DER HUGO-WOLFMEDAILLE
LAUDATIO auf Christian Gerhaher und Gerold Huber von Christiane Iven
Lieber Christian und lieber Gerold!
Liebes liedbegeistertes Publikum!
Wie kann es sein, dass in einer Zeit, in der Unterhaltung und multimediales Marketing eine immer wichtigere Rolle in der KlassikBranche spielen, die Konzerte des Lied-Duos Gerhaher / Huber auf der ganzen Welt begehrt und ausverkauft sind?
Kein Glamour.
Es gibt keine Lightshow, kein Glamour, keine Homestorys auf YouTube, keine superspannenden Reels auf Instagram vom Einsingen und Einspielen in der Garderobe, die Klamotten sind immer die gleichen und neue Künstler fotos von den beiden gibt es gefühlt nur alle zehn Jahre.
Die Darbietung auf der Bühne entbehrt jeglicher Ausdrucksgesten, die das Publikum mitreißen und Leidenschaft repräsentieren, wie beispielsweise das Ausbreiten und Hochreißen der Arme. Vergeblich wartet man auf wilde oder kokettierende Blicke und wo bitte
bleibt die direkte und unmittelbare Kommunikation mit dem Publikum?
In unserer Branche gibt es einen Katalog gängiger Regeln der Unterhaltungskunst und Programmgestaltung.
Dazu gehören Eröffnungsstücke, die eingängig sind und »Lust machen auf mehr«, Schlussstücke mit »Krawusch« und »Habe
Dank«-Fermaten, die den Applaus antreiben. Es empfiehlt sich außerdem ein ausgewogenes Verhältnis von leichtbekömmlicher und etwas schwererer Kost, bekannten und unbekannten Stücken, zeitgenössischen und klassischen Werken.
All das wird von dem Duo, dem heute eine wichtige Auszeichnung, die »Hugo-Wolf-Medaille« verliehen wird, einfach missachtet und
Gerold Huber (Klavier), Christian Gerhaher (Bariton)
trotzdem sind die Menschen nach den Konzerten begeistert. Warum eigentlich? Was ist das Geheimnis dieses großen, Jahrzehnte währenden Erfolges?
Kompromisslose Ernsthaftigkeit.
Vermutlich liegt es genau in der Radikalität des Gegenentwurfes, der Verweigerung von Oberflächlichkeit. Oswald Beaujean, der Leiter der Klassikabteilung des Bayerischen Rundfunks, der schon vor rund 30 Jahren erste Aufnahmen mit dem damals aufstrebenden Lied-Duo auf den Weg gebracht hat, nennt es die kompromisslose Ernsthaftigkeit beider Künstler.
Beide sind eigentlich nie zufrieden, sie ringen um die tiefe Wahrheit in den Texten und in der Musik, bleiben bei all dem überwältigenden Erfolg skrupulös und selbstkritisch, scheuen keine Anstrengung, überwinden –um der Musik willen – Grenzen und Hindernisse des Lebens und geben auf der Bühne immer alles. Diese Ernsthaftigkeit, diese Schonungslosigkeit gegenüber sich selbst, der Respekt vor den Werken und die unbedingte Hingabe an die Musik verbindet die beiden.
Gerold Huber hat in einem Interview davon gesprochen, dass das Erlebnis von Bedeutung ist und nicht die Unterhaltung.
Natürlich können auch unterhaltende Lieder oder Chansons ein Erlebnis sein, aber die Unterhaltung an sich ist eben nicht das Ziel. Auch Christian Gerhaher meint, dass es unsinnig sei, sich dem Publikum anzubiedern oder die Menschen dort »abzuholen«, wo sie sind. Vielmehr ist es wichtig Menschen dahin zu bringen, wo sie nicht sind. Wo sie Neues kennenlernen und Gewohntes vielleicht aufgeben oder überwinden.
Es geht also um ein Erleben, das eine geistige oder seelische Entwicklung ermöglicht.
