Zürich weiter West

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Themenheft von Hochparterre, November 2016

Zürich weiter West

Das ehemalige Zollfreilager ist heute ein neuer Zürcher Stadtteil mit 800 Wohnungen, 200 Studentenzimmern, Gewerbeflächen – und architektonischen Experimenten.

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Baumgruppen und Heckenkabinette prägen die jungen Stadträume.

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Editorial

Inhalt

4 Arealplan

Gründerblöcke und Türme, Langhäuser und Zeilenbau.

6 « Können Architekten noch Städte bauen ? » Der Bauherr und sein Architekt erklären Geschichte, Planung und Wandel des Areals.

8 Maillart bewohnen Die beiden aufgestockten Gründungsbauten leben von Brüchen und Spannungen.

14 Der Zeilenhofkamm Ein verdrehter Wohnungstypus schafft Nähe und bietet Weitblick.

18 « Wir brauchen neue Instrumente » Die Gebietsverantwortliche der Stadt Zürich und der Landschaftsarchitekt reflektieren die Planung.

20 Holzurbanismus Drei lange Wohnhäuser aus Holz bestechen durch ihre starke Struktur.

2 6 Drei Prisen Perret Drei sorgfältig detaillierte Hochhäuser verbreiten französisches Flair.

3 0 « Nachhaltigkeit für ein breites Publikum » Der Nachhaltigkeitsexperte und ein Projektentwickler diskutieren Labels, Lebensstile und Langsamverkehr.

Von der Enklave zum Stadtteil Neunzig Jahre lang war das Zollfreilager in Zürich eine Enklave von sieben Hektar, auf der wenige Menschen viele Güter umherschoben. Heute sind die Lagerhallen verschwunden. Mit 800 Wohnungen, 200 Studentenzimmern und Gewerbeflächen haben ein Bauherr und drei Architekturbüros einen neuen Stadtteil geschaffen: das Freilager Zürich. Die erste grosse Arealentwicklung im Letzigebiet zeigt das zukünftige Stadtwachstum. Nachdem die ehemaligen Industrieareale in Zürich West von Escher-Wyss, Maag & Co. transformiert sind, expandiert die Stadt nun am Rand und verdichtet sich weiter westlich. Dieses Heft spricht erstens mit den Akteuren. Der Bauherr und der Stadtplaner erklären die Projektentwicklung und die städtebaulichen Ideen. Der Landschaftsarchitekt und die Gebietsverantwortliche der Stadt diskutieren die Rolle der Freiräume und der infrastrukturellen Begleitung. Der Nachhaltigkeitsberater erklärt einem Kritiker, warum das Freilager trotz grosser Wohnungen das erste 2000-Watt-Quartier ist. Dieses Heft beurteilt zweitens das Gebaute. Da sind zwei 135 Meter lange und 24 Meter tiefe Gründerblöcke aus den Zwanzigerjahren. Trotz Pilzstützen in ungünstigem Raster nutzte man sie zum aufgestockten Wohnungs-­ Sechsspänner um. Da sind drei vierzig Meter hohe Türme aus sandgestrahlten Betonfertigteilen, die mit umlaufenden Balkonplatten an Auguste Perrets Le Havre erinnern. Da sind drei sechsgeschossige Langhäuser im Holz-System-Bau und eine gewitzte Variation als Studentenwohnhaus. Und da ist ein Hofhaus, Kamm- und Zeilenbau zugleich, dem der Spagat von städtebaulich gewünschter Nähe und Weitblick aus den Wohnungen gelingt. Innen- und Aussenaufnahmen des Fotografen Georg Aerni und reichlich Planmaterial illustrieren das Erzählte und erlauben dem Leser und der Leserin einen eigenen Blick auf das neue Stück Stadt.  Palle Petersen

Impressum Verlag Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon 044 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor  Köbi Gantenbein  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept und Redaktion  Palle Petersen  Fotografie  Georg Aerni, www.georgaerni.ch  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Michael Adams  Produktion  Marion Elmer, Thomas Müller  Korrektorat  Lorena Nipkow, Elisabeth Sele  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Somedia Production, Chur Herausgeber  Hochparterre in Zusammenarbeit mit der Freilager Zürich AG Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—

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Schulanlage Freilager ( Eröffnung 2022 )

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Freilager Zürich, 2016 Bauherr:  Zürcher Freilager, Zürich Totalunternehmer:  Allreal, Zürich Gestaltungsplan:  Meili & Peter Architekten, Zürich Umgebung:  Vogt Landschafts­­architekten, Zürich Baukosten ab Realisation:  Fr. 360 Mio. Arealgrösse:  70 500 m2 / 7,05 ha Dichte:  AZ 190 %, 118 Wohnungen / ha Nutzung:  94 % Wohnen ( 829 Wohnungen, davon 33 Wohnungen mit 196 Studentenzimmern ), 4 % Gewerbe ( 20 Einheiten ), 1 % Dienstleistung ( 10 Einheiten ), 1 % Lager

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Umgebung 1 Vorplatz Rautistrasse mit Besucherparkplätzen 2 Vorplatz Flurstrasse mit Besucherparkplätzen 3 Freilagerplatz 4 Lindenpavillon 5 K inderspielplätze 6 Heckenkabinette mit Bänken und Veloabstellplätzen 7 Wertstoffsammelstelle 8 Zufahrt Tiefgarage 9 Anlieferung 10 Carsharingparkplätze 11 Bushaltestelle

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A M arktgasse ( Seite 8 ) Architektur:  Meili & Peter Architekten, Zürich B Südhof ( Seite 14 ) Architektur:  Office Haratori, Zürich, und Office Winhov, Amsterdam C L anghäuser ( Seite 20 ) Architektur:  Rolf Mühlethaler, Bern D Rautitürme ( Seite 26 ) Architektur:  Rolf Mühlethaler, Bern E S tudentenzeile Architektur:  Meili & Peter Architekten, Zürich F Rautiblock ( Büro / Gewerbe, Bestand ) G ehemaliges Portierhaus

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Gewerbenutzungen 12 Hauswartsbüro 13 Dienstleistung 14 Quartierladen 15 Restaurant 16 Vinothek 17 Tiernahrung 18 Veloladen 19 Städtischer Kindergarten / -hort 20 Gewerbeatelier 21 Kindertagesstätte 22 Coiffeur 23 Blumenladen 24 Inneneinrichtungsbüro 25 Yogastudio 26 Pfarramtlicher Treffpunkt 27 Kosmetikstudio 28 Ballettschule 29 Grafikatelier 30 Kinderärztin 31 Ärztezentrum ( 1 . OG )

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Planbearbeitung: Jean Hartmann, Meili & Peter Architekten M 1 : 1500

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« Können Architekten noch Städte bauen ? » Vom Lagerplatz zum Stadtgeviert: Der Geschäftsführer des Freilagers Zürich und sein Architekt erklären Geschichte, Planung und Fallstricke im Wandel des Areals. Interview: Palle Petersen

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Jean-Claude Maissen, Sie steuern das Freilager ­bauherrenseitig seit der Vergabe an den ­Totalunternehmer. Was reizte Sie an dieser Aufgabe ? Maissen:  Die Grösse des Areals und seine Lage im Letzi­ gebiet zwischen dem Albisrieder Dorfkern und der intak­ ten Blockrandstadt warf spannende Fragen auf. Kann man mit fast 190 Prozent Ausnützung hier einen neuen Mass­ stab einführen und 800 Wohnungen, 200 Studentenzim­ mer und Gewerbeflächen auf einen Schlag auf den Markt bringen ? Wird das sieben Hektar grosse Freilager vom ehemals zollrechtlichen Ausland zum lebendigen Stadtge­ viert, das sich mit der Umgebung verzahnt, oder bleibt es ein Fremdkörper im Stadtgefüge ? Markus Peter, Sie arbeiten seit zwölf Jahren am Projekt und trugen dabei viele Hüte. Welcher war der interessanteste ? Peter: 2004 machten wir eine Testplanung auf dem Areal. Anschliessend erarbeiteten wir das städtebauliche Leit­ bild und den Gestaltungsplan und begleiteten die Wettbe­ werbe auf den Baufeldern von der Vorbereitung bis zum Jurytext. Als Architekten stockten wir die beiden Gründer­ blöcke aus den Zwanzigerjahren auf. Die Gesamtheit die­ ses Prozesses – eine eigentliche Demonstration der Viel­ schichtigkeit unseres Berufes – interessiert mich mehr als seine Teile: Wie können wir zwischen Wohnungsbau und Städtebau einen Zusammenhang schaffen ? Die Quar­ tierpläne von Albert Steiner, Stadtbaumeister von 1943 bis 1957, entwarfen mit meist drei- bis viergeschossigen Zeilen eine Stadt der Siedlungen. Die heutigen Verdich­ tungsziele und die gesteigerte Wohnbauproduktion erfor­ dern einen anderen Massstab und einen vielschichtigeren Umgang mit dem Bestand, den Stadträumen und den Pro­ grammen. Sollen Architekten die heutige Wohnbaukultur prägen, dürfen sie die städtebaulichen Leitbilder nicht den sogenannten Raumplanern überlassen. 2008 akzeptierten die Stadtzürcher die Umzonung des Areals zur fünfgeschossigen Zentrumszone mit Gestaltungsplanpflicht und Mindestwohnanteilen. Eine Zitterpartie ? Peter:  Eher eine Eigendynamik. Die Entwicklung fiel nicht mehr in die Zeit politischer Querelen. In den Neunziger­ jahren kämpfte die Stadt noch für Wohnungen in den alten Gewerbegebieten, doch private Immobilien­entwickler wit­

terten höhere Erträge in Bürobauten und Einkaufszentren. Erst als der Bedarf an Dienstleistungsflächen um das Jahr 2000 stagnierte und sich um die S-Bahnknoten konzent­ rierte, wollten auch Privatinvestoren Wohnungen bauen. Maissen: Beide Seiten bewegten sich aufeinander zu. Das politische Momentum waren 2002 die Umwälzungen im Stadtrat. Unter Elmar Ledergerber schrieb sich die Stadt Zürich 10 000 neue Wohnungen in zehn Jahren auf die Fah­ ne und initiierte ab 2004 eine Testplanung im Letzigebiet. Das heterogene Industriegebiet hatte damals pro Hektar weniger als fünfzig Einwohner und etwa 160 Arbeitsplätze. Grössere Arealentwicklungen waren absehbar und boten sich an für Mischnutzungen mit hohem Wohnanteil. Dass die Zürcher Freilager AG dieses nutzen wollte und konnte, ist freilich eine eigene Geschichte. Wie sind aus den Lageristen Immobilienentwickler geworden ? Maissen: Der erste Schritt war ein Wechsel im Aktionariat: Bei der Gründung des Zollfreilagers 1923 hatte sich die heutige Credit Suisse mit einem beachtlichen Aktien­ paket beteiligt und es quasi im Keller vergessen. Als sie im Rahmen der Allfinanzstrategie 1997 die Winter­thur-

« Wird das Freilager zum lebendigen Stadtgeviert, oder bleibt es ein Fremdkörper ? » Jean-Claude Maissen

