. Dieser Zeitung wurden hohe Inserate gezahlt; möglicherweise damit die gefälschten Umfragen publiziert werden. Wurden hier einfach Medien mit Inseraten bestochen, um Umfragen zu veröffentlichen, die sonst niemand verwendet hätte? Die zuständige Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft nimmt an, dass für „Österreich“ insgesamt 1.1 Millionen € Steuergeld aus dem Finanzministerium geflossen sind. Den Einfluss der ÖVP auf die Medien beweist auch ein Gespräch zwischen Schmid und Fellner, dem Herausgeber von Österreich. Als Fellner nicht wie ausgemacht über gewünschte Themen berichtete, wies Schmid ihn zurecht. Als Reaktion darauf wurde eine Doppelseite über Umfragen versprochen. All das hat dazu geführt, dass die öffentliche Meinung zu Gunsten von Kurz manipuliert wurde. Mit den Hausdurchsuchungen wurden auch die Vorwürfe der Inseratenkorruption bekannt. Die Vorwürfe sind laut Sebastian Kurz falsch und er werde seine Unschuld beweisen. Am Samstag, dem 9.10.2021, nach massivem Druck seitens des grünen Koalitionspartners und der Opposition, trat Sebastian Kurz aber lediglich „zur Seite”. Mittlerweile ist er Abgeordneter und Chef des ÖVP-Klubs im Parlament. Nachfolger als Bundeskanzler ist der Außenminister und Kurz-Vertraute Alexander Schallenberg. Es ist jedoch allen klar, dass im Hintergrund Kurz weiterhin die Fäden zieht. Das System rund um ihn ist weiterhin an der Macht. Seine Vertrauensleute stellen die Ministerposten und sind als Beamte in Schlüsselstellen angestellt. Die gesamte ÖVP muss aus der Regierung getrieben und in die Bedeutungslosigkeit gebracht werden, damit Machtmissbrauch und die Politik nur für die Reichen in Österreich ein Ende finden. Text: Benjamin Gerstbach, Sozialistische Jugend Österreich

Edition: Infrarot · Theaterplatz 4, 3011 Bern, www.juso.ch – Kontakt: infrarot@juso.ch, 031 329 69 99 Redaktion : Sandro Covo, Kassandra Frey, Diego Loretan, Elias Erne, Pedro Schön, Xaver Bolliger, Silvan Steinegger, Fabian Eckstein, Daria Vogrin, Silvan Häseli Cover Art: Silvan Häseli · Illustration: Noah Houriet · Design und Layout : Silvan Häseli Druck : Druckerei AG Suhr, 5034 Suhr · Das Infrarot erscheint zweimal im Jahr.


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