Von Erleben und Transformation spricht auch der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Aufsatz Musik als Resonanzspähre, der in der Zeitschrift Musik und Ästhetik « veröffentlicht wurde.1 Ich zitiere: »Starke Musik- oder Kunsterlebnisse können in einer Resonanzerfahrung sowohl kognitive, emotionale als auch körperliche Aspekte umfassen. Nicht selten werden diese als spirituelle oder transzendente Erfahrungen gedeutet und können dabei eine transformative Wirkung entfalten.«
Rosa erörtert vier Kernmerkmale einer gelingenden Resonanzbeziehung:
1. Das Moment der Affizierung: Dies bezeichnet die Fähigkeit und Erfahrung des Berührtwerdens.
2. Das Moment der Selbstwirksamkeit: Der oder die Berührte antwortet mit einer Emotion oder Gedanken und gerät so in eine Resonanzbeziehung mit dem Erlebten.
3. Das Moment der Transformation: Wer in eine Resonanzbeziehung durch Erlebnisse und Erfahrungen mit Musik gerät, ist danach nicht mehr der- oder dieselbe.
4. Das Moment der Unverfügbarkeit: Resonanz lässt sich nicht erzwingen und ist nicht kontrollierbar. Eine Resonanzbeziehung ist grundsätzlich ergebnissoffen und erfordert die Bereitschaft sich auf Prozesse einzulassen.
Erlebnis und Transformation.
1 Musik und Ästhetik, 2020, Jg.24, Ausgabe 95
Rosas Gedanken fortsetzend, durchzieht das Prinzip Erleben und Transformation generell den Entstehungsprozess eines Liedes, die Interpretation und die Wahrnehmung der Hörenden.
Der Text, das Gedicht erfährt eine Deutung durch die Vertonung, die sehr unterschiedlich ausfallen kann, wenn sie denselben Text als Grundlage hat. Die jeweilige Vertonung erfährt eine Deutung durch die Interpret*innen, die ebenfalls sehr unterschiedlich sein können und die Zuhörer*innen werden auf unterschiedliche Weise berührt und erleben das Gehörte jeweils anders.
Abstraktion.
Das Publikum ist auf seine Weise also auch eine Art Interpret.
Damit bei den Zuhörenden eigene Empfindungen und Gedanken entstehen können, ist es wichtig für die Interpret*innen von Liedern eine (zu große) Subjektivität einzugrenzen. Christian Gerhaher und Gerold Huber sprechen hierbei von Abstraktion, von dem Bemühen um eine größtmögliche Durchdringung des literarischen und musikalischen Textes in seiner Struktur und Aussage und von der Notwendigkeit, die eigenen Gefühle in den Hintergrund treten zu lassen.
Wir sind als Musiker*innen in unseren Deutungen selbstverständlich immer persönlich. Aber wir können uns bemühen durch Selbst-
Träger der Hugo-Wolf-Medaille 2024: Gerold Huber und Christian Gerhaher
reflektion und einer Art von Distanz zu sich selbst, einen größeren Deutungs- und Assoziationsfreiraum für die Zuhörenden zu ermöglichen und werden dabei dem Werk auch unter Umständen mehr gerecht.
Durch das Zurücknehmen äußerlicher Gestaltungsmittel und einer allzu persönlichen Ausformung des Textes, kann das Lied auch in seiner gesamten, kammermusikalischen Struktur ganz anders wahrgenommen werden.
Wir sind es gewohnt mit unserer Aufmerksamkeit ganz bei der Interpretation des Sängers oder der Sängerin zu sein, beobachten die Mimik und die emotionale Verfassung, mit der der Text gedeutet wird. Die Klavierstimme rückt in den Hintergrund und wird meist nur im Vor-, Zwischen- oder Nachspiel bewusst wahrgenommen.
Wenn die sängerische Gestaltung aber weniger plakativ und vordergründig ist, haben wir mehr Möglichkeiten, das Lied an sich in seiner Einheit von Stimme und Klavier wahrzunehmen.
Kammermusikalische Gestaltung.
Prof. Dr. Hansjörg Bäzner
Lied-Duos achten beim Erarbeiten von Liedern immer auf das perfekte Zusammenspiel. Dazu gehören beispielsweise der Anschlag des Klaviers, der sich mit den Konsonanten und Vokalen in bester Weise verbindet, die Tempoübergänge, gemeinsames Ritardando und Accelerando, eine Phrasierung, die gemeinsam vorausgehört wird und natürlich die Dynamik, die ausbalanciert sein muss. Die berühmte Frage aller Liedpianist*innen »Bin ich
zu laut?« ist natürlich wesentlich, damit der Text wirklich transparent bleibt und verstanden werden kann.
