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LXXX Heribert Tenschert 2017
LXXX Dis Manibus Paul Durrieu • Millard Meiss Expiandis
Nr. 6
I 25 Stundenbücher aus Paris 1380 – 1460 Von Perrin Remiet, Jean de Nizières, Jacquemart de Hesdin, Pseudo-Jacquemart, Paul von Limburg, Mazarine-Meister, Boucicaut-Meister, Bedford-Meister (Haincelin de Haguenau), Dunois-Meister (Jean Haincelin), Laval-Meister, Meister des Royal Alexander, Conrad von Toul (Meister der Münchener Legenda Aurea), Meister von Popincourt, Meister des Harley-Froissart (Philippe de Mazerolles), Coëtivy-Meister, Meister des Etienne Sauderat, Meister des Jean Rolin, François le Barbier Père (Maître François), Meister des FoucaultBoccace
Katalog lxxx Heribert Tenschert 2017
Antiquariat Bibermühle AG Heribert Tenschert Bibermühle 1–2 · 8262 Ramsen · Schweiz Telefon: +41 (52) 742 05 75 · Telefax: +41 (52) 742 05 79 E-Mail: tenschert@antiquariat-bibermuehle.ch www.antiquariat-bibermuehle.com
Wichtiger Hinweis: Viele der abgebildeten Miniaturen sind leicht vergrößert wiedergegeben, zur besseren Identifikation der Sujets und der beteiligten Buchmaler. Die exakten Größen finden sich in der dinglichen Beschreibung, die man jeweils heranziehen möge.
English summaries of the descriptions available on application.
Autor: Prof. Dr. Eberhard König (mit Dr. Christine Seidel) Gestaltung, Redaktion, Lektorat: Heribert Tenschert Fotos: Martin & Heribert Tenschert Satz und PrePress: LUDWIG:media gmbh, Zell am See Druck und Bindung: Passavia GmbH & Co. KG, Passau ISBN: 978-3-906069-22-7
Vorbemerkung Bald weiß man nicht mehr, wohin uns die sammlerische Entrückung noch treiben wird, selbst wenn, wie hier, der Blick auf die Gattung dem Entfaltungsdrang eine letzte, ernste Beschränkung bietet. Unterdessen wären wir also bei einem Schock ausschließlich geschriebener Stundenbücher aus Paris angelangt (die Drucke der Metropole haben bereits in den Katalogen 50 und 75 ihren ozeanischen Niederschlag gefunden) – soll heißen, deren erstem Teil, mit 25 vibrierenden Akkorden aus der Anfangsblüte des Genres, die nur wenig mehr als fünf Jahrzehnte dauerte. Aber in dieser Periode schoß die Kunstübung der Miniatoren zum Kristall, wie sie ihn reiner nie mehr, ebenso klar allenfalls in den seraphischen Gebilden der Gerard David, Bening, Horenbout im Flandrischen nach 1500 hervortrieb! Dieses Viertelhundert – ein Regenbogenschleiertanz von Güssen aller Farben und Formen – in seiner Epochenhaftung wie seiner stolzen Einsamkeit darzustellen, war Eberhard König (energisch sacht unterstützt von Christine Seidel) nur in der Erstreckung auf 640 Seiten und zwei Teilbände möglich, was ihm den Dank all jener Leser bescheren wird, denen die Goldeinwaage liebender Durchdringung mehr gilt als das – ach, nicht länger „mehrheitsfähige“ – Idiom (unser geliebtes Deutsch). Wenige Kodizes (3, 4, 11) sind schon in Monographien oder Büchern der letzten Zeit behandelt, fügen sich aber hier mit dem Schmelz nur ihnen eigentümlicher Exzellenz in die ‚Goldene Kette‘, während andere (1, 5, 6, 10, 12 bis 14, 16, 19 bis 21) mit einem Aplomb auf die Bühne treten, der dem Begriff der „Erscheinung“ seine Numinosität zurückzugeben vermag. Dieser Wirkung bewusst, werde ich mich hüten, bei einzelnen Beispielen den Herold zu geben, es genügt ein der Diktion zugewandtes Organ, ein zerstreutes, gutmütiges Blättern in den Bänden, um über kurz oder lang dem Bann zu verfallen, den das Schattenheer jener scheinbar heillos vergessenen Künstler immer noch, wie am Tag der Vollendung, zu wirken imstande ist. Es erübrigt noch, darauf hinzuweisen, dass diesem ersten Teil der Pariser Produktion in wenigen Monaten der zweite folgen wird, eine Darstellung von weiteren 35-40 Stundenbüchern der ruhelosen Zeit zwischen 1460 und 1540, die den Gang durch anderthalb Jahrhunderte gesegneter Hervorbringung vollenden wird, den wir in der Anrufung der Manen eines Quartetts von „Unsterblichen“ in der Kunde von den Handschriften angetreten haben.
Bibermühle, sagen wir: am 5. September 2017
H. T.
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Inhaltsverzeichnis Band I Abermals ein Buch über Handschriften und Bilder aus Paris? . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Werkgruppen und die Handschriften in unserem Bestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Das Stundenbuch mit dem Wiehernden Esel von Perrin Remiet . . . . . . . . . . . 89 2 Jean de Vignays Epistolar und Evangelistar mit Miniaturen von Jean de Nizières . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3 Das Stundenbuch des Pierre Poictevin aus Selles-sur-Cher gegen 1390 . . . . . . 132 4 Ein Stundenbuch mit dreißig Zeichnungen eines der drei Brüder Limburg als Berrys Geschenk für Louis d’Orléans und Valentina Visconti geplant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5 Eines der frühesten bekannten Stundenbücher des Mazarine-Meisters . . . . . . 171 6 Ein Pariser Stundenbuch des Boucicaut-Meisters mit den Wappen von Corlieu und Lusignan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 7 Ein Pariser Stundenbuch des Meisters des Guy de Laval . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 8 Ein Stundenbuch aus der unmittelbaren Boucicaut-Nachfolge . . . . . . . . . . . . . 229 9 Der Meister des Londoner Alexander aus Paris in einem Stundenbuch für Rouen aus der Werkstatt des Talbot-Meisters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 10 Ein Stundenbuch vom Meister der Münchener Legenda Aurea, Conrad von Toul, für den Gebrauch von Sarum, im alten Einband . . . . . . . . . 266 11 Das Stundenbuch für Jean Troussier: ein reifes Hauptwerk des Meisters der Münchner Legenda Aurea (Conrad von Toul ) mit einer ergreifenden Miniatur des Dunois-Meisters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
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Abermals ein Buch über Handschriften und Bilder aus Paris? Art in a Time of War heißt das jüngste Buch zur Buchmalerei in Paris; darin widmet sich Gregory Clark auf 380 Seiten den sechzehn Jahren von 1419 bis 1435, in denen Frank reichs Hauptstadt von den Engländern (und Burgundern) besetzt war.1 Kunst und Krieg, englische Soldaten und französische Illuminatoren müßten einander in einem solchen Buch begegnen. Doch im wesentlichen geht es Clark nur um einen einzelnen Meister, den Meister von Morgan 453, der nur fünf Handschriften gestaltet hat und dessen Kunst Millard Meiss 1968 und John Plummer 1982 für niederländisch hielten und nicht unbe dingt in Paris entstanden sahen.2 Für Engländer war kein einziges seiner Werke bestimmt; und selbst wenn Argumente für einen längeren Aufenthalt in Paris nicht von der Hand zu weisen sind, bleibt der Meister der Hauptstadt so fremd, als sei er dort und nicht im pikardischen Amiens, wo er wohl auch gearbeitet hat, nur Gast gewesen. Das wird um so deutlicher, weil sich Clark Mühe gibt, in größerem Zeitrahmen und mit neuen Beob achtungen das Umfeld seines Meisters zu charakterisieren und ein Panorama der zeitge nössischen Stillagen zu umreißen, und deshalb viele Handschriften erfaßt, die wenig oder gar nichts mit seinem Helden zu tun haben. Kunstgeschichtsschreibung in einer Kriegszeit ist unser neuer Katalog, selbst wenn er in Regionen entstanden ist, die von den gegenwärtigen Kriegen nur gelegentlich oder gar nicht berührt sind. Schöner wäre es, man könnte in Friedenszeiten über Werke aus Frie denszeiten schreiben. Dann aber müßte man sich ganz in die Schweiz zurückziehen und dürfte sich auch nicht mit dem Spätmittelalter befassen. Kunsthistorische Arbeit kann die Zeitläufte nicht ganz ausblenden, denen die Kunst werke entstammen; sie sollte sich aber nicht in historischer Nacherzählung verlieren. Mit dem nun vorgelegten Band wollen wir nach dem Versuch von 2011, das Pariser Stun denbuch um 1400 von seiner Textgestalt her zu charakterisieren, den Bogen bis zu dem Zeitpunkt spannen, als Paris zu einer Metropole des frühen Buchdrucks wurde. Zwar könnten die Leserinnen und Leser gerade für diese bewegten Jahrzehnte eine Darstel lung all der Kämpfe verlangen, die der Hundertjährige Krieg auch im Inneren mit sich brachte: Dann ginge es um den Bürgerkrieg zwischen Burgundern und Armagnaken, um die Aufstände der Cabochiens und die Zuwanderung aus allen Himmelsrichtungen, weil Fremde vor allem in Kriegswirren ungeordnet in große Städte und geschützte Räu me drängen. Doch dafür sei auf Bücher wie die von Jean Favier verwiesen.3 Ein Exodus von Buchmalern hat offenbar nicht in dem Maße stattgefunden, von dem ich in meinem Buch Französische Buchmalerei um 1450 aus dem Jahr 1982 ausging; denn 1
Clark 2016; bibliog raphische Angaben sind hier am Ende des Bandes zusammengefaßt.
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Meiss 1968, S. 104 und passim, Abb. 308-313; Plummer in Ausst.-Kat. New York 1982, Nr. 1: zu Morgan 1000, einem Stun denbuch, das 1968 noch in New Yorker Privatbesitz war; zuletzt Clark 2016, S. 12-54.
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Favier 1974; hier wurde die zweite, verbesserte Auflage von 1997 benutzt.
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Einleitung
Geld war genügend vorhanden: So hatte Jean de Gingins, Seigneur de Divonne und Le Châtelard, in englischen Diensten soviel verdient, daß er in einem führenden Pariser Atelier ein bemerkenswertes Stundenbuch kaufen konnte.4 Für die Buchmaler galt si cher, daß sie, wenn sie mit Gold und Farben ihre Gestalten und Szenen aus lang vergan genen Zeiten in Gebetbücher malten, zuweilen Mühe hatten, einigermaßen sicher ihrer Kunst in an Enduring Time of War nachgehen zu können. Doch gerade deshalb mußte die herbe Realität weitgehend außen vor bleiben. Daß sich Künstler und Auftraggeber offenbar darüber einig waren, hatte auch mit dem Gebet, weil das Beten, für das die Bil der dienen sollten, bewußt auf Weltflucht zielte. So war die Bitte, von plötzlichem Tod verschont zu werden, nicht auf die Gegenwart, sondern auf ’s Jenseits ausgerichtet, in das niemand ohne letzte Beichte und geistliche Begleitung gehen wollte. Geschichtsschreibung fragt nach der Gesellschaft und besonders gern nach namentlich benennbaren hohen Damen und Herren, die Dinge bewegt und dabei auch Kunstwerke bestellt haben. Kunstgeschichtsschreibung hingegen geht von denen aus, die solche Wer ke gestaltet haben, und schafft in namenlosen Bereichen, in denen die Quellen schwei gen, ihre eigenen Charaktere. Meister mit Notnamen gruppiert man in Werkstätten, nach Generationsfolgen. Indem die Kennerschaft das Zeitgerüst zur Bestimmung vie ler Werke über wenige Pfosten aus fest datierten Stücken spannt, überträgt sie jedoch ihre spärlichen Daten auch auf jene Künstler, von denen keine einzige Arbeit datiert ist. Die realen Namen entnehmen auch die Kunsthistoriker den verstreuten Quellen; doch über sie verfügen Historiker besser. Gegenseitige Anerkennung herrscht, führt aber nur selten zu einhelligen Ergebnissen, und nicht alle haben die Kenntnis und Begabung der Chartisten aus Frankreich, denen wiederum manche kunsthistorische Methodik fremd bleibt. Historiker verlassen sich schon deshalb nicht auf das, was die Kunsthistoriker zu bieten haben, weil sie den Kern des Urteils, der auf Kennerschaft beruht, nicht nachvoll ziehen können oder wollen; deshalb überwiegt Zweifel jede Übereinkunft. Häufiger noch reißen sie die Konstrukte gleich wieder ein, die Kenner mit kriminalistischem Sinn er richtet haben. Darin werden sie sogar seit Generationen von der Skepsis einer deutenden Kunst- und Bildwissenschaft unterstützt, die nur große Zusammenhänge interessieren. Nirgendwo tritt dieses Dilemma entschiedener zu Tage als in den von allen bewunder ten Bänden, worin Mary und Richard Rouse im Jahre 2000 die Arbeitsbedingungen professioneller Buchkünstler in Paris bis um 1500 aus oft nur ihnen geläufigen Quellen beschreiben.5 Keinem Kunsthistoriker ist es seither gelungen, auch nur einem einzelnen unter den vielen Namen, die dort neu genannt und erneut erörtert werden, schlüssig Wer
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Lausanne, Archives cantonales vaudoises, Château de La Sarraz H 50, mit einem ausf ührlichen Eintrag auf fol. 193, der be richtet, das Buch sei 1421 bei Jaquet Lescuier in Paris erworben worden: Hahnloser 1972; Rouse und Rouse 2000, II , S. 57; Clark 2016, S. 260, und passim; Bartz 2017, S. 124-131; 242-4 mit weiterer Lit.
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Fast noch krasser sieht es bei einem kunsthistorisch geradezu ergebnislosen und dann doch preisgekrönten Buch zum 15. Jahr hundert in Florenz aus: Werner Jacobsen, Die Maler von Florenz zu Beginn der Renaissance (Italienische Forschungen des Kunst historischen Institutes in Florenz, IV/1), Berlin/München 2001.
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Einleitung
ke zuzuordnen. Wo wir uns aber vorgewagt hatten, Namen zu nennen, haben die Rouses keimende Hoffnung wieder gedämpft, wenn nicht sogar zerstört.6 Da Namen im Spätmittelalter oft auch Hinweise auf die Herkunft des einzelnen Künst lers oder doch wenigstens seiner Familie bieten können, verbindet sich mit ihnen die Fra ge nach den Quellen der Kunst. Tatsächlich gehört zum Ruhm von Paris, daß die Stadt bis in die Hochblüte der Moderne zur Heimat von Künstlern aus allen Himmelsrichtun gen wurde. Immer wieder erstaunen neue Erkenntnisse, wer dort welche Sprache sprach: So haben Stella Panayotova und ihr Team in Cambridge gerade herausgefunden, daß der Mazarine-Meister, der eine der schönsten Richtungen Pariser Buchmalerei vertritt, Far ben wie rot oder root auf Deutsch oder in einem nicht genauer georteten niederländischen Dialekt notierte und himel schrieb, wo er blauen Grund malen wollte.7 Mit dieser Erkenntnis könnte die schon eine Weile vergessene Frage nach Jacques Coene aus Brügge in Paris und Mailand wieder neuen Reiz und eine unerwartete Wendung er halten; denn der Mazarine-Meister gehört zum Boucicaut-Stil, den man früher mit dem dokumentierten Namen verband.8 Doch nicht nur sprachgeschichtliche Unsicherheit und die seit langem erkannten chronologischen Probleme stellen sich dagegen; entmutigt wer den solche Bemühungen vor allem, wenn man versucht, in den Herkunftsorten dem nach zuspüren, was ein solcher Künstler nach Paris mitgebracht haben mag.9 In Brügge sucht man ebenso vergebens, was der historisch dokumentierte Jacques Coene in sein Gepäck für Paris mitnehmen konnte, wie im elsässischen Hagenau oder in Hagnau am Boden see, wenn man nach Haincelin oder Jehan Haincelain de Haguenau fragt.
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So kümmern sie sich nicht weiter um die Versuche, Haincelin de Haguenau und Jehan Haincelin zu identifizieren; die in der Kunstgeschichte inz wischen gewohnte Unterscheidung der beiden Namensformen heben sie sogar auf: Rouse und Rouse 2000, II , S. 73-74. Während sie diesem Problem um den einen oder die zwei Namen noch einen recht umfangreichen Beitrag widmen, erhalten die von Sterling II , 1990, S. 76-131, und von Avril und Reynaud in Ausst.-Kat. Paris 1993, Nrn. 18-21, S. 53 und 265, ins Spiel gebrachten Namen André d’Ypres und Colin d’Amiens (bei ihnen Nicolas d’Amiens), auf S. 17 und S. 98-99 in Bd. II nur insgesamt 18 Zeilen. Geradezu symptomatisch ist dabei ein Druckfehler, wie man ihn bei den Rouses sonst fast nie findet, wenn sie im Abschnitt über Nicolas d’Amiens (Bd. II , S. 99) auf „Anrdé d’Ypres“ hinweisen. Die Sprach losigkeit der Historiker trifft auf die Zerstrittenheit der Kenner: Sterling gibt die in Paris nur kurz erwähnten Namen zwei ganz anderen Malern, dem Jouvenel-Meister und Meister des Genfer Boccaccio; die aber haben gar nicht in Paris, sondern an der Loire gearbeitet haben. Für Avril und Reynaud hingegen verbergen sich hinter André d’Ypres und Colin d’Amiens die Meister von Dreux Budé und Coëtivy.
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Eindeutig bestimmbare Worte sind aufgetaucht bei der Untersuchung von Unterzeichnungen in den Miniaturen von Ms. Founders 251 des Fitz william Museums (Jean Corbechon, Livre des proprétés des choses); siehe den Beitrag von Panayotova mit Paola Ricciardi, „Master’s Secrets“ im Ausst.-Kat. Cambridge 2016, S. 127-129; das Manuskript selbst fig uriert dort als Nr. 1 auf S. 24-25.
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Zwischen 1398 und 1407 ist ein Jacques Coene aus Brügge nachgewiesen, der in Italien als in Paris wohnhaft bezeichnet wur de und in Paris Malrezepte für Buchmalerei an Alcherius weitergab, die von Jean Lebègue überliefert sind (Rouse und Rouse 2000, II , S. 56-57). Joris Corin Heyder irrt, wenn er meint, der Boucicaut-Meister werde „nowadays almost always identified as the Bruges artist Jacques Coene“ (Ausst.-Kat. Rotterdam 2012, S. 62).
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Darin lag auch das Problem der Ausst. Nimwegen 2005; siehe meinen Beitrag: Die Belles Heures des Herzogs von Berry, Probleme und Kontroversen. Aus Anlaß der Ausstellung De Gebroeders Van Limburg. Nijmeegse Meesters aan de Franse Hof (1400-1416), Nijmegen: Museum het Valkhof 2005. Katalog (Ludion) hrsg. von Rob Dückers und Pieter Roelofs, in: Kunstchronik 2006, S. 225-237.
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Einleitung
Geschichte aus dem Zufall des Vorhandenen zu schreiben, ist die Aufgabe eines Katalogs, wie wir ihn hier vorlegen. Seine Substanz erhält er aus dem, was im Antiquariat aufge taucht ist; und indem er das erörtert, bezieht er Position zum wechselnden Stand frem der und eigener Erkenntnis zu den immer noch blinden Flecken der Forschung. Ermutigt kann die Arbeit von den drei Bänden ausgehen, die Millard Meiss 1967 bis 1974 vorge legt hat. Die darin ausgebreitete Fülle ist unerreicht und bleibt noch lange die wichtigste Grundlage aller Beschäftigung mit dem Stoff, zumal Meiss sein Material selbst unermüd lich ansehen konnte, was den Jüngeren in Zeiten zunehmender Restriktion nicht mehr gegönnt ist. Durch seine monumentale Leistung, die sich auch für bedeutende Ergänzun gen und teilweise Revisionen als fruchtbar erwies10, wurden aber nur die zwei Jahrzehnte nach 1400 erschlossen. Für die Zeit davor bietet Meiss durch Berry-Handschriften wie die Petites Heures und den Beauneveu-Psalter nur einige große Glanzlichter.11 Die unge mein viel reichere Produktion im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts aber verlangt eine sehr viel größere Anstrengung,12 zumal Avril und Reynaud 1993 ihre monumentale Aus stellung erst mit der Zeit um 1440 beginnen ließen. Angesichts dieser nicht ganz homogenen Forschungslage und der Tatsache, daß wir wie gewohnt unsere Handschriften mit ihrer Bebilderung aus sich selbst sprechen lassen wol len, soll hier ein Bild davon gezeichnet werden, was Paris an Bildwelten für Stundenbü cher zu bieten hatte und in welcher Dynamik sich diese Bildwelten parallel zur revolutio nären Veränderung in der Tafelmalerei veränderten. Dabei erweist sich die Metropole als ein Schmelztiegel, in dem künstlerische Tendenzen nicht nur aus Nord und Süd, sondern auch aus dem deutschsprachigen Raum zusammen wirkten. Statt nur danach zu fragen, welchen fremden Regionen die Pariser Buchkunst was im Einzelnen verdankt, geht es hier um den unerhörten Rang der Metropole, die selbst in Kriegszeiten Künstler anzog. Dort rangen sie miteinander um die Gunst einer Klientel, die ebenso wie die Künstler keineswegs nur aus der Stadt an der Seine stammte.13
10 Vor allem durch die Arbeiten von Gabriele Bartz, die 1999 den Mazarine-Meister neben dem Boucicaut-Meister etablierte sowie von Inès Villela-Petit 2003, die dem Bedford-Meister seinen Platz schon im ersten Jahrzehnt nach 1400 gab. Hinzu gehört auch der von der Literatur noch nicht ausreichend beg riffene Zugewinn durch unser im letzten Jahr veröffentlichtes Limburg-Stundenbuch für Louis d’Orléans und Valentina Visconti. 11
Paris, BnF, latin 18014 und fr. 13091; schon der Beg inn mit den Très Belles Heures de Notre Dame, NAL 3093, die eher um 1404 entstanden sind, ist heute nicht mehr unbestritten (François Boespflug und Eberhard König, Les Très Belles Heures de Jean de France duc de Berry, Paris 1998) und die Stellung des Brüsseler Stundenbuch, KBR , ms. 11060-1, vor 1402 wurde von Gerhard Schmidt gründlich erschüttert (im von Bernard Bousmanne herausgegebenen Band Heures de Bruxelles. Kommen tar zu Ms. 11060-61 der Bibliothèque Royale Albert Ier, Luzern 1996.
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Das meint auch Clark 2016, wenn er schreibt: „only a comprehensive history of Parisian illumination at mid-century will enable definitive identification of the hands at work…“ (S. 267).
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Besonders krass vertritt Arthur Weese eine solche Sicht in seinem Band für das Handbuch zur Kunstwissenschaft: Skulptur und Malerei in Frankreich im XV. und XVI. Jahrhundert, Wildpark-Potsdam 1927.
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Werkgruppen und die Handschriften in unserem Bestand Perrin Remiet und Jean de Nizières Der Wandel der Kunst von den frühesten Stundenbüchern, die wir hier vorstellen, bis zu den eindrucksvollen Blütezeiten um 1415 und um 1450/60 ist unerhört. Wie Zeit genossen die Veränderungen gesehen haben mögen, bleibt unklar. Für Wertschätzung und pflegliche Erhaltung sorgte sicher die Achtung für das Ältere; und das gilt zweifel los auch für diejenigen, die an den revolutionären Entwicklungen ihrer eigenen Zeit le bendig teilgenommen haben. Das Maß der Entwicklung wird für uns Heutige von den Alten Niederländern, von Jan van Eyck und Rogier van der Weyden, bestimmt. Mit ih rer Kunst vertraut war Nicolas Rolin (1376-1462). Dieser Kanzler des Burgunderher zogs Philipps des Kühnen hat sich aber ein Stundenbuch (Yates Thompson Ms. 45 in der British Library) zu eigen gemacht, das bereits zu Lebzeiten seiner Eltern in derselben Pariser Werkstatt wie unsere Nr. 1 entstanden ist. Dessen schlichte Triftigkeit konnte sich also bei einem so hohen und ehrgeizigen Herrn wie dem Besitzer von Jan van Eycks Rolin-Madonna und Gründer des Hospice de Beaune gegenüber einer ganz der Na tur zugewandten Ars nova behaupten. Von zutreffender Einfachheit gespeiste Qualität mag auch der Sammler Henry Yates Thompson gespürt haben, der so manche herrliche Handschrift erwarb und dann wieder beiseite schob (siehe in diesem Katalog die Num mern 10 und 16), Rolins Gebetbuch aber bis zum Lebensende behielt. Dem für die meisten Miniaturen verantwortlichen Buchmaler fehlte um 1900 noch der Name. In einer Anwandlung, die letztlich die Praxis der Kenner mit ihren Notnamen ironisiert, hat Michael Camille den Buchmaler Perrin Remiet 1996 in der ihm gewidme ten Monographie als Master of Death vorgestellt.14 Ausgangsp unkt für die Bestimmung des Namens ist fr. 823 der Pariser Nationalbibliothek, ein Exemplar von Guillaume Digullevilles Pèlerinage, von dem aus man Remiet bestimmen sollte, trotz besonnener Ein wände von Rouse und Rouse 2000. Der mit Remiet zu benennende Maler findet sich nur im ersten und dritten Text die ses Bandes. Den zweiten scheint Jean de Nizières illuminiert zu haben, dessen Signatur in einem Livre des propriétés des choses, Sainte Geneviève, ms. 1028, zu finden ist;15 sei ne Hand wird man im Frontispiz zwei Blatt später erkennen dürfen. Die Maler sind un tereinander verwandt, ihr Stil gründet in der Zeit des Übergangs von Karl V. zu dessen Sohn Karl VI ., der 1380 als Kind das Erbe antrat, das er mehr schlecht als recht bis zu seinem Tod 1422 verwaltete. Stilbezüge bestehen zum Bild der Krönung Karls VI . in den Grandes Chroniques, fr. 2813, fol. 3v, der Pariser Nationalbibliothek.16
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Camille 1996; Rouse und Rouse 2000, Bd. II , S. 115.
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Paris, Bibliothèque Sainte Geneviève, ms. 1028, fol. 12; das Frontispiz folgt auf fol. 14: Henry Martin, La miniature française du XIIIe siècle au XVe siècle, 2. Aufl. Paris 1924, S. 99 und Abb. XCIX auf Taf. 74.
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Avril 1978, Nr. 35, S. 108 f.
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Einleitung
Im Antiquariat Bibermühle liegen zur Zeit Werke beider enger historisch als stilistisch verbundenen Buchmaler: Mit Nr. 1 ein Stundenbuch und mit Nr. 2 ein Lektionar, das aus Bibelstellen im Pariser Missale besteht, die Jean de Vignay 1336 für die französische Königin Jeanne de Bourgogne übersetzt hat. Selbst wenn das bis auf den Kalender voll ständig erhaltene Stundenbuch dem Gebrauch von Rom folgt und wegen hinzugefügter Gebete früh in englische Hände kam, vertritt das Manuskript die wenigen Pariser Stun denbücher der Zeit um 1390 vorzüglich. Hingegen gibt Nr. 2 Einblick in einen Buchtyp zwischen den großen profanen Werken einerseits und den liturgischen Handschriften sowie den Stundenbüchern, den man allzu gern vergißt: Es gab eben auch etwas beschei dener illuminierte Kompendien kleineren Formats, die Passagen aus dem Gottesdienst in der Volkssprache boten. Zugleich wirft das Stundenbuch Nr. 1 die Frage auf, ob die buchgeschichtliche Neigung, solche Handschriften nach den beteiligten Malern zu sortieren und dabei so zu tun, als seien diese „Meister“ für das ganze Werk verantwortlich, historisch angemessen ist. Nach gängiger kennerschaftlicher Praxis müßte man bei der Bestimmung vom wichtig sten und am aufwendigsten geschmückten Incipit, der Marien-Matutin, ausgehen; doch hat man für diese Aufgabe nicht Remiet, sondern einen fremden Maler eingesetzt. Daß der in Paris alteingesessene Illuminator einem Maler, der vermutlich aus den nördlichen Niederlanden stammte, den wichtigsten Platz in einem solchen Werk überließ, wird der libraire entschieden haben. Für zehn der übrigen elf Miniaturen hat er sich auf die be währte Werkstatt von Perrin Remiet verlassen, weil sie über ein klares Konzept für ein überzeugendes Layout verfügte. Remiets Bilder in Vierpässen drücken alles Wesentli che in knapper und klarer Zeichnung mit wenigen leuchtenden Farben vor kostbaren Karogründen und Goldranken aus. Während den Pariser Maler Architektur nicht in teressierte, birgt ein Kulissenhaus vor Himmelsgrund die Verkündigung. Der Schöpfer gehört zu jenen, die um 1415 in Geldern das Stundenbuch der Marie d’Harcourt oder der Maria von Geldern gestalteten.17 Wenn man das Bildverständnis des wohl nur für eine Weile in Paris tätigen Malers aus Geldern mit den Federzeichnungen im Lektionar der Épîtres et Évangiles vergleicht, wird ein Grundcharakter der französischen Tradition des 14. Jahrhunderts deutlich: Jean de Nizières setzt Kolorierung nur ein, um einzelne für das Verständnis der Bilder wichtige Elemente zu verdeutlichen. Sein sicherer Strich zielt auf szenische Vergegenwärtigung der im Kirchenjahr wichtigen Geschehnisse aus der Heilsgeschichte; auf Gold verzichtet er weitgehend. Auch sein auf den ersten Blick altertümliches Manuskript blieb begehrt, ungeachtet der revolutionären Umwälzung der Buchmalerei im 15. Jahrhundert: Jean Budé hat sich 1486 in dem Buch verewigt, und Françoise d’Alençon hat dieses Lektion ar noch im frühen 16. Jahrhundert benutzt. Den bleibenden Wert belegt auch in diesem Fall moderne Aufmerksamkeit bis 1974, als man den hist orisierenden Einband schuf. 17
Berlin, Staatsbibliothek, Cod. germ. qu. 42, und Wien, ÖNB , Cod. 1908: Ausst.-Kat. Berlin 1987, Nr. 45; Ausst.-Kat. Ut recht und New York 1989, Nr. 17; zuletzt Seidel in Ausst.-Kat. Konstanz 2014, Nr. 68. Am überzeugendsten sind Verglei che mit den Suffragienbildern im Berliner Manuskript.
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Unfertige Meisterwerke zweier Schützlinge des Herzogs Jean de Berry Seit wir mit Handschriften in der Bibermühle versuchen, ganze Bereiche aus der Ge schichte der Buchmalerei zu umreißen, erlauben wir uns Rückblicke auf wichtige Werke aus älteren Katalogen; durch sie erhält die über Jahrzehnte gepflegte Zusammenarbeit zwischen Antiquar und Kenner besonderen Sinn, weil sie zugleich Gelegenheit bietet, die Dinge noch einmal neu zu betrachten. Die Épîtres et Évangiles haben wir bereits im Jahr 2000 ausführlicher beschrieben, als Nr. 3 im 3. Band der Neuen Folge Leuchtendes Mittelalter. Den nun folgenden Nrn. 3 und 4 waren zwei rezente Bücher gewidmet: 2015, in unserem Katalog 76, diente Nr. 3 in einer Gegenüberstellung von Psalter und Stun denbuch im 14. Jahrhundert als Endpunkt; 2016 erwies sich die hier als Nr. 4 geführ te Handschrift als eine der größten Sensationen in der neueren Geschichte der Hand schriftenkunde.18 Beide Stundenbücher zeugen von einer Phase in der Entwicklung des Handschriften typs und vielleicht auch der Künstler, in der ikonographische Zuordnungen noch nicht schlüssig zu allen geläufigen Stundenbuch-Incipits festgelegt waren. Beide sind auf unter schiedliche Weise mit Paris und Bourges verbunden. Beide zeigen in verschieden starker Weise Züge des Unfertigen. Die beiden verantwortlichen Buchmaler fanden erst durch den Herzog von Berry zu ihrer erstaunlichen Größe; beiden stand Jean de Berry in ge radezu skandalöser Weise bei.19 Daß die Miniaturen so erhalten geblieben sind, wie sie von ihren Schöpfern liegen gelassen wurden, verdanken sie zwei Gründen: Bücher warf man nicht weg, nur weil ihre Bebilderung unfertig war, zugleich ließ der unvollendete Zu stand den schöpferischen Prozeß noch lebendig spüren, wovon in unerhörter Weise un sere Nr. 4 zeugt. In Nr. 3 sind alle Miniaturen gut lesbar, in den Hintergründen sind sie immer, meist auch in den Gewändern vollendet. Selbst für die Rahmung gilt das, obwohl sie eigentlich als letztes ausgeführt wurde. Doch fehlt manchen Gesichtern und Händen, seltener auch den Draperien die letzte Ausmalung. Dieser Zustand bietet wunderbare Einblicke in die Art, wie gezeichnet wurde, beispielsweise bei den Köpfen von Maria und dem Kind der Flucht nach Ägypten. Die Zuschreibung wird durch diesen Umstand jedoch erschwert, zumal in einzelnen Fällen zwischen der Anlage der Bilder und der Fertigstellung der Ge sichter Zeit verstrichen ist. So deutet der stark ins 15. Jahrhundert weisende Charakter
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Scott Reyburn in: International New York Times 14. März 2016, S. 15; Andreas Platthaus, Das Buchwunder der Brüder Lim burg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Aug ust 2016, S. 9; Albert Châtelet, Une nouvelle œuvre des frères Limbourg, in: art de l’enluminure 57, 2016, S. 59-60. Darauf bezogene Beiträge u. a. von Christine Seidel, Inès Villela-Petit, Dieter Röschel und mir erscheinen in Nimwegen im Herbst 2017.
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Jacquemart war 1398 in Poitiers mit zwei seiner Mitarbeiter in einen Mordfall verwickelt; Berry schlug die polizeilichen Er mittlungen nieder; Paul von Limburg begehrte die minderjährige Giliette la Mercière, die er später auch heiratete, gegen den Willen ihrer Mutter; Berry entzog der Familie das Mädchen. Zu diesen Ereignissen Meiss 1967, 226-227, und Meiss 1974, S. 74-75; zu den Geschehnissen des Jahres 1398 siehe auch unseren Band Vom Psalter zum Stundenbuch (Illuminationen 22), 2015, S. 316-318, mit Hinweisen zu rezenter Literatur bis hin zu Châtelet 2000, S. 74-75.
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von Johannes auf Patmos darauf hin, daß die Ausmalung wohl erst nach der Wende zum 15. Jahrhundert abgeschlossen wurde. Daß Händescheidung in Nr. 3 nötig ist, verraten die beiden zu Ende gemalten Verkündi gungsbilder, fol. 15 und 21: Eine der beiden Miniaturen folgt Jean le Noirs Hauptminiatur in Berrys Petites Heures aus der Zeit um 1375, die aber erst ein Jahrzehnt später vollen det wurde; die zweite, mit kniendem Gabriel, entspricht dem zweiten Bild des Themas dort (fol. 141v), das nach einer älteren Vorlage von jüngerer Hand ausgeführt wurde.20 An italienischer Modellierung orientiert und stilistisch fortschrittlicher ist unser zweites Verkündigungsbild, das als Eröffnung der Marien-Matutin auch in der Hierarchie des Buches höheren Rang beansprucht. Stilistisch gehört es zu Jacquemart de Hesdin, den der Herzog von Berry 1384 nach Bourges holte. Als erster hatte Robert de Lasteyrie 1896 – natürlich ohne unser Buch zu kennen – versucht, das Œuvre dieses Künstlers zu bestimmen. Nachdem Panofsky 1953 dessen Überlegungen aufgenommen hatte und ihm folgend Millard Meiss 1956 und 1974 die Identifizierung des Künstlers im gleichen Sinne neu begründet hatte, schien die Frage endgültig geklärt. So sahen das auch Carl Nordenfalk und Otto Pächt 1956 sowie spä ter François Avril 1975 und 1989. Damit schien Paul Durrieu widerlegt, der seinerseits von den für Jacquemart verbürgten Grandes Heures des Herzogs von Berry ausgegangen war. Deren Hauptstil im erhaltenen Buchblock hatte Durrieu mit Jacquemart verbun den; diesen Gedanken nahm Albert Châtelet im Jahr 2000 mit veränderter Argumen tation wieder auf.21 Eine Hauptrolle in der neueren Diskussion spielte eine textlose Kreuztragung in Folio format, die erst 1930 aufgetaucht und als italienische Arbeit in den Louvre gelangt ist. Zumindest seit Nordenfalk 1956 gilt vielen dieses Blatt als Restbestand aus den Grandes Heures. Obwohl Meiss die Herkunft aus dem Manuskript ablehnte, stellte er sich die ver lorenen Vollbilder ähnlich vor. Den die Grandes Heures dominierenden altertümlicheren Miniaturisten – also Durrieus und Châtelets Jacquemart – aber taufte Meiss Pseudo-Ja cquemart. Jacquemart selbst vertritt für Meiss und die meisten anderen mit seiner Pla stizität und dem gedämpft farbenfrohen Kolorit Eigenschaften, die ins 15. Jahrhundert vorausweisen; das wiederum erklärte Meiss mit frischer Erfahrung des aus dem Artois stammenden Malers in Avignon. Beide „Jacquemarts“ waren an unserer Nr. 3 beteiligt: Der modernere hat die Verkündi gung zur Marien-Matutin geschaffen; sein „Pseudo“ hingegen bezaubert mit dem Bild der Madonna im Garten, der der Jesusknabe beim Garnwickeln hilft, fol. 210. Von hier aus sind diesem altertümlicheren Maler nicht nur die Bilder zu Sext und Non im Ma rienof fizium, sondern auch das Jüngste Gericht zu den Bußpsalmen zuzuschreiben. Doch
20 Avril 1989, S. 323-4. 21
Paris, BnF, latin 919: Marcel Thomas, Les Grandes Heures de Jean de France, duc de Berry, Paris 1971; Meiss 1967, S. 256-286 und passim; Châtelet 2000, S. 76-84; Avril 2004; Ausst.-Kat. Paris 2004, Nr. 43 A und B.
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steht Pseudo-Jacquemart hinter dem fortschrittlicheren, also Jacquemart, wie Meiss ihn sieht, zurück, weil der in diesem Manuskript den wichtigsten Textanfang übernimmt. Chronologische Probleme, wie sie die entschieden fortschrittliche Figurenbildung der Hauptminiatur stellen könnte, werden durch die enge Verwandtschaft unseres Erzengels Gabriel auf fol. 21 mit den knienden Wappen-Engeln auf dem Frontispiz zum zweiten Band der Bibel Vat. lat. 50/51 aus dem Weg geräumt; denn die Heraldik dort hat Jean de Berry zwischen 1389 und 1394 für Papst Clemens VII . einmalen lassen. Mit diesem Hinweis gerät man zugleich in Grauzonen, weil Millard Meiss um die wenigen Werke seiner Meister, die er für eigenhändig hielt, Scharen von Mitarbeitern und Nachfolgern versammelte. Er hätte unser Manuskript vermutlich ebenso wie die am besten vergleich bare Parallel-Handschrift, Ms. 159 in Parma, die ihm selbstverständlich bekannt war, eher der Jacquemart-Nachfolge oder vielleicht dem von ihm nur ungenau definierten Dreifaltigkeits-Meister zugesprochen. Damit ergibt sich, unabhängig davon, wessen Jacquemart denn nun der echte war, die Zuschreibung unseres Stundenbuchs an das Atelier des seit 1384 in Berrys Diensten nachgewiesenen Jacquemart de Hesdin. Mit diesem in Bourges ansässigen Künstler er gibt sich aber zugleich das Problem, daß unsere Nr. 3 in der Hauptstadt des Berry ent standen sein könnte, obwohl diese bis 2015 unbekannte Handschrift in Text, Dekor und Bebilderung mustergültig den Typus des Pariser Stundenbuchs vertritt. Hinreißend sind einige der als Zeichnung stehen gebliebenen Passagen; bemerkenswert ist der von kei nem Illuminator anschaulicher als von Jacquemart vertretene Wechsel von der Malerei des Kurzen 14. Jahrhunderts22 zum Goldenen Zeitalter unter dem Mäzenat des Her zogs Jean de Berry. Fast zwanzig Jahre später hat jener Limburg-Bruder, der den Hieronymus im Gehäus als Frontispiz zur Bible moralisée für Philipp den Kühnen von Burgund vor April 1404 und um 1408 Randbilder in Douce 144 gezeichnet hat, unsere Nr. 4 mit dreißig hinreißen den Zeichnungen versehen. Etwa gleichzeitig hat er in den Belles Heures als „the elegant hand“23 mitgewirkt und dann in den Très Riches Heures mit dem Februar und anderen be rühmten Miniaturen eine unerhörte Höhe erreicht. Da dieser Limburg die Miniatur der Belles Heures geschaffen hat, die mit winzigem „P“ signiert ist, kommt er als Paul in Frage. In manchen Bildern dieses bisher ganz und gar unbekannten Stundenbuchs zeigt er sich so ins Zeichnen verliebt, als habe er ganz vergessen, daß eigentlich noch gemalt werden sollte. Nicht von der Technik, wohl aber von der Wirkung her nähert man sich den im 14. Jahrhundert beliebten Grisaillen. In dieser Hinsicht, ebenso wie beim stark redu zierten Format und dem Kalender, der die Monate auf Verso und Recto ausbreitet, so wie der Anlage von bebilderten Doppelseiten mag man sich an Pucelles Stundenbuch der 22 Damit ist der Zeitraum gemeint, der im Konzept des Survey von Harvey Miller auf die Bände von Alison Stones folgt, die vor dem Auftreten Jean Pucelles endet, und vor dem Band von Inès Villela-Petit endet, die sich mit der 1380 einsetzenden Berry-Zeit beschäftigen soll; es ist in etwa die Periode, die Avril 1978 erfaßt. 23
Lawson 2005, 2008, 2009 und 2012.
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Paris, BnF. Fr. 166, fol. 1v: Hieronymus im Gehäus
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Jeanne d’Evreux in den New Yorker Cloisters orientiert haben.24 Die Arbeit brach der Limburg-Bruder ab, ehe er dazu gekommen ist, alle vorgesehenen Bildfelder zu gestal ten. Mit Stundenbüchern war der Künstler ebenso ungenügend vertraut wie seine Brü der. Gerade in diesem Mangel lag die Chance ebenso für unser Manuskript wie später für die Très Riches Heures; und das kleine Format förderte die Virtuosität. Die schöpferische Auseinandersetzung mit der Aufgabe läßt sich in den Zeichnungen ablesen. Nicht in Frankreich aufgewachsen, zunächst wohl nicht einmal als Buchmaler ausgebil det, geht der ungemein begabte Zeichner daran, ein Pariser Stundenbuch zu gestalten, von dessen Zusammensetzung er noch nicht viel weiß. Gegen den Brauch, bei der Be bilderung mit dem Randschmuck zu beginnen, interessieren ihn zunächst nur die Bil der; selbst die zwei historisch und äst hetisch ungemein aufschlußreichen Bordüren hat er erst angelegt, als die auf zwei Bildseiten ausgebreitete Verkündigung schon ein schlüs siges Stadium erreicht hatte. Wie später in den Très Riches Heures reichen dem Künstler die Vorgaben des Schrei bers für seine Miniaturen nicht aus; er läßt Doppelblätter einfügen, füllt leer gebliebene Seiten mit Bildern und erreicht schließlich, daß sich der Schreiber in einigen Suffragien auf sonst nur in den Belles Heures und in den Très Riches Heures zu findende Bilderpaare fizium gerät das Konzept dann in eine Aporie, bei der man einstellt. Doch im Marienof gern wüßte, mit welchen Bildthemen der Künstler heute fehlende Incipits zu einigen Ma rienstunden besetzen wollte. Die Zeichnungen übertreffen unvollendet gebliebene Miniaturen anderer Künstler aus dem frühen 15. Jahrhundert durch ihre entschiedene Tendenz zu vollendet bildhaf ter Wirkung und verändern durch außerordentliche, geradezu unerhörte Qualität der Zeichnung und einzigartige Bildphantasie unseren Blick auf die Brüder Limburg nach haltig. Unabhängig von allem, was wir vermuten mögen über den Künstler, den Auftrag geber und jene, für die das Manuskript bestimmt war, ist schon die reine Existenz die ses großartigen Stundenbuchs ein Triumph des Genies der Zeichnung; denn es grenzt an Wunder, daß die Handschrift verborgen überlebt hat bis in eine Zeit, die meint, alles über die Vergangenheit zu wissen. Stundenbücher für das Haus Orléans? Wer Handschriften persönlich zuordnen will, hätte am liebsten ein eindeutiges schrift liches Zeugnis; doch auch wenn solche Einträge fehlen, bieten Bücher unterschiedlich ste Indizien. Schon der gestalterische Gesamtcharakter kann Hinweise geben, weil ein kennerschaftlich geschulter Blick sofort begreift, wie ein lokaler Grundbestand durch Eigenheiten, die sich anderswo orten lassen, bereichert oder verfremdet wird: Über Pa riser Grundzüge und die individuelle Formsprache des Künstlers aus dem geldrischen Nimwegen hinaus verfügt unsere Nr. 4 noch über ein weiteres Spektrum von hohem Rang. Oberitalien spielt massiv in die Buchgestaltung und in die Bilder hinein. In der Tat 24 New York, The Cloisters, Acc. No. 54.1.2: Avril 1978, S. 44-59; Boehm 2000.
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die Zeichnungen in ihrer italienischen Anmutung weit über das hinaus, was man bei Ja cquemart de Hesdin und anderen Zeitgenossen in Paris oder Bourges mit italienischem Einfluß erklärt.25 Das zeigen die Themen mancher Miniaturen ebenso wie einzelne De tails – so die Dattelpalme bei der Flucht nach Ägypten – ebenso wie die Anlage der Bil der – darunter die auf zwei Seiten verteilte Verkündigung – und die hybriden Architek turen. Ganze Kompositionen wie die Verleugnung Petri, die Duccios Sieneser Maestà verpflichtet ist, scheinen kreativ verarbeitet zu sein. Man wird sich im Falle der Brüder Limburg nicht Herman Colenbrander anschließen, der seit Jahrzehnten gegen deren heute gültige Bestimmung kämpft, weil er in den Très Riches Heures und allem Stilverwandten Buchmaler aus Italien am Werk sieht.26 Man könnte die italienischen Komponenten auch mit Meiss aus künstlerischen Neigungen der Brüder Limburg erklären. Es empfiehlt sich aber, sie auch bei der Suche nach den Per sönlichkeiten zu nutzen, für die das Manuskript bestimmt war. Heraldische Hinweise beschränken sich auf leere Wappen, die von Harpyien gehalten werden. Doch die Schilde – geschwungene Tartschen, wie sie in der Pariser Buchmalerei der Zeit so gut wie gar nicht vorkommen27 – führen zu Louis d’Orléans und dessen Ge mahlin Valentina Visconti. Deren spezifische Form war bei den Visconti in Mailand ge radezu Standard, und auf die Beziehungen zur Lombardei hat dieser Sohn Karls V. sein fürstliches Gehabe eingestellt. Aust ausch mit Italien war sicher nicht auf das Haus Orléans beschränkt; doch keine der großen Fürstenfamilien war so eng mit der Lombardei verbunden. Deshalb sei hier noch kurz darauf verwiesen, daß wir an ganz anderer Stelle auf ein italienisches Stundenbuch gestoßen sind, das sogar als Vermittler zwischen den beiden Kulturen angesprochen wer den kann und gute Chancen hat, für Valentina Visconti bezeugt zu sein: Wie schon im Buch von 2016 betont, gehört Nr. 9 in unserem Katalog Unterwegs zur Renaissance von 2011 zu den markanten oberitalienischen Vorläufern der doppelseitig angelegten Ver kündigungsminiatur im Limburg-Stundenbuch. Um die Wende zum 15. Jahrhundert wur de die mit 95 x 80 mm sehr kleine Handschrift wohl in Mailand oder Mantua von Ramo de Ramedellis ausgemalt. Sie beginnt mit der doppelseitigen Verkündigung und ist ganz in Blau und Gold geschrieben, was einer Beschreibung in Valentina Viscontis Inventar entspricht: „Unes Heures de N. D. imaginez la premiere ymaige de l’Annonciation de N. D. escripte d’or et d’azur.“28 Der Bezug unserer Nr. 4 zu Louis und Valentina bliebe jedoch nur eine luftige Hypothe se, käme nicht der Zustand des Manuskripts als wesentliches Argument hinzu: In einer 25
Italienischer Einfluß auf die französische Malerei der Berry-Zeit ist ein Hauptthema in den Bänden von Meiss 1967-1974, der von der Existenz unseres Manuskripts nichts ahnen konnte.
26 Herman Theodoor Colenbrander, „The Limbourg Brothers, the Miniaturists of the Très Riches Heures du duc de Berry?,“ in Masters and Miniatures, hrsg. Koert van der Horst, Doornspijk 1991, S. 109-116; ders., Op Zoek naar de Gebroeders Limburg, Akademisch Proefschrift, Amsterdam 2006. 27 Siehe meine Ausf ührungen in König 2016, S. 40-48. 28 Champion 1910, S. 50 f.
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ersten Kampagne, die wegen kreativer Veränderungen in sich noch einmal differenziert werden muß, hat dieser Limburg dreißig Bildfelder mit seinen Zeichnungen gefüllt und das Bordürenpaar mit Tartschen und Harpyien angelegt; danach ist er nicht mehr für die ses Projekt tätig geworden. Erst als in verändertem Layout ein Quaternio nachgetragen wurde, der auch einen Text enthält, den man auf den Tod von Louis d’Orléans beziehen muß, hat ein den Brüdern Limburg fremder Illuminator an vielen Stellen im Buch den Bordürenschmuck gemalt. Da dieser Randschmuck mit buntem Akanthus recht genau in die Zeitbrüche paßt, die das Haus Orléans erschüttert haben, bietet es sich an, die er ste Kampagne mit der Ermordung des Herzogs am 23. November 1407 enden zu lassen und die Bordüren mit der hinzugefügten Textlage ins Jahr 1408 zu datieren, ehe die Ar beit an dem Buch nach Valentinas Tod am 4. Dezember 1408 aufgegeben wurde. Sicher steht Louis d’Orléans mit seiner Gemahlin, die mit Büchern aus der Lombardei nach Frankreich gekommen war, als Bibliophiler heute im Schatten seines Oheims Jean de Berry. Inventare des erheblichen Bücherbesitzes des Fürstenpaars fehlen, doch läßt sich der Bestand aus begleitenden Quellen, vor allem aber dem Inventar ihres Sohns Charles von 1417 eine Bibliothek erschließen, die erstaunlich reich mit profanen Texten und nicht so sehr mit prachtvoll bebilderten Gebetbüchern bestückt war.29 Louis verfügte mit Leuten wie dem libraire Étienne l’Angevin30 über Mittelsmänner, die mit dem Pariser Buchwesen vertraut waren; anders als Jean de Berry scheint er kein direktes Verhältnis zu bestimmten Buchmalern aufgebaut zu haben. Da die Brüder Limburg in jenen Jahren, soweit wir wissen, nur für Berry gearbeitet haben, dürfte dieser Herzog bei dem Projekt eine entscheidende Rolle gespielt haben, zumal er im Bürgerkrieg auf der Seite von Orlé ans und den Armagnaken stand. Nicht immer lassen sich die Handschriften schlüssig einzelnen Personen zuordnen, weil die Wappenfarben eines fürstlichen Hauses unverändert blieben. Selbst auffällige Zei chen, die man angesichts der immer etwas fragmentarischen Überlieferung einer einzel nen Persönlichkeit zuweisen möchte, müßen nicht zwingend für sie allein gelten, wenn sie zu Familientraditionen wurden. Das gilt beispielsweise für das Stachelschwein: Als Louis d’Orléans zur Taufe seines ersten Sohns Charles 1394 für 25 Ritter den Ordre du Camail gründete, war das exotische Tier dessen Abzeichen, weshalb der Ritterorden auch Ordre du porc épic hieß. Louis’ Tochter Marguerite d’Orléans, die im wesentlichen in Clisson lebte, ließ noch um 1430 ein Stachelschwein wie ein Namenszeichen in die am stärksten personalisierte Bordüre zum Bild ihrer Namensheiligen einmalen.31 Zwar hob Ludwig XII ., der Enkel des Gründers, den Ritterorden auf; selbst aber trug er als König das Sta chelschwein als bevorzugtes Zeichen, das er auch auf Medaillen prägen ließ.32 29
Delisle, Le Cabinet des Manuscrits, I, Paris 1868, S. 98-121; man beachte besonders das Inventar der Bibliothek ihres Sohns Charles in Blois von Mai 1417, op. cit. S. 105-108 mit 91 zum großen Teil gewichtigen Bänden; zuletzt siehe Ausst.-Kat. Pa ris 2004, S. 126-135.
30 Delisle I, 1868, S. 99-100; der Name taucht dann leider bei Rouse und Rouse 2000 nicht mehr auf. 31
Paris, BnF, lat. 1156B, fol. 176: König 1991; König (mit Seidel) 2013, S. 118-120.
32
So wechseln Stachelschweine mit der Initiale L, die durch eine Krone gebunden ist, auf dem mit einem majestätischen Porträt Ludwigs XII . geschmückten Frontispiz zur Chronik des Enguerrand Monstrelet ab, die François de Rochechouart 1510 mit
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Louis d’Orléans und die hl. Agnes, Ölberg, Madrid, Prado
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Kat. 66, Nr. 4: Stundenbuch für Orléans, fol. 23 (Bedford-Meister)
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Unter dieser Voraussetzung ist eine wertvolle Beobachtung von Laurent Hablot zu sehen: Da er Harpyien, wie sie in unserem Bordürenpaar als Wappenhalter eingesetzt sind, in ei nem 1412 geschnittenen Siegel von Charles d’Orléans gefunden hat, schlägt er vor, dieser Randschmuck sei erst für den Sohn von Louis und Valentina etwa zu jener Zeit geschaf fen worden.33 Doch deshalb muß die gerade erst von uns konzipierte Geschichte des Buchs nicht gleich wieder umgeschrieben werden. Heraldik teilt mit den anderen Geschichts wissenschaften das Problem, daß ihre Beweisketten von solchen Zufallsfunden abhängig sind. In erster Linie stützt Hablot den Bezug zu den Orléans; Charles hat vielleicht nur eine Tradition seiner Eltern weitergeführt, für die uns bisher ältere Beispiele fehlen. Das Weiterleben eines solchen Motivs gilt auch für andere Zeichen: Marguerite d’Orléans ließ das Johannesbild am Anfang ihres berühmten Stundenbuchs vom Knotenstock, dem bâton noueux, rahmen, gegen den der Mörder ihres Vaters, Johann Ohnefurcht, den Ho bel gesetzt hatte. Ähnlich wie diese beiden aggressiven Symbole verstehen sich Brennes seln: Mit Blättern der Brennessel – und der heiligen Agnes, die er als Patronin von den Visconti übernommen hatte – gibt sich Louis d’Orléans in einem jüngst aufgetauchten Gemälde des Madrider Prados zu erkennen; Brennesselblätter sind dort so an den wei ten Ärmeln seines Gewandes befestigt, daß sie einen scharfen schwarzen Schatten wer fen, was den falschen Eindruck erweckt, es handele sich um kleine Paare aus Weiß und Schwarz.34 „lxv feuilles d’or en façon d’orties“ bestellte Louis d’Orléans 1403,35 nachdem er schon 1402 für „certaine orfaivrerie à la devise… nostre, laquelle est de feuilles… d’ort ies“ gezahlt hatte.36 Als Zeichen der Verbundenheit verwendete Charles d’Orléans (1394-1465), der un glückliche Dichter, der nach der Gefangennahme in der französischen Niederlage bei Azincourt im Jahre 1415 bis 1440 in England festgehalten wurde, auch lange nach der Ermordung des Vaters Brennesseln, wie aus einer Rechnung vom 10. Oktober 1414 her vorgeht: Unter anderem ließ er Ärmel eines seiner Gewänder mit abreseaulx ou tiges d’ort ye, also Pflanzen oder Zweigen der Brennessel, und einem seiner Gedichte Madame je suis plus joyeulx bestickt waren.37
vorzüglichen Zeichnungen hat versehen lassen: Paris, BnF, fr. 20361: Ausst,-Kat. Paris 2010/11, Nr. 163, mit Abb. S. 317; siehe auch die goldene Medaille mit einem Bildnis Ludwigs und dem Stachelschwein, über dessen Stacheln die französische Krone schwebt (Paris, BnF, Cabinet des Médailles, Série royale, Nr. 49: Ausst.-Kat. Tours 2012, Nr. 10). 33
Das wurde in einer Sitzung der Société des Antiquaires de France vom 15. März 2017 berichtet, in der ich selbst das Stun denbuch mit den Limburg-Zeichnungen erläutert habe; die Veröffentlichung ist im eben schon zitierten Band für Herbst 2017 vorgesehen.
34 Siehe Maroto 2013, besonders Abb. S. 8 und Text S. 9. 35
Siehe Champollion-Figeac 1844, Anm. 3, S. 251.
36
London, BL , Add. Ch. 1103; hier zitiert nach Maroto 2013, S. 9.
37
Rouen, Bibl. mun, Leber Nr. 5865, mit Sig natur des Pierre Sauvage, Sekretär von Louis d’Orléans: Cat. Courcelles, Paris: Leblanc 1835, S. 129, Nr. 6241; siehe auch Du Robec, À propos d’une robe de Charles d’Orléans, in: Le Mercure Musical (La Revue Musicale S. I. M.), 3, 15.10.1907, S. 1028-1039, bes. S. 1030.
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Charles d’Orléans hat uns schon 2011 in Illuminationen 15 (Das Pariser Stundenbuch an der Schwelle zum 15. Jahrhundert) intensiv beschäftigt. Alle vier Randstreifen von Textund Bildseiten der dortigen Nr. 4 sind nach lombardischem Vorbild – ähnlich den Dop pelseiten mit Bildern im Gebetbuch des Michelino da Besozzo in der New Yorker Pier pont Morgan Library, M. 94438 – mit rahmenden Leisten versehen, die vom Initialdekor unabhängig sind und sich nicht miteinander verbinden. Zwei Zweige, jeweils ein glatter mit einem stachligen Blatt, das wir seinerzeit als Stechpalme mißverstanden haben und ein dorniger mit glattem Blatt, sind so geflochten, daß Zwischenräume abwechselnd mit Blau und Gold gefüllt werden. An zwei Stellen finden sich in jenem Stundenbuch Einträge des frühen 15. Jahrhunderts in einer Bastarda, die auffällig der autographen Abdankungsurkunde von Charles d’Orlé ans gleichen, zu der er im Jahre 1417 gezwungen wurde. Sie ergänzen Psalmen und zeigen einen Geist, der einerseits dem biblischen Text treu bleiben will und andererseits die tie fe Betroffenheit der Textstellen aus Ps. 42,2-3 (fol. 76v) und Ps. 101,3 (fol. 69v) erfassen. Von der Zeitstellung hängt ab, ob der Vater Louis oder der Sohn Charles als Auftrag geber in Frage kommen; denn unser Stundenbuch ist so ungewöhnlich, daß seine gera dezu einzigartige Gestalt von sich aus keine schlüssige Datierung erlaubt. Kunsthistori sche Bestimmung mag aber dem Buch vielleicht sogar einen Platz in den Quellen geben. Anfänge des Bedford-Meisters in früher von uns beschriebenen Stundenbüchern Die duftigen Farben, der weiche Duktus und die unverwechselbaren Gesichtst ypen, ins besondere der älteren Männer, lassen in unserem Stundenbuch mit den Brennesseln (Nr. 4 des Katalogs von 2011), das engstens mit den Orléans verbunden ist, auf Anhieb an den Bedford-Meister denken. Millard Meiss, der unseren Kodex nicht kannte, hat den spezi fischen Stil noch vom Meister selbst getrennt und nur einen Bedford Trend angenommen; der gipfelt seiner Meinung nach im Hauptstil des hier bereits genannten Oxforder Stun denbuchs Douce 144. Inzwischen gelten die 1974 zusammengestellten Kodizes weitge hend als Arbeiten des Bedford-Meisters selbst. Die Miniaturen in unserem italianisieren den Stundenbuch bewegen sich als eines seiner frühesten Werke auf derselben Stilstufe wie das Frontispiz eines Catilina von Sallust, den Louis d’Orléans für seine Kinder er warb und der mit Resten der Bibliothek von Charles d’Orléans über Ludwig XII . in die Pariser Nationalbibliothek gelangte.39 Heute intensiver denn je wird der Bedford-Meister mit dem in den Quellen als Hain celin de Haguenau genannten Pariser Buchmaler gleichgesetzt, der von 1409 an in der Rue Quincampoix lebte und seit diesem Jahr auch Valet de chambre des damals gerade geschäftsfähig gewordenen, aber schon 1415 verstorbenen Dauphins Louis de Guyenne,
38
Colin Eisler und Patricia Corbett, Das Gebetbuch des Michelino da Besozzo, München 1981.
39
Paris, BnF, latin 9684: Ausst.-Kat. Paris 2004, Nr. 117 A.
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war.40 Für diesen Sohn Karls VI . und der Isabella von Bayern, der auch den Térence des Ducs besessen hat, war das Brevier von Châteauroux bestimmt.41 Diesem Dauphin wei tere Handschriften zuzuschreiben, ist gerade Mode.42 Die vom Brevier bestimmte Ver bindung des Malers zum Dauphin ist ebenso wertvoll wie die Tatsache, daß Bedford-Stil und Namensvarianten von Haincelin und Haguenau mindestens bis in die 1440er Jahre zu finden sind, wie wir auch mit den Nrn. 14-15 zeigen werden. Im Vornamen Haincelin erkennt man heute ein Diminutiv von Hans, den Ortsnamen liest man als Hagenau im Elsaß; doch statt von Hänschen aus Hagenau wäre genausogut von Heinzlein aus Hagnau zu sprechen. Kurioserweise findet sich in den Quellen auch der Name Jehan Haincelin, der zu der Annahme verführt, man habe es vielleicht mit ei nem jüngeren Mitglied der Werkstatt, am liebsten einem Sohn von Haincelin zu tun. Doch schon die früheste Quelle, 1403, verwendet diese Formel; und da sich bis um die Jahrhundertmitte keine schlüssige Unterscheidung ergibt, plädieren die Rouses dafür, es handele sich um ein und dieselbe Person.43 Deshalb wäre nur zu bedenken, ob man dann nicht Hans Hänslein durch Hans Heinzlein ersetzen müßte. Zudem vergißt die interna tionale Literatur immer wieder, daß neben der bedeutenden freien Reichstadt, die heute Haguenau heißt, ein kleiner Ort bei Meersburg in der deutschen Kunstgeschichte wichtig ist: Von dort, aus Hagnau, kam Stephan Lochner in Köln, dessen oberrheinisch geprägte Kunst ähnlich zarte Sensibilität wie die besten Arbeiten des Bedford-Meisters beweist. Die Quellen bezeichnen den Maler bereits 1403 als in Paris wohnhaft; ausgerechnet die Königin Isabeau de Bavière, eine Wittelsbacherin, bezahlte ihn für die Bemalung von Buchkästen. Als Hainsselin de Haguenot war er an der Bibel für Philipp den Kühnen von Burgund beteiligt, die man immer wieder mit jener Bible moralisée identifiziert, die, unab hängig von allen Details, als erste Arbeit der Limburgs gilt und den berühmten Hiero nymus im Gehäus als Frontispiz erhielt. Da unser Stundenbuch mit den Brennesseln in die früheste Zeit des Bedford-Meisters gehört, geht es wohl auf einen Auftrag von Lou is d’Orléans zurück. Deshalb mag sogar eine Quelle mit dieser Handschrift verbunden werden: Im Jahre 1404 erwarb der Herzog von einem Jehan de Tournes, wohnhaft nicht in Paris, sondern in Brie Comte-Robert bei Melun, das zu den Besitztümern des Her zogs gehörte, für die Summe von etwas mehr als 83 Pariser livres ein fertiges Stunden buch mit Goldschließen. 44 Das könnte unser Exemplar gewesen sein.
40 Siehe zuletzt Villela-Petit 2003, mit einer Zusammenstellung der Quellen, sowie meine Sicht: König 2007, S. 31-38. 41
Châteauroux, Bibl. mun., ms. 2: Châtelet 2000, S. 164-169; Villela-Petit 2003; Ausst.-Kat. Paris 2004, Nr. 69.
42
So gilt der Térence des Ducs (Paris, Arsenal Ms. 664) als ein Auftrag für Louis de Guyenne (zuletzt Ausst.-Kat. Paris 2004, Nr. 145). Villela-Petit will in Douce 144 ein Stundenbuch für Louis de Guyenne sehen; Stirnemann und Rabel 2005 spie len mit dem Gedanken, das erst 1423 für Bedford und Anne de Bourgogne umgewidmete Londoner Stundenbuch Add. Ms. 18850 für ihn in Anspruch zu nehmen.
43
Rouse und Rouse 2000, II , S. 73 f.
44 Louis de Laborde, Les ducs de Bourgogne, III , Paris 1852, Nr. 6025, S. 213 f.: „A Jehan de Tournes demourant à Braie Cont erobert … iiij xx et iij liv. j s. vi d. p. pour unes heures, toutes acomplies, garnies de fermoers d’or…“; auch zitiert bei Delisle I, 1868, S. 103.
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Kat. 66, Nr. 4: Stundenbuch für Orléans, fol. 52 (Bedford-Meister)
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Kat. 66, Nr. 2: Joffroy-Stundenbuch, fol. 66 (Bedford-Meister)
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Kat. 66, Nr. 2: Joffroy-Stundenbuch, fol. 73 (Meister des Breviers für Johann Ohnefurcht)
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Kat. 66, Nr. 5, fol. 65v (Mazarine-Meister)
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Kat. 66, Nr. 3, fol. 66 (Bedford-Meister)
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Einleitung
Zwar hat man sich daran gewöhnt, den Bedford-Meister an seinen aufwendig gestalte ten Bildseiten zu erkennen, die von vielen Medaillons gesäumt sind und mit komplexen Staffelungen in Architektur und Landschaftskulisse arbeiten; davon war der Künstler um 1404 noch weit entfernt. Daß der Maler aus fremdsprachiger Welt nach Paris gelangt sein dürfte, bezeugt ein eigenartiger Fehler, den er in seinen aufwendigen Hauptwerken aus den folgenden Jahrzehnten wiederholen sollte: in der Hirtenverkündigung (fol. 52) verkündet der Engel, der eigentlich das Gloria anstimmen müßte, aber das Incipit der Weihnachtsmesse vorweist, statt puer natus est in einer Orthographie, die Französisch als Muttersprache ausschließt, peur natus est, als sei die Furcht statt des Knaben geboren!45 Wer die Geschichte des Pariser Stundenbuchs kurz nach 1400 fassen und dabei zu gleich auch die Sicht von Millard Meiss mit gebührendem Respekt zurecht rücken will, kommt ohne den frühen Bedford-Meister nicht aus. Er war, wie unser Stundenbuch mit den Brennesseln beweist, schon in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts kreativ tätig und arbeitete zeitgleich mit dem Boucicaut-Stil. Den Unwägbarkeiten des Antiquariats ist geschuldet, daß wir in diesem Katalog erst aus dem späten Jahren des Künstlers und seines Stils eindrucksvolle Stundenbücher vorlegen können, was uns zwingen wird, bei Nr. 12, 14 und 15 auf den Fragenkreis zurückzukommen. Um dem Künstler in diesem kurzen Überblick über die Pariser Buchmalerei einen ge bührenden Platz zu geben, sei an zwei Stundenbücher erinnert, die er im ersten Jahr zehnt des 15. Jahrhundert ausgemalt hat und die wir 2011 im Katalog zum Pariser Stun denbuch um 1400 besprochen haben. Sie behalten das Rechteck als Bildform bei und sind mit Randschmuck aus dichtem altertümlichen Dornblatt versehen, dessen Spi ralranken vorwiegend noch mit Farbe gefüllt sind; erst später genügen einfache Tin tenlinien. Von unerhörtem Reichtum ist das sogenannte Joffroy-Stundenbuch (Nr. 2 von 2011), das vom frühen Bedford-Meister begonnen wurde. Noch wird Architektur nur ausnahmsweise – für die Verkündigung und den Tempel der Darbringung sowie den Stall von Bethlehem – eingesetzt. Mustergrund mit sehr zierlichen Karos auf Goldgrund beherrscht die Wirkung der farbstarken Bilder, die von den Evangelistenporträts bis zum Pfingstbild die Wirkung des Buches prägen. Die Darstellung Jesu beim Jüngsten Gericht zu den VII Requestes zeugt von der Begegnung mit dem Egerton-Meister. Während für die hochinteressante spätere Geschichte des Manuskripts, das in die Cham pagne gelangte und noch weitere Bilder erhielt, auf den Katalog von 2011 verwiesen wer den muß, sei hier noch auf das ganz andere Temperament jenes zweiten Pariser Malers verwiesen, der Heimsuchung, Hirtenverkündigung und Marienkrönung in abweichen der Maltechnik gestaltet hat: Inkarnate bauen zum Teil auf Terraverde auf; die Pinsel 45
Der Fehler wiederholt sich unter anderem in der namengebenden Londoner Handschrift Add. 18850, fol. 79v, sowie in den Stundenbüchern Wien, ÖNB , cod. 1855, fol. 65v, und Lissabon, Museum Calouste Gulbenkian, Ms. LA 237, fol. 66v (siehe König 2007, S. 10-11). Hinzu kommt das Coëtivy-Stundenbuch in Dublin, Chester Beatt y Library, W. 82, fol. 48v, siehe: A Descriptive Catalogue of the Second Series of Fifty Manuscripts; Nos. 51 to 100, in the Collection of Henry Yates Thompson, Cam bridge 1902, S. 249, mit Hinweis auf die Fehlschreibung.
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führung wirkt spontan, der Farbauftrag past os, die Gesamtwirkung übertrifft noch die malerischen Qualitäten des Bedford-Meisters. Von den grazilen Gestalten der Heimsu chung aus ist die Werkstatt zu erschließen, die für Johann Ohnefurcht die beiden Bände eines Breviers in der Londoner British Library illuminiert hat. Von einem einzelnen Mei ster zu sprechen, scheint schwierig angesichts gravierender Unterschiede in den Arbeiten für den Burgunderherzog. Verwandt sind Miniaturen in einem Stundenbuch-Fragment in Privatbesitz und im Madrider Museo Lázaro Galdiáno.46 Auch Nr. 3 jenes Katalogs von 2011, ein Stundenbuch für Chartres, bereicherte unsere Kenntnis des jungen Bedford-Meisters ganz erheblich: Seine Bildkompositionen konzen triert er in bemerkenswerter Weise auf einen Kern, bei dem die wenigen Gegenstände vom Rand zur Mitte weisen; er geht nahe an die Figuren heran, die gern ein wenig vom Bildrand abgeschnitten sind. In den Farben spielt der Himmel eine bemerkenswerte Rol le, auch wenn daneben auch Miniaturen vor kariertem Mustergrund stehen. Stärker als in den anderen beiden Arbeiten des Bedford-Meisters, Nrn. 2 und 4 des Ka talogs von 2011, spürt man in einzelnen Bildern Tendenzen, die zu den reifen Arbeiten hinführen. Beim Weihnachtsbild zeigte der Bedford-Meister noch in unserem JoffroyStundenbuch die Jungfrau wie gewohnt im Bett und parallel zu ihr das Wickelkind in der Krippe. Nun kamen neue Tendenzen auf; so haben die Brüder Limburg mit der Anbe tung des Kindes in der Bible moralisée vor 1404 und in den Belles Heures gegen 1408 einen neuen Typus in Frankreich eingeführt, bei dem Maria vor dem Kind kniet, das sie auf den Boden gelegt hat. 47 Soweit geht der junge Bedford-Meister nicht; er läßt aber Maria auf dem Bettsack vor dem lebendig ihr zugewendeten Knaben knien, während der Maza rine-Meister in einem etwa gleichzeitigen Stundenbuch, das wir ebenfalls 2011 vorge stellt haben, die Muttergottes auf dem Bettsack aufrichtet und ihr Jesus als Wickelkind in die Arme legt. Beide Maler brauchten noch etwas Zeit, ehe sie ihrer Rolle als Pioniere der Buchmalerei ganz gerecht werden konnten. Der Boucicaut- und der Mazarine-Meister Nicht nur im Fall des Bedford-Meisters, dessen Stil Millard Meiss der Zeit nach dem Tod des Herzogs von Berry und der Limburgs im Jahre 1416 zurechnete, weil man da mals das namengebende Hauptwerk noch in die Jahre um 1423 datierte, hat sich die Literatur neu orientiert. Auch der Maler, den man seit dem Grafen Paul Durrieu vom Stundenbuch des Marschalls Boucicaut, Ms. 2 des Pariser Musée Jacquemart-André, aus bestimmt und dem Millard Meiss 1968 im Rahmen seiner Buchserie zur französischen Malerei der Zeit des Jean de Berry eine eigene Monographie gewidmet hat, wird in der neueren Literatur anders gesehen. 46 Ausst.-Kat. Paris 1400, Nr. 167; bei seinem unerwarteten Auftauchen wurde das Manuskript sogar für den Herzog von Berry in Anspruch genommen wurde, von Christopher de Hamel im Aukt.-Kat. Book of Hours Illuminated by the Master of Jean sans Peur, Sotheby’s, London, 7. Dezember 1999. 47
Paris, BnF, fr. 166, fol. 17: Meiss 1974, S. 86-88 und Abb. 327.
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Kat. 30, Nr. 12, fol. 63v (Boucicaut-Meister)
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Kat. 42, fol. 51v (Boucicaut-Meister)
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In ihrer wegweisenden Studie, die 1999 als erster Band unserer Reihe Illuminationen er schienen ist, hat Gabriele Bartz eine heute allgemein anerkannte Scheidung vollzogen: Während Meiss dem Hauptmeister nur das namengebende Manuskript sowie ein später im Besitz des Étienne Chevalier befindliches Stundenbuch, Add. 16996 der British Lib rary, sonst aber nur einzelne andere Miniaturen als eigenhändige Beiträge zuwies, läßt sich der inzwischen auch durch Neufunde gewachsene Gesamtbestand schlüssig in zwei Stilvarianten scheiden: Neben dem Boucicaut-Meister steht ein Künstler, den Bartz von einem vielleicht für den Dauphin Louis de Guyenne oder sogar Karl VI . bestimmten Stundenbuch der Pariser Bibliothèque Mazarine, Ms. 469, aus definiert.48 In unserem Bestand war der Boucicaut-Meister selbst häufiger anzutreffen: Ein Meister werk des Künstlers konnten wir 1993 mit dem eindrucksvollen Werk, das mit Bestän den der Sammlung Scudamore Jahrzehnte lang im Britischen Museum deponiert war, in dem bereits ganz dem französischen Gebetbuch gewidmeten Band V von Leuchten des Mittelalter als Nr. 12 vorlegen. Im dritten Band der Neuen Folge schloß sich dann mit Nr. 5 ein Stundenbuch an, das, wie man am Weihnachtsbild sehen kann, den persönli chen Stil des Boucicaut-Meisters noch viel klarer präsentiert: Anders als im ScudamoreStundenbuch, wo der Maler den Stall ähnlich, wie ihn der Mazarine-Meister und auch der frühe Bedford-Meister zeigen, schräg stellt, herrscht nun der rechte Winkel, und mit dem sonderbaren Einfall, die Jungfrau Maria nach der Geburt unter einen Baldachin zu setzen und ihr ein Buch in die Hand zu geben, erreicht der Künstler eine weitere Stufe in der Entwicklung der Ikonographie. LM NF III, 4: Boucicaut- und Mazarine-Meister? Die Listen, in denen Gabriele Bartz die Maler schied, sind nicht weiter in Zweifel zu ziehen; denn in der Regel lassen sich die beiden Hände klar unterscheiden; zudem gibt es kaum Handschriften, in denen beide Maler zusammengearbeitet haben. Doch stieß sie selbst bei der Bearbeitung von Nr. 4 im dritten Band der Neuen Folge von Leuchten des Mittelalter auf ein Beispiel, bei dem die beiden Grundregeln nicht galten: Offenbar findet man in jenem Stundenbuch die beiden Maler nebeneinander; und die Trennung will nicht so einfach gelingen, zumal die beiden Szenen mit dem Stall von Bethlehem gestalterisch dem Boucicaut-Meister selbst gehören, dessen persönlicher Stil aber nur im Weihnachtsbild zu Tage tritt, während die Königsanbetung Kolorit und Malweise des Mazarine-Meisters verrät. Einen ausführlicheren Rückblick bietet unser Katalog zum Pariser Stundenbuch um 1400 von 2011. Dort fehlte der Boucicaut-Meister selbst; der Mazarine-Meister war hingegen mit Nr. 5, die hier bereits mit ihrem Weihnachtsbild zitiert wurde, vorzüglich vertreten. Der Witz unseres heute vorgelegten Katalogs besteht nun darin, daß wir von beiden Ma 48 Paris, Bibl. Mazarine, ms. 469: Meiss 1968, S. 113-4 und passim; Bartz 1999, S. 67-69;Châtelet 2000, S. 178; Ausst.-Kat. Paris 2004, Nr. 175. Die von Gabriele Bartz entwickelte Zuschreibung hat François Avril bereits avant la lettre gekannt und akzeptiert: Avril 1996, S. 45-49.
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lern ein jeweils recht frühes Werk vorlegen können und dazu noch zwei Handschriften aus ihrer engeren Umgebung, das eine von dem ebenfalls von Gabriele Bartz definierten Meister des Guy de Laval und das andere von einem nicht genauer faßbaren Nachfolger. Das erlaubt, die Zeitstellung der beiden zurecht zu rücken: Wenn es auch auf Dauer da bei bleiben wird, daß man zusammenfassend eher von Boucicaut-Stil spricht, so kommt dem Mazarine-Meister doch zeitliche Priorität zu. Zeitgleich tritt er kurz nach 1400 mit dem frühen Bedford-Meister auf; beide haben dann beispielsweise um 1408 in der hier schon häufiger genannten Oxforder Handschrift Douce 144 zusammengearbeitet. Aus dieser Zeit liegt aber vom Boucicaut-Meister selbst noch nicht viel vor, weil – an ders als das Meiss gesehen hat – dessen Hauptwerk keineswegs aus den Jahren bis 1407 stammt, in denen der Marschall Boucicaut Gouverneur von Genua war.49 Gestalterisch gebührt dem Mazarine-Meister auch gegenüber dem Bedford-Meister Priorität; denn im Stundenbuch Mazarine 469 hat er wohl vor 1415 das im Londoner Bedford-Stundenbuch fruchtbar gewordene Konzept für bilderreiche Bordüren entwickelt, von dem dann noch späte Werke des Bedford-Stils wie unsere Nrn. 14 und 15 profitieren sollten. Daß es sich bei unserer Nr. 5 um eine recht frühe Arbeit des Mazarine-Meisters han delt, zeigen der Zuschnitt der fast quadratischen Miniaturen und der Buchdekor aus der Zeit, ehe Akanthus um 1408 mit Douce 144 dokumentiert ist. In der schlichten und überzeugenden Bildsprache der Miniaturen, die noch weitgehend auf Architektur und Landschaft verzichten, dafür aber mit kostbaren Mustergründen aufwarten, kündigen sich die großen Neuerungen an, die das zweite Jahrzehnt bringen sollte. Die kostbare Farbigkeit und eindrucksvolle Modellierung deuten bereits auf den technischen Wan del voraus, der nicht, wie noch Millard Meiss meinte, allein auf den Boucicaut-Meister, sondern vor allem auf Mazarine- und Bedford-Meister zurückgeht. In seinen frühen Werken bevorzugt der Mazarine-Meister für die Modellierung von Inkarnaten Terraverde. Bei seinen Kompositionen kommt es ihm nicht auf Räumlich keit an; denn ihm fehlt der Sinn für den rechten Winkel, den der Boucicaut-Maler dann entwickeln sollte. Sein Sinn für elegantere Linienführung bindet den Mazarine-Meister stärker als den bisher berühmteren Stilgenossen in den Weichen Stil ein. Von der be merkenswerten neuen Erkenntnis, die Stella Panayotova mitgeteilt hat, war hier schon die Rede. Wenn er Farben in Deutsch oder Niederländisch notierte, war Paris auch für den Mazarine-Meister der Schmelztiegel, in dem sich Leute wie er aus der ganzen la teinischen Welt zusammenfanden und eine neue, dann für die französische Hauptstadt charakteristische Kunst entwickelten. In Paris fremd blieb hingegen jener Maler, der mit der Madonna am Schluß unserer Nr. 5 die elegante Proportionierung ebenso wie den Linienfluß vermissen läßt, die alle anderen Bilder auszeichnet. Wo der Mazarine-Meister die farbstarken Gewänder ganz aus der 49
Meiss 1968, passim; Châtelet 2000, S. 221-2, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Darstellung des Marschalls als Ge fangener, der um Hilfe des heiligen Leonhard bittet, auf einem eingef ügten Doppelblatt wohl erst nach der Gefangennahme des Marschalls in der Schlacht von Azincourt 1415 entstanden ist.
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Dichte des Pigments entwickelt, benutzt dieser Maler dunkle Konturen, um kleinteilige Stoffkaskaden des blauen Marienmantels vorzubereiten und dann mit vielen feinen Pin selstrichen in einem helleren Blau zu höhen. Selbst den Heiligenschein gestaltet dieