Zurück in der Stadt Seit Jahren ist von der Rückkehr der Produktion in die Stadt die Rede. Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung ? Warum sind urbane Manufakturen nachhaltiger ? Text: Joris Jehle
Von 1970 bis 2000 war die Abwanderung von Industrie und Gewerbe aus den Städten – und später aus Westeuropa – enorm. In den vergangenen 20 Jahren blieb die Zahl der Beschäftigten im Produktionssektor in der Schweiz stabil. Nur aufgrund des grossen Wachstums des Dienstleistungssektors hat ihr Anteil am Total abgenommen. Gewerbe und Industrie erwirtschaften noch immer ein Viertel der gesamten Wertschöpfung in der Schweiz. Seit den 2000er-Jahren siedelt sich das Gewerbe wieder vermehrt im urbanen Raum an und bewegt sich dort in einem herausfordernden Spannungsfeld zwischen seinen spezifischen Anforderungen und den Realitäten des Immobilienmarkts. Weil sich die Grenze zwischen Gewerbe- und Dienstleistungsbetrieben nicht mehr so klar ziehen lässt, richtet sich das heutige Gewerbehaus an eine breite Mieterschaft: Sie umfasst klassische Büezer-Betriebe wie Malereien, Schreinereien oder Bäckereien, Kunsthandwerk wie Keramik oder Mode, zeitgenössische Manufakturen von Kosmetik oder Getränken, aber auch Labore, Dienstleistungen, Forschung und Entwicklung. Dass viele dieser Betriebe zentral gelegene Standorte aufsuchen, hat drei Hauptgründe. Die Notwendigkeit des nachhaltigen Wirtschaftens Der inzwischen wichtigste Faktor für den Erhalt und die Neuansiedlung von Gewerbe in der Stadt ist die Nachhaltigkeit. Je kürzer die Wege zwischen Betrieb und Kundschaft, desto nachhaltiger das Produkt oder die Dienstleistung. Dabei ist nicht nur die direkte Transportenergie relevant, sondern auch die graue Energie der Transportmittel sowie der Flächenverbrauch der zusätzlich notwendigen Infrastruktur, der Logistik und der Lagerung. Wenn in Zukunft direkte und indirekte Auswirkungen auf das Klima auf die Verursacher abgewälzt werden, verteuern sich globale Transporte und Rohstoffimporte. Dadurch
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werden die Wiederverwendung von Produkten und das Rezyklieren von Rohstoffen ökonomisch relevant. Deshalb ist die Kreislaufwirtschaft der Schlüssel zum Gewerbe in der Stadt: Sie kann die globalen Lieferketten erheblich verkürzen. Das Upcycling-Unternehmen Freitag hat schon vor Jahren gemeinsam mit anderen Firmen ein eigenes Gewerbehaus in Zürich gebaut, um dort Lastwagenplanen zu Taschen zu verarbeiten. Sein Bekenntnis zur Produktion in der Stadt und sein Gewerbehaus fungieren als Vorbild für viele andere Projekte. Solche Gewerbehäuser schaffen zudem Arbeitsplätze für Personen mit weniger hohen Bildungsabschlüssen, was einer sozial nachhaltig durchmischten Gesellschaft zugutekommt. Der Wandel zur Industrie 4.0 Zweitens machen Digitalisierung und Automatisierung die Produktion emissionsärmer und wissensintensiver. Die tieferen Emissionen, etwa von Lärm oder Gerüchen, verringern Konflikte mit der Anwohnerschaft, aber auch mit Arbeitnehmerinnen in benachbarten Dienstleistungsbetrieben. Computer- und robotergesteuerte Arbeitsweisen erfordern hoch spezialisierte Fachkräfte aus den Bereichen Informations- und Kommunikationstechnologie und Maschinenbau, die weltweit gefragt sind und oft dichte, urbane Wohnlagen mit hoher Lebensqualität bevorzugen. Zentrale Standorte tragen zur Attraktivität der Unternehmen bei. Gleichzeitig hängt die Innovationskraft wissensintensiver Branchen stark vom Austausch mit anderen Betrieben, mit Forschungsinstituten und zwischen den Spezialistinnen ab. Zufällige Begegnungen in gemeinsam genutzten Räumen fördern den Wissenstransfer. Entsprechend hat sogar Novartis sein Hochsicherheitsareal in Basel für Drittunternehmen geöffnet. Auch die Firmengrösse spielt eine Rolle: Kleine und mittlere Unternehmen, Start-ups oder Spin-offs sind oft flexibler und deshalb innovativer als Grossunternehmen. Sie externalisieren viele Prozesse oder Abteilungen wie Konfektionierung, Verpackung, Logistik, Kommunikation oder sogar Personalwesen und Buchhaltung. So
Themenheft von Hochparterre, Januar 2024 — Neue Räume für das Gewerbe — Zurück in der Stadt
18.12.23 11:02