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Die Kunst der „Primitiven“
Das Interesse an der Kunst außereuropäischer Völker er langte im späten 19. Jahrhundert und den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Die vormals ungekannte Inklusion der außereuropäischen Kunst, ins besondere aber der „primitiven“ Kunst der „Naturvölker“, diente der Legitimation und der räumlich und zeitlich massiv ausgedehnten anthropologischen Begründung eigener Kunsttheorien und Kunstgeschichten jenseits des klassischen Kanons. Inkludiert wurde aber nur zum Preis der Marginalisierung. Als „angewandte“, rituellmagische oder praktische Objekte wurden die Artefakte zur Vorgeschichte sowohl der Kunst wie auch des aufgeklärt wissenschaftlichen Denkens gerechnet; individuelle Autor schaft und Zeitgenossenschaft in der Moderne blieben der außereuropäischen Kunst zumeist vorenthalten. Es faszi nierte die angenommene kollektivmagische Wirksamkeit der Bilder. An ihren Realitätsstatus jenseits der Reprä sentation und ihre mythopoetischen, sozialkonstitutiven Fähigkeiten konnten antibürgerliche Kunstdiskurse anschließen. Die Kunst der „Primitiven“ wurde so auf un terschiedliche Art und Weise zur Ressource der Moderne: als Legitimationsfigur fü r anthropologische und funkti onalistische Kunst und Mythentheorien einerseits, aber zunehmend auch als Waffe im avantgardistischen Kampf gegen akademische Tradition und bürgerliche Kunst auffassung. Ohne die koloniale Begegnung wären solche Entgrenzungen jedoch undenkbar geblieben. A07 (089)
Ernst Vatter, Religiöse Plastik der Naturvölker, Frankfurter Verlags-Anstalt, Frankfurt 1926
A07 (090)
Theodor Wilhelm Danzel, Der magische Mensch. Vom Wesen der primitiven Kultur, Müller & Kiepenheuer, Potsdam, und Orell Füssli, Zürich 1928
Theodor Wilhelm Danzel (1886 – 1954) war Ethnologe und Völkerpsychologe, sowie Abteilungsleiter am Museum für Völkerkunde und Professor an der Universität in Hamburg. Er verbrachte mehrere Jahre in China, wo er ein ethnografisches Museum in Nanjing organisierte, und reiste nach Japan, auf die Philippinen und nach Mexiko. Aufgrund jüdischer Vorfahren wurde Danzel 1933 als Professor und 1934 am Hamburger Museum für Völkerkunde entlassen, Franz Boas verhalf ihm anschließend zu einer Lehrposition an der Columbia University in New York, wo er allerdings nicht mehr an seine enorme Produktivität der 1920er Jahre anknüpfen konnte. Danzel hatte sich der „ethnologischen
(089 – 090)