Stadt Land Velo

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Themenheft von Hochparterre, April 2022

Stadt Land Velo

Das Velo nimmt an Fahrt auf. Es verändert unseren Alltag und den öffentlichen Raum. Umso dringlicher die Frage: Wie plant man Städte und Gemeinden velofreundlich ?

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Trenne die Bahnen ! Gib dem Velo einen eigenen Weg, vermische den Fuss- und Veloverkehr nicht. Schon auf Konzeptstufe, denn bei der Umsetzung ist es dafür meist zu spät.

Baue durchgehende Routen ! Stück für Stück, mit dem Ganzen im Blick.

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Behandle das Velo gleichwertig !

Gib dem Velo Raum und Zeit !

Plane so sorgfältig wie für das Auto ! Unterhalte Velowege so wie Strassen. Räume Blätter und Schnee von den Velowegen. Denke bei Bau­stellenumleitungen ans Velo.

Plane die Streifen so, dass sich Velo, E-Bikes und künftige Vehikel überholen können. Mach die Strasse ab 18 Uhr autofrei ! Oder sonntags.

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Frage die Velofahrenden ! Schülerinnen und Velokuriere wissen, was sie brauchen. Richte Pop-up-Velostreifen ein und teste ihren Gebrauch.

Fahre selbst Velo ! Vor allem dort, wo du planst.

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Denke intermodal !

Auch kleine Massnahmen helfen !

Die Verbindung von Velo und öffentlichem Verkehr füllt Lücken im klimagerechten Mobilitätsnetz.

Markierungen und Signale sind rasch gemacht und können grosse, teure und langwierige Bauprojekte ergänzen.

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Auch Velos stehen mal !

Fördere die Velokultur !

Ein guter Veloabstellplatz ist sinnvoll gelegen, gedeckt und praktisch, und es gibt ihn in grosser Zahl. Liegt er unten, braucht er eine Rampe, liegt er oben, einen Lift.

Plane für alle von 8 bis 80 Jahren, lade sie zum Radeln ein und sorge für Velos für alle. Biete Velounterricht und unterstütze das Anschaffen und Teilen von Cargo-E-Bikes.

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ass das Velo L die Arten fördern !

Das Velo braucht weniger Raum als das Auto !

Sorge dafür, dass Insekten und Amphibien die Wege überqueren können, begrüne die Ränder und achte darauf, dass du artenreiche Wiesenflächen nicht verletzt.

Organisiere einen Ideenwettbewerb: Was fangen wir mit dem gewonnenen Platz in unserem Quartier an ?

Themenheft von Hochparterre, April 2022 — Stadt Land Velo — Velowimpel-Appelle

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Editorial

Auf zwei Rädern Inhalt

6 Berner Etappensiege Bei der Velofreundlichkeit an der Spitze.

16 « Mit Schwärmen muss ich vorsichtig fahren » Hobbyimkerin Geraldine Chew mietet für Transporte ein Lastenvelo.

18 « Romantische Gründe führten zum Faltrad » Nicola Stäubli nimmt sein Velo auf Geschäftsreisen mit.

20 Lernfähige Agglomeration Ein Ortstermin in Bulle, dem Vorzeigebeispiel im Kanton Freiburg.

26 « Das E-Bike plättet das Terrain » Niklaus Reichle stieg für den halbstündigen Arbeitsweg aufs Velo um.

28 « Ich bin eine der wenigen mit Helm » Erika de Godoy Gonçalves Fauchère nutzt Publibike in Lausanne.

30 Mehrwert für alle Der Kanton Zürich plant neue Velorouten mit ­Modellcharakter.

36 Tour de Suisse Geglückte Beispiele aus der ganzen Schweiz.

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Die halbe Schweiz fährt Velo. Die Pandemie hat einen Trend befeuert, den es schon vorher gab: Immer mehr Menschen fahren auf zwei Rädern von A nach B, verbringen ihre Freizeit auf dem Sattel oder pendeln so täglich zur Arbeit. Technologische Entwicklungen wie das E-Bike vergrössern Radius und Möglichkeiten. Schon bald werden die Velowege in der Bundesverfassung den Fuss- und Wanderwegen gleichgestellt sein. Das ist vor allem das Verdienst der unermüdlichen Velo­ szene. Doch nun sind der Bund und die Kantone an der Reihe: Der Bund muss die Veloinfrastruktur unterstützen, und die Kantone sollen ein zusammenhängendes und sicheres Velowegnetz bauen. Das gibt zu tun in Städten und Gemeinden – bei Raumplanerinnen und Städtebauern, Landschaftsarchitekten und bei jenem Teil der Bevölkerung, der mitreden will. Dieses Heft möchte ihnen dabei helfen. Es zeigt drei unterschiedliche Beispiele: die Stadt Bern, die Agglomeration Glattal und die Gemeinde Bulle. Es berichtet, was eine Velostadt und eine Velogemeinde ausmacht, wie sie geplant, entworfen und umgesetzt werden kann. Und es lässt Menschen zu Wort kommen, deren Alltag das Velo verändert hat. Zehn Velowimpel-Appelle fassen die Erkenntnisse zur velofreundlichen Gemeinde zusammen. Das Heft ist eine Premiere. Hochparterre hat es zusammen mit dem Velojournal gemacht, der führenden Schweizer Zweiradfachzeitschrift und dem Verbandsorgan von Pro Velo. Dass wir dafür im Spätherbst und im Winter unterwegs waren, sieht man den Bildern an. Die Bildstrecke gibt diesem Heft einen eigenen Dreh, sie ist wie ein Blick in die Zukunft: Die Schweiz fährt Velo, und zwar das ganze Jahr. Fabian Baumann, Rahel Marti, Pete Mijnssen, Axel Simon

Fürs Velo planen und bauen ? Befolgen Sie die 12 Velowimpel-Appelle von Hochparterre und Velojournal ! Beispiele dazu finden Sie im ganzen Heft, sie sind mit Wimpeln gekennzeichnet.

Impressum Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44  444  28  88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger Köbi Gantenbein Geschäftsleitung Andres Herzog, Werner Huber, Agnes Schmid Verlagsleiterin Susanne von Arx Konzept und Redaktion Fabian Baumann, Rahel Marti, Pete Mijnssen, Axel Simon Art Direction Antje Reineck Layout Barbara Schrag Produktion Thomas Müller Korrektorat Lorena Nipkow Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit Velojournal, Zürich Bestellen shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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« Der Veloverkehr ( … ) entlässt die Menschen nicht aus dem sozialen Netz, weil sie immer noch an ihrem Gesicht erkennbar bleiben. » Hermann Knoflacher, Verkehrswissenschaftler

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Lorrainebrücke: Velostreifen zwischen Autospuren.

Berner Etappensiege Die selbst ernannte Velohauptstadt liegt an der Spitze bei der Velofreundlichkeit. Dieser Erfolg fusst auf dem ­Engagement vieler. Eine Erkundung mit fünf Stationen. Text: Rahel Marti

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Unterhalb des Hirschengrabens beim Bahnhof Bern ist verkehrstechnisch einiges los. Strassen kreuzen, Tram­ linien schlängeln sich Richtung Bahnhof, Menschen wu­ seln herum. Und mittendrin das Berner Velovolk, eine bunte Mischung aus Profis und Amateurinnen, die diszi­ pliniert an der eigenen Ampel auf Grün warten. Dabei kann es vorkommen, dass sich die auf beiden Seiten für Velos deutlich und grosszügig markierten Abbiegespuren ganz schön füllen. Doch dann folgt eine für alle ausreichende Phase, um Strassen und Schienen sicher zu queren – ger­ ne auch mal nebeneinander. Auch den Hirschengraben selbst haben die Zweiräder in Beschlag genommen. Der baumbestandene Kiesplatz ist über und über damit ver­ stellt. « Kann eine Stadt auch vom Velo überrollt werden ? », fragt man sich. Doch davon später. Vor zehn Jahren war die Querung am Hirschengraben eine der ersten markanten Erleichterungen für das Velo in Bern – heute trifft man auf eine Reihe davon. Allein im Stadtzentrum bieten vier Velostationen am Bahnhof rund 2000 Abstellplätze. Auf der Schwarztorstrasse gehört seit 2019 eine Autospur den Velos: Man radelt über 1,3 Kilo­

meter in beiden Richtungen auf separaten Velo­streifen, mit 2,5 Metern breit genug zum Überholen oder Neben­ einanderbummeln – die Öffnung von Einbahnstrassen für das Velo zählt zu den Berner Planungsgrundsätzen. An zahlreichen Kreuzungen hilft der indirekte Linksabbie­ ger, eine Berner Spezialität: Ein Schild zeigt, wie es geht, die Spur dazu ist markiert, und häufig gibt ein eigenes Velolichtsignal Grün. Als Gesellenstücke gelten jedoch die 2016 eröffne­ ten Hauptrouten Köniz und Wankdorf. Letztere führt vom Bahnhof hinaus in den wachsenden Stadtteil, durchge­ hend entweder auf einem Streifen, wo möglich 2,5 Me­ ter breit, auf einem baulich getrennten Weg oder auf der Spur des öffentlichen Verkehrs. Radelt die Velofahrerin mit zwanzig Kilometern pro Stunde, kommt sie dank der angepassten Ampelsteuerung in den Genuss einer grü­ nen Welle. Beim Bollwerk unterquert sie eines der hoch­ gehängten Hauptstrassenschilder, die sonst über Auto­ spuren prangen. Es leuchtet rot und zeigt ein riesiges Velo. Danach saust sie über die Lorrainebrücke, wo ebenfalls eine aufgehobene Autospur Platz bietet für einen drei Me­ ter breiten Streifen, der teils durch Pfosten abgetrennt ist. Stadteinwärts liegt der Streifen zum Teil allerdings mit­ tig, sodass trotz allem eine rote Signalbahn nötig bleibt. Auf der Wankdorfroute läuft derzeit ein fünfjähriger →

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Haltestelle Kursaal: Die Velos fahren hinter den Tramhäuschen durch.

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Abfahrt Lorrainebrücke: Velofahren in Bern ist reglementierter und sicherer geworden.

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→ ­Winterdienst-Pilotbetrieb: Sie wird gleichzeitig wie die Autospuren von Glatteis und Schnee befreit, und auch die Frequenzen werden gemessen. Die Gründerin der Velohauptstadt In Bern fühlt man sich auf dem Velo willkommen, und diese Kultur hat eine Geschichte. Lange hatte die Velo­ szene Verbesserungen verlangt, doch erst mit Gemein­ derätin Ursula Wyss, von 2012 bis 2020 Vorsteherin der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün, änderte sich etwas. « Das Wichtigste war wohl meine eigene Über­ zeugung und diejenige wichtiger Personen in der Verwal­ tung », erzählt Wyss, die zwei Alltagsvelos besitzt, das eine etwas verrostet. « Wir legten ein gemeinsames Ziel fest: Velo fahren für alle. So, dass auch Ungeübte gern unter­ wegs sind, und so, dass das Velofahren zur sozialen Tä­ tigkeit wird, die den Strassenraum aktiviert. » Damit sei ein Querschnitts­thema entstanden: Es ging nicht bloss um Asphalt und Infrastruktur, sondern auch darum, wie man eine Velokultur fördert – etwa mit speziellen Anläs­ sen oder indem man Kinder berücksichtigt. « Dies bezog Verantwortliche aus der ganzen Verwaltung ein », blickt Wyss zurück. In Velo­städten wie Kopenhagen oder in den Niederlanden holen sich die Berner Beteiligten bis heute die Motivation dafür, denn dort ist die Idee des sicheren, attraktiven Velofahrens längst Realität. « Wir sagten uns: Diese Städte sind kaum anders als Bern. Es gibt keinen Grund, warum es nicht auch hier gelingen sollte. » 2014 rief der Gemeinderat die ‹ Velo-Offensive › aus: Die Stadtmüt­ ter und -väter liessen sich auf ihren Drahteseln ablichten, tauften Bern ‹ Velohauptstadt › und verkündeten, den An­ teil des Velos am gesamten Verkehr bis 2030 von stagnie­ renden elf auf zwanzig Prozent anzuheben. Die Mechaniker des Masterplans Das derzeit zentrale Instrument dieser Veloförderung ist der 2020 in Kraft gesetzte ‹ Masterplan Veloinfrastruk­ tur › siehe Seite 10. Zu seinen Schirmleuten zählt Michael Lie­ bi, Fachexperte der Fachstelle Fuss- und Veloverkehr, der seine Tochter gern im Cargobike chauffiert. Der Begriff ‹ Offensive › habe die Verwaltung unter Druck gesetzt, sagt Liebi, im guten Sinn: « Hohe Ziele kommunizieren hilft. » Doch parallel müssen Resultate her. Darum zählt Liebi auch die kleinen Schritte: hier dreissig Zentimeter von der Autospur zum Velostreifen umverteilen, dort Schilder an­ bringen, Velostreifen rot einfärben, neue Streifen aufma­ len – « markieren, markieren, markieren », meint Liebi. Sol­ che Sofortmassnahmen arbeitet die Stadt systematisch ab. Die Finanzierung läuft über das Reglement zum Fussund Veloverkehr. Es sichert der Fachstelle jährlich 2,5 Mil­ lionen Franken für ihre Arbeit zu und definiert das Budget für kleine Projekte. Dass die Richtung stimmt, belegt der Hauptpreis des ‹ Prix Velo Infrastruktur ›, den Pro Velo Schweiz der Stadt Bern im Jahr 2020 verliehen hat. Die Jury war des Lobes voll: « 2,5 Meter breite Radstreifen und baulich abgetrenn­ te Radwege sind plötzlich möglich geworden und wer­ den mit beeindruckendem Tempo umgesetzt – Standards, die aus den Niederlanden bekannt sind, nicht aber in der Schweiz. » Diese Neuerungen und die zunehmende Ent­ flechtung des Verkehrs würden die sichere und attrakti­ ve Infrastruktur schweizweit auf ein neues Niveau heben. « Konsequent, hartnäckig, mutig: Der Berner Ansatz kann als Vorbild dienen. » Dabei kommt der Velohauptstadt ein besonderer Umstand entgegen: Es gibt kaum Kantons­ strassen, die meisten Strassen gehören ihr selbst – zumin­ dest beim Planen hat sie oft freie Hand. Zwischen 2014 und 2020 hat der Veloverkehr um rund sechzig Prozent zu­

genommen, gerade auch an Werktagen. Und so vermutet die Jury des Prix Velo, dass Bern schon heute nahe am für 2030 angepeilten Veloanteil von zwanzig Prozent liegt. Üb­ rigens: In Bern haben 57 Prozent der Haushalte kein Auto. Von Beginn weg hatte die Velo-Offensive partizipati­ ven Charakter. Die Stadt pflegt Kommunikationsforma­ te wie Mittagstische und Echoräume, mit denen Velover­ bände, Parteien und Planungsexpertinnen die Lage und konkrete Vorhaben kommentieren. « Wir sind auf halbem Weg », so beurteilt es Michael Sutter, Präsident von Pro Velo Bern, der ein Specialized Sirrus fährt, ein leichtes Stadtvelo. Die Stadt habe viel erreicht in den letzten Jah­ ren, « doch der Masterplan setzt sich nicht von allein um ». Als Beispiel nennt er die Situation Inselplatz-Murtenstras­ se: « Der riesige Knoten soll mit Velomarkierungen zwar entschärft werden, aber die Standards des Masterplans werden nicht konsequent angewendet. » Generell müsse die Stadt bei grossen Kreuzungen noch handeln. Auf der Murtenstrasse kommt man in den Genuss eines breiten und baulich abgetrennten Velowegs, wie ihn die Stadt an­ strebt, « doch genau vor der Kreuzung Inselplatz kommt er wieder mit dem Bus und den rechtsabbiegenden Autos zu­ sammen », stellt Michael Sutter fest. Diese Schwäche des Routennetzes bestehe weiterhin: « Plötzlich enden die gu­ ten Führungen, und es wird eng und gefährlich. » Bedeu­ tende Massnahmen wie die Fuss- und Velobrücke Läng­ gasse – Breitenrain oder die Velostation Hirschengraben seien zudem sistiert. Sutters Fazit: « Es braucht den kon­ tinuierlichen politischen Druck für gute Velolösungen. » Und dies noch eine Weile. Die Automobilisierung hinter­ liess schweizweit fast ausschliesslich autogerechte Stadt­ zentren. Während des Waldsterben­alarms der 1980er-Jah­ re bekam das Zweirad etwas Rückenwind in Form erster rudimentärer Velostreifen. Die 1990er- und 2000er-Jah­ ren gehörten dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Heu­ te ist das Velo erwünscht, weil effizient, platzsparend, fle­ xibel, bewegungsfördernd und klimaschützend – und sein Nachholbedarf enorm. Die Planer und Gestalter der Velostadt Pro-Velo-Präsident Michael Sutter wünscht sich faire Kompromisse, wenn es zwischen den bisweilen gegenläu­ figen Interessen von öffentlichem Verkehr und Velo ab­ zuwägen gilt. Damit täglich beschäftigt ist Julian Baker, Verkehrsplaner im Büro Kontextplan, der im Alltag auf einem schwarzen Cresta-Stahlross auftaucht. Im Auftrag der Stadt konzipiert Baker die neue Vorrangroute vom Stadtzentrum nach Bümpliz. Noch existiert die Route erst in Planungsvarianten – eine der besten für Baker führt via Schwarztorstrasse, Schlossstrasse und Europaplatz an die Bernstrasse, wo eine neue Fuss- und Velobrücke die Verbindung zum Bahnhöheweg wäre, der bis zum Bahnhof Bümpliz-Süd reicht. Von dort soll es gemäss Masterplan später dann weiter bis hinaus nach Niederwangen gehen. Während die erwähnte Schwarztorstrasse grössten­ teils parat ist, treffen an der Schlossstrasse Fussgängerin­ nen, Trams und Velofahrende aufeinander, die zwischen Schienen balancieren und hinter Trams warten müssen. Zudem führt der hindernisfreie Einstieg zu hohen Halte­ stellenkanten, die dann für das Velo zum Hindernis wer­ den. Julian Baker möchte den Veloweg deshalb hinter den Tramhäuschen durchführen, wo man sicherer durch­ kommt, aber abbremsen muss, um keine Wartenden an­ zufahren. Wo möglich, soll das Velo bei stark genutzten Haltestellen gemäss den Standards des Masterplans eine solche Umfahrung erhalten – wie sie an der Dübystrasse auf der Route nach Köniz bereits umgesetzt und an gut einem Dutzend weiterer Haltestellen geplant ist. →

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Länggasse – Hinterkappelen

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Bethlehem – Brünnen

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Bümpliz – Niederwangen

Endlich Rückenwind Auf Bundesebene ist das Veloweggesetz auf gutem Weg. 2022 dürfte der Ständerat letzte Fragen bereinigen und das Gesetz in Kraft treten – Schlusspunkt einer langen Geschichte. 2015 haben Pro Velo und der Verkehrs-Club der Schweiz ( VCS ) die zügig eingereichte Velo-Initiative als Druckmittel in Bundesbern deponiert. Der Gegenvorschlag des Bundesrats taugte als Kompromiss, dem Volk und Stände als ‹ Bundesbeschluss Velo › mit überdeutlicher Mehrheit zustimmten. Nun heisst der Verfassungsartikel 88 ‹ Fuss-, Wanderund Velowegartikel ›, und ein neues Veloweggesetz wird die Kantone in die Pflicht ­nehmen. Sie müssen bis in fünf Jahren ein behördenverbindliches, zusammenhängendes und sicheres Velowegnetz geplant und bis in 20 Jahren gebaut haben. Der Bund kann dazu Grundsätze festlegen und Massnahmen der Kantone, Gemeinden und weiterer Akteure unterstützen und ko-

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ordinieren. Die Veloverbände können bei der Planung mitreden, erhalten aber kein Verbandsbeschwerderecht, wie sie forderten. Trotzdem ist die Velolobby, ohne die es diese längst nötige Grundlage nicht gäbe, mehrheitlich zufrieden. Pro Velo erwartet nun, dass der Bund im Rahmen der Agglomerationsprogramme sowie mit Subventionen deutlich mehr an die Veloinfrastruktur zahlt. Der VCS fordert einen Masterplan Velo wie in den Niederlanden, Deutschland oder Frankreich, um das Velofahren in allen Politikbereichen zu fördern.

Masterplan Veloinfrastruktur, 2020 Auftraggeber: Verkehrsplanung Stadt Bern Begleitung: Arbeitsgruppe Masterplan Veloinfrastruktur ; Leitung: Michael Liebi ( ab April 2018 ), Christof Bähler ( bis März 2018 ), Verkehrsplanung Stadt Bern ; Beteiligte: Verkehrsplanung Stadt Bern, Tiefbauamt Stadt Bern ; Bernmobil, Gemeinde Köniz ; Pro Velo Bern Fachunterstützung: Metron Bern, Bern

chungen vom Masterplan begründen, und sie sollen die Evaluation sowie die Meinung der Velofahrenden hoch gewichten. Der Masterplan soll regelmässig er­gänzt und aktualisiert werden. Als nächste Themen sollen Veloparkierung, Lichtsignalsteuerung, Baustellen und Kunstbauten integriert werden. www.bern.ch / velohauptstadt / infrastruktur

Die Velo-Offensive mündete in den Masterplan Veloinfrastruktur, Berns zentrales ­Instrument zur Förderung des Velos. Darin sind der gesamte Velokontext und die Ambitionen der Stadt für die kommenden Jahre zusammengefasst. Der Masterplan ­besteht aus einem Bericht mit vielen anschaulichen Erläuterungen, dem Teil ­Standards mit konkreten Lösungsmöglichkeiten für Strecken, Knoten und ­Haltestellen und dem Veloroutennetz. Die städtischen Stellen müssen Abwei-

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Tiefenau – Zollikofen Rosengarten – Zollikofen

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Länggasse – Kirchlindach

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Breitenrain – Ostermundigen Rosengarten – Ostermundigen

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Kirchenfeld – Muri – Gümligen

Mattenhof – Köniz Monbijou – Wabern

Velonetzplan Bern Velohauptroute realisiert Velohauptroute in Planung Velohauptroute keine Planung Radiale Hauptrouten Route Wankdorf – Worblental Route Breitenrain – Ostermundigen Route Rosengarten – Ostermundigen Route Kirchenfeld – Muri – Gümligen Route Monbijou – Wabern Route Mattenhof – Köniz Route Bümpliz – Niederwangen Route Bethlehem – Brünnen Route Länggasse – Hinterkappelen / Länggasse – Kirchlindach Route Tiefenau – Zollikofen Route Rosengarten – Zollikofen / Rosengarten – Ittigen Ringrouten Route nördlicher Ring Route südlicher Ring

Tangentiale Hauptrouten Route Osttangente Stadtstrasse A6 Route Stadttangente Wabern – Europaplatz Route Westtangente Köniz – Weiermannshaus icht nummerierte ergänzende N Hauptrouten

Laufende Projekte 1 Bahnhof Bern: durchgehende Radstreifen und Radwege, 2 – 2,5 m 2 Markierungsprojekt Länggass­strasse: durchgehende Radstreifen mindestens, 1,8 m 3 Fuss- und Velobrücke Breitenrain, neue Hochbrücke ( langfristiges Projekt, Planung bis 2028 sistiert ) 4 Viktoriarain: neue Radstreifen 5 Umbau Knoten Guisanplatz: Veloknoten à la Kopenhagen

6 Tram Bern – Ostermundigen: neue Radstreifen, teilweise Halte­ stellenumfahrungen fürs Velo 7 Anschluss Wankdorf: neue Radstreifen und Radwege, neue Fuss- und Velobrücke 8 Velomassnahmen Jungfrau-/ Marienstrasse: neuer breiter Rad­ streifen, 2,5 m 9 Sanierung Thunstrasse: Haltestellenumfahrungen fürs Velo, neue Radstreifen und Radwege 10 K noten Egghölzli: neue durchgehende Radstreifen 11 Betriebs- und Gestaltungskonzept Eigerstrasse – Kirchenfeldstrasse: neue breite Radstreifen und Radwege um 2,5 m 12 Velostrasse Wabern- / Landoltstrasse 13 Sanierung Monbijoustrasse: neue durchgehende Radstreifen 14 Sanierung Seftigenstrasse: neue breite Radstreifen um 2,5 m

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15 Velohauptroute Bümpliz – Niederwangen: neue Radstreifen, Radwege, Velostrassen 16 Velohauptroute Bethlehem – Brünnen: neue Radstreifen, Radwege, Velostrassen 17 Velostrasse Freiburgstrasse 18 Velostrasse Fabrikstrasse 19 I nselplatz: neue breite Radstreifen 20 Passerelle Steigerhubel ( neue Brücke, neue Radwege im Bereich Campus ) 21 Programm Sofortmassnahmen ( Bremgartenstrasse, Papiermühlestrasse, Stauffacherstrasse )

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Schweizer Standard Angebot Velo: 1,8 m + 1,5 m Breite der gesamten Knotenzufahrt: 9,3 m Publikum: starke Velofahrende Merkmale: Die schmalen Radstreifen machen die Verflechtung mit dem motorisierten Individualverkehr ( MIV ) an­ spruchsvoll. Auf den linksabbiegenden Radstreifen zu gelangen ist schwierig. Beim Abbiegen kommt es zu Konflikten mit ­dem MIV.

Kopenhagener Lösung Angebot Velo: 2,5 m Breite der gesamten Knotenzufahrt: 8,5 m Publikum: alle Velofahrenden Merkmale: Der breite Radstreifen gewährleistet wenig Verflechtung mit dem MIV und das sichere Warten am rechten Rand der Fahrbahn. Das indirekte Linksabbiegen ist signalisiert.

Niederländische Lösung Angebot Velo: 2 – 2,5 m Breite der gesamten Knotenzufahrt: 10 – 10,5 m Publikum: alle Velofahrenden Merkmale: Der breite Radstreifen reduziert die Verflechtung mit dem MIV auf ein Minimum. Die Velofurten gewährleisten das sichere Fahren und das freie Rechtsabbiegen.

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Berner Standard für Knoten mit zwei oder mehr Vorsortierstreifen Trotz der Verbesserungen im Vergleich zur bisherigen Schweizer Standardlösung ­siehe oben: Bei diesem Knoten bleibt das Velo gegenüber dem Auto benachteiligt, da Velofahrende, die das sichere indirekte Linksabbiegen wählen, zum Abbiegen zweimal halten und warten müssen. 1 B reiter Velostreifen ( 1,8 – 2,5 m ): Die Konzentration der Radstreifen am rechten Rand der Fahrbahn ermöglicht breitere Radstreifen. 2 Vorgezogener Radstreifen und Vorgrün für das Velo 3 Die rote Färbung kann das indirekte Linksabbiegen wo nötig verdeutlichen. Der gesamte Streifen wird nur ausnahmsweise rot eingefärbt. 4 D ie klare Markierung ermöglicht das indirekte Linksabbiegen auch ­für die weniger sicheren Velofahrenden. Geübte Velofahrende können den Linksabbiegestreifen für den motorisierten Verkehr weiterhin nutzen, was je nach Situation signalisiert wird. 5 S eit 2021 dürfen Aufstellbereiche, ­früher ‹ Velosack › genannt, auch ohne Veloweg vor der Autospur markiert werden. So können Velofahrende vor den Autos halten und sind, wenn sie geradeaus fahren, besser vor rechtsabbiegenden Autos geschützt.

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« Zürich hat Aufholbedarf »

→ Räder und Füsse passen nicht zusammen, das zeigt die allgemeine Planungserfahrung. Das Velo braucht sei­ nen eigenen Raum, und die Veloförderung soll nicht auf Kosten des Fussverkehrs gehen. « Bei wenig Autos und tiefen Geschwindigkeiten kann das Velo dagegen die Strasse mit dem Auto teilen », sagt Julian Baker. Bern ex­ perimentiert nun in den Quartieren Breitenrain und Läng­ gasse mit ‹ Velostrassen ›: Quartierstrassen mit Tempo 30, auf denen das Velo Vorfahrt hat, auch von links. Dort ist man mit und ohne Motor fast gleich schnell unterwegs.

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Lieber aufmalen als einbauen Neben all dem Fördern und Planen stellt das Velo ge­ stalterische Fragen. Damit beschäftigt sich zum Beispiel Simon Schöni, Geschäftsführer von Extra Landschafts­ architekten. Ihm ist die gestalterisch sanfte Einbettung des Velos in den Stadtraum wichtig. Der Vielfahrer besitzt ein Brompton für die Stadt und ein Trek Émonda SL 6 für Landpartien. Ungern sieht er, wenn das Velo mit bauli­ chen Massnahmen im Strassenraum hervorgehoben und abgesondert wird. Auf dem von Schöni gestalteten Euro­ paplatz gibt es keine Trennungen. Er fand mit allen Be­ teiligten, auch mit Sehbehinderten, eine Lösung für die Koexistenz: Ob zu Fuss oder auf dem Velo, man zirkuliert frei, soll aber Rücksicht nehmen. Subtiler als bauliche Massnahmen sei Farbe, sagt Schöni, « abgesehen vom penetranten Signalrot ». Er möchte möglichst wenig sol­ cher gebauten Bremsen im Strassenraum, « die histori­ sche Stadtachsen auf die Stimmung einer Quartierstrasse runterdimmen – dann lieber Velostreifen aufmalen ». Auch der mit Rädern verstellte Hirschengraben ärgert Schöni. « Es braucht mehr geordnete Abstellmöglichkei­ ten, sowohl im öffentlichen Raum als auch bei Wohnhäu­ sern. » Grössere Plätze etwa für Cargovelos dürften etwas kosten. Man müsse sich auch auf dem Velo daran gewöh­ nen, dass man nicht mehr einfach vor jedes Geschäft und jedes Haus fahren könne. « Je mehr Menschen Velo fahren, desto zivilisierter muss der Veloverkehr werden. Nur so lässt er sich gestalterisch integrieren. » Das Velo darf erwachsen werden In Bern ist das Velo präsenter geworden in den letzten Jahren. Dafür sorgt die Stadt auch mit passender Kommu­ nikation. So zählen an drei Orten in der Innenstadt Mess­ geräte die Velos. Man fährt darüber und passiert Sekun­ den später eine Stele mit einem Bildschirm, auf dem die neue Zahl aufleuchtet, man selbst nun mitgezählt. Das motiviert. Auf der Lorrainebrücke zeigte die Stele im Jahr 2021 durchschnittlich 6000 Velos pro Tag, an Spitzenta­ gen sogar über 10 000. An der Monbijoustrasse waren es 4500 Velos pro Tag – ein Vielfaches des Autoverkehrs, der dort eingeschränkt ist. Trotzdem: « Können es auch zu viele Velos werden ? », lautete doch die Frage am Anfang. Steht man in Bern bald im Velostau ? Verkehrsplaner Julian Baker lacht. Auf den 2,5-Meter-Streifen, die Bern einrichten wolle, sei viel Platz. « Hingegen sind ab 2024 Tachos bei schnellen E-Bikes Pflicht – was Bussen möglich macht. » Je sicherer die Infra­ struktur werde und je mehr Menschen Velo führen, desto disziplinierter werde die Velokultur. Nicht nur die Men­ schen im Auto müssen sich also an mehr Velos gewöhnen und ihre Fahrweise anpassen – auch das Velo muss er­ wachsen werden.

Interview: Rahel Marti

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Zürich plant und baut an einem Netz von Velovorzugsrou­ ten. Was damit gemeint ist und wie es in die Stadt gelegt wird, erläutert Rupert Wimmer, Leiter Verkehr und Stadt­ raum, Tiefbauamt der Stadt Zürich. Die Volksinitiative ‹ Sichere Velorouten für Zürich ›, die 2020 angenommen wurde, verlangte Schnellrouten. Nun plant und baut die Stadt aber Velovorzugsrouten. Warum die neue Bezeichnung ? Rupert Wimmer: ‹ Schnell › wäre das falsche Signal gewesen. Wir planen sichere, durchgängige Routen für ein breites Spektrum an Velofahrenden. Möglich wird dies mit einer weitgehenden Vortrittsberechtigung, Tempo 30 und der Reduktion des Durchgangsverkehrs. Deswegen haben wir uns für den Begriff Velovorzugsrouten entschieden. Die Initiative forderte mindestens fünfzig Kilometer neue Routen. Wie legen Sie dieses Netz in die gebaute Stadt ? Ein Teil davon stand schon in der ursprünglichen Motion 2017 / 243 im Gemeindeparlament fest: die Mühlebach­ strasse, die Scheuchzerstrasse, die Baslerstrasse und die Verbindung zwischen Affoltern und Oerlikon. Nun haben wir ein Netz von Vorzugsrouten entworfen, das zu drei Vierteln auf kommunalen Strassen und abseits von den Achsen des öffentlichen Verkehrs verläuft. Dort ist wenig motorisierter Individualverkehr unterwegs, und vielfach gilt bereits Tempo 30. Damit ändern wir unsere bisherige Strategie, die Velohaupt- und -komfortrouten auf Haupt­ verkehrsachsen zu führen, denn dort sind Zielkonflikte mit dem motorisierten Individualverkehr und dem öffentli­ chen Verkehr die Regel. Natürlich sollen die Routen trotz­ dem direkt und durchgängig sein. Deshalb führen sie teils über komplexe Knoten, etwa den Bucheggplatz oder den Wipkingerplatz – eine Herausforderung. Die neuen Routen sollen autofrei und vortrittsberechtigt sein. Wird die Stadt dies einlösen ? Das Vorzugsroutennetz wird über hundert Kilometer lang. Davon werden rund achtzig Prozent grundsätzlich autofrei und in der Regel an Querungen vortrittsberechtigt sein. Autofrei meint Abschnitte mit baulich getrennten Rad­ wegen oder Quartierstrassen mit weniger als 2000 Mo­ torfahrzeugen pro Tag. Bei dieser Belastung und mit Tem­ po 30 ist der Mischverkehr aus Auto und Velo verträglich. Die Werte stimmen mit den Standards in Deutschland und den Niederlanden überein. Woher nimmt die Stadt den zusätzlichen Platz fürs Velo ? Auf den genannten Quartierstrassen braucht es in der Re­ gel keine Velostreifen. Trotzdem müssen mehrere Tau­ send Parkplätze aufgehoben werden, um ausreichende Breiten für das Nebeneinanderfahren und Begegnen zu er­ möglichen, um Unfälle beim Öffnen von Autotüren zu ver­ meiden und ausreichende Sichtweiten zu gewährleisten. Was erreichen Sie mit so schnellen Mass­nahmen und wie viel Bauen ist nötig ? Etwa siebzig bis achtzig Prozent der insgesamt über hun­ dert Kilometer Velovorzugsrouten, schätze ich, können wir im bestehenden Strassenquerschnitt umsetzen. Neben dem Abbau von Parkplätzen sind dazu je nach Situation auch Einbahnregimes und modale Filter nötig, also →

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→ Durchfahrtssperren für den motorisierten Individual­ verkehr. Es geht darum, möglichst rasch etwas zu errei­ chen. Deshalb wollen wir schrittweise vorgehen: schnell mit einfachen Massnahmen Verbesserungen erreichen und wo nötig später baulich nachbessern. Bauen benötigt mehrere Jahre. Den Bucheggplatz zum Beispiel wird man einmal um­bauen müssen. Vorläufig möchten wir wenigs­ tens die Velostreifen, die zwischen den bis zu vier Fahr­ spuren liegen, an die Seite legen. Am Letzigraben, einer kommunalen Strasse, wäre es für das Velo am besten, den motorisierten Individualverkehr umzuleiten. Kurzfristig werden wir die Velostreifen vorerst verbreitern. Wie wird das neue Netz signalisiert ? Diese spannende Debatte ist noch im Gang. Da treffen zwei Interessen aufeinander: hier Vortritt und Sicherheits­ gefühl für Velofahrerinnen und Velofahrer, dort die Inte­ gration in die gewachsene Stadtgestalt. Wir könnten den Belag der Velovorzugsrouten rot einfärben wie in den Nie­ derlanden oder beim laufenden Versuch in Winterthur. Sie werden dann im Stadtraum sehr dominant. Zudem hat Rot Gefahrencharakter. Und beim Unterhalt bedeutet dies, dass der Flick auch rot sein muss. Als Pilotversuch soll die Route zwischen Affoltern und Oerlikon mit farbigen Markierungen sichtbar gemacht werden, mit sogenannten FGSO-Bändern. Der Fachaus­ druck FGSO steht für eine farbliche Gestaltung von Stras­ senflächen, die ausschliesslich der optischen Gestaltung des Strassenraums dient und das Verhalten im Verkehr nicht direkt beeinflussen darf. Die Farbe ist allerdings derzeit noch offen. Blau ist durch die Parkfelder der Blau­ en Zone besetzt. Bei uns steht im Moment Grün zur De­ batte. Das wird noch nicht häufig bei Markierungen ver­ wendet. Zudem wollen wir mit Piktogrammen in Form von grossen gelben Velos mit Richtungsangaben am Boden arbeiten, zum Beispiel alle 200 Meter und vor oder nach den wichtigen Knoten, sodass man rasch erkennt, wo die Route weitergeht. Kaum nimmt das Velo in der Planung Fahrt auf, wird die Kritik laut, dass der öffentliche Verkehr leide. Wie gross ist der Konflikt in Zürich ? Die Stadt Zürich gewichtet den öffentlichen Verkehr hoch. Für uns ist klar: Fuss-, Velo- und öffentlicher Verkehr müs­ sen miteinander funktionieren. Damit setzen wir uns pla­ nerisch in jeder Situation auseinander und versuchen, kreativ zu denken. Dank Verkehrsmanagement kann zum Beispiel eine Busspur aufgehoben oder situativ auch eine Busspur für den Veloverkehr geöffnet werden. Ihre Arbeit wurde hart kritisiert: Zürich trödle mit der ­Veloinfrastruktur. Woran liegt es, dass sie jener in Bern, Basel oder Winterthur nachhinkt, und was unternehmen Sie dagegen ? Zürich hat sicher Aufholbedarf. Dies zeigte auch die letz­ te Bevölkerungsbefragung. Mit der Velostrategie 2030 und dem Vorzugsroutennetz haben wir die Strategie ange­ passt. Wir suchen breiter nach gesamtheitlichen Lösun­ gen und addieren nicht einfach die Bedürfnisse des Velo­ verkehrs hinzu. Wir schaffen auch mit einfachen, schnell umsetzbaren Massnahmen Verbesserungen. Erschwert wird die Situation durch ein etwa im Vergleich zu Bern dichtes Netz an überkommunalen Strassen, wo wir die Zu­ stimmung des Kantons benötigen. In letzter Zeit konnten wir aber auch da viel erreichen, die Velostation Europa­ platz etwa oder die neue Langstrassenunterführung. Zu­ dem haben sich Projekte verzögert: Ein Mythenquai, ein Sihlquai und der Stadttunnel unter dem Bahnhof werden wichtige Lücken im Velonetz schliessen.

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Sie bekamen vom Stadtparlament ein Velokompetenzzentrum und sechs zusätzliche Stellen zugesprochen. Geht es jetzt schneller vorwärts ? Ein Stück weit sicher, da wir gleichzeitig mehr Projek­ te bearbeiten können. Doch um Parkplätze aufzuheben, benötigt man nicht mehr Personal, sondern das richtige Mindset und den Konsens in Politik und Verwaltung. He­ rausfordernd wird es, wenn stets das Maximum gefordert wird und es perfekt sein soll. Dann diskutiert man, anstatt auszuprobieren und vorwärtszumachen.

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Rupert Wimmer ist seit 2017 Leiter Verkehr und Stadtraum im Tiefbauamt der Stadt Zürich.

Velostrategie Zürich 2030 Auftraggeber: Stadtrat von Zürich Projektbeteiligte: Nicola Kugelmeier, Tiefbauamt ( Projektleitung ) ; Dienstabteilung Verkehr ; Schulamt ; Stadtpolizei ; Verkehrsbetriebe Zürich ; Amt für Städtebau ; Umwelt- und Gesundheitsschutz ; Sportamt Externe Projektunterstützung: Metron ­Verkehrsplanung, Brugg ; Synergo, Zürich In der Stadt Zürich sind die Ziele ähnlich wie in Bern, das Vorgehen unterscheidet sich jedoch. 2021 hat die Zürcher Velo­ strategie den früheren Masterplan ab­ gelöst. Sie umfasst das ‹ Strategiepapier › mit Handlungsbedarf und Zielen und den ‹ Mass­nahmenband ›, der alle zwei ­Jahre überprüft und angepasst werden soll. So soll ein durchgängiges, sicheres und sichtbares Routennetz entstehen, ­wobei die Veloschnellrouten im Sinn der Volksinitiative ‹ Sichere Velorouten für ­Zürich › zunächst im Zentrum stehen. Das ‹ Veloexpressteam › arbeitet dafür an schnell machbaren Markierungen und Signalisati­onen, parallel dazu plant man grössere Bauprojekte zugunsten des Velos. Auch Zürich will eine Velokultur schaffen, etwa mit Sicherheits- und Verhaltenskampagnen. Zudem achtet man auf eine ­­integrale Planung und will die Veloförderung in allen Planungs­ stufen ver­ankern – mit einer neuen Organisation. Dazu gehören eine Velokoor­ dinatorin, eine Koordinations­gruppe und mehr Kom­munikation mit der Bevölkerung. www.stadt-zuerich.ch / velo

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Abbiegen in der Schwarztorstrasse, Bern: links nur indirekt erlaubt, rechts aber auch bei Rot.

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Geraldine Chew, 36, ist Umweltnaturwissenschaftlerin, arbeitet bei Minergie als Projektleiterin und ist als Hobbyimkerin zwischen Basel und Münchenstein BL unterwegs – mit Sharingbikes von Carvelo2go.

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Lastesel mit zwei Rädern Lastentransporte auf zwei Rädern boo­ men. Die ­Verkaufszahlen von Cargobikes haben sich 2020 in Deutschland fast ­verdoppelt, was auch an den staatlichen Förderprogrammen liegt. Auch das An­ gebot an Fahrzeugen wächst. Neue Mar­ ken kommen hinzu, Zuladungen bis zu 300 Kilogramm sind möglich, Aufbauten werden erfindungsreicher: Nebst Lade­ plattform und -kästen gibt es inzwischen wasserdichte oder aufpralloptimierte ­Boxen, Fussraster und Kindertüren, stoss­ gedämpfte Sitze und auslaufsichere Fressnäpfe für den Hund. Kompakte Las­ tenvelos verbinden eine hohe Zuladung mit der Wendigkeit eines normalen Velos, zweispurige Modelle mit Neigetechnik sorgen dafür, dass die Ladung nicht kippt. Nicht elektrifizierte Modelle scheinen ­auszusterben: Ihr Marktanteil lag 2019 bei nur noch 25 Prozent. Lastenvelos gibt es schon seit Ende des 19. Jahrhunderts. Die Schweizerische Post setzte in der ­ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf das Transportmittel. Das Urmodell heisst Long John, wurde 1923 in Dänemark erfun­ den und wird bis heute produziert.

Forschung Das Projekt ‹ Mir sattlä um ! › der Mobilitäts­ akademie hat im Jahr 2016 getestet, ­welches Potenzial Lastenräder im Wirt­ schaftsverkehr haben. Ein halbes Jahr lang konnten kleine und mittlere Unter­ nehmen in der Stadt Bern gratis solche Velos nutzen. Das Resultat: Fast drei Vier­ tel der Fahrten, die zuvor mit dem Auto ­erfolgten, wurden auf das Lastenvelo ver­ lagert. Allerdings begrenzte sich der ­Radius hauptsächlich auf die Innenstadt und angrenzende Quartiere. Die Vor­teile: bessere Erreichbarkeit vieler Ziele, ­Zeit­gewinn, geringere Kosten, bessere ­Öko­bilanz, Imagegewinn dank Werbeflä­ chen sowie Gesundheitsförderung.

Transportvelo zum Teilen Carvelo2go ist ein Angebot der Mobili­ tätsakademie und des Touring Club Schweiz. Über die Sharingplattform kön­ nen in wenigen Schritten elektrische ­Cargobikes ( ‹ Carvelos › ) ausgeliehen wer­ den. Sie können stundenweise gemietet werden und stehen im Quartier bei soge­ nannten Hosts zum Abholen bereit. Mit einem Carvelo können Waren bis zu hun­ dert Kilogramm oder auch zwei Kinder transportiert werden. Das Angebot ent­ stand im Rahmen der Lastenradini­ tiative ‹ Carvelo › von TCS und Migros. Die Initiative verfolgte das Ziel, den Einsatz von Lastenvelos in der Schweiz im betrieb­ lichen und privaten Kontext zu fördern und wird von Energie Schweiz unterstützt. Mit Erfolg: Während das Programm vor zwei Jahren endete, wird Carvelo2go wei­ tergeführt. Mittlerweile stehen den fast 23 000 registrierten Nutzerinnen und Nut­ zern schweizweit rund 360 E-Lasten­ velos von Riese & Müller und Urban Arrow in über 90 Schweizer Städten und Ge­ meinden zur Vermietung zur Verfügung. Die Miete kostet 5 Franken Grundge­bühr plus 2,5 Franken pro Stunde, mit einem Abo halbiert sich der Preis. www.carvelo2go.ch

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« Mit Schwärmen muss ich vorsichtig fahren » Geraldine Chew ist Hobbyimkerin und transportiert alles, was sie braucht, per Velo. Manches passt auf ihr eigenes, für neue Bienenschwärme oder die Honigernte mietet sie ein Lastenvelo. Aufgezeichnet: Melanie Keim

« Mit Imkern habe ich vor sechs Jahren angefangen. Eine Arbeitskollegin überliess mir ihre Bienenvölker, als sie ins Ausland zog, und ich begann mit dem Imkergrundkurs. Zuerst waren die Bienen in einem Wohnquartier in der Stadt Basel. Doch da gab es Reklamationen, einige Anwohnerinnen und Anwohner fühlten sich unsicher. Also machte ich mich auf die Suche nach einem neuen Standort für die Bienen. Nun sind sie in Münchenstein, in der Nähe eines Friedhofs am Waldrand. Dort haben sie ihre Ruhe, und ich bin mit dem Velo in dreissig Minuten bei ihnen. In der Schweiz wird hauptsächlich auf zwei Arten geimkert: mit dem Schweizerkasten in Bienenhäusern, die viele kennen. Oder mit frei stehenden Magazinen. Sie bestehen aus stapelbaren Holzkisten, sogenannten Zargen, in die man von oben die Waben reinhängt. Ich imkere auf diese Weise, seit drei Jahren mit einem Freund zusammen. Momentan haben wir drei Völker in Münchenstein, das nötige Material zum Imkern lagern wir im Keller. Meinen Schutzanzug oder den Raucher, mit dem sich die Bienen bei einer Volkskontrolle beruhigen lassen, kann ich gut mit meinem eigenen Velo zu den Bienen fahren. Wenn ich etwas Grösseres transportieren muss, miete ich heute ein Lastenvelo über die Plattform Carvelo2go. Bevor ich diese Sharinglastenvelos entdeckte, war ich für grössere Materialtransporte immer auf Freunde mit einem Auto angewiesen, da ich selbst kein Auto habe. Das hatte etwas Schönes, weil immer wieder andere Personen mit mir nach Münchenstein kamen, die sich für das Thema in-

teressierten. Doch mit dem Cargovelo bin ich unabhängiger und belaste die Umwelt weniger. Wenn ich sehe, dass ein Volk mehr Platz braucht oder gestorben ist, kann ich für den nötigen Transport am nächsten Tag ein Lastenvelo reservieren und dieses dann beim Host abholen. Im Frühling gibt es immer viel zu transportieren. Die Völker, die den Winter gut überstanden haben, wachsen. Für sie muss ich zusätzliche Zargen und Waben nach Münchenstein bringen. Wenn ein Volk stirbt, muss ich das ganze Magazin abräumen, die Waben entsorgen und die Zargen bei mir zuhause abflammen, um mögliche Erreger zu töten. Denn in den meisten Fällen ist nicht klar, weshalb ein Volk den Winter nicht überstanden hat, manchmal ist es Futtermangel, manchmal eine Krankheit. Solche Fahrten sind eine traurige Sache. Doch fast jeden Frühling kann ich mit dem Lastenvelo auch einen neuen Schwarm abholen, den jemand in der Region findet. Dann habe ich etwa zweieinhalb Kilo Bienen geladen. Mit einer Schwarmkiste auf der Ladefläche muss ich vorsichtig fahren. Es darf nicht zu stark rütteln, sonst werden die Bienen unruhig, und dann wird es schwierig, den ganzen Schwarm einzulogieren. So nennt man es, wenn die Bienen eines Schwarms in ein neues Magazin einquartiert werden. Imkern mit dem Velo ist sicher nicht üblich. Ich erlebe erstaunte Reaktionen, wenn ich erzähle, wie ich Material und auch Schwärme transportiere. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es noch andere Jungimker und -imkerinnen gibt, die das wie ich und mein Kollege machen. »

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Kultvelos von Brompton Brompton Bicycle Limited ist ein von An­ drew Ritchie um das Jahr 1980 gegründe­ tes ­Unternehmen im Westen Londons. Noch immer werden die Kultfalträder in einer Manufaktur in London produziert, ­inzwischen schon über eine halbe Million Mal und seit Neuestem auch elektrifiziert. Sie sind für ihre relativ kompakte Bauwei­ se, ihre Robustheit und für den dreistu­ figen Klappvorgang bekannt. Mit einer Pro­ duktion von rund 50 000 Velos pro Jahr ist Brompton der grösste Fahrradhersteller Grossbritanniens.

Mit dem Klappvelo auf Reisen Ein Faltrad lässt sich schnell und einfach auf ein geringes Packmass zusammen­ falten. Es kann in anderen Verkehrsmitteln als Gepäckstück mitgenommen werden und überbrückt so Mobilitäts­lücken auf dem Weg von und zu öffentlichen Ver­ kehrsmitteln. Waren die ‹ Klappräder › der 1960er- und 1970er-Jahre oft schlecht zu fahren und unhandlich, legen Premium­ hersteller heute Wert darauf, dass jeder Faltvorgang das Rad in einen sinnvoll nutz­ baren Zwischenzustand bringt, etwa zum Abstellen oder zum Ziehen wie einen Roll­ koffer. Inzwischen gibt es verschiedene hoch­wertige Modelle. Neben den Londo­ ner ‹ Brompton Bikes › sind das zum ­Beispiel aus Deutschland die gefederten Faltvelos und -tandems von Bernds oder das Modell ‹ Birdy › von Riese & Müller. Das Wiener Klapprad ‹ Vello › mit Elektroan­ trieb wurde mit dem Deutschen Nachhal­ tigkeitspreis ausgezeichnet.

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« Romantische Gründe führten zum Faltrad » Das Faltrad verleiht Nicola Stäubli ein Gefühl der Überlegenheit. Weil er damit schneller von einer Stadt in eine andere kommt als jemand mit einem teuren Auto. Aufgezeichnet: Melanie Keim

« Seit ich mit acht Jahren mein erstes BMX erhielt, ist das Velo ein extrem wichtiges Element in meinem Leben. Dass sich mein Aktionsradius dank meiner Muskelkraft vergrösserte, gab mir ein Gefühl von Freiheit. Ich verbrachte jede freie Minute auf meinem Velo, fuhr treppauf, treppab durch das Quartier. Auf das BMX-Virus folgte das Mountainbikevirus. Im Gymnasium begann ich, Rennen zu fahren, und schaffte es sogar in die Juniorennationalmannschaft. Als die ersten meiner Kollegen wegen des Sports ihre Lehre abbrachen, hörte ich aber wieder auf. Eigentlich ging es mir gar nie um die Rennen, ich wollte einfach auf dem Velo sein. Als Jugendlicher war mein Traumberuf Velokurier, doch dafür musste ich erst Weltmeister werden. Das ist eine lustige Anekdote. In Bern war es Ende der Neunziger­ jahre fast unmöglich, einen Job als Velokurier zu kriegen. Als einzige Möglichkeit sah ich die Velokurierweltmeisterschaften von 1999 in Zürich. Also fragte ich bei Velokurier Bern an, ob ich für sie in der Disziplin Hochsprung starten dürfe. Wie es so ist bei den Velokurieren: An der WM gab es ein Riesenghetto. Ich war nicht angemeldet, dafür fehlte ein anderer. Spontan sprang ich für ihn ein und wurde unter falschem Namen tatsächlich Weltmeister im Hochsprung. Sogar das Schweizer Fernsehen berichtete über den ‹ Weltmeister Michel Tobler ›. Und ich wurde anschliessend Velokurier.

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Während 13 Jahren arbeitete ich intensiv als Kurier, zuerst in den Semesterferien während des Architekturstudiums in Zürich, später neben meiner Arbeit als selbstständiger Möbeldesigner und Szenograf. Als Velokurier kannte ich die Kombination Velo-SBB-Velo. Doch zum Faltradfahrer wurde ich aus romantischen Gründen. Meine heutige Frau wohnte in Zürich und schenkte mir auf den 33. Geburtstag ein Brompton, damit ich schneller bei ihr war. Heute ist das Brompton mein Alltagsvelo. Meistens nutze ich es wie ein gewöhnliches Velo, doch ich war damit auch schon auf Geschäftsreise in Italien und Österreich, einmal nahm ich es sogar in einem Koffer mit nach London. Je nach Stadt gibt es ganz andere Gründe für ein Brompton: In Barcelona etwa lässt aus Sicherheitsgründen niemand sein Velo draussen stehen. Da ist es praktisch, wenn man es zusammenklappen kann. Wenn du auf einem Brompton unterwegs bist, hörst du immer dasselbe: ‹ Mami, wieso ist dieser grosse Mann auf diesem kleinen Velo unterwegs ? › Und alle fragen dich, ob man mit den kleinen Rädern nicht viel langsamer ist. Doch ein Faltrad ist schlicht das effizienteste Fortbewegungsmittel, das es gibt. Nicht dass ich einen besonders stressigen Alltag hätte. Doch es ist eine schöne Form von Überlegenheit, dass ich von meinem Zuhause in Zürich viel schneller an einem Ort in Bern bin als irgendjemand mit einem luxuriösen Auto auf der A1. »

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Nicola Stäubli, 43, arbeitet in der Produktentwicklung bei Freitag und entwickelte zusammen mit dem Londoner Faltradhersteller Brompton eine Velotasche. Bei Freitag gibt es übrigens eine schöne Spesen­ regel: Wer ein Faltrad in den Zug mitnimmt, darf erster Klasse fahren.

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Von den gelobten Velofahrenden darf es in Bulle ­künftig mehr geben.

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Lernfähige Agglomeration Die Kleinstadt Bulle erhielt einen Anerkennungspreis für ihre Veloplanung. Was ist davon übrig ­geblieben ? Ein Ortstermin im Kanton Freiburg bringt Ernüchterung und Einsichten. Text: Pete Mijnssen

Am Bahnhof stehen die schnellen Leih-E-Bikes parat. Themenheft von Hochparterre, April 2022 — Stadt Land Velo — Lernfähige Agglomeration

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Es ist ein winterlicher Empfang an diesem Dezembertag. Die Fahrt im Regionalexpress durch das verschneite Freiburger- und Greyerzerland war wie im Bilderbuch. Angekommen in Bulle, zeigt sich eine Ortschaft, wie es zahlreiche gibt im Schweizer Mittelland: changierend zwischen beschaulicher Sechzigerjahre-Architektur und emsiger Bautätigkeit. Warum ein Velo-Ortstermin in Bulle, das man ausser von Ausflügen ins Greyerzerland nicht als Velo-­ eldorado auf der Landkarte hat ? Es gäbe doch andere vorbildliche Kleinstädte wie etwa Burgdorf, das diesbezüglich weiter oben auf der Skala steht. Grund dafür war der Ansporn der zweitgrössten Freiburger Stadt, ein velofreundliches Klima zu schaffen. Dafür wurde sie 2016 mit dem Anerkennungspreis des Prix Velo Infrastruktur ausgezeichnet. Die Jury schrieb: « Die Stadt Bulle will dem hohen Verkehrsaufkommen im Zentrum mit einem mehrjährigen Veloaktionsplan Einhalt gebieten. Er umfasst Infrastrukturmassnahmen wie zum Beispiel neue Radwege und -streifen, die Öffnung von Einbahnstrassen oder neue Abstellplätze. Er setzt auf Informations- und Begleitmassnahmen, die die Bevölkerung dazu animieren sollen, ihr Mobilitätsverhalten zu überdenken und sich vermehrt auf das Velo zu setzen. » Wie weit ist Bulle damit ? Auf den ersten Blick ist die Stadt kaum vom Fleck gekommen, was wohl auch auf das winterliche Wetter zurückzuführen ist. Am Schluss des dreistündigen Besuchs werde ich drei Velofahrende gesehen haben. Als Erstes fällt der Blick in die ‹ Zone Velo › neben dem Bahnhof – wenig mehr als eine eingezäunte Einöde. Die Leihvelos von Pick-e-Bike sind nicht zufällig verschneit, denn die App lässt sich nicht laden. Die modernen Stromerbikes stehen unbenutzt da. Erklärbar ist der unwirtliche Empfang aber auch damit, dass der Bahnhof gerade umgebaut wird. In einem Jahr soll Bulle mit Broc-Village eine Velostation erhalten – die erste im Kanton Freiburg. Es kann also nur besser werden. Aus der Veloreportage wird eine Stadtwanderung auf Velosuche. Sie führt vom Bahnhof weg auf einen Velo- / Fussweg parallel zur viel befahrenen Rue de Vevey. Praktisch und durchgehend, aber bis auf die blaue Tafel ist er nicht schlüssig signalisiert. Vielleicht wissen im Ort alle Bescheid, warum aber benutzen sie ihn nicht ? Immer noch fährt weit und breit kein Velo, dafür viele Autos auf der Hauptstrasse, entlang deren zwei schmale Velostreifen führen. Vielleicht ist ja der Kreisel auf der Hauptstrasse besonders velofreundlich ? Fehlanzeige – das aufgemalte Rot in der Mitte ist bloss Kosmetik, die rot eingefärbten Ränder sind ausgebleicht.

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Zart gesponnene Velonetzanfänge Das 24 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Bulle ist das Voralpentor zwischen Lausanne und der Region Freiburg-Bern, im Sommer Ausgangspunkt für vielfältige Freizeitaktivitäten in der Gruyère-Region – auch für Velotouristinnen. Eine grosse Schweizmobil-Tafel steht prominent vor dem Bahnhof. Im Sommer herrscht hier viel Veloverkehr. Dennoch wollten die Behörden mehr daraus machen. Denn eine Situationsanalyse förderte einen unterdurchschnittlichen Veloanteil am Gesamtverkehr und eine überdurchschnittlich hohe Anzahl veloloser Haushalte zutage. Ein Veloentwicklungsland also. Der mehrjährige Veloaktionsplan sollte dies ändern. Dazu setzte der Gemeinderat eine Velokommission ein, der nebst Politikern auch Fachleute und Interessenvertreterinnen angehören. Der Massnahmenplan umfasste neben den erwähnten Infrastrukturverbesserungen den Bau einer Velostation am Bahnhof. Der breit gestreute ‹ Veloguide ›, ein Übersichtsplan mit empfohlenen Veloverbin-

dungen, sollte die Bevölkerung dazu animieren, auf das Fahrrad umzusteigen. Auch ein Velohauslieferdienst wurde geprüft. Auf Nachfrage erklärt Stadtarchitekt Cédric ­Jungo, dass man zwar « jährlich neue Massnahmen » ergreife, dass aber erst die Eröffnung der Velostation später in diesem Jahr « ein sichtbarer Meilenstein für die Veloförderung » werde. Das Monitoringsystem zeige eine Zunahme der Radverkehrsströme und der abgestellten Fahrräder, aber die Massnahmen in der Innenstadt für weniger motorisierten Individualverkehr ( MIV ) seien bei Weitem noch nicht erfüllt. Noch immer ist dieser sehr hoch. Das bestätigt Exekutiv-Gemeinderätin Marie-France Roth Pasquier. Die Anstrengungen Richtung Velofreundlichkeit trügen mit einem moderaten Anstieg zwar Früchte: Von 8 Prozent im Jahr 2018 ist die Zahl der Radfahrenden 2021 auf 18,7 Prozent geklettert. Aber es brauche auch einen Mentalitätswandel: « Jedes Mal, wenn wir den Autoverkehr begrenzen wollen, werden wir angegriffen. » Dabei will die Stadtverwaltung bloss die Tempo-30-Zone erweitern, damit das Fahrradfahren sicherer wird. Velolobby kritisiert Hier setzt die Kritik von Grégoire Kubski an, Grossrat und Vertreter von Pro Velo: « Die Erreichbarkeit der Innenstadt mit dem Auto ist noch immer zu einfach. » Es führen wenige Rad, weil es an Fahrradinfrastruktur und am Bewusstsein der Autofahrenden fehle. Sein Kollege Nicolas Geinoz hofft auf den « Greenway ‹ voie verte ›, der den Bahnhof ab nächsten Sommer mit einem Industriegebiet und einem Wohngebiet verbinden wird ». Auch habe der Stadtrat eine Radverbindung nach Gruyère und zum Freizeitziel Broc bewilligt. Wenig überraschend konstatieren die beiden Velolobbyisten, dass « Radfahren in Bulle noch immer gefährlich ist ». Der neue Bahnhof mit der allerersten Velostation des Kantons Freiburg könne nun zum Symbol der Veloförderung werden. Zum Beweis, dass die Bestrebungen der Stadt Bulle nicht nur warme Luft sind, hat der Gemeindeverbund Mobul – bestehend aus Bulle, Le Pâquier, Morlon, Riaz und Vuadens – beim Agglomerationsprogramm des Bundes ein Gesuch eingereicht. Denn eine Verkehrsverlagerung deckt sich mit den Vorgaben des Bundes zur Senkung des motorisierten Verkehrs. Gemeinderätin Roth Pasquier setzt die eigenen Vorgaben so: « Das Ziel ist ein Modalsplit von 25 Prozent öffentlichem Verkehr, 13 Prozent Langsamverkehr und 62 Prozent motorisiertem Individualverkehr. » Damit läge der motorisierte Verkehr noch immer weit über dem Durchschnitt in Deutschschweizer Städten, wo er klar unter 50 Prozent liegt – wobei dieser Vergleich zwischen Städten und einer ländlichen Agglomeration wie Bulle natürlich mit Vorsicht zu geniessen ist.

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Der Kanton unterstützt Als Koordinator der Agglomerationen des Kantons begrüsst Michael Blanchard das Mobul-Gesuch siehe ‹ Mehr Velos, mehr öffentlicher Verkehr ›, Seite 24. Der Kanton beteiligt sich nicht nur an der Velostation am Bahnhof, sondern mit rund 6,5 Millionen Franken auch am Kernstück der Langsamverkehrsachse von Bulle, der ‹ voie verte ›. Überdies zahlt der Kanton jährlich rund 2 Millionen Franken an Langsamverkehrs- und öV-Massnahmen in den Agglomerationen Bulle und Freiburg. Nebst diesen Investitionshilfen unterstützt er die beiden wichtigsten Langsamverkehrsachsen des Kantons mit über 15 Millionen Franken, den Betrag an die ‹ voie verte › eingerechnet. Das kürzlich verabschiedete Mobilitätsgesetz schafft die Rechtsgrundlage, um Massnahmen des Agglomerationsprogramms mit bis zu 50 Prozent zu unterstützen. →

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Fast die ganze Schweiz lebt in Velodistanz zu einem Bahnhof

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Bellinzona

Bulle 5 km

5 km

3

3

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1 0,5

1 0,5

Liestal

Wil SG

Distanz zum Bahnhof Bahnhöfe mit öV-Güteklasse A bis D

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So nah ist die Veloschweiz Die Zahl beeindruckt: Fast alle Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz – genau 96,8 Prozent – leben nicht weiter als fünf Kilometer und damit in Velodistanz von einem Bahnhof entfernt. Die Zahl berechnet sich aus der Distanz ­zwischen Bahnhöfen der sogenannten öVGüteklassen A bis D und der jeweiligen Wohnadresse. Die Karten zu Bellin­zona, Bulle, Liestal und Wil – vier zufällig ausge-

wählten Orten – zeigen, dass die Velo­ distanz bis zu fünf Kilometern fast das ganze Siedlungsgebiet bedecken. In der Kombination von Velo und Zug, von ‹ Bike & Ride ›, steckt also Potenzial. Es lohnt sich, das Velo und in hügeligen und bergigen Lagen das E-Bike als Glied einer nachhaltigen Mobilitätskette zu fördern. Quelle Daten: Bundesamt für Statistik BfS, Bundesamt für Raumentwicklung ARE Aufbereitung: Kontextplan, Bern

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Kantonales Velonetz Freiburg, 2018 1 Bulle Hauptroute Riaz bis La Tour-de-Trème ( ‹ voie verte › ) 2 Freiburg Hauptroute Marly bis Belfaux / Courminboeuf ( Bestandteil Agglomerationsprogramm 4. Generation ) Hauptroute Avry – Düdingen Route Hierarchiestufe 1 Route Hierarchiestufe 2 Route Hierarchiestufe 3 Freizeitrouten ‹ SchweizMobil › Quelle: Kanton Freiburg, Raum­planungs-, Umwelt- und Baudirektion und Amt für Mobilität

Mehr Velos, mehr öffentlicher Verkehr Mit dem Programm Agglomerations­ verkehr ( PAV ) beteiligt sich der Bund finanziell an Verkehrsprojekten von Städten und Agglomerationen, wenn sie die Verkehrs- und Siedlungsentwicklung auf­ einander abstimmen. 2021 hat Mobul, der Gemeindeverbund von Bulle, Le Pâquier, Morlon, Riaz und Vuadens, dafür ein Gesuch eingereicht. Es sieht Kosten von 45,7 Millionen Franken vor und will den Modalsplit des Langsam- und des öf­ fentlichen Verkehrs deutlich erhöhen, von 21 Prozent auf 38 Prozent. Genehmigt der Bund das Gesuch, beteiligt er sich zu 30 bis 50 Prozent an den Kosten. Vor­ gaben dazu, wie die Ziele zu erreichen sind, macht der Bund nicht. Hingegen gibt es sporadische Wirkungskontrollen.

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→ Der Kanton Freiburg ist auch ausserhalb der Agglomerationen aktiv. So installierte Staatsrat Jean-François Steiert etwa den Sachplan Velo. « Dank diesem werden die Velos seit einiger Zeit bei allen Kantonsstrassenprojekten konsequent mitgedacht », sagt Michael Blanchard. Fachleute aus dem Tiefbau- und Mobilitätsamt kümmern sich in einem sogenannten ‹ Teamvélo › um die Bedürfnisse des Veloverkehrs. Das neue Mobilitätsgesetz sieht unter anderem ein vollständiges, separates kantonales Velonetz vor, das ins kantonale Strasseninventar übernommen wird. Dabei wird sich der Kanton an den Planungsgrundsätzen des Veloweggesetzes auf Bundesebene orientieren: So sind die Wege als zusammenhängendes Netz geplant, das mit benachbarten Gemeinden und den angrenzenden Kantonen verbunden ist. Das Gesetz soll Mitte 2023 in Kraft gesetzt werden. Bulle und Freiburg als Vorreiter für die Romandie « Bulle mit seinen jahrelangen Bemühungen und die Diskussionen in der Agglomeration Freiburg haben einen Sensibilisierungsprozess ausgelöst », anerkennt Michael Blanchard. Im Kanton Freiburg beginne das Umdenken weg vom Auto, hin zu anderen Verkehrsmitteln erst. Mobul sei « vielleicht schon leicht agiler unterwegs, weil die Grösse mit nur fünf Gemeinden überschaubar ist ». Auch vereinfacht die flache Topografie den Langsamverkehr. Damit bestätigt die Politik das kräftige Ja zur nationalen Veloinitiative von 2018 – Bulle hat sie mit 76 Prozent, die Stadt Freiburg mit über 80 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Und dann lässt Blanchard das Wort « Gamechanger E-Bike » fallen. Mit dem populären Verkehrsmittel findet nun auch ein Autokanton zu Alternativen. Diese Erkenntnis setzt sich in weiteren Teilen der Romandie langsam durch. Heidi Meyer vom Bundesamt für Strassen ( Astra ) bestätigt, dass neben Freiburg die Städte Genf, Lausanne sowie Neuenburg, La Chaux-de-Fonds und Le Locle im Rahmen von RUN ( Réseau urbain neuchâtelois ) Agglomerationsprogramme eingereicht haben. Yverdon liess eine Studie zur Velonutzung für den Schulweg sowie Modellvorhaben für nachhaltige Raumentwicklung ( ARE ) erarbeiten. Vieles existiere jedoch « erst auf Konzeptstufe », sagt Meyer: « Die Umsetzung der Massnahmen aus früheren Agglomerationsprogrammen verläuft sehr langsam. »

An kalten Tagen war es mit Maske mal ganz angenehm.

Die Wüste lebt Dieses Hintergrundwissen erleichtert das Verständnis der Situation in Bulle. Als ich eine sportliche Frau auf einem Lastenvelo zu ihrer Meinung befragen will, winkt sie ab – sie sei in Eile. Dabei meinte ich, Stress sei ein Zürcher Privileg. Schliesslich finde ich doch noch einen Auskunftsfreudigen. Er fährt ein gutes Alltagsrad – kein EBike – mit Gepäcktaschen und ist in eine gelbe Signalweste eingepackt, die Luftschlitze seines Helms hat er mit Abdeckband zugeklebt. Nein, er habe kein Problem mit der Infrastruktur, er fahre täglich zehn Kilometer zur Arbeit und habe kein Auto. 10 000 Kilometer legt er mit seinem Zweirad jährlich zurück – basta. Auf dem Weg zum Bahnhof zurück stosse ich nochmals auf eine Velofahrerin, die erwähnte dritte an diesem Tag. Ansonsten sind sie wie vom Erdboden verschluckt – ähnlich wie viele der Velomassnahmen im winterlichen Bulle. Wie sagte doch ProVelo-Vertreter Kubski: « Man kann mit dem embryonalen Zustand der Radinfrastruktur in Bulle und Gruyère nicht zufrieden sein. » Es gebe viel zu tun.

Quer durch Bulle: das Velo als Alltagsgefährt und -gefährte. Themenheft von Hochparterre, April 2022 — Stadt Land Velo — Lernfähige Agglomeration

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Niklaus Reichle, 35, ist Soziologe an der Universität St. Gallen. Er pendelte ein halbes Jahr mit seinem E-Bike von Rorschach nach St. Gallen und forschte darüber, wie Planer Velostädte planen.

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Zugriff auf den er-fahrenen Alltag Wie lässt sich das Erfahrungswissen von Velofahrenden, ihre Erfahrung mit der ­Verkehrsinfrastruktur, für städtische Planungen nutzbar machen ? Gemeinsam mit der Geografin und Soziologin Anja Speyer erforschte Niklaus Reichle im ­September 2021 mit Studierenden der Ostschweizer Fachhochschule die ­Ve­loinfrastruktur in der Stadt St. Gallen. Mittels qualitativer Interviews mit Rad­ kurierinnen und Busfahrern, Workshops mit Schulklassen und ethnografischer Beobachtungseinheiten näherte sich das Team den Alltagsperspektiven auf dem Velo. Die lokalen Nutzergruppen sind bestens vertraut mit den Bedingungen in ihrer Stadt. Sie können die Handlungsprobleme im Verkehr rekonstruieren, bestehende Qualitäten benennen und ihre Erfahrungen darlegen. Die Erforschung ihrer Perspektiven liefert daher wertvolle Datenschätze für künftige Planungs­ prozesse und möchte vor der eigentlichen Bedarfsanalyse einen beschreibenden ­Zugriff auf den er-fahrenen Alltag in Städten ermöglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich solche Daten für die Identifikation und Gewichtung von Schwachstellen im Verkehrsnetz eignen und dass sie dabei helfen, blinde Flecken in etablierten Planungsprozessen sichtbar zu machen.

Enormer Anstieg 2020 sind die Verkäufe von Elektrovelos in der Schweiz geradezu explodiert. Der ­Branchenverband Velosuisse meldete mit 171 132 Stück einen neuen Höchstwert. 2021 wurden sogar zum ersten Mal über 200 000 Elektrovelos in den Schweizer Markt geliefert. Die konventionellen Velos waren mit 63 Prozent Marktanteil aber noch immer in der Mehrzahl. Die Verkäufe steigen bei den E-Bikes jedoch über­ proportional an. Das wirkt sich auf die Unfallstatistiken aus. Laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung verletzten sich im Jahr 2019 bei Unfällen auf einem Elektrovelo 355 Personen schwer – ein neuer Höchststand. Der Bundesrat wollte deshalb 2020 eine Helmpflicht durchsetzen, entschied sich aber nach der Vernehm­ lassung dagegen. Wer ein E-Bike mit einer Höchstgeschwindigkeit von 45 Kilo­ metern pro Stunde fährt, ist allerdings jetzt schon zum Helmtragen verpflichtet.

« Das E-Bike plättet das Terrain » Dank seinem Elektrovelo erhielt Niklaus Reichle zweimal dreissig Minuten am Tag, in denen er endlich einmal nichts tat. Ausser Velo fahren. Und denken. Aufgezeichnet: Melanie Keim

« Ehrlich gesagt gehörte ich zu den Menschen, die E-Bikes doof finden. Ich hatte die Vorstellung, dass das nur etwas für Menschen ist, die nicht gerne Velo fahren, und dass einem der Motor alle Arbeit abnimmt. Dann kaufte sich meine Frau ein E-Bike, das ich immer öfter auch nahm, um mit meinem Sohn an den Fluss zu fahren oder sonst irgendwohin in die Natur. Irgendwann benutzte ich meinen alten Renner kaum mehr. Ich war E-Bike-Fahrer geworden. Und das wird man nicht mehr so schnell los. Als wir im Mai des letzten Jahres nach Rorschach zogen, kaufte ich mir dann selbst ein E-Bike, um zur Arbeit nach St. Gallen zu fahren. Dank der Unterstützung bis 25 km / h benötige ich für die Strecke bergauf dreissig Minuten: dreissig Minuten, in denen die schlechte Laune verschwindet, in denen Gedanken kommen, die ich vor dem Computer nicht habe. Denn dass ich bei der Arbeit zehn Minuten einfach nur nachdenke, gibt es kaum. Alles Mögliche lenkt mich davon ab. Meistens denkt man schon an die nächste Aufgabe oder füllt die Zeit mit irgendetwas. Im Zug krame ich sogar für eine Viertelstunde schnell etwas zum Lesen oder Arbeiten hervor, obwohl das meistens nicht viel bringt. Auf dem E-Bike dagegen kann ich nichts googeln und auch nichts aufschreiben. Dafür passiert etwas im Kopf. Wenn ich bei der Uni ankomme, brauche ich immer Zeit, um das festzuhalten.

Bei meiner Arbeit als Soziologe habe ich mich mit Velos auseinandergesetzt. In einem Forschungsmodul beschäftigten wir uns mit der Veloinfrastruktur der Stadt St. Gallen und der Frage, wie Planer Velostädte konzipieren. Die Inputs der Planer machten mir bewusst, dass viele auf dem Velo die Signaletik nur bedingt wahrnehmen, sie nicht verstehen oder schlicht ignorieren. Im Grunde ist das wenig erstaunlich. Ist die Veloinfrastruktur so lückenhaft wie in St. Gallen, gewöhnt man sich daran, seine eigenen Wege zu suchen. Man übersieht gekennzeichnete Velorouten, fährt ab und zu auf dem Trottoir oder über ein Rotlicht. Was ich auch gemerkt habe: Seit ich ein Elektrovelo besitze, habe ich keinen Bock mehr auf den öffentlichen Verkehr und auf einen Fahrplan, der mir etwas diktiert. Von Rorschach bin ich oft um 22 Uhr noch zu meinen Freunden in die Stadt gefahren und um zwei Uhr morgens wieder zurück, unabhängig vom Wetter. Und entgegen meiner Annahme habe ich mich mit dem E-Bike viel mehr bewegt als mit meinem Schönwettervelo. Nun ist meine Zeit als E-Bike-Pendler schon wieder vorbei, weil ich mit meiner Familie zurück in die Stadt gezogen bin. Dennoch benutze ich das Elektrovelo weiterhin. St. Gallen ist ja noch keine richtige Velo­stadt, nicht zuletzt wegen der Hügel. Mit dem E-Bike spielt das keine grosse Rolle. Es plättet das Terrain. »

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Publibike Im Sommer 2017 vereinbarte die Stadt Bern mit der 2011 gegründeten Firma Publibike die Umsetzung eines Velover­ leihsystems. Kurz darauf gab es auch in Zürich grünes Licht. 2018 startete Publi­ bike an beiden Orten und ist heute mit gut 5300 Velos und E-Bikes an mehr als 620 Stationen in acht Schweizer Städten vertreten: Bern ( Velo Bern ), Freiburg, ­Lausanne-Morges, Sottoceneri, Région de Nyon, Siders, Sitten, Zürich ( Züri Velo ). Rund um die Uhr kann man die Velos mit einem Abo nutzen. Publibike startete als Tochtergesellschaft von Postauto. 2021 wurde sie Teil des neuen Konzernbereichs Mobilitäts-Services der Post. Seit 2019 arbeitet Publibike mit Partner­ firmen und -institutionen zusammen, mittlerweile sind es rund 120. Im Januar 2022 hat die Post Publibike an ein privates Konsortium verkauft. www.publibike.ch

Teile und fahre Die Velosharingangebote nehmen stetig zu und mit ihnen die Zahl der Nutzerinnen. Das gilt vor allem für dicht besiedelte Gebiete. Publibike zählte im Jahr 2021 2,5 Millionen Fahrten, auch die Lastenvelo-­ plattform Carvelo2go ist ­beliebt siehe ­Seite 17. Zum Teil werden die Angebote mit Steuergeldern gefördert, so zum ­Beispiel Pick-e-Bike in Basel. Neben etablierten Unternehmen wie ­Publibike oder Lime startete ver­gangenen Sommer die Zürcher Firma Ruuf mit cargo­trailer.ch, einem Sharingprogramm für Veloanhänger. Weitere Anbieter sind Velospot ­( Angebote vor allem in der Romandie, im Tessin und in Basel ), Next­bike ( vor ­allem in der Zentralschweiz ) und Donkey Republic ( in Thun und in Städten der ­Westschweiz ). Besonders beim innerstädtischen Waren­verkehr steht der ­sogenannten ‹ Radlogis­t ik › eine rosige Zukunft bevor. So bietet etwa die Stiftung Myclimate finanzielle Anreize für gewerbliche Nutzungen von ­Lastenvelos, um

ihre Verbreitung zu fördern. Seit Ostern hat die Schweiz einen neuen Anbieter im Sharingmarkt: die im Herbst 2021 gegründete Famility Com­pany. Sie bietet Langzeitvermietungen von hochwertigen Kindervelos in Form von Abos an. Das ­Forum bikesharing.ch dient als Plattform für den Informations- und Erfahrungs­ austausch rund ums Thema, und das Portal sharedmobility.ch lokalisiert auf einer dyna­mischen Karte alle verfügbaren Sharingfahr­zeuge ( nicht nur Velos ).

« Ich bin eine der wenigen mit Helm » Aus ihrer Heimatstadt in Brasilien ist sich Erika de Godoy Gonçalves Fauchère Velofahren im unsicheren Verkehr gewöhnt. Lausanne ist weniger gefährlich. Trotzdem fährt sie auf den Publibikes vorsichtig. Aufgezeichnet: Melanie Keim

« Nun sind es bald sechs Jahre, dass ich zwischen meinem Beruf als Englischlehrerin und meinem Englischstudium an der Universität Lausanne hin und her switche. Gute Mobilitätslösungen sind für mich wichtig. Nur so kann ich beides kombinieren. Die Publibikes habe ich irgendwann während meines Bachelors auf dem Campus der Uni Lausanne entdeckt. Ich nutzte schon Mobility, hatte aber noch nie von diesen Sharingbikes gehört. Neugierig wie ich bin, informierte ich mich und experimentierte erst mit einer kurzen Strecke, ohne Zeitdruck. Denn bevor ich von meiner Arbeit im Stadtzentrum an die Uni oder von dort in die nächste Stunde auf einem anderen Campus fuhr, wollte ich wissen, ob das wirklich funktioniert. Das System ist nicht ganz einfach. Erst muss man einmal kapieren, wie man die Publibikes aufschliesst, dann braucht man am Ziel eine Station, um das Bike abzustellen. Und für meine Bedürfnisse muss bei der Ausgangsstation auch immer ein E-Bike bereitstehen. Denn Lausanne ist ja ziemlich hügelig. Verschwitzt möchte ich bei der Arbeit aber nicht ankommen. Ich plane meine Fahrten also immer und habe an diesen Tagen meinen Helm in der Tasche. Wahrscheinlich bin ich eine der wenigen, die mit Helm Publibike fährt. Und ich fahre immer sehr vorsichtig. Denn im Zentrum von Lausanne gibt es einige Stellen, die ziemlich gefährlich sind. Vielleicht muss ich noch erwähnen, dass ich unter ganz anderen Umständen Velofahren gelernt habe. Ich komme

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aus Mogi das Cruzes, einer Stadt mit knapp 500 000 Einwohnern in der Nähe von São Paulo. Die Stadt ist wie Lausanne sehr hügelig. Es wird wenig Fahrrad gefahren, auch weil es sehr heiss ist, aber vor allem, weil es ziemlich gefährlich ist. Meine Mutter etwa hat nie gelernt, Fahrrad zu fahren. Ich aber war als Kind ständig mit meinen Freunden auf meinem Velo unterwegs. Inzwischen hat sich die Situation in Mogi das Cruzes etwas verbessert, es gibt neue Radwege, und es fahren immer mehr Menschen Fahrrad. Das ist ein richtiger Trend geworden. Im Gegensatz zu hier brauchen die Menschen das Velo jedoch nicht als Fortbewegungsmittel, sondern um Sport zu treiben. Bei mir ist das ähnlich. Mit dem Publibike bin ich nicht viel schneller als mit der Metro, doch so mache ich unterwegs wenigstens etwas Sport. Denn mit Job und Studium bleibt mir dafür kaum Zeit. Zudem bin ich froh, wenn ich mich in den Stosszeiten nicht in vollgestopfte Wagen zwängen muss, jetzt mit Covid natürlich noch mehr. Ich habe mir auch schon überlegt, ob ich mir ein faltbares Elektrovelo kaufen soll. Das könnte ich auch nach Ardon mitnehmen, ein Dorf in der Nähe von Sion, wo ich seit einiger Zeit unterrichte. Doch ein solches Bike ist eine beträchtliche Investition. Für mich lohnt es sich einfach nicht, weil ich oft nur einmal pro Woche Fahrrad fahre. Und abgesehen davon finde ich es ausgesprochen praktisch, dass ich mich bei den Sharingbikes nicht um den Unterhalt kümmern muss. »

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Erika de Godoy Gonçalves Fauchère, 38, fährt in Lausanne mit dem Sharingbike zwischen ihrem Studium und der Arbeit als Englischlehrerin hin und her.

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Das Velo erobert die Agglomeration: Im Zürcher ­Glattal wird ausgebaut.

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Die geplante Veloschnellroute durch Wallisellen zählt zu den ersten im Kanton Zürich. Visualisierung: Nightnurse Images, SBB

Mehrwert für alle Der Kanton Zürich plant im Norden neue Velorouten mit ­Vorzeigecharakter. Beim Vorantreiben der Projekte werden Synergien mit den SBB genutzt. Text: Fabian Baumann

Es ist ein veritables Grossprojekt, das die SBB mit ‹ Mehrspur › verfolgen: Bis zum Jahr 2035 soll es ein bestehendes Nadelöhr auf der Bahnstrecke zwischen Zürich und Winterthur beseitigen. Im Kern wird eine neue Doppelspurlinie durch den Brüttenertunnel von Bassersdorf und Dietlikon nach Winterthur führen und die Kapazität des öffentlichen Verkehrs deutlich steigern. Dieses Vorhaben bringt auch grosse Veloprojekte des Kantons Zürich voran. In Dietlikon soll eine im Velonetzplan festgehaltene Velohauptverbindung vom Quartier Im Lampitzäckern den Bahnhof und die Gleise entlang bis nach Baltenswil führen – mit einer Fahrbahnbreite von mindestens dreieinhalb Metern, um Überholmanöver sicher zu machen. Ausserdem hilft das SBB-Projekt einer im regionalen Richtplan festgesetzten Veloschnellroute durch die Gemeinde Wallisellen zur Umsetzung. Projekt mit Ausstrahlung Als eine der ersten kantonalen Veloschnellrouten hat diese Strecke Pilotcharakter. Sie trage dazu bei, dass sich das Fahrrad gegenüber den anderen Verkehrsmitteln im Alltag etablieren könne, heisst es bei der kantonalen Volkswirtschaftsdirektion. In der Netzhierarchie des Kantons stellen die Veloschnellrouten die höchste Verbindungskategorie dar, Ne­benund Hauptverbindungen bilden das Basisnetz. Zentral für ein attraktives Velonetz sind sichere, möglichst direkte und unterbruchfreie Radwege, die, wo immer möglich,

vom Motorfahrzeugverkehr abgetrennt sind. All das lässt sich allerdings nicht entlang jeder Strasse umsetzen. Velo­ schnellrouten sollen darum Gemeinden und Regionen verbinden und Korridore für einen sicheren Veloverkehr bilden. Die Fachstelle Veloverkehr des Kantons Zürich ( Fave ) betont, dass es sich bei den Schnellrouten keineswegs um Verbindungen einzig für schnelle Velo- und EBike-Fahrende handle. Vielmehr sei « schnell » als « direkt und durchgängig » zu verstehen. An die Schnellrouten werden hohe Anforderungen gestellt, was Sicherheit, Direktheit, Komfort und Gestaltung betrifft. Es ist eine Breite von viereinhalb Metern vorgesehen, die erlaubt, dass sich zwei Velos pro Richtung begegnen. Die breite, in der Regel vom Motorfahrzeugverkehr abgetrennte Bahn soll ermöglichen, dass langsamer Radelnde oder auch Schulkinder sicher unterwegs sein können. Für Menschen, die zu Fuss unterwegs sind, ist jeweils parallel zu den Routen eine eigene Verkehrsführung vorgesehen. Im Unterschied zum Strassenverkehr gab es beim Veloverkehr bis vor wenigen Jahren keine Leitlinien für eine Wirtschaftlichkeitsberechnung. Der Zürcher Regierungsrat verlangt jedoch für Veloschnellrouten-Projekte eine solche. Die Fave hat zusammen mit Fachleuten und weiteren kantonalen Stellen eine Methodik entwickelt. Diese berücksichtigt in einen Geldbetrag umwandelbare Faktoren wie Bau-, Land- oder Betriebskosten. Aber auch andere Kriterien fliessen ein. Veloschnellrouten vereinen eine ganze Reihe positiver Aspekte: Der Flächenverbrauch von Fahrrädern ist im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln gering, die Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raums kann gesteigert, das Schienen- und Strassennetz durch die Bündelung des Veloverkehrs entlastet ­werden. Und →

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Velonetzplan Kanton Zürich, Übersicht über Planungen im Glattal und Oberland 1 Velohauptverbindung, Planung mit Glattalbahnverlängerung in Kloten ( Phase Bauprojekt ) 2 Veloschnellroute Abschnitt Wallisel­ len, Planung mit SBB-Grossprojekt ‹ MehrSpur › ( Phase Bauprojekt ), ­P lanungs- und Umsetzungshorizont: 2018 – 2034 ; Kosten: Fr. 23 Mio. 3 Velohauptverbindung Dietlikon, Planung mit SBB-Grossprojekt ‹ Mehr­ Spur › ( Phase Bauprojekt ), Planungsund Umsetzungshorizont:2018 – 2034 ; Kosten: Fr. 48 Mio. 4 Veloschnellroute Abschnitt Wallisel­ len – ­Dübendorf, Radwegstudie 5 Veloschnellroute Abschnitt ­D übendorf, Betriebs- und Gestal­ tungskonzept 6 Korridorstudien Veloschnell­route Dübendorf – Greifensee – Uster –Wetzikon Veloschnellrouten F il Bleu Glatt, Machbarkeitsstudie siehe Seite 34 Hauptverbindungen Nebenverbindungen Schwachstellen S tädtische Velonetze Freizeitrouten ‹ SchweizMobil › Quelle: Kanton Zürich, Fachstelle Velo­ verkehr, Bearbeitung Hochparterre. Mehr Informationen unter www.velo.zh.ch

Nebenverbindungen, Hauptverbindungen und Schnellrouten Im Kanton Zürich existiert seit 2016 ein ­behördenverbindlicher Velonetzplan als Grundlage für die Planungen auf kan­ tonaler und kommunaler Ebene. Er kennt drei Arten von Velorouten: die Neben­ verbindungen als Basisnetz mehrheitlich entlang der Kantonsstrassen, die leis­ tungsfähigeren Hauptverbindungen und die Veloschnellrouten, die den Velo­ verkehr dort bündeln sollen, wo die Nach­ frage und das Potenzial am höchsten ist – auch um Strasse und Schiene best­ möglich zu entlasten. Der Velonetzplan zeigt aber auch die rund 1200 Schwachstellen des Netzes, das der Kanton in den nächsten Jahren aus­

bauen will. Damit man auf die regionalen Verbindungen gelangt, müssen zudem die Gemeinden Velonetze definieren und die Infrastruktur auf ihren Gebieten aus­ bauen. Es gibt noch viel zu tun. An den teils langjährigen Projekten sind zahlreiche Planungs- und Ingenieur­ büros beteiligt: Ewp, Effretikon ; Metron, Brugg und Zürich ; Kontextplan, Bern ; EBP Schweiz, Zürich ; Gähler Partner, En­ netbaden ; Gruner, Zürich

Nebenverbindungen Hauptverbindungen Veloschnellrouten (Abschnitte für Pilotprojekte) Freizeitrouten städtisches Netz Schwachstellen

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→ nicht zuletzt können die Gewerbetreibenden entlang der Veloschnellrouten von Umsatzsteigerungen profitieren. Verschiedene Untersuchungen weisen darauf hin, dass Velofahrende zwar pro Einkauf weniger ausgeben als Automobilisten, dafür kaufen sie aber häufiger ein, was sich unter dem Strich für das Gewerbe lohnt. So zeigt etwa eine Studie der ‹ University College Londons Bartlett School of Planning › im Auftrag von ‹ Transport of London ›, dass Velofahrerinnen und Fussgänger im Durchschnitt rund 40 Prozent mehr Geld in den Läden der Umgebung ausgeben als die Kundschaft, die mit dem Auto kommt. Diese Untersuchung umfasste Quartiere der britischen Hauptstadt, in denen Strassen zugunsten von Menschen auf Velos und zu Fuss umgestaltet wurden. « Die Veloschnellroute Glattal – Oberland ist volkswirtschaftlich empfehlenswert », so das deutliche Fazit der Kosten-Nutzen-Analyse. Jedes der gerechneten Szenarien ergebe durchwegs positive Ergebnisse, heisst es beim Amt für Mobilität des Kantons Zürich. Um die Planung effizient voranzubringen und Kosten zu sparen, nutzt der Kanton Zürich mit den Veloprojekten gezielt Synergien, indem er sie in das ‹ Mehrspur › -Grossprojekt der SBB integriert. Im November 2021 verabschiedete der Zürcher Kantonsrat den Objektkredit für die Veloprojekte sowie eine ebenfalls in Zusammenhang mit dem SBB-Projekt geplante Busspur in Bassersdorf. Das Parlament bewilligte die dafür vorgesehenen Gelder in Höhe von rund 73 Millionen Franken einstimmig. Umfangreiche Vorarbeiten Die nächsten zwei Jahre werde intensiv am Bau- und Auflageprojekt gearbeitet, sagt Viktoria Herzog, die Veloverantwortliche beim Tiefbauamt des Kantons Zürich. Die SBB geben Gas. Der Fahrplan sehe vor, dass die öffentliche Auflage im zweiten Quartal 2023 erfolgt. Verläuft der Prozess optimal, könnte der Baustart im Jahr 2026 erfolgen. Die SBB rechnen gemäss Informationen auf der Projektwebseite mit einer Bauzeit von neun bis zehn Jahren. Die Definition des Korridors und der baulichen Massnahmen bedinge eine Abstimmung mit vielen anderen Bereichen und Vorhaben, teilt die Fave mit. Bereits 2017 begann sie mit der Suche eines Korridors von der Stadtgrenze Zürich bis Dübendorf und lancierte gleichzeitig die Studie der Veloschnellroute Wallisellen. Die Gemeinde Wallisellen plant mit. Gegenwärtig ist sie dabei, das Gebiet, durch das die Route führt, zu entwickeln. Dort, südlich der Bahn, hat Wallisellen in den letzten Jahren einen urbanen Charakter bekommen. « Die integrale Planung ist vorbildlich », sagt Gregor Schärer, Leiter Hochbau und Planung der Gemeinde Wallisellen. « Alles wurde berücksichtigt: der Fuss- und Veloverkehr, die städtebauliche Entwicklung, der übrige Verkehr. » Mit der aufeinander abgestimmten Planung entstehe Mehrwert für alle Seiten. Die Veloschnellroute schliesst im Endausbau an die Veloverbindung aus Oerlikon im Norden der Stadt Zürich an und führt via Wallisellen und Dübendorf bis ins Zürcher Oberland. Die Wichtigkeit einer koordinierten und integrierten Planung unterstreicht auch Christoph Lippuner vom Planungs- und Beratungsunternehmen EBP Schweiz, das für die Stadt Dübendorf das Fuss- und Veloverkehrskonzept entwickelt hat. Auf der Basis der Potenziale des Veloverkehrs erarbeitete das Büro ein umfassendes Netzkonzept für den Alltagsverkehr. Das Ziel war, eine Vermischung von Fuss- und Veloverkehr möglichst zu vermeiden, um konfliktfreie Routen zu schaffen. « Es ist wichtig, dass bereits auf Konzeptstufe auf eine klare Trennung geachtet wird », sagt Christoph Lippuner. « Bei der Umsetzung ist es meist zu spät dafür. » →

Das Velo wird im Glattal möglichst ohne Kreuzungen in die vielen ­bestehenden Verkehrswege eingeflochten.

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Fil Bleu Glatt, Machbarkeitsstudie ­Ausscheidung Gewässerraum und ­Glattuferweg, 2019 Auftraggeber: Kanton Zürich, Volkswirt­ schaftsdirektion, Amt für Mobilität Mitwirkung: Kanton Zürich, Baudirektion, Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft Verfasser: EBP Schweiz, Zollikon ; Lorenz Eugster Landschaftsarchitektur und ­Städtebau, Zürich ; Schätti und Lehmann, Zürich www.filbleuglatt.ch

Die Gestaltung des zehn Kilometer langen Wegs ist in Abschnitte gegliedert. Dabei dient die bestehende landschaft­ liche Kammerung als abwechslungsreiche Grund­lage. Zum Teil sind Stützkon­ struktionen zur Glatt oder gar Stege nötig. An dicht bewachsenen Stellen sollen Blickachsen zur Glatt geöffnet werden. Zur Orientierung und Wiedererkennung trägt auch bei, dass der Weg durchgehend vier Meter breit und chaussiert werden soll.

Dem blauen Faden folgen Text: Fabian Baumann

Kanton, Städte und Gemeinden des Glattals wollen die Uferräume entlang ihres Flusses aufwerten. Der ‹ Fil Bleu Glatt › soll auch den Fuss- und Veloverkehr verbessern. Das Glattal entwickelt sich dynamisch. Der Norden der Stadt Zürich, aber auch Dübendorf, Opfikon und Wallisellen werden von immer mehr Menschen bevölkert. Gleichzeitig ist die Region ein attraktiver Unternehmens- und Wirtschaftsstandort. Mit der Bevölkerungsdichte stieg in jüngster Zeit der Erholungsdruck auf die begrenzt vorhandenen Grünflächen im Glattal. So auch auf die Uferräume der Glatt. Der Fluss entspringt dem Greifensee, verläuft auf rund zehn Kilometern durch das Gebiet mehrerer Städte und Gemeinden und mündet schliesslich in den Rhein. Mit dem Freiraumkonzept namens ‹ Fil Bleu Glatt › soll ein Naherholungsgebiet entstehen, das unterschiedlichen Ansprüchen Rechnung trägt. Für die schrittweise Umsetzung beantragte der Zürcher Regierungsrat dem Kantonsrat im Dezember 2021 einen Objektkredit von 63 Millionen Franken. Zum Projekt gehört das Freihalten von Uferstreifen. Der Flussraum wird ökologisch aufgewertet, Lebensräume von Pflanzen und Tieren besser vernetzt und das Flussufer renaturiert, was auch den Hochwasserschutz verbessert. Fuss- und Veloweg entlang des Wasserlaufs Ein elementarer Bestandteil vom ‹ Fil Bleu Glatt › ist auch die Erneuerung des Uferwegs. Die Fuss- und Veloverbindung ohne Kreuzungen mit dem Strassenverkehr dient als regionale Verbindungsachse und soll mit den angrenzenden Erholungsgebieten vernetzt werden. Die Schweizmobil-Route 29 wird auf den Weg verlegt. Bei der Erneuerung des Uferwegs steht der Freizeitverkehr im Vordergrund mit Wochenendausflüglern, Familien mit Kindern, Joggerinnen oder Spazierenden. « Natürlich kann der Weg auch für den Berufspendel­verkehr per Velo genutzt werden », sagt Urs Günter, Projektleiter für die Machbarkeitsstudie beim Amt für Mobilität des Kantons Zürich.

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Bei der Planung sei grosses Augenmerk auf diese Ko­ existenz der Benutzergruppen gelegt worden, erläutert Richard Angst von EBP Schweiz, verantwortlich für die Machbarkeitsstudie. Mittels Varianten habe man eine Lösung gesucht, die sowohl den Ausbau des Wegs ermögliche als auch die Ausscheidung des Gewässerraums gewährleiste. Der Glattuferweg wird auf einer Länge von gut zehn Kilometern zur durchgehenden Fuss- und Velowegverbindung. Um Konflikte zwischen den Verkehrsteilnehmerinnen möglichst zu vermeiden, wird er grundsätzlich eine Breite von vier Metern aufweisen. « Kompromisse lassen sich nicht vermeiden », sagt Richard Angst. Auch wenn einige Velofahrende asphaltierte Strecken bevorzugen – der chaussierte Belag des Wegs berücksichtigt die Anforderungen des Gewässerschutzgesetzes. EBP Schweiz habe für jeden Abschnitt der Strecke nachweisen können, dass der Uferweg die gesetzlichen Rahmenbedingungen erfülle, führt Urs Günter vom Kanton aus. Neben der Verbreiterung entstehen Aufenthaltsräume und Zugänge zum Wasser, um die Aufenthaltsqualität zu erhöhen. Während Fuss- und Veloverkehr auf einer Seite des Flussufers kanalisiert werden, soll das andere Ufer möglichst ungestörten Lebensraum für Tiere und Pflanzen bieten. Neben den beteiligten Städten und Gemeinden war auch das Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft ( Awel ) von Beginn an in das Projekt eingebunden. Die Kosten werden aufgesplittet. Von den beim Zürcher Kantonsrat beantragten 63 Millionen Franken entfallen etwas weniger als die Hälfte auf den Glattuferweg und etwas mehr auf die Wasserbauprojekte. 30 Millionen Franken für einen nur zehn Kilometer langen, chaussierten Weg ? Seine Verbreiterung und Ausgestaltung als durchgängige Fuss- und Veloverbindung macht diverse Kunstbauten notwendig, vor allem im Bereich der zahlreichen Strassen- und Autobahnunterquerungen. Man rechne mit Bundesbeiträgen von mindestens 35 Prozent der Kosten für den Glattuferweg, die Hochwasserschutzbauten und die Revitalisierung der Glatt, heisst es bei der für die Umsetzung verantwortlichen kantonalen Baudirektion. Die Gemeinden beteiligen sich gemäss Strassengesetz mit einem Fünftel an den Kosten für den Glattuferweg.

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Am Fluss im Fluss: Fahren am Gewässer ist beliebt. Der Glattuferweg wird deshalb ausgebaut.

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Tour de Suisse

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Von der Community profitieren

Velofahrende wissen am besten, wo es im Routennetz klemmt. Eine Internetplattform bündelt ihr Wissen seit 2017: Auf bikeable.ch kann jeder Problemstellen im Schweizer Velonetz markieren. Andere können Kommentare und eine Bewertung dazu abgeben. Die Punkte werden auf einer interaktiven Karte mit Foto und Beschreibung festgehalten. Wurde eine Stelle entschärft, kann der Punkt auf der Karte als ‹ gefixt › markiert werden. Bikeable verbessert die Planung. So arbeiten zum Beispiel die Stadt Zürich und Ecublens VD mit der Plattform zusammen. Meldungen zum Gemeindegebiet werden automatisch an die zuständige Stelle weitergeleitet. Sie kann auf Kommentare antworten und ihre Verbesserungen direkt der Community präsentieren. Die Möglichkeit zur Zusammenarbeit steht jeder Gemeinde offen. www.bikeable.ch 2

Ein Weg macht Strom

Vor hundert Jahren erhielt die Papierfabrik Cham einen direkten Gleisanschluss. Heute verläuft auf dem Trassee eine Fuss- und Veloverbindung. Der ‹ Papierigleisweg › wurde im Dezember 2021 eröffnet. Er kombiniert eine chaussierte mit einer asphaltierten Oberfläche und bindet die historische Gleisanlage ein. Ein Novum für die Schweiz: In einen Abschnitt des Asphalts sind Solarzellen aus rezykliertem Kunststoff eingelassen. Eine

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Beschichtung sorgt dafür, dass er bei Regen nicht rutschig wird. Der produzierte Strom geht an eine Ladestation für E-Bikes am Wegrand, als Hommage an das einstige ‹ Papieri-Bähnli ›, das elektrisch betrieben wurde. Mit ökologischen Aufwertungen entlang des Solarvelowegs trägt die Gemeinde der Biodiversität Rechnung. Das Bundesamt für Energie unterstützte das Projekt, um herauszufinden, ob sich Solaranlagen auf Fahrbahnen bewähren. Foto: Gemeinde Cham 3

Schöner parkieren

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Ein Dach und vier Stützen – anscheinend braucht es nicht mehr. Dass Velounterstände nicht nur funktional, sondern auch schön sein können, zeigt das Modell Akira von Marktführer Velopa. Das Dach aus farbig lackierten Aluminium-Verbundplatten ist markant geknickt, die Stützen aus verzinktem Stahl verzweigen sich oben zur v-Form. Natürlich gibt es auch hier Notwendiges wie Regenrinne und -rohr, Rahmenprofile oder Ver­schraubungen, nur treten sie nicht in Erscheinung. www.velopa.ch 4

In den Velokeller I

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Geld zahlen fürs Veloparken im eigenen Haus ? Dass das durchaus akzeptiert wird, zeigt das Beispiel der Siedlung Im Sydefädeli, 2017 von Pool Architekten für die Baugenossenschaft Denzlerstrasse in Zürich gebaut. Die Garagen der mar-

kanten dreieckigen Häuser liegen im Hangfuss auf Strassenniveau, schön zugänglich von aussen und vom Treppenhaus. Neben den Autoparkplätzen stehen dort abschliessbare Veloabstellplätze. Für einen Platz zahlen Mieterinnen monatlich fünf Franken – und überlassen so wohl kaum mehr ein Fahrzeug ungenutzt dem Rost. Beschwerden ? Keine, denn man schätzt den immer freien, weil zugewiesenen Platz. Und vielleicht geniesst man auch den höheren Status seines Zweirads. 5

Im Auge des Verkehrs

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Die Planung des Zugangs zum Bahnhof PrillyMalley im Westen von Lausanne berücksichtigte das Velo vorbildlich. Der ‹ Trait d’Union › ist eine schöne Infrastruktur von Pont12 Architectes, die den Fussverkehr und die Veloströme auf engstem Raum trennt und lenkt. Die Doppelhelix hat einen Radius von nur zehn Metern und beherbergt eine drei Meter breite Wendeltreppe für die Fussgänger, die von einer entgegenlaufenden Velorampe der gleichen Breite umrahmt wird. Auch in der anschliessenden Unterführung mit Zugang zum Bahnhof werden die beiden Verkehrsströme weiterhin getrennt geführt. Foto: Vincent Jendly 6

Alice im Veloland

Alice heisst das Studio der Professoren Dieter Dietz und Daniel Zamarbide an der EPFL. Studie­ ren­de untersuchen dort landschaftliche Zusam-

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menhänge und machen sie mit temporären Pavillons sichtbar. Mit dem Projekt ‹ Passage-paysage › widmeten sie sich drei Kantonsstrassen, die den Kanton Genf durchqueren. Aus den zerschneidenden Hauptverkehrsachsen möchte das Studio Alice einen verbindenden Park machen. Die Studierenden bewerteten das Bestehende, trafen Behörden und definierten Schlüsselstandorte für Fallstudien. In ihren Plänen wird eine Strassenkreuzung wieder zum Dorfplatz. Und dreissig Meter breiter Asphalt zu Streifen für Autos und öV, Velos und Bäume. Dabei geht es neben aktiver Mobilität und Gesundheit, Biodiversität und Klimaschutz auch um eine kulturelle Annäherung, denn Landschaftsgestaltung hat immer wieder mit einer Wahrnehmung aus der Bewegung heraus zu tun. An einem der Orte kann Alice nun aktiv werden: Während des Sommers 2022 werden Studierende ein Stück Strasse in Onex in einen öffentlichen Raum mit verschiedenen Ereignissen und Installationen verwandeln.

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Zum Bauernhof rollen

Wenn Marcello Stivan nicht in seinem Veloladen am Bahnhof von Bellinzona steht oder innovative Fahrradabstellplätze entwickelt, ist er unterwegs. Er fährt mit einer Gruppe auf Falträdern nach Venedig. Oder ist auf Radtour zu Hofläden in der Magadinoebene. ‹ Spesa in fattoria › nennt er seine Kombination aus gesunder Ernährung, nachhaltigem Konsum, Bewegung und Spass. Marcello fährt auf dem Cargobike voraus, die Gruppe auf Falträdern hinterher. Gemüse, Alpkäse, Honig und Fleisch müssen sie so nicht selbst transportieren. Foto: Milo Zanecchia

neuerung wurde sie von 4,5 auf 17,5 Meter verbreitert. So entstand Platz für mehr Menschen und Läden. Ausserdem bauten die SBB im Auftrag der Stadt eine Veloquerung direkt neben der Personenunterführung. Hinzu kommen oben eine verkehrsberuhigte Begegnungszone und unten eine Velostation. Foto: Laurens van Rooijen 9

Kantonale Route in Obwalden

Wo niemand Velo fährt, braucht es keine Velowege – heisst es. Genau diese Logik gilt es umzukehren, und der Kanton Obwalden macht sich dran. Sein neues Gesamtverkehrskonzept enthält zwar keine Vorgabe zum Anteil des Velos am 7 Verkehr, beruht aber auf der 4-V-Strategie – ver8 Leichtere Gleisquerung Der Bahnhof Winterthur ist eine zentrale Dreh- meiden, verlagern, verträglich gestalten und verscheibe des öffentlichen Verkehrs. Heute halten netzen – und verlangt daher unter anderem sihier rund 700 Züge täglich, Tendenz steigend. chere Velorouten, die wichtige Ziele verknüpfen. Mehr Züge bedeuten auch mehr Reisende. Die Für jene von Kerns nach Sarnen bestimmen das nördliche Personenunterführung des Bahnhofs Solothurner Büro Kontextplan und eine kantoWinterthur ist neunzig Jahre alt. Im Zuge der Er- nale Begleitgruppe zurzeit die Linienführung →

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→ im Korridor zwischen Sarnen und Kerns, später folgen die Ausbauprojekte für die einzelnen Abschnitte. « Das Potenzial des Velos ist gross in Obwalden », schätzt Kantonsingenieur Martin Bürgi, « denn wie anderswo messen viele Alltagsdistanzen bis 10 Kilometer, fahrbar per Velo und per E-Bike erst recht. » 9

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Im Vorzeigequartier ‹ Mehr als Wohnen › im Norden Zürichs haben die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Zweiräder besonders gern. Im Bauch des dicken Hauses G von Pool Architekten bildet ein Veloabstellraum das Zentrum eines jeden Wohngeschosses. Unten rein in den grossen Lift, oben raus, und schon steht man im Velokeller – nur eben im 6. Stock. 11

Luzerner Freigleis

Lange fuhr die Zentralbahn oberirdisch von Luzern nach Kriens. Seit November 2012 fährt der Zug unter der Luzerner Allmend durch einen Tunnel. Wo das oberirdische Bahntrassee war, ist nun Raum für Langsamverkehr. Das ‹ Freigleis › ist unterteilt in einen drei Meter breiten Velo- und einen zwei Meter breiten Fussweg, ein ‹ Velohigh­ way ›, sagen manche. Einziger Wermutstropfen: Radfahrende und Fussgänger sind an drei Strassenkreuzungen nicht vortrittsberechtigt, was jeweils Schwellen ankünden. Foto: Marius Graber

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Velosilo

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Überfüllte Abstellplätze freuen weder die Radfahrer, noch verschönern sie die Stadt. V-Locker bietet eine smarte Alternative: Türme, in denen sich die sechs bis zwanzig Stellplätze stapeln, kombiniert mit einer App. Überall dort, wo sich abgestellte Velos zu ballen drohen, können sie stehen: an Bahnhöfen, in Zentren, bei Unis oder grossen Wohnanlagen. Im Turm sind die Velos vor Diebstahl, Vandalismus, Wind und Wetter geschützt – und mit ihnen auch Helm, Rucksack und Regenkleidung. Die App zeigt, wo es Platz hat, reserviert denselben und öffnet später die Tür. Die ersten drei Schweizer V-Locker stehen an den Bahnhöfen Stettbach, Münchenbuchsee und Kloten. Sie zeigen, dass sich ihre Erscheinung der Umgebung anpassen lässt: mit Holz, Glas, Metall oder Photovoltaikelementen. So kann ein E-Bike beim Warten laden. www.v-locker.ch

und Velopumpen. Entlang der Aare führt seit einigen Jahren die Wasseramtroute von Schweizmobil nach Zuchwil und weiter Richtung Herzo­ genbuchsee, eine sichere und landschaftlich behagliche Alternative zur Hauptstrasse. Zurzeit arbeitet der Kanton am kantonalen Velonetzplan. Zunächst werden Korridore für Routen mit hoher und mittlerer Nachfrage festgelegt und in einer Vernehmlassung überprüft. Darauf folgt die genaue Planung der Linien. Weiter fortgeschritten ist die zweite Velovorrangroute von Solothurn nach Grenchen: Sie ist Teil des Agglomerationsprogramms der vierten Generation, um das Velo für das Pendeln zur Arbeit attraktiver zu machen. Auf 30 Prozent will der Kanton den Anteil des Velos am gesamten Verkehr anheben – ein ambitioniertes Ziel. Foto: Michel Lüthi, Bilderwerft 14

Genfer Fortschritte

In der Velowüste keimen zarte Pflänzchen. Vom Prix Velo Infrastruktur erhielt Genf eine Anerken13 Solothurn hat ehrgeizige Ziele In der Rangliste der Prix-Velo-Städte belegt So- nung für das Projekt ‹ Mit dem Velo zum Strand ›, lothurn zuverlässig den dritten Platz. Das liegt dank dem man nun sicher aus der Stadt zum beerst einmal an den guten Nord-Süd-Verbindun- liebten Strand Eaux-Vives pedalt – unter anderem gen dank vier Aare-Brücken, die Velos befahren auf dem drei Meter breiten, baulich von der Autodürfen, aber keine Autos. Zudem ist die Stadt spur getrennten Zweirichtungs-Veloweg am Quai mit grösseren und kleineren Infrastrukturen aus- Gustave-Ador, der sich über einen Kilometer ergestattet, die Schritt für Schritt entstehen: am streckt und die Schweizmobil-Route 46 ‹ Tour du Bahnhof eine geräumige Duplex-Velostation, an Léman › ergänzt. Auch die ‹ voie verte › als sichere gut befahrenen Standorten Werkzeugstationen Achse für den Langsamverkehr durch Genf ist ein

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Erfolg. Die Trassen zum Fahren und Gehen sind getrennt, ab und zu locken kleine Orte zum Sitzen und Ausruhen, an den Böschungen kreucht und fleucht es. Seit 2010 werden Abschnitte realisiert. Das nächste Teilstück soll ab 2025 von Vernier-Châtelaine nach Satigny-Zimeysa führen. Am Ende wird man auf der ‹ voie verte › 22 Kilometer weit radeln: von Annemasse bis Saint-GenisPouilly und damit von Frankreich durch Genf wieder nach Frankreich. voieverte.ge.ch 10

ein Schild nachfolgenden Automobilistinnen die Aktion ‹ Sicher durch die Mitte ›: nämlich, dass es Velos hierzulande ausdrücklich empfohlen ist, in der Mitte der Kreiselspur zu fahren. Foto: Fabian Baumann 16

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Erlenmatt-Ost beim Badischen Bahnhof in Basel ist ein Vorzeigequartier. Die Stiftung Habitat liess dort ab 2017 verschiedene kleine Genossenschaften Wohnhäuser bauen, es gibt biodi15 Sicher durch die Mitte von Uster versen Aussenraum mit Pizzaofen und Urban FarJedes Jahr verunfallen in der Schweiz mehrere ming. Die Architekten Bart & Buchhofer bauten Hundert Personen mit dem Velo in einem Kreisel. für die Genossenschaft Erlenflex ein Wohnhaus Viele erleiden gravierende Verletzungen. Die Sta- mit hoher Wohnqualität. Den ebenfalls guten tistik zeigt, dass sie nur in vier von hundert Fällen Nachbarhäusern hat es etwas Unscheinbares vodie Schuld am Unfall tragen. Meist ‹ übersehen › raus: eine Rampe, die hinunter in den Velokeller Autofahrer aufgrund fehlender Aufmerksamkeit führt. Im Alltag mache das einen grossen Unterdas Zweirad. In der Stadt Uster üben auf Initiati- schied, sagt ein Bewohner. ve des Elternrats der Schule Sechstklässler das sichere Velofahren im Kreisel. In Gruppen fahren 17 Rüfe, Waldweg, Trockenmauern die Jugendlichen durch alle 18 Kreisel der Stadt – 33 Jahre Hartnäckigkeit hat es die Veloszene geein Lichtsignal gibt es in Uster nicht. Dabei legen kostet, bis der rund fünf Kilometer lange Radweg sie rund zehn Kilometer zurück. Ein Stadtpoli- zwischen Chur und Trimmis 2019 eröffnet wurde. zist fährt voraus. Den Abschluss bildet jemand Schön ist er geworden. Von Trimmis radelt man vom Elternrat mit Veloanhänger. Darauf erklärt auf dem alten, im Inventar der historischen Ver-

kehrswege eingetragenen Mittelweg neben Trockensteinmauern, weiter durch den Fürstenwald, über eine kleine Brücke durch eine Furt in der Maschänserrüfe und schliesslich über Wiesen nach Chur. Der Clou: Im Unterschied zu anderen Routen verliert man kaum an Höhe. Ein Stück wurde neu gebaut und asphaltiert, ein anderes verläuft auf einem Waldweg. Dort sorgt die Oberflächenbehandlung des Kieses dafür, dass sich der Belag durch das Befahren etwas verdichtet, sodass die Räder Halt finden und der Veloweg zugleich in den Wald passt, auch wenn harter Schwarzbelag darunterliegt. Die Strecke zählt zur Churer Rheinroute 501 von Schweizmobil. Foto: Armin Bearth, Tiefbauamt Graubünden 18

Wo parkieren ?

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Das Forum Velostationen fördert bestehende und neue Velostationen und dient als Plattform für den Informations- und Erfahrungsaustausch. Es koordiniert gemeinsame Aktivitäten und Interessen, entwickelt Dienstleistungen und Produkte und berät Behörden und Trägerschaften. Das Forum wird von Pro Velo Schweiz und der Velokonferenz Schweiz getragen und vom Bundesamt für Strassen unterstützt. www.velostation.ch

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Stadt Land Velo

Der Veloboom verändert die Schweiz. Umso wichtiger ist ein zusammenhängendes und ­sicheres Netz von Fahrradwegen. Velo­ fahrerinnen kämpfen dafür, Bund und Kan­ tone fördern es, Städte und Gemeinden bauen es, Raumplaner und Landschaftsarchitek­ tinnen planen es. Für sie alle ist dieses Heft. Es besucht vorbildliche Orte in der ganzen Schweiz, schildert Prozesse und stellt Menschen vor, deren Alltag das Velo ver­ändert hat.

Kanton Zürich Fachstelle Veloverkehr

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