Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930 | Manual

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Zeitmodelle

Die Begriffe und Redefiguren, mit denen um 1930 Zeit­ lichkeit und Geschichte verhandelt wurden, waren so zahlreich wie umstritten. Von einem linear gedachten Evolutionismus bis zu zyklischen Phasenbildungen, von rhythmisch­wellenförmiger Stil­ und Epochenfolge bis zur revolutionären Geschichtsphilosophie der Zäsuren – ein üppiges philosophisches, historiografisches, kosmo­ logisches und immer auch weltanschauliches Bouquet von Zeitmodellen stand bereit. Gewiss war allenfalls, dass jedes Verständnis von Zeitlichkeit nicht nur existenziell, sondern auch politisch wirksam war. Die Zukunft der Moderne konnte empfindlich davon abhängen, welches Verhältnis zu Eiszeit oder Kindheit entwickelt wurde. In den „Ferien von der Kausalität“ (Carl Einstein) musste man damit rechnen, dass der Anfang vom Ende her zu denken war, dass Vorzeit und Jetztzeit sich ineinan­ derfalteten. Einer solchen durchaus dialektischen Konzeption von Geschichte standen reaktionäre Anruf­ ungen von „Tradition“ und „Volk“ gegenüber. Geschichts­ theorie und Zeitphilosophie wurden zu Waffen in der ideologischen Debatte und im Streit um die Legitimation von Herrschaft. A05 (060)

Earl of Birkenhead, The World in 2030 A.D., Illustrationen von Edward McKnight Kauffer, Hodder and Stoughton, London 1930

Ein Buch voller „spekulativer Voraussagen“ über den Zustand der Welt in hundert Jahren verspricht der britische Jurist und Politiker Frederick Edwin Smith (1872 – 1930), Earl of Birkenhead, im Vorwort seines Buches The World in 2030. Die Welt des Jahres 2030 entwirft er in thematisch gegliederten Kapiteln zu verschiedenen Lebensbereichen, wobei Smiths futuristische Visionen dabei vor allem Auskunft über den Blick des Autors auf seine Gegenwart geben: Der Entwurf eines chinesischen Weltreichs geht einher mit der Kritik an der Idee des Nationalstaats des 19. Jahrhunderts; die Vision künstlicher Zeugung dient zugleich einer Vorausschau auf die Emanzipation der Frau wie der Delegitimierung des Feminismus um 1930. Die neun Illustrationen und das Titelbild des amerikanischen Grafikers Edward McKnight Kauffer (1890 – 1954) stehen in der Tradition europäischer Avantgarden, auf deren Arbeit Kauffer 1913 durch die Armory Show aufmerksam geworden war. Nach einem Studium in Paris lebte Kauffer in London, wo er als Buchillustrator und Werbegrafiker arbeitete. Zu seinen Arbeiten zählen auch Titelgestaltungen für Bücher von Ralph Ellison und Langston Hughes. CR

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