Und auch wenn diese Parameter alle beachtet werden, so ermöglicht die Zurücknahme einer zu großen Subjektivität eine Form der Konzentration, die das kammermusikalische Zusammenspiel auf einer noch höheren Ebene zusammenfügt.
Textverständlichkeit.
Diese kammermusikalische Gestaltung ist sicherlich eine der besonderen Qualitäten von Christian Gerhaher und Gerold Huber. Eine weitere ist deren herausragende Textverständlichkeit.
Christiane Iven
Diese liegt nicht nur in der Verantwortung von Christian Gerhaher. Sie ist in dieser Perfektion nur möglich durch das Klavierspiel von Gerold Huber, der durch Dynamik, Klangfarbe, Rhythmus und Tempo den Gehalt der Worte unterstreicht, ausformuliert und beantwortet. Die Fähigkeit mit der Stimme zusammen zu sein ist nicht nur eine Frage der zeitlich exakten Entsprechung, sondern viel mehr die Kunst eines gemeinsamen Sprechens.
Die Textverständlichkeit im Gesang hat viel mehr Faktoren als nur eine gute Aussprache. Es sind nicht nur die reinen, intonationssicheren Vokale und gut gestützten Konsonanten, wichtig ist ebenso die Integration der Sprachmelodie in den musikalischen Verlauf und die unterschiedliche Gewichtung der Wortbeto -

nungen. Diese entspricht nicht immer der musikalischen Melodie oder dem vorgegebenen Takt und Metrum. Dies miteinander zu verbinden oder auch Brüche bewusst stehen zu lassen, ist ungemein anspruchsvoll. Der entscheidende Punkt jedoch ist »das denkende Singen«, das »im Wort sein«. Das bedeutet den Text vorauszudenken, wie im natürlichen Sprechen. Wenn wir uns unterhalten oder etwas erzählen, verbinden wir Reden und Denken miteinander. Sobald wir aber ein Gedicht auswendig lernen und dann sprechen, wirkt es irgendwie unnatürlich oder künstlich, wie abgespult. Wir können freisprechenden Menschen oft besser folgen als Menschen, die einen Text ablesen. Die Kunst einen Text, trotz der unzähligen Wiederholungen in den Proben und Konzerten, immer wieder neu zu denken ist das eigentliche Geheimnis und bei Christian Gerhaher und Gerold Huber unübertroffen.
Empathie und Vorstellungskraft.
Eine weitere Qualität des Duos, die mich persönlich immer wieder aufs Neue in Begeisterung versetzt, ist die große Empathie und Vorstellungskraft für die Komplexität menschlicher Empfindungen und Gedanken. Es geht nie um Äußerliches oder um ein ein-
faches Verstehen, sondern vielmehr um eine behutsame und erstmal ergebnisoffene Annäherung. Wir benötigen eine wache Aufmerksamkeit, um uns in den Text und die Musik hineinzudenken, hineinzufühlen und hineinzuhören und dabei die Zwischentöne, das Zwielichtige und das Gegensätzliche, das wir insbesondere in der Musik und in der Poesie erleben können, zuzulassen.
Sowohl traurige und düstere Stimmungen als auch heitere und glückselige können sich abwechseln und auch gleichzeitig vorkommen. Schumann färbt die glücklichen Aussagen in einem Text fast immer mit einer feinen Melancholie und bei Schubert ist das Dur manchmal viel trauriger als Moll.
Und in dem wundervollen Lied »Der Frühling« spüren wir durch Hugo Wolfs unendliche Modulationen, die keinen wirklichen Anfang und kein Ziel haben, eben diese unbestimmte Sehnsucht, die halb Lust und halb Klage ist. Für genau diese Ambiguität haben die beiden ein untrügliches Gespür.
Künstlerische Partnerschaft und Freundschaft.
Die künstlerische Partnerschaft und Freundschaft des überragenden Lied-Duos, das wir heute feiern, sind auf vielen Ebenen einzigartig.
Beide haben sich schon in Straubing im Gymnasium kennengelernt und ihren ersten gemeinsamen Liederabend kurz nach dem Abitur gegeben. Sie waren schon damals davon überzeugt, dass das Lied ihre Zukunft werden
könnte; beide haben in München studiert. Unter ihren Lehrenden dort möchte ich Friedemann Berger nennen, der als Professor für Klavier und Kammermusik eine unerschöpfliche Inspirationsquelle für viele Musiker und Musikerinnen war und eine große Bedeutung für das Duo und insbesondere für Gerold Huber hatte. Darüber hinaus hat das junge Duo auch Liedkurse bei Dietrich Fischer-Dieskau besucht.
Sehr schnell nach dem Studium haben sie als Duo wichtige Preise gewonnen und dann eine außerordentliche große und internationale Karriere hingelegt.
Sie konzertieren seit rund 35 Jahren gemeinsam und treten regelmäßig auf in Berlin, Paris, München, Wien, Amsterdam, Madrid, Mailand, London, New York; sie sind darüber hinaus häufiger Gast bei den Salzburger Festspielen, dem Luzern Festival, dem Rheingau und Schleswig-Holstein-Musikfestival, dem Heidelberger Frühling unter vielen, vielen anderen. Würde ich alles aufzählen, wären wir hier noch bis heute Abend beisammen.
Viele ihrer zahlreichen Aufnahmen wurden mit Auszeichnungen bedacht und von der Kritik hochgelobt. 2021 wurde die Gesamt-
aufnahme der Lieder von Robert Schumann veröffentlicht. Dieses Großprojekt war sicherlich ein Kraftakt sondergleichen, für den man einfach nur dankbar sein kann. Wie großartig, dass es diese wegweisende Einspielung der wundervollen Lieder jetzt gibt und wir alle sie jederzeit hören können!
Gerold Huber hat bereits seit 2013 eine Professur an der Musikhochschule in Würzburg und seit 2022 wurden sowohl Christian Gerhaher als auch Gerold Huber an die Hochschule für Musik und Theater in München berufen.
Beide Musiker führen auch ein bedeutendes musikalisches Leben ohne den anderen.
Gerold Huber konzertiert außer mit Christian Gerhaher auch mit anderen, sehr renom-
mierten Sängerinnen und Sängern zusammen; darunter Christina Landshammer, Anna Lucia Richter, Julia Kleiter, Ruth Ziesak, Maximillian Schmitt, Günther Groisböck, Tareq Nasmi, Franz-Josef Selig und viele mehr. Als Kammermusikpartner arbeitet er mit dem Artemis und dem Henschel-Quartett.
Christian Gerhaher gibt weltweit Konzerte mit herausragenden Orchestern und Dirigent*innen und ist darüber hinaus auch ein außergewöhnlicher Darsteller in der Oper. Mit Partien wie Conte und Don Alfonso, Wozzeck, Wolfram und Amfortas, Simon Boccanegra, Lenau in der Oper Lunea von Heinz Holliger und Prinz von Homburg von Hans Werner Henze ist er auf den großen Opernbühnen zu Hause.
Die andauernde Konstante jedoch ist die Liedpartnerschaft der beiden Ausnahmekünstler, die von der New York Times als »größte Lied-Partnerschaft der Welt« beschrieben wurde.
Es gibt wahrscheinlich kein Duo, das so andauernd, intensiv und jahrzehntelang gemeinsam konzertiert hat. Gemeinsam haben sie sich dabei künstlerisch immer weiterentwickelt, fortlaufend neues Repertoire erarbei-
v.l.n.r.: Gerold Huber Dr. Cornelia Weidner, Christian Gerhaher, Prof. Christiane Iven, Prof. Dr. Hansjörg Bäzner
tet und hochinteressante Programme kreiert. Und – was wirklich staunenswert ist – es hat sich dabei keine Routine eingestellt!
Nach Dietrich Fischer-Dieskau hat wohl kaum einer die Entwicklung des Liedes in seiner Ästhetik so maßgeblich geprägt und ausgestrahlt auf die nachwachsenden Generationen.
Lieber Christian und lieber Gerold, Eure Arbeit beschert unzähligen Menschen besondere Erlebnisse, die sie berühren, bewegen, inspirieren, trösten, ermuntern, beglücken und zu anderen Menschen werden lassen.
www.ihwa.de