Versicherung kaufte und diese 2006 an die Axa verkauf­ te, verblieb das Aktienpaket der Zürcher Freilager AG im Anlagevermögen der Winterthur. Damit kamen Immobili­ enfachleute in den Verwaltungsrat der Zürcher Freilager AG, die rasch die verborgene Perle erkannten. Der zweite Schritt war der Ausbau der Beteiligung: Nach zwei Kapital­ erhöhungen hält die Axa Leben AG, Winterthur, mittler­ weile insgesamt 91 Prozent der Aktien. Sie war es auch, die das Projekt unter der Leitung von Jürg Burkhard zwischen 2004 und 2012 für uns entwickelte. Zurück zur Testplanung 2004. Wie sah das Gelände damals aus ? Peter:  Flache und bis zu 35 Meter tiefe Lagerhallen in dich­ tem Abstand prägten das Areal – für Wohnumnutzungen fast chancenlos. Nur die Doppelfigur der 135 Meter lan­ gen Gründungsbauten von 1926 wies nach aussen genü­

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gend Raum auf. Sie bei minimalinvasiven Eingriffen zu erhalten, barg angesichts der ökonomisch notwendigen Aufstockung beachtliche technische Herausforderungen. Eine weitere Hürde war die Bautiefe von 24 Metern, galt es doch, Wohnungen ohne Übergrösse zu produzieren. Eine sorgfältige Studie zeigte, dass sich die Bausubstanz ohne tiefgreifende Verstärkungen aufstocken liess. Maissen: Weil sich Ausdruck und Lage der Gründerblöcke gut zur Adressbildung eignen, interessierte uns der Erhalt von Anfang an. Ein Areal braucht schliesslich eine Identi­ tät, und dafür ist die eigene Geschichte das beste Funda­ ment. Als die Studie 2007 mit brauchbaren Grundrissen da war, stützte die Vermarktung die Idee. Heute zeigt sich: zu Recht. Sämtliche Lofts sind vermietet. Der Entscheid war städtebaulich entscheidend, denn die Gründerblöcke sind der Ausgangspunkt der räumlichen Ordnung. Peter:  In der Tat macht erst ihr Erhalt die Morphologie von Linearitäten und Parallelitäten sinnfällig. Entscheidend war die Frage, wie sich die Gartenräume zwischen den Zeilenbauten stoppen lassen. Wir griffen dabei auf ein Prinzip zurück, das Fernand Pouillon in Boulogne-Billan­ court meisterlich vorführte: die Raumbildung durch lange, liegende Zeilen und dicht danebenstehende Türme. Und

« Vielstimmigkeiten machen eine Stadt nicht kaputt, sie machen sie aus. » Markus Peter

vergessen wir nicht die Beliebtheit von Punkthochhäusern bei Immobilienvermarktern: Auf die Liftfahrt aus der Tief­ garage folgt direkt der Panoramablick – das zahlt sich aus. Richtig hoch sind die meisten Zürcher Hochhäuser aber nicht und mitnichten schlank. Auch die Türme auf dem Freilager wirken recht kräftig. Peter: Wir hätten gerne höher gebaut, nicht zuletzt, weil baurechtlich dank Arealbonus 250 Prozent Ausnützung möglich gewesen wären. Mit 190 Prozent liegen wir heute aber sicherlich beim verträglichen Maximum. Doch nicht der Schattenwurf, sondern das städtische Hochhausleit­ bild zurrte die unsichtbare Grenze. Es steckt hinter den Proportionen der Türme. Das Leitbild beendete 2001 wohl Jahrzehnte der Hochhausverweigerung. Doch im Glauben, etwas Gutes zu tun, hatten Politiker die zulässigen Höhen in weiten Gebieten auf vierzig Meter gesenkt. Umgekehrt erhöhte sich seither die Grundfläche, und man braucht nun für 900 Quadratmeter nur noch ein Treppenhaus. Dennoch sind die Türme wichtig: Ein Areal braucht eine Dachlandschaft im Sinne einer Höhenstaffelung. Die Baumasse ist am Rand mit 40-Meter-Türmen und 25-Meter-Zeilen am höchsten, in der Arealmitte mit 20 Metern am tiefsten. Die im Quartiersvergleich neue Dichte versteckt sich nicht. Peter: Wir hielten die inneren Zeilen tief, um kein beengen­ des Gefühl zu erzeugen. Ein Versteckspiel hätte ohnehin nie geklappt und ist unnötig, erlaubt die Arealgrösse doch eine eigene Dimension. Letztlich ist das der Charakter des Letzigebiets. Es lebt von Gegensätzen wie hoch und tief, alt und neu, hart und weich, dicht und leer. Es geht ausser­ dem um eine allgemeine Entwurfshaltung: Dissonanzen und Vielstimmigkeiten machen eine Stadt nicht kaputt, sie machen sie aus. Das Restaurant als einstöckiger An­ bau vor den 135 Meter langen, auf 26 Meter aufgestockten Gründerblöcken – das hat eine eigene produktive Ästhetik.

Das Restaurant als öffentlichste Gewerbenutzung bringt uns zu einem interessanten Punkt: Der ­Gestaltungsplan verlangte je nach Baufeld 20 bis 80 Prozent Wohnnutzung, realisiert wurden über 90 Prozent, und fast alles Gewerbe liegt in den Gründerblöcken. Was ist passiert ? Maissen: Wir müssen das Marktumfeld stets im Auge be­ halten. Drei Jahre lang suchten wir nach einem Detail­ händler und nach Betreibern für eine Brasserie und eine Kinderkrippe. Mit städtischem Kindergarten, Weinladen, Velohändler, Kinderärztin, Tanz- und Yogastudio entsteht ein neuer Quartierkern, der den alten Albisrieder Dorf­ kern ergänzt. Für eine Projektentwicklung im Aussenquar­ tier ist das ein Erfolg. Peter:  Der realisierte Nutzungsmix zeigt aber doch, wie anachronistisch die Mindestwohnanteile waren. Bei ei­ ner Umzonung stellt sich stets die Frage, was die Stadt als Deal verlangt. Was will sie initiieren ? Längst zeigten sich in Zürich West und Nord die Probleme. Die Herausforde­ rung ist heute eine andere: Wo baut man keine Wohnun­ gen, wo gibt es Platz für Gewerbe ? Maissen:  Diese Erkenntnis geht aber einher mit einer städ­ tischen Überreaktion und der irreführenden Vorstellung, Stadtleben verordnen zu können. Auch wenn Eigentümer die Erdgeschossflächen gratis abgäben, bräuchte ein Gewerbetreibender dennoch Kundschaft und Umsatz, er könnte nicht zum Selbstzweck rumsitzen. Ausserdem wandelt sich der gesamte Markt: Wenn bald alle im Inter­ net einkaufen, sterben auch die Einkaufszentren aus, die einst die Tante-Emma-Läden verdrängten. Peter:  Diese Entwicklung wirft spannende Fragen zur Zu­ kunft des städtischen Gewerbes auf. Doch hat man sich mit Zukunftsbildern nicht schon oft genug geirrt ? Immer­ hin ist das Freilager die erste grosse Arealentwicklung im Letzigebiet. Ändert sich dereinst der Markt, so haben wir vorgesorgt: Die Erdgeschosse sind überall vier Meter hoch und so auch für andere Programme gut umnutzbar. Schliessen wir mit der Architektur: Es gibt Backstein, Beton, Holz und Verputz, Neu- und Umbauten, Viel­spänner und einzeln erschlossene Garten­ wohnungen. Bedroht diese Vielfalt nicht gelegentlich den Zusammenhalt des Ganzen ? Maissen: Die Vielfalt von Wohnformen und von architekto­ nischem Ausdruck suchten wir ganz bewusst. Als Bauherr, der für sein eigenes Portfolio baut und vermietet, hatten wir dennoch eine langfristigere Perspektive als ein Pro­ jektentwickler, der sich nach dem Verkauf der Baufelder nicht mehr für das Ganze interessiert. Wichtig sind aus­ serdem Entscheidungsträger auf Planer- und Bauherren­ seite, die von Anfang bis zum Schluss dabei sind und für Qualität einstehen. Bei Grossprojekten ist das eine typi­ sche Sollbruchstelle. Peter:  Auch im langen Prozess des Freilagers wimmelte es von Verträgen, aber es gab nur wenig personelle Kontinui­ tät und Identifikation mit dem Projekt. Doch was hält ein Areal architektonisch zusammen ? Wo bricht es ausei­ nander ? Bewusst verzichteten wir auf einen Gestaltungs­ beirat, der die Projekte nach den Juryentscheiden beglei­ tete oder Regelwerke durchsetzte. Die vorgeschriebene Verwendung von Klinker beim Potsdamer Platz in Berlin zeigt uns gerade, dass Materialvorgaben nicht genügen. Ebenso enden im Richti-Areal in Wallisellen die importier­ ten Arkaden als Retorte und Selbstkarikatur. Wir haben auf starke räumliche Prinzipien gesetzt, der Massstab der Teile hat eine eigene Kraft, und es gibt ein verbindendes Freiraumkonzept. Doch ob das für die architektonische Geschlossenheit ausreicht ? Und überhaupt: Können Ar­ chitekten heute noch gemeinsam Städte bauen ?

Markus Peter Markus Peter ( * 1957 ) ist ­Architekt und leitet seit zwölf Jahren die ­Planung auf dem Freilager-Areal, von ersten Workshops mit der Stadt über städte­ bauliche Studien bis zum Gestaltungsplan mit ­Freiraumkonzept. Seit 2002 ist Peter ordentlicher Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich. Seit 1987 führt er in Zürich ein Büro mit Marcel Meili, 2007 eröffneten sie ein Zweitbüro in München.

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Jean-Claude Maissen ( * 1965 ) ist seit 2013 ­Geschäftsführer der Zürcher Freilager AG. Zuvor arbeitete er zehn Jahre bei der Credit Suisse als ­Immobilienfondsmanager. Der ausgebildete Hochbauzeichner studierte Architektur an der ETH ­Zürich, Betriebswirtschaft an der Zürcher Hoch­ schule Winterthur und absolvierte Weiterbildungen zu Kapitalanlagen und Vermögensverwaltung.

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Maillart bewohnen Eigentlich waren die Bautiefe und der Stützenraster der Gründerbauten zum Wohnen untauglich – und trotzdem funktioniert die Umnutzung. Text: Palle Petersen

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langen und 25 Meter hohen Backsteinwand. Hier erkennt man zweitens: Die Häuser leben von Brüchen und Spannungen. Die nierenförmigen Balkone zum Beispiel: Unbekümmert schufen die Architekten ein plastisches Gebilde Das Herz ist, wo das Leben ist, wo man sich trifft und wo aus unterschiedlichen Radien und liessen sich dabei gleiman handelt. Im Freilager ist das die ‹ Marktgasse › mit chermassen inspirieren von italienischem Barock, siziliaSupermarkt und Kinderkrippe, Velo- und Weinladen, Yoga- nischer Schmiedearbeit und deutscher Freiform. Selbstund Tanzschule, Blumengeschäft und Restaurant. Wenn redend war es ein kleiner Kampf, die als Schmuckstücke die Menschen aus dem Quartier kommen und die Bewoh- vor dem nüchternen Zweckbau gedachten Betonobjekte nerinnen und Bewohner der knapp 200 Wohnungen hier durch die Sparrunden der Ausführung zu bringen. 108 Mal ihre Treppenhäuser betreten, könnte es lebendig werden, hängen sie nun vor der ehemaligen Lagerhalle und verkünso die Hoffnung siehe Seite 4. den selbstbewusst die Umnutzung zum Wohnbau. Doch diese Gasse ist anders. Sie kennt keine verwinkelte Abfolge bunt verputzter Altstadthäuser, sondern ist Sechsspänner mit ‹ plan libre › pfeilgerade und gerahmt vom strengen Rhythmus zweier Damit wären wir im Zentrum der Zwänge und Brüche, Backsteinzeilen. Die 135 Meter langen Gründerbauten des war anfangs doch unklar, ob die beiden BacksteinbauZollfreilagers standen vor neunzig Jahren schon einmal ten überleben würden. Waren 24 Meter Bautiefe im Woham Anfang einkehrenden Lebens. Heute sind sie die letz- nungsbau entwerferisch nicht Selbstmord ? Widersprach ten Zeugen der Zeit, als das Areal zollrechtlich Ausland der Stützenraster von fünf Metern nicht den Massketten war. Damals stellten die Architekten Pfleghard & Haefeli des Wohnungsbaus – zu breit für Zimmer und halbiert zu die mächtigen drei- und viergeschossigen Lagerhallen schmal ? Und würde es gelingen, das gewerblich genutzte mit Laderampen und ausladenden Vordächern so dicht Erdgeschoss zugunsten sinnvoll nutzbarer Ladeneinheianeinander, dass gerade mal zwei vom nahen Altstetter ten nicht mit zahllosen Treppenhäusern zu verbauen ? Meili & Peter Architekten entschieden sich für einen Bahnhof kommende Zuggleise dazwischenpassten. Eng ist die Gasse darum noch immer. Doch weil man die Zei- minimalinvasiven Eingriff in die Struktur. Eine Unterkellenbauten ohne Stufen und Rampen betreten wollte, sitzt lerung war ausgeschlossen. Um das Erdgeschoss frei zu der Boden heute weit höher als früher, nämlich zwanzig halten, entwickelten sie einen Fünf- bis Sechsspänner mit Zentimeter über der Laderampe, die es nicht mehr gibt. durchgesteckten und einseitig orientierten Wohnungen. Nun sitzen die Vordächer seltsam tief, und man begreift Die bloss vier Treppenhäuser auf 135 Metern übernehmen erstens: Diese Häuser bargen nebst grossem Potenzial dabei auch die Gebäudeaussteifung. Weil die Innenwänauch immense Zwänge. de nicht den Achsen des Stützenrasters folgen konnten, führen sie als ‹ plan libre › konsequent um sie herum. Die Pilzstützen, deren Hyperbelform die Nutzlasten der LaVom Städtebau zum Interieur Ausserhalb des Hofs, zur Flurstrasse hin, schaffen gergeschosse auf die breiten Stützen überträgt, stehen Grüninseln einen Filter zwischen Strasse und Platz. Auf nun frei im Raum. Die Betonbäume bezeugen das Verdie Hügelchen pflanzten Vogt Landschaftsarchitekten ständnis ihres Erfinders, des Schweizer Bauingenieurs Buchen und Linden, ein- oder mehrstämmig, mit hohem Robert Maillart ( 1872 – 1940 ), für den Stahlbetonskelettbau Stamm oder Ästen bis zum Boden. Dazwischen fliesst und rahmen nun Küchenzeilen oder stehen etwas verloren Asphalt, er vernetzt das neue Stadtgeviert mit seiner Um- in den Reduits der dunklen Mittelzone. Und sie forderten gebung und mündet in die ehemaligen Laderampen. Zugeständnisse: Da unterläuft eine Wand den ausladenHier spürt man die Vergangenheit ebenso wie vor dem den Pfeilerkopf, dort ragt an der Decke ein Rest aus der Restaurant. Klammheimlich schmuggelten Meili & Peter Nachbarwohnung herüber. Architekten die Kubatur eines früheren Anbaus durch Den Grundriss erklärend spricht Markus Peter von sämtliche Projektphasen und planten sogar die Innenar- « provozierten Variationen », einer « Korrosion des Einheitchitektur. « D er Architektenberuf sollte vom Städtebau lichen » und der « Dissonanz als Gradmesser der polyphobis zum Interieur reichen », meint Markus Peter und er- nen Würde » – und meint damit: Auf den ersten Blick sieht freut sich am eingeschossigen Vorbau mit tragenden Be- der Grundriss chaotisch aus, doch verbirgt er eine durch tonwandscheiben und kräftigem Dach vor der 135 Meter Drehungen und Spiegelungen versteckte Repetition. →

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Die Umnutzung und die Aufstockung der zwei Gründerzeilen zeigen, wie Wohnungsbau bei 24 Metern Bautiefe gelingt. Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — Maillart bewohnen

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→ Wie beim Nachbarprojekt geht es auch hier um Wohnungsvielfalt nicht durch Unikate, sondern durch geometrische Operationen und Schnittfolgen siehe Seite 20. Als wäre die Ausgangslage nicht schon anspruchsvoll genug gewesen. Und so lernen wir drittens: In diesen Häusern steckt viel Wille zur architektonischen Komplexität.

Die Marktgasse voller Gewerbenutzungen ist das Herz des Freilagers.

Loftartig wohnt man um die Pilzstützen des Bestands.

Tiefe Einschnitte bringen Licht in die aufgestockten Wohnungen.

Umkehrung von Eigen- und Nutzlast Ohne Aufstockung wäre der Bestand unrentabel. Die vorschnelle Milchbüchleinrechnung, die hohe Nutzlast der Lagergeschosse auf doppelt so viele Wohngeschosse zu verteilen, vergass die Eigenlast der Bodenaufbauten. Ausserdem waren die oberen Armierungen durch den bestehenden Steinholzboden ankorrodiert, sodass es neue Eisen­einlagen brauchte. Mit der zusätzlichen Verstärkung der Bodenplatte wurde die Eigenlast zu einem entscheidenden Faktor, denn die Vertikallast pro Stütze verdoppelte sich beinahe. Sinnigerweise liess die Auslegung der SIANorm zur Erhaltung von Betontragwerken einen Spielraum offen, sodass sich Stützenverstärkungen meist erübrigten. Weniger Glück hatte der zweite Gründerbau mit drei statt vier Geschossen und hölzernem Dachstuhl statt Betonflachdach. Da wurde die ohnehin rissige Backsteinwand des obersten Geschosses beim Einschneiden der Treppenhäuser und beim Abschleifen der Böden so stark beschädigt, dass die Rekonstruktion – mit Backstein aus einem Meissener Umlauf-Tunnelofen – sinnvoller war als eine Reparatur. Die vierte Erkenntnis lautet deshalb: Jeder Umbau birgt Unvorhersehbares und ist ein Wagnis. Zwischen Haut und Körper Die drei aufgestockten Geschosse greifen die Idee des ‹ plan libre › auf und stellen grün-schwarz gestrichene Betonstützen frei. Weil sie mit 2,6 Metern Raumhöhe aber deutlich tiefer sind als die drei Meter hohen Lofts im Bestand, erlösen hier sechs Meter tiefe und rund dreieinhalb Meter breite Einschnitte von der schier unbewältigbaren Bautiefe. Sie bilden innere Patios: zuunterst an der Fassade, darüber als Brücke und zuoberst zurückversetzt. Gegenseitige Einblicke sind unvermeidbar. Dafür erlauben die Einschnitte Wohnungen mit inneren Blickbezügen und übereck orientierten Hauptwohnräumen. Während die Struktur ein eigenes Thema verfolgt, knüpft die Fassade der Aufstockung an den Bestand an. Aus dem Backsteinverband mit Rollschichten um die Betondecken machen die rot-violetten Keramikfliesen ein geometrisches Spiel: Die dünnen Plättchen liegen im Deckenbereich, stehen zwischen den Fenstern und bilden Wellenmuster zu den verputzten Patios hin. Sie führen um die Ecke und die seitlichen Fenster ; die Keramikverkleidung ist keine homogene Aussenhaut. Darum ist fünftens klar: Dieses Projekt ist vieldeutig und widersprüchlich. Und nun ? Was bedeuten die Zwänge, die Brüche und die Spannungen, der Wille zur architektonischen Komplexität, das Wagnis, die Vieldeutigkeiten und die Widersprüche ? Sicherlich lösen der Umbau und die Aufstockung nicht nur die Probleme der Aufgabe, sondern reichern sie mit eigenen Ideen an. Ist das nun komplex oder kompliziert, mutig oder übermütig, vielschichtig oder überladen ? Manchmal scheint sich das Projekt mit dem rechten Arm um den Hinterkopf herum am linken Ohr zu kratzen. Einfache Mittel hätten dem Bestand kaum ein neues Leben ermöglicht. « Um ihn weiterzuführen, musste man ihm etwas abverlangen », sagt Peter. Fast alles Gebaute tritt heute längst bekannte Wegspuren tiefer. Die aufgestockte Doppelfigur aber sucht und entwickelt relevante Themen weiter. Sie lotet Grenzen aus und überschreitet sie gelegentlich – und so wird Gebautes zu Architektur.

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Durchschusswohnung in der Aufstockung.

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Marktgasse, 2016 Freilagerstrasse, Zürich Architektur:  Meili & Peter Architekten, Zürich ; Mitarbeit: Markus Peter ( verantwortlicher Partner ), Romina Streffing ( Projektleitung ), Elke Eichmann, Oliver Gosteli, 10.2 Roman Pfister, Jürg Spaar, Daniel Streuli Ausführungsplanung:  Plan Werk, Laufen Bauingenieure:  Nänny + Partner, St. Gallen OG_4 Fassadenbauer:  Isi & Hegglin, Stäfa Betonbalkone: Kurt Loacker, Hauptwil Geschossfläche:  39 369 m2 auf 6 / 7 Geschossen Nutzung:  80,7 % Wohnen ( 43 × 2 ½, 64 × 3 ½, 71 × 4 ½, 17 × 5 ½ ), 8,6 % Gewerbe, 7,8 % Dienstleistung, 2,9 % Lager

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Neue Dichte und neues Leben: Wo man neunzig Jahre zollfrei Waren lagerte, leben bald über 2000 Menschen.

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Der Zeilenhofkamm Der Städtebau wollte Nähe, die Wohnung hingegen Weitblick. Ein verdrehter Wohnungstypus löst den Widerspruch elegant. Text: Palle Petersen

Von aussen wirkt der ‹ Südhof › fast beängstigend. Wie mo­ numentale Sägeblätter fressen sich drei achtgeschossige Zackenzeilen durch den Stadtraum. Viele Kanten, ver­ schiedene Raumhöhen und die Erosion der Struktur in den oberen Geschossen – das hätte im Chaos enden können. Dank weit aufstrebender Klinkerpfeiler tut es das nicht. Sie bändigen das Innere, stehen Spalier vor der aufgereg­ ten Struktur, so streng und pfeilgerade, dass man daran zweifelt, dass zwei Maurermeister sie in situ hochgezogen haben. Um Toleranzprobleme zu vermeiden, mauerten sie die Pfeiler zwischen die temporär abgestützten Beton­ elemente mit vorbereiteten Nocken und unter das obers­ te Element. Nun stehen die Balkone unabhängig vor der Struktur. So verursachen sie wenige Kältebrücken und erfordern keine Abdichtung – bei 370 Balkonen ein wichti­ ges Argument, um die Pfeiler vor dem Spardruck zu retten. Angelehnt an die nahen Gründerzeilen sind die fünf­ geschossigen Pfeiler der Aussenfassaden aus zwei rötli­ chen Klinkersorten gemauert. Dahinter liegt die gezackte Fenster-, Wand- und Brüstungslandschaft. Bei den Hoffas­ saden ist diese Ebene gerade, und die Pfeiler bilden einen Gebäudehorizont auf Höhe des sechsten Geschosses. Der Backstein ist hier weiss engobiert und harmoniert mit den Stämmen der Birken. Darunter spannt geschliffener Be­ ton ein orthogonales Netz um Hecken und Gebüsche mit weissen Blüten. Der Ankunftsort für fast alle Bewohnerin­ nen und Bewohner ist ein Ort der Ruhe. Der starke Rhythmus der Klinkerpfeiler beruhigt die Struktur und verleiht den Aussen- und Hoffassaden Tiefe. Demgegenüber wirkt der grau gestrichene, grobe Kellen­ wurfputz an der Promenadenfassade allein gelassen mit den mageren Betonsäulchen der bloss anderthalb Meter tiefen Arkade. Velohallen statt ursprünglich geplanter Gewerbeflächen schaffen immerhin Begegnungszonen für die Bewohner. Doch architektonisch wirkt das sonst starke Projekt ausgerechnet zur Mitte des Areals schwach.

lage und vom Bachwiesenpark umrahmt, möchte man das urbane Publikum erreichen. Dafür kreierten die bei­ den Architekturbüros – Office Haratori aus Zürich und Office Winhov aus Amsterdam – einen räumlich interes­ santen und städtebaulich vieldeutigen Hybrid zwischen Zeilen, Hofbau und Kamm. Im Inneren gibt es kein Regelgeschoss und keine Re­ gelwohnung, bloss einen zweispännigen Wohnungstypus, der sich wandelnd wiederholt. Seine Eigenart zeigt sich bereits beim Eintreten: Brav reihen sich die Individual­ zimmer entlang der einen Seitenwand. Die andere kippt im 30-Grad-Winkel, weitet oder verengt den Raum. Das geräumige Entree verschmilzt mit einem quer liegenden Wohn-, Ess- und Verteilerzimmer. Es führt zu Hauptwohn­ raum und Küche, die übereck verglast einen langen Bal­ kon rahmen. Spätestens hier fällt der Blick in die Weite und macht deutlich, warum sich die halbe Wohnung um dreissig Grad windet: Die Ausdrehung orientiert die Woh­ nungen zum Landschaftsraum des Üetlibergs.

Nicht modern Hinter der Ausdrehung stecken hausgemachte Kom­ plikationen oder anders gesagt: städtebauliche Überle­ gungen. Während der Gestaltungsplan allerorts präzise Volumen vorgab, war der Wettbewerb auf dem Teilgebiet C offener. Nun zeigte sich zwar, dass die Setzung der städ­ tebaulichen Vorstudie – drei achtgeschossige, zur Prome­ nade durch einen Kopfbau kammartig verbundene Zei­ len – das dichte Raumprogramm am besten ermöglichte. Doch statt die Zeilen möglichst locker auf dem Baufeld zu platzieren, rückt die Bebauung nun entschieden von den zwei Gründerbauten ab und in sich zusammen. Mit nur 25 Metern Abstand kompensieren die zwei langen Zeilen die zum Nachbarn gewonnene Weite und bilden neben der gründerzeitlichen Doppelfigur ein zweites Zwillingspaar mit ähnlicher Dimension, Materialisierung und Nähe. Mit dem Problem der Nähe kam die Genfer Wohnzeile in Miremont-le-Crêt auf den Entwurfstisch. Interessant sind heute vor allem die Unterschiede zu Marc-Joseph Saugeys Projekt aus den Fünfzigerjahren: Beim Einzelbau in Genf erfasst die Überlagerung zweier Ordnungen den gesamten Grundriss. Dahinter stecken einerseits streng Wohnungsdreh zum Ausblick Die Wohnungen im ‹ S üdhof › sind geräumig, beina­ moderne Vorstellungen über Himmelsrichtungen, ande­ he verschwenderisch – die meisten mit dreieinhalb oder rerseits fällt durch die gezackte Fassade grosszügig Ta­ viereinhalb Zimmern, 100 bis 120 Quadratmetern und geslicht in die vierspännig organisierten und einseitig ori­ 2400 bis 3500 Franken Mietzins. Da, an bester Wohn­ entierten Kleinstwohnungen. Das Zürcher Zeilenpaar →

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Wie monumentale Sägeblätter fressen sich die achtgeschossigen Zackenzeilen durch den Stadtraum und lenken die Blicke der Bewohner in den Landschaftsraum des Üetlibergs. Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — Der Zeilenhofkamm

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→ dagegen bildet mit zwei geräumigen Durchschusswoh­ nungen pro Treppenhaus eine symmetrische Komposi­ tion. Dabei folgen die Individualzimmer nach innen der Grundordnung, währenddem sich die Hauptwohnräume in die Weite ausdrehen.

Der Südhof: Der Ankunftsort der Bewohner ist ruhig, grün und weiss.

Die Hauptwohnräume: Die Ausdrehung orientiert die Wohnungen anein­ ander vorbei und in die landschaftliche Tiefe statt zum Gegenüber.

Das Treppenhaus: viel Gestaltung für wenig Geld.

Nicht repetitiv Der Hauptunterschied ist die Wohnungsvielfalt. Wäh­ rend der seinerzeitige Massenwohnungsbau oft streng seriell funktionierte, will man heute die Individualgesell­ schaft bedienen. Repetition war gestern, der Zeitgeist heisst Varianz. Und die Architekten schaffen sie nicht durch aneinandergereihte Einzelfälle. Zwar liegen anders­ artige, lang und übereck organisierte Kopfwohnungen an den Zeilenenden und Hof-Eck-Wohnungen an den inneren Übergängen zu den Querbauten. In den Zeilen aber beruht die Vielfalt auf Prinzipien. Das erste und wichtigste Prinzip ist das Spiel mit den Geschosshöhen der langen Zeilen. Im Erdgeschoss liegt die Gartenwohnung mit viereinhalb Zimmern. Den Auf­ takt macht der von Klinkermauern gefasste, erhöhte Gar­ ten. Hier betritt der Bewohner die Wohnung und gelangt mittels weniger Stufen hinab zum Hof. Dort, am tiefsten Punkt des engen Hofs, bringt eine überhohe Raumschicht genügend Tageslicht ins Innere. Darüber beginnt die Ver­ schachtelung durch vertikale Schalträume. Zunächst ha­ ben die 4 ½-Zimmer-Wohnungen ein höheres Zimmer auf gleicher Ebene, dann ein Zimmer weniger und dann ein höheres mit ein paar Stufen nach unten. Das Spiel vom ersten zum dritten Obergeschoss wiederholt sich im Zim­ mer nebenan vom zweiten zum vierten. Und im fünften schliesslich liegen ganz normale Geschosswohnungen. Das zweite Prinzip ist die Erosion der Struktur in den Geschossen sechs und sieben. Auch da sind keine über­ hohen Zimmer mehr nötig, und statt Balkonen und Klin­ kerpfeilern haben die 3 ½-Zimmer-Wohnungen eigene Dachterrassen. Das dritte Prinzip ist die Anpassung nicht tragender Wände. Im einen Riegel begünstigen überhohe Türen das Durchwohnen, sofern man da kein Schlaf- oder Kinderzimmer einrichtet. Im anderen Riegel ist die Wand, die sonst den quer liegenden Verbindungsraum fasst, zur Stütze aufgelöst und lässt den Wohnraum fliessen. Das fünfte Prinzip ist im Immo-Marketing bekannt. Hinter sechs Ausbaustimmungen, benannt nach mediterranen Städten, stecken konventionelle Kombinationen: Nuss­ baum oder Raucheiche am Boden, Granit als Küchenab­ deckung, Feinsteinzeug oder Mosaik im Bad. Lediglich ‹ Porto › ist dezent eigen und kombiniert Anhydrit, Chrom­ stahl und Steingut. So weit, so Mietwohnungsbau. Wider moderne Paradigmen Im Treppenhaus demonstrieren die Architekten ihr ganzes Können: Den Boden bedecken aus einem Block Kunststein gesägte Platten, im Erdgeschoss grün, darüber weiss – die Farben entsprechen jenen der Hofbepflanzung. Ein grasgrünes Stahlgeländer integriert die Beleuchtung. Die schwarzgrüne Decke wirkt luftig, und ein weiss glän­ zender Anstrich auf den Sichtbetonwänden lässt eine Fussleiste übrig, springt keck ganze Treppenläufe hoch und umrahmt die Wohnungstüren aus Eiche. Viel Gestal­ tung für wenig Geld. Die grösste Leistung aber ist allgemeiner: Die Archi­ tekten dachten eine ohnehin kluge Wohnungstypologie weiter und stellten Aussenräume und Ausblicke vor mo­ derne Paradigmen wie Gebäudeabstand und Himmels­ richtung. Der Rhythmus der Klinkerpfeiler und die raum­ haltige Fassade gliedern und beruhigen die komplexe Raumstruktur. Saugey hätte sich gefreut.

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Erdgeschoss mit Gartenwohnung. M 1 : 500

Querschnitt

Südhof, 2016 Freilagerstrasse, Zürich Architektur:  Office Haratori (Nahoko Hara, Jürg Spaar, Zeno Vogel), Zürich ; Mitarbeit: Mercè Brunés ( Projektleitung ), Christian Gammeter, Charles Hueber, Monique Hutsche­

makers, Ana Silva, Maria Valenzuela, Con­stance Leroy ( Wett­bewerb ), Bianca Brici ( Vor­projekt ), Christoph Wiesner ( Bau­projekt ), Maike Funk ( Aus­schrei­ bung ) ; Office Winhov, ( Jan Peter Wingender, Joost Hovenier, Uri Gilad ), Am­

sterdam ; Mitarbeit: Giles Townshend ( Wettbewerb ) Bauphysik, Haustechnik:  Amstein + Walthert, Zürich Umgebung:  Müller Illien Landschaftsarchitekten, Zürich Fenster:  Fenster Fabrik Albisrieden, Zürich

Klinkerpfeiler:  Bautec, Seewen Geschossfläche:  37 822 m2 auf 8 Geschossen Nutzung:  99,7 % Wohnen ( 7 × 1 ½, 39 × 2 ½, 103 × 3 ½, 106 × 4 ½, 14 × 5 ½ ), 0,3 % Lager

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« Wir brauchen neue Instrumente » Die Stadtentwicklung wird immer komplexer. Die städtische Gebietsverantwortliche und der Landschaftsarchitekt reflektieren die Planung. Interview: Gabriela Neuhaus

Bereitstellung von Schulraum in der Infrastrukturdebatte der Stadt Zürich noch keine so hohe Priorität, wie sie es heute hat. Eine 2007 ausgearbeitete Strategie zeigte auf, wo der Schulraum im Gebiet unterzubringen ist. Im Rahmen dieser Strategie fiel der Entscheid auf das FaWelche Bedeutung hat die Neuüberbauung und Öffnung miliengartenareal, das ja im Besitz der Stadt ist. Heute des früheren Zollfreilagers für die Entwicklung der Stadt, namentlich der umliegenden Quartiere ? würde man es wohl etwas anders angehen, allenfalls soKlingele Frey:  In Zürich begann die Umnutzung ehemaliger gar mit dem Investor den Bau eines Schulhauses auf dem Industrieareale ab den Neunzigerjahren zuerst im Norden Areal aushandeln. Nicht zuletzt, weil die Bauherrschaften, und setzte sich mit besonderer Dynamik im Westen der Grundeigentümer und Entwickler ein vertieftes VerständStadt fort. Ab dem Jahr 2000 untersuchten wir auch das nis dafür entwickelt haben, wie wichtig die Bereitstellung Entwicklungspotenzial im Letzigebiet. 2005 verabschie- von Schulhäusern und Grünräumen für die Vermarktung deten wir Grundsätze zur Gebietsentwicklung, die diesen von Wohnungen ist. Stadtteil als heterogenes Konglomerat unterschiedlichster Baustrukturen und Nutzungsinseln wahrnehmen. Diese Inseln wollen wir mit ihren unterschiedlichen Charakteren erhalten und weiterentwickeln und gleichzeitig über Wege und Freiräume verbinden. Vogt: Als man auf dem Areal noch zollfrei handelte, gehörte es nicht einmal zur Schweiz. Deshalb war es weit schärfer vom übrigen Stadtkörper abgetrennt als etwa Monika Klingele Frey das Maag-Areal. Dieses war integriert, obschon es der Öffentlichkeit nicht zugänglich war, weil viele Menschen Vogt: Aber man kann doch einen privaten Bauherrn oder dort arbeiteten und in der Nachbarschaft wohnten. Das Generalunternehmer nicht verpflichten, eine Schule zu Zollfreilager beschäftigte nur wenige. Also war es nicht bauen. Was in der Schweiz fehlt oder noch in den Kinim Bewusstsein der Menschen – und ist es bis heute nicht. derschuhen steckt, sind PPPs, sogenannte Public Private Das zeigt zum Beispiel die Debatte über den Standort Partnerships. In Deutschland werden solche Gebietsentdes Schulhauses: Vielen war nicht bewusst, dass im Frei- wicklungen oft im Auftrag der Stadt von privaten Firmen lager innert kürzester Zeit viele Familien wohnen werden. abgewickelt. Diese sind weder ganz privat noch ganz öfDas verändert den Magnetismus der Stadt. Die Umnut- fentlich, vergleichbar mit den Zürcher Genossenschafzung des Areals prägt das gesamte Quartier, weil die Sied- ten. Für die Transformation grosser Areale müsste man lung eine kritische Grösse erreicht hat. nicht nur ein entsprechendes Baurecht schaffen, sondern Weshalb hat die Stadt nicht dafür gesorgt, dass grundsätzlich über neue Instrumente und Prozesse der die Schule rechtzeitig zum Wohnungsbezug bereitsteht ? Stadtentwicklung nachdenken. Und wieso nicht dort, wo die Kinder wohnen, sondern Klingele Frey: Sie haben vollkommen recht. Auch die Stadt ­ausserhalb des Freilagers, wo Familiengärten der Schule Zürich sucht nach Wegen, um die verschiedenen Akteuweichen müssen ? re noch stärker in die Stadtentwicklung einzubinden. Als Klingele Frey:  Das ist die Perspektive, die wir heute haben. man im Jahr 2002 das Gebietsmanagement für EntwickBegonnen hat die Planung hinsichtlich Schulanlagen im lungsgebiete einführte, um unterschiedliche Beteiligte Letzigebiet selbstverständlich früher. Damals hatte die wie stadtinterne Abteilungen, private Bauherrschaften

« Wir wollten den insularen Charakter des Letzigebiets weiterentwickeln. »

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und Entwickler zu koordinieren, stand vor allem die Transformation von Industriegebieten zu gemischt genutzten Stadtteilen im Vordergrund. Heute sind die Anforderungen hinsichtlich Stadtteilentwicklung noch komplexer und bedürfen der Weiterentwicklung vorhandener Instrumente. Da kann man durchaus von den Nachbarländern lernen und Modelle wie beispielsweise PPPs proaktiv prüfen und lokal anpassen. Welche Rolle spielt die Freiraumplanung für die Einbettung ins Stadtquartier ? Vogt: Rund um das Areal ist nicht Natur, sondern gebaute Stadt. Bis in die Sechzigerjahre wuchs die Stadt von innen nach aussen, heute ist es umgekehrt: Sie implodiert. In einer solchen Situation muss man im öffentlichen Raum mit städtischen Typologien arbeiten, was leider oft als konservativ gilt. Dabei verstehen es die Menschen, wenn ich

« F ür den Schwatz über den Gartenzaun braucht es den Zaun. » Günther Vogt

von einem Quartierpark oder Quartierplatz spreche. Die öffentlichen Räume im Zürcher Freilager sind explizit für das Quartier konzipiert. Das ist nicht dasselbe wie ein grosser Stadtplatz oder -park. In Zürich bin ich innert kürzester Zeit am See. Die nahen Wälder, der Zürich- und der Üetliberg, das See- und Limmatufer sind die eigentlichen Park­anlagen der Stadt. Das wird oft nicht verstanden. Öffentlicher Raum muss verhandelt werden, und da sprechen wir nicht immer die gleiche Sprache. Hätte man die bestehenden Grünräume und Park­anlagen rundum nicht noch weiter verdichten und die innenliegenden Freiräume enger halten können ? Klingele Frey: Hier geht es um städtebaulich verträgliche Dichte. Im Letzigebiet haben wir auch Kleinhaussiedlungen. In diesem Kontext muss man entscheiden, welche Dichte überhaupt möglich ist. Bei der Auslotung des Konzepts betrachteten wir die nun gebaute Dichte sowohl für die künftigen Nutzer als auch für die Einbindung in das Umfeld als verträglich. Historisch hatte das Zollfreilager bereits einen grossen Fussabdruck, der sich durch Massivität auszeichnete. Vogt: Wir können durchaus über höhere Dichte sprechen. Geplante Urbanität ist aber nicht dasselbe wie gelebte Urbanität. Weshalb funktioniert Zürich West nicht wirklich ? Mitunter, weil das Wohnungsangebot im Hochhaus auf grosse Wohnflächen mit wenigen Bewohnern ausgerichtet ist. Doch ohne Menschen ist auch ein noch so dicht

bebauter Stadtteil nicht urban. Alle reden nur von der baulichen Dichte, ich spreche von der sozialen Dichte: Ob sich abends 200 oder 2000 Menschen im Quartier bewegen, ist ein Unterschied. Was war der Knackpunkt bei der Planung der Aussenräume ? Vogt: Das Erdgeschossproblem hat uns sehr beschäftigt, nicht bloss gestalterisch. Man muss klar unterscheiden zwischen privaten und öffentlichen Räumen – halbprivat geht nicht. Für den Schwatz über den Gartenzaun braucht es den Zaun. Fehlt er, gibt es ziemlich sicher Streit. Deshalb haben wir den öffentlichen Raum, den sich die Bewohnerinnen des Freilagers und der umliegenden Quartiere aneignen können, von den privaten Bereichen klar abgegrenzt. Daraus können durchaus Zwischenzonen entstehen, aber erst durch gelebte Urbanität. Zuerst müssen die Menschen verstehen, ob sie an einem Ort erwünscht sind oder nicht. Man muss öffentlichen Raum verhandeln. Machte die Stadt der Bauherrschaft Auflagen, etwa betreffend Erdgeschossnutzungen und ­Freiraumgestaltung  ? Klingele Frey:  Wir stehen immer im Dialog mit den Grundeigentümern. Man kann beratend und manchmal auch ermahnend darauf hinweisen, dass ein ausgewogener Wohnungsmix sowie die Nutzung und die Gestaltung der Erdgeschosse der Bauherrschaft etwas bringen. Auch im Gestaltungsplanverfahren kann man so etwas formulieren. Dann aber kommt der Markt ins Spiel, und wie es schliesslich herauskommt, ist eine andere Geschichte. Vogt: Der vorgeschriebene Wohnanteil ist eine gute Sache. Dadurch leben hier Menschen, und das Quartier ist am Wochenende nicht ausgestorben. Für alles Weitere bräuchte es aber eine Person, die den richtigen Angebotsmix steuert und aktiv nach passenden Mietern sucht. Wie haben Sie den gesamten Prozess erlebt ? Sind Sie zufrieden mit dem Resultat ? Vogt:  Insgesamt war der Prozess fast vorbildlich, sogar ohne einen Steuerungsmanager. Erstens weil die Zürcher Freilager AG als Bauherrschaft gesprächsbereit und offen war. Zweitens weil Meili & Peter die Moderatorenrolle bei den Architekten übernahmen. Bedauerlich ist aber, dass nach zweijähriger Arbeit bis zum Gestaltungsplan noch einmal ein städtebaulicher Wettbewerb für einen Teilbereich durchgeführt wurde. Aus­serdem wird der öffentliche Raum, der das Areal als gestalterische Klammer zusammenbinden sollte, nun durch zwei Landschaftsarchitekten gestaltet. Ich kritisiere keine gestalterischen Haltungen, sondern das Schweizer Phänomen, Planungsaufgaben in kleinstmögliche Einheiten zu teilen. Klingele Frey:  Die Mischung von Nutzungen und Wohnungstypen im Freilager ist innovativ. Die Transformation des Areals ist mit den verfügbaren Mitteln gelungen. Für die Beurteilung des Ganzen ist es heute aber noch zu früh. Der Belebung muss man Zeit lassen, das ist ganz normal.

Günther Vogt Günther Vogt ( * 1957 ) ist Professor für Landschafts­ architektur an der ETH ­Zürich und Leiter des ­Büros Vogt Landschafts­ architekten. Er begleitete bereits die Erarbeitung des städtebaulichen Leit­ bilds für die Umnutzung des Zollfreilagers, sein Büro ist für den grössten Teil der Freiraumge­staltung auf dem Areal zuständig.

Monika Klingele Frey Monika Klingele Frey ( * 1961 ) hat an der Techni­ schen Universität in Berlin Stadt- und Regionalpla­ nung studiert. Seit 2008 ist sie Mitglied des Kaders beim Amt für Städtebau in Zürich, seit 2010 Gebiets­ verantwortliche und Lei­terin Team West.

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Holzurbanismus Hinter den Rautitürmen bestechen drei lange Wohnhäuser aus Holz durch ihre starke Struktur. Ein viertes für Studenten ergänzt sie gewitzt. Text: Marcel Bächtiger

Die drei Langhäuser Rolf Mühlethalers nehmen eine be­ sondere Stellung in der gegenwärtigen Schweizer Archi­ tekturlandschaft ein. Sie lässt sich unter zwei Aspekten begreifen. Der erste ist der Dimensionssprung im Kon­ struieren mit Holz. 187 Wohnungen im Holz-System-Bau – das ist neu, vergleichbar einzig mit dem Mehrgeneratio­ nen-Wohnhaus Giesserei in Winterthur. Lediglich die aussteifenden Kerne mit Treppe und Lift sind aus Beton gebaut, sonst bestehen die Langhäuser gänzlich aus Holz, vom Boden über Stützen und Wände bis zu Türen und Fenstern. Dass der verantwortliche Holzbauer Renggli von einem « neuen Höhepunkt im Schweizer Holzbau » spricht, hat also seine Berechtigung, ebenso das Schlag­ wort von der « Urbanisierung des Holzes ». Der zweite Aspekt scheint der Novität zunächst zu widersprechen, weist er doch in die Vergangenheit zu­ rück: Es ist die von Mühlethaler proklamierte Besinnung auf « vergessene Thesen der Sechzigerjahre ». Das Bauen mit Holz meint er damit nicht. Was aber dann ? Den Städ­ tebau ? Die Architektur ? « Beides », sagt Rolf Mühlethaler und verweist auf das Tscharnergut, jene Grossüberbau­ ung in Bern-Bethlehem und eine der radikalsten spätmo­ dernen Siedlungsbauten in der Schweiz. Was einigen als Inbegriff einer fehlgeleiteten urbanistischen Ideologie er­ scheint, ist für Mühlethaler ein Beispiel struktureller und architektonischer Stringenz. Mit der Sanierung und der Erweiterung des Tscharnerguts ist sein Büro zeitgleich zum Freilager-Projekt beschäftigt, und die Auseinander­ setzung mit der grossmassstäblichen Satellitenstadt im Westen Berns habe auf das Zürcher Projekt abgefärbt. Urbanistischer Mittelweg Es liegt vielleicht an diesem zeituntypischen Faible für modernistische Themen, dass sich Mühlethaler mü­ helos mit dem von Meili & Peter Architekten vorgegebenen städtebaulichen Konzept identifizierte. Einem Konzept, das eingedenk der industriellen Vergangenheit des Areals einen urbanistischen Mittelweg vorschlug, der sich so­ wohl der modernen Vorstellung frei stehender Objekte als auch der traditionellen Stadtraumbildung verpflichtete. Gerade das von Mühlethaler bearbeitete Teilgebiet weist dabei verblüffende Parallelen zum Tscharnergut auf. Wie in Bern-Bethlehem ergänzen sich auch im Zürcher Frei­ lager vertikale mit horizontalen Volumen: Die drei Hoch­

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häuser an der Rautistrasse stehen in rechtem Winkel und leicht versetzt zu den vier Langhäusern dahinter. Es gibt da erst einmal keinen zusammenhängenden Stadtkörper mit eindeutigen Vorder- und Hinterseiten oder Stras­sen und Höfen, sondern einfache Körper auf einem ortho­ gonalen Grundmuster und einen durchlässigen Aussen­ raum. Der Unterschied zum « Tscharni », wie es Mühle­ thaler nennt, liegt gleichwohl auf der Hand und lässt sich in einfachen Zahlen benennen. Dort beträgt die Ausnüt­ zungsziffer 1, hier 2. Die Dichte ist also hoch, aber sie bedeutet keine Qualitätseinbusse. Im Gegenteil: Weil die einzelnen Bauten im Freilager stellenweise aufreizend nahe zu­einandertreten, geht aus der Objektstadt unversehens eine Abfolge gefasster Stadträume hervor – spannungsvoll in den Ecksituationen, wo Hoch- und Langhäuser beina­ he aneinanderstossen, grosszügig in den langgezogenen Zwischenräumen, die zum südlichen Teilgebiet mit dem aufgestockten Gründerbau und dem Südhof vermitteln. Unmittelbarer treten die « vergessenen Thesen der Sechzigerjahre » in der architektonischen Ausformulie­ rung hervor. Statt auf Formerfindungen und Ornamen­ tik setzt Mühlethaler auf eine Architektur gedanklicher Klarheit. Konstruktive und funktionale Anforderungen übersetzt er in eine kohärente Struktur, die in repetitiver Strenge zu architektonischer Anmut findet. Was für die eine Wohnung überlegt wurde, gilt auch für die andere, was im ersten Geschoss gut ist, muss auch im sechsten recht sein. Ob eineinhalb oder viereinhalb Zimmer – alle Grundrisse basieren auf der pragmatischen Einteilung in rechtwinklige, nutzungsneutrale Räume. Nischen und Re­ duits sucht man vergeblich, dafür gibt es viel Wohnfläche zu moderaten Preisen. Strenge und Leichtigkeit Womit wir wieder beim Holz-System-Bau wären, denn dieser bestimmte das grundlegende Massmodul der gan­ zen Architektur: Als optimale Spannweite setzen 3,35 Me­ ter die durchgängigen Raumdimensionen fest. Was nicht heisst, dass es keine Differenzierung gäbe. Bei zwei Lang­ häusern übernehmen nebst Fassade und Kern die innen­ liegenden Längswände die Vertikallasten, beim dritten die Querwände. Beim ersten Typ erstreckt sich der Wohnraum deshalb als doppelt breites Zimmer entlang der Fassade, beim zweiten zieht er sich schmal und lang von der einen zur anderen Seite. Mit seinen Dimensionen von 3,35 auf 15 Meter ist dieser Wohnraum freilich gewöhnungsbedürf­ tig: Gleichzeitig Wohnzimmer, Küche und Entree fordert er die Bewohner bei der Möblierung heraus. →

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Zwischen Stadtraum und Park: Blick von einer Veranda auf den langgestreckten Innenhof. Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — Holzurbanismus

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Jede Wohnung besitzt eine laubenähnliche Veranda.

Eine Enfilade ermöglicht den Durchblick durch die ganze Wohnung.

Doppelflügelige Türen erlauben eine vielfältige Nutzung.

→ Was uniform erscheint, zeigt näher besehen fein rhyth­ misierte Fassaden und eine wohlüberlegte Abstufung in der Materialisierung. Holz ist bei den Langhäusern nicht einfach Holz: Dunkel sind die druckimprägnierten Fas­ sadenelemente, hell die Decken der Veranden, lackiert die runden Stützen. Die charakteristische allseitige Aus­ kragung der Geschossdecken bildet unterschiedlich tie­ fe Veranden, während die Fensterbreite je nach Fassade variiert – Ersteres dient dem Witterungsschutz, Letzteres den Minergie-Eco-Anforderungen. Der Privatsphäre ge­ schuldet ist die Unterteilung der Veranda mit Trennwän­ den. Der pragmatische Eingriff unterlegt die Fassade mit einem Rhythmus von zwei bis vier zusammengehörigen Moduleinheiten. Das Gesamte habe « etwas Japanisches, eine Poetik, in der sich Strenge und Leichtigkeit bedin­ gen », urteilte die Jury damals über Mühlethalers Wettbe­ werbsbeitrag – und das Lob gilt auch dem Gebauten. Eine gewitzte Variation des Typs stellt das vierte Lang­ haus dar, das den nordöstlichen Abschluss bildet. Von Meili & Peter Architekten im Wissen um das Projekt Müh­ le­thaler entworfen nimmt der Bau bestimmende Merkma­ le wie die horizontale Schichtung und die zurückversetzte Fassade aus Holztafeln auf. Das Haus ist aber kein Holz­ bau, sondern ein mit Holz verkleideter Massivbau – nicht zuletzt wegen des Kostenziels, das man mit der studenti­ schen Wohngenossenschaft Woko vereinbart hatte. Das studentische Wohnen bestimmt auch das Innenleben, das dem Prinzip der Stapelung unerwartete vertikale Quer­ verbindungen einschreibt. Neben zwei durchgehenden Erschliessungskernen gibt es interne Treppen, die die grösseren, auf je zwei Geschossen organisierten Wohnge­ meinschaften in kleine Häuser verwandeln. Meili & Peter Architekten gelingt damit ein räumlich komplexes Projekt, das gleichwohl mit der einfachen Struktur von Mühle­ thalers Architektur korrespondiert. Belebtes Muster Auch die Freiraumgestaltung ist eine Modulation in­ nerhalb eines strengen Grundmusters: Zwischen den vier Riegeln liegen längliche Aussenräume, die im Norden von den Rautitürmen gefasst werden und sich im Süden zur grosszügigen Querverbindung in der Mitte des Freilagers öffnen. Die repetitive Ordnung beleben Vogt Landschafts­ architekten mit unterschiedlichen Elementen. Der mit­ tige Aussenraum führt die öffentliche Querverbindung fort. Der harte Bodenbelag zieht sich hier weiter und er­ schliesst die beiden angrenzenden Langhäuser. Die erfin­ derischen ‹ Heckenkabinette › – raumhaltige Hecken mit Bänken, Durchgängen und Veloabstellplätzen – vermitteln zwischen Platz und Hauseingängen, während auf dem chaussierten Mittelstreifen ein Pavillon aus Lindenbäu­ men zum Treffpunkt der Bewohner wächst. Beide seitlichen Aussenräume sind begrünt. Damit blickt jedes Langhaus auf einer Seite in einen gartenähn­ lichen Hof. Hecken schaffen dort einen privaten Bereich für die Erdgeschosswohnungen, während auf dem mit­ tigen Grünstreifen ein ‹ Spieldorf › respektive eine ‹ Spiel­ stadt › aus einfachen Betonelementen entsteht – Städte­ bau für die Kleinen. Dereinst wird man durch das Grün auf die ausladen­ den Veranden der Langhäuser blicken, die anmuten wie gestapelte Datschen in der Natur. Und doch ist es Stadt. Auf dem Freilager wird Holz urban: eine These für die Zu­ kunft und Erinnerung an das Vergangene zugleich. Nicht zuletzt, so Mühlethaler, sei das Holz nämlich auch eine atmosphärische Reminiszenz an die langen Lagerhallen aus dunklem Holz, die einst auf dem Freilager standen und heute verschwunden sind.

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Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — Holzurbanismus

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5.OG M 1:870

4.OG M 1:870

C

A D

3.OG M 1:870

2.OG M 1:870

1.OG M 1:870

10 5 1 0

EG M 1:870

B

Erdgeschoss mit Umgebung ( links Studentenzeile ).

M 1 : 1000

Langhäuser, 2016 Flurstrasse, Zürich Architektur: Rolf Mühlethaler, Bern ; Mitarbeit: siehe Seite 29 Bauingenieure:  Ingenta, Bern Holzbauingenieure:  Indermühle Bauingenieure, Thun Haustechnik:  Amstein + Walthert, Zürich Holzbau:  Renggli, Schötz Betonelemente:  Nägele­bau, Röthis ( A ) Auftragsart:  Studienauftrag, 2010 Geschossfläche:  28 150 m2 auf 6 Geschossen Nutzung:  100 % Wohnen ( 5 × 1 ½, 52 × 2 ½, 74 × 3 ½, 51 × 4 ½, 5 × 5 ½ )

A7.2 EG - OG 5 Zi ½-Zimmer-Wohnung C391.41/23  m2 Anzahl 10

AA5/A6.3 4 ½-Zimmer-Wohnung EG - OG 5

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4 1/2 Zi 113.1 m2 Anzahl A5 17 / A6 6 A5 subventioniert

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A6.1 OG 1-5 Zi ½-Zimmer-Wohnung B391.31/23  m2 Anzahl 20

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A7.3 EG - OG 5

D4 1/24 Zi ½-Zimmer-Wohnung

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M 1 : 250

112.4 m2 Anzahl 16

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Studentenzeile, 2016 Flurstrasse, Zürich Architektur:  Meili & Peter Architekten, Zürich Geschossfläche:  7238 m2 auf 6 Geschossen Nutzung:  100 % Wohnen ( 11 × 5 ½, 1 × 6 ½, 21 × 8 ½ )

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Lange Zeilen, hohe Türme – und ein Spieldorf für die Kleinen.

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Drei Prisen Perret Angelehnt an Auguste Perrets Türme in Le Havre bringen drei sorgfältig detaillierte Hochhäuser französisches Flair nach Altstetten. Text: Andres Herzog

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« Ursprünglich wollten wir sie wie die benachbarten Längs­ bauten aus Holz bauen », sagt der Architekt Rolf Mühle­ thaler und blickt über die Betonfassaden der Rautitürme. Die drei Türme ragen zwölf und dreizehn Stockwerke hoch in den Altstetter Himmel. Es sei grundsätzlich möglich, vierzig Meter hohe Häuser in Holz zu errichten, erklärt der Architekt, « aber mit einschneidenden brandschutz­ technischen, konstruktiven und ökonomischen Folgen ». Also konstruierte Mühlethaler ebenso konsequent in Be­ ton, wie die anderen Bauten auf dem Freilager-Areal auf Holz, Putz oder Klinker setzen. Die strenge Repetition, das Mass der Elemente oder den horizontalen Witterungs­ schutz der Fassade leitete Mühlethaler jedoch aus dem Holzbau ab. Holzgerechter Beton sozusagen. Diese Über­ setzung mag auf den ersten Blick eigenartig erscheinen. Im Kontext der hölzernen Längsbauten leuchtet sie aber ein. Obschon der Städtebau und das Material grundver­ schieden sind, erkennt man die Verwandtschaft zwischen den beiden Teilprojekten. Wer die Türme zum ersten Mal sieht, denkt nicht an Holz, sondern an Le Havre in Frankreich, an Auguste Per­ rets Betonstadt par excellence. In der nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebauten Stadt stehen vier Hochhäu­ ser, die den drei Bauten in Zürich-Altstetten verblüffend ähnlich sehen. « Nachdem wir beim Entwurf von Holz auf Beton gewechselt hatten, schwang Perret mit », erklärt Mühle­thaler. Die Bezüge sind offensichtlich: Bei jedem dritten Geschoss kragt ein Balkon rundherum weit aus

und gliedert das Übereinanderstapeln des immer Glei­ chen. Der Raster läuft stur über die Blindfenster durch, in Zürich selbst über die Loggien. Eine präzis komponierte Symmetrie in Grau. Durchdeklinierter Sichtbeton Anders als in den Fünfzigerjahren ist eine so detail­ lierte Fassade heute eine Seltenheit. Und sie ist wichtig, denn die drei Türme sind der städtebauliche Auftakt zum Quartier. Versetzt entlang der namensgebenden Rauti­ strasse liegend verzahnen sie sich mit den Längsbauten daneben, was interessante Durchblicke erzeugt. Die Tür­ me funktionieren als Scharnier zur Stadt: Vorn stehen sie am asphaltierten Platz, wo die Kunden im Erdgeschoss vor die Läden und die Shops fahren. Hinten schliessen die Türme die grünen Wohnhöfe zwischen den Zeilen. Diese Ausrichtung widerspiegelt die Fassade: Auf der Südseite zum Hof öffnen sich die Hochhäuser auf jedem statt nur auf jedem dritten Geschoss mit Balkonen, zudem sind die Fenster da etwas grösser. Zuerst wollte Mühlethaler die Fassade aus Ortbeton bauen, aber das wäre zu teuer geworden. Er entschied sich für vorgefertigte, sandgestrahlte Betonelemente, mit de­ nen er die ganze Fassade fein säuberlich durchdekliniert: Die Einfassungen der Fenster, die Gesimse, selbst die Trennwände auf den Balkonen sind in feinem, aber massi­ vem Beton gegossen. « Wir wollten eine starke Profilierung, materialgerecht, aber in Anlehnung zu den benachbarten Holzhäusern », erklärt Mühlethaler. Also entwarfen die Architekten zehn Zentimeter starke Elemente mit unter­ schiedlich tiefen Lisenen, Rippen und Kragplatten. Es sind solche Details, die die Wiederholung stärken und →

Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — Drei Prisen Perret

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Mit strenger Betonsymmetrie markieren die Rautitürme den Auftakt zum Freilager. Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — Drei Prisen Perret

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Auf jedem dritten Geschoss läuft der Balkon luftig ums ganze Haus.

Dunkler Parkett und weisser Putz prägen die Materialisierung.

Bis auf die Maisonettewohnungen ( im Bild ) sind alle Geschosse fast gleich konventionell aufgebaut.

→ verhindern, dass sie in Monotonie kippt. Sie schaffen es, auch pragmatische Entscheide wie selbstverständlich wirken zu lassen: Die Regenrinnen vor der Fassade fallen gar nicht störend auf. Anders als in Le Havre prägt ein und dieselbe Ober­ fläche alle Elemente. So trifft zeitgenössischer Schwei­ zer Minimalismus auf klassische Tektonik. Das hat Kraft. Auch die Gliederung macht einen spannungsvollen Spa­ gat. Während die feinen Lisenen nach oben drängen, ver­ leihen die umlaufenden Balkone den Türmen eine ruhige Horizontalität. Da die Fassade gar nicht erst alles auf die Vertikale setzt, umschifft Rolf Mühlethaler ein Problem, das viele aktuelle Hochhäuser haben: dass sie nämlich zu wenig hoch sind für ihre Breite. Die Rautitürme stehen zu ihrer Bulligkeit, die dank der weit auskragenden Balkone trotzdem luftig wirkt. Die vorgehängten Betonelemente erforderten einen unkonventionellen Bauablauf. Normalerweise wird erst der Rohbau erstellt und dann die Gebäudehülle montiert. Die Fassaden der Rautitürme hingegen wurden mit dem Rohbau hochgezogen. « Die auskragenden Platten verhin­ derten die direkte vertikale Kranmontage der Elemente », so Mühlethaler, « und wegen der grossen Gewichte konn­ ten sie nicht horizontal eingefädelt werden. » Ein Mock-up half, alle Details vorab zu prüfen. Grossbalkon oder Mini-Loggia Im Erdgeschoss blieb vom Traum des Holzhochhau­ ses doch noch etwas übrig: Die Schaufenster der Läden sind mit Eiche umrahmt, sogar im Veloabstellraum. So kommen die Häuser hochwertig auf den Boden. Darü­ ber stapeln die Architekten Wohnungen. Einzig der östli­ che Turm zeugt noch von der ursprünglichen Idee eines Bürohochhauses, der der Markt einen Strich durch die Rechnung machte. Es blieb bei den ersten drei Oberge­ schossen für Büros. Die Räume sind da höher als in den Wohngeschossen, weshalb der Turm ein Stockwerk weni­ ger hat als die anderen beiden, aber gleich gross ist. Ein unterschwelliger Bruch der dreifachen Repetition. Der Wohnungsspiegel ist breit gemischt, von zweiein­ halb bis fünfeinhalb Zimmern. Die Preise bewegen sich im Zürcher Mittelfeld. Eine 4 ½-Zimmer-Wohnung mit 110 Quadratmetern im sechsten Geschoss kostet rund 3000 Franken. Die Maisonettewohnungen unterm Dach mit gleich vielen Zimmern, aber 180 Quadratmetern schla­ gen mit 4800 Franken zu Buche. Bei den Grundrissen erfindet Mühlethaler das Rad nicht neu. Bis auf die Mai­ sonettewohnungen sind alle Geschosse fast gleich aufge­ baut – mit umlaufendem Balkon oder ohne. Der Architekt beklagt sich über den « Drang nach unzähligen individu­ ellen Wohnungen ». Er setzt auf gekammerte Grundrisse, « die indi­viduelles Wohnen in allgemeinen Räumen erlau­ ben ». Über ein Entree tritt man ein, Wohn- und Esszimmer mit Küche liegen an den Gebäudeecken, die Schlafzimmer sind am Flur aufgereiht. Auch die Materialisierung ist ab Stange: weis­ser Abriebputz, dunkler Parkett. Die Salontü­ ren wurden weggespart. Im Aussenraum trumpfen die Wohnungen auf, insbe­ sondere jene mit umlaufendem Balkon. Da stellen die Be­ wohner Töpfe hin und hängen Wäsche auf: französisches Flair in Altstetten. Im Gegensatz dazu fallen die kleinen Loggien allerdings ab. Bei den Wohnungen mit Balkon dienen sie zwar ohnehin nur als Lärmpuffer, damit nicht direkt zur lauten Strasse gelüftet werden muss. In den Ge­ schossen dazwischen sitzt man aber im dümmsten Fall auf mickrigen sechs Quadratmetern und Ostausrichtung fest. Für die meisten Wohnungen aber gilt: Viel Balkon macht viel Freude.

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A

B

C M 1 : 500

Regelgeschoss mit umlaufendem Balkon.

Regelgeschoss mit Südwestbalkon.

Erdgeschoss siehe Seite 23

A1/A2.1 A 3 ½-Zimmer-Wohnung mit 101 Quadratmetern. OG 1-7 / OG 1-6

3 1/2 Zi 101.1 m2 Anzahl A1 14 / A2 12

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Rautitürme, 2016 Rautistrasse, ­Zürich­ Architektur:  Rolf Mühle­thaler, Bern ; Mitarbeit: Thomas Moser ( Projektleiter ), Chantal Amberg, Roberto Couceiro, Reni Dähler, Etienne Geissmann, Julia Grommas, Marion Heinzmann, Michael Jäggi, Wolfgang Kessler, Pascal Knapp, Bianca Kummer, Simone Nina Kraus, Pascal Kraut, Kerstin Maurer, Ulrich Meuter, Manon Muller, Derya Sancar, Nadja Schaffer, Sandra Stein, Thomas Summermatter, Thomas Waeber, Simon Wiederkehr, Jonas von Wartburg Bauingenieure:  Ingenta, Bern Haustechnik:  Amstein + Walthert, Zürich Hersteller Beton­ elemente: Nägelebau, Röthis ( A ) Auftragsart:  Studien­auftrag, 2010 Geschossfläche:  24 050 m2 auf 12 / 13 Geschossen ­Nutzung:  85,5 % Wohnen ( 52 × 2 ½, 58 × 3 ½, 35 × 4 ½ ), 5,6 % Gewerbe, 8,6 % Dienstleistung, 0,3 % Lager

BA1/A2/A3.4 4 ½-Zimmer-Wohnung mit 110 Quadratmetern. OG 8-10 / OG 7-10 / OG 4-9

C 2 ½-Zimmer-Wohnung mit 52 Quadratmetern.

A1/A2/A3.5 OG 1-10 / OG 1-10 / OG 4-9

Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — Drei Prisen Perret 0

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M 1 : 200

2 1/2 Zi 51.7 m2 Anzahl A1 10 / A2 10 / A3 6

4 1/2 Zi 110.3 m2 Anzahl A1 6 / A2 8 / A3 12

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« Nachhaltigkeit für ein breites Publikum » ‹ 2000 Watt › als Weg und Ziel: Der Nachhaltigkeitsexperte des Freilagers und ein alternativer Projektentwickler über Labels, Lebensstile und Langsamverkehr. Interview: Axel Simon

der Energiebezugsfläche kommen wir auf 49 Quadratmeter, also kann sich das Freilager hier durchaus mit genossenschaftlichem Wohnungsbau messen. Dass man « ohne Abstriche bei der Lebensqualität » den ökologischen Fussabdruck der 2000-Watt-­ Das Freilager will ‹ das erste nachhaltige Stadtquartier › Zürichs sein. Gesellschaft erreicht, wie die Freilager-Website Was unterscheidet es von ­verspricht – ist das nicht Augenwischerei ? anderen nachhaltigen Arealen ? Breer: Irgendwann müsste mal ein Technologieschub komBreer: Vom Stadtquartier sprechen wir wegen der Grösse. men – ich bin allerdings nicht sicher, ob er wie gewünscht Mit etwa 2500 Bewohnern hat das Freilager die Grösse eintreffen wird –, oder die Suffizienz muss zunehmen. Wir einer mittleren Gemeinde und ist daher eher ein Quartier treiben die Entwicklung sanft in diese Richtung. Wir sind als ein Areal. Weil das Freilager zur gleichen Zeit entwi- auf dem 2000-Watt-Pfad unterwegs, aber noch nicht anckelt wurde wie das Hunziker-Areal, konnten wir von den gekommen – wie übrigens alle 2000-Watt-Areale. Die Bedortigen Erfahrungen nicht profitieren. Wie dort haben legungsdichte lässt sich später erhöhen, die Wohnungen auch wir den Gestaltungsplan 2008 / 09 ausgearbeitet. Hofer: Zwischen den beiden Projekten gibt es eine ganz grosse Parallele: Freilager und Hunziker sind beide eindeutig keine Siedlungen mehr, sondern Behauptungen, dass man wieder Stadt bauen kann. Und beide stellen die neue Frage nach dem Verhältnis eines Areals zur Stadt. Breer: Das Freilager zeigt, dass auch ein privater Entwickler mit seinen wirtschaftlichen Anforderungen ein nach- Dieter Breer haltiges Quartier bauen kann. Hofer:  Weil er den Mut zu einer produktiven, urbanen Dich- sind so angelegt, und auch die Erdgeschosse sind flexibel. te hatte. Wir alle haben in den letzten 15 Jahren gelernt, Das ist eine Eco-Anforderung, nach der wir die Projekte dass man das darf. Durch solche Dichten haben wir über- schon im Wettbewerb bewertet haben. haupt die Chance, nachhaltig zu leben. Hofer: Energie sparen, ohne sich einschränken zu müsDie Wohnungen im Freilager sind gross, und Belegungs­­ sen ? Ich finde solche Aussagen kontraproduktiv. Das ervorgaben gibt es nur in den 58 vergünstigten laubt den Menschen, sich weitere zwanzig Jahre nicht mit Wohnungen. Lebt der Freilager-Bewohner nicht auf dem Thema auseinanderzusetzen. ‹ 2000 Watt › hat doch sehr grossem Fuss ? einen globalen Gerechtigkeitsansatz ! Breer:  Nein, grosse und kleine Wohnungen sorgen für eine Breer: Das stimmt. Ich glaube aber nicht, dass die grosse Durchmischung. Wir haben zum Beispiel 196 studentische Masse bereit ist, sich auf 35 Quadratmeter Wohnfläche zu Zimmer und vergünstigte 3-Zimmer-Wohnungen mit acht- beschränken. Das Freilager wählt einen Zwischenweg: Es zig Quadratmetern. Pro Einwohner erwarten wir 54 Qua- baut für ein breites Publikum, aber nachhaltig. dratmeter Energiebezugsfläche, also beheizte Bruttoge- Auf welche Labels neben ‹ 2000 Watt › schossfläche. Die Vorgabe für ein 2000-Watt-Areal an setzt das Freilager noch ? diesem Standort sind sechzig Quadratmeter pro Person, Breer:  Bei Arealüberbauungen verlangt die Stadt Minerwir liegen zehn Prozent darunter. gie-Eco, die Langhäuser und der Südhof sind sogar MinerHofer: Die Wohnfläche pro Person liegt beim Hunziker-­ gie-P-Eco. Bei den Rautitürmen wogen wir die graue EnerAreal mit 35 Quadratmetern weit unter dem heutigen gie gegen die höhere Flächeneffizienz ab. Auch weil wir Schweizer Durchschnitt von fünfzig Quadratmetern. Bei erneuerbare Heizenergie haben, fiel der Entscheid gegen

« P roduziere ich den Strom innerstädtisch oder global an weniger sensiblen Lagen ? »

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Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — « Nachhaltigkeit für ein breites Publikum »

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Dieter Breer Dieter Breer ( * 1969 ) begleitet seit der Testplanung für den Gestaltungsplan 2008 das Freilager als Nachhaltigkeitsexperte. Er berät die Bauherrschaft in allen Fragen zu Energie, Ökologie und umfassender Nachhaltigkeit und arbeitet momentan an der Zertifizierung des Freilagers zum 2000-Watt-Areal. Er ist Energieinge­nieur, Wirtschaftsingenieur, er hat den Master of Advanced Studies in nachhaltigem Bauen und ist Partner im Winterthurer Büro Denkgebäude, beratende Ingenieure für Immobilien.

den höheren Standard. Wir haben auch die Kritierien der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen ( D GNB ) angewendet, aber keine Zertifizierung durchgeführt. Wir wollten keine Labelsammlung machen. Woher kommt die Energie für das Freilager ? Breer:  Am Anfang planten wir bei der Wärmeversorgung, mit Sonnenkollektoren und Erdspeicher autark zu sein. Dann kam vom EWZ das ökologisch und ökonomisch interessante Angebot, die Abwärme eines nahen Rechenzentrums zu nutzen. Dadurch hätte man den Erdspeicher ein knappes Drittel kleiner ausführen können. Weil aber unklar ist, ob der Wärmeliefervertrag nach dreissig Jahren ausläuft oder nicht, haben wir ihn gross genug für die Wärme­autarkie gebaut. Die nötigen Flächen und die Leerrohre sind vorhanden, um Sonnenkollektoren nachzurüsten. Dasselbe gilt für die Fotovoltaik, auf die wir vorläufig verzichtet haben. Dahinter steht ein grundsätzlicher, auch wirtschaftlicher Entscheid: Produziere ich den Strom lokal innerstädtisch oder global mit Wasser, Wind und Sonne an weniger sensiblen Lagen ? Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich liefert uns Strom aus erneuerbaren Quellen. Es liefert uns auch die ausgewerteten Energiedaten des gesamten Areals: Strom, Wasser und Heizwärme. Der Vermieter nutzt sie für die individuelle Heizkostenabrechnung, die Mieterin kann auf dem Smartphone oder dem Tablet ihren Verbrauch mit dem durchschnittlichen auf dem Areal vergleichen. Hofer: Die Frage ist doch immer, was mit diesen Daten geschieht. Wenn sie irgendwo im Internet abgefragt werden können, schwindet das Interesse meist schnell. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, Verbrauchswerte mit den Nebenkostenabrechnungen zu verschicken und diese auch mit dem Durchschnitt der anderen Mietparteien zu vergleichen. So werden auch die Kosten der unterschiedlichen Verhaltensweisen sichtbar. Wie sieht es bei der grauen Energie aus ? Breer: Schon im Wettbewerb haben wir als Eco-Vorgabe die graue Energie berechnet. Manche Baufelder sind besser, andere weniger gut. Das ist architektonischen Entscheidungen geschuldet, erzeugt aber auch Vielfalt. Hofer:  Wenn man in dieser Dimension innerstädtisch baut, erfüllt man die Vorgaben auch ohne übermässigen Effort. Sie sind auf die Durchschnitts-Schweiz ausgerichtet, weil ein Einfamilienhaus ja auch eine Plakette haben soll. Aber abgesehen davon: Man kann beim Material sowieso nicht viel machen. Die Grundsatzfrage ist: Holzbau oder nicht ?

Andreas Hofer Andreas Hofer ( * 1962 ) ist Mitgründer der Genossenschaft Kraftwerk 1 und in­ ternational gefragter Fachmann für Wohnungsbau, preisgünstiges Bauen und Projektentwicklung. Der Architekt ist Partner beim Zürcher Büro Archipel und war lange im Dachverband der Schweizer Wohnbaugenossenschaften. Er berät gemeinnützige und private Auftraggeber und war Koordinator beim Hunziker-Areal für die Genossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›.

Breer:  Wir haben Recyclingbeton eingesetzt. Und für den Abtransport beim Rückbau haben wir die vorhandene Bahnlinie genutzt. Das konnten wir aber nicht anrechnen. Hofer: Grundsätzlich sind die Ziele im Labelwald so gemacht, dass sie erreichbar sind. Das ist einerseits sinnvoll, andererseits verschenken wir so aber auch Potenzial. Ein Investor steht immer im Konflikt zwischen Ökonomie und Nachhaltigkeit. Die Gefahr ist, dass er nach einer Zertifizierung nicht weiterdenkt. Bei 2000-Watt-Arealen wie Greencity oder Sihlbogen hält die S-Bahn vor der Tür. Die Genossenschaft ­Kraftwerk 1 ist sogar im Glattal autofrei. Womit punktet das Freilager bei der Mobilität ? Breer: Etwa mit einem gut ausgearbeiteten Konzept für den Langsamverkehr: Es gibt Fuss- und Velowege, die an das städtische Netz anknüpfen, und rund 2600 Veloabstellplätze, davon etwa die Hälfte im Aussenbereich. Zudem decken die vorhandenen Läden und Dienstleistungen den täglichen Bedarf und senken somit das Mobilitätsbedürfnis der Bewohnerinnen und Bewohner. Bezüglich Autos ist das Freilager vergleichsweise konservativ. Das hat verschiedene Gründe: Autofreiheit ist im frei tragenden Wohnungsbau für das angesprochene Segment kaum

« Ein Investor steht immer im Konflikt zwischen Ökonomie und Nachhaltigkeit. » Andreas Hofer

durchsetzbar. Mit 700 unter- und oberirdischen Parkplätzen, die unabhängig von den Wohnungen vermietet werden, erfüllen wir die Minimalanforderungen der Parkplatzverordnung. Dass es nur drei Mobility-Fahrzeuge vor Ort gibt, liegt am Anbieter. Gratisparkplätze und eine Beteiligung an den Fahrzeugen sind für einen klassischen Investor schwierige Forderungen. Hofer:  Da zeigt sich auch ein grundsätzliches Problem: Immobilieninvestoren kennen sich mit Häusern und mit Mieten aus. Vieles, worüber wir hier reden, könnte kommer­ zialisiert werden: Man kann zu einem Kraftwerk werden und Strom verkaufen, man kann zum Flottenmanager werden und mit sanfter Mobilität oder Co-Working-­Spaces Geld verdienen. Diese potenziellen Wirtschaftsfelder überfordern heute noch alle.

Themenheft von Hochparterre, November 2016 —  Zürich weiter West — « Nachhaltigkeit für ein breites Publikum »

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Zürich weiter West

Das Freilager Zürich steht am Beginn der Innenverdichtung westlich von Zürich West. Mit 800 Wohnungen, 200 Studentenzimmern und Gewerbeflächen haben ein Bauherr und drei Architekturbüros auf sieben Hektar einen neuen Stadtteil geschaffen. Sie wagen architektonische Ex­perimente: sechsgeschossige Holzhäuser, Wohnungen mit überlagerten Rastern, sechs­spännige Umnutzungen und Aufstockungen mit 24 Metern Bautiefe. Eine Publikation über A ­ k­teure und Gebautes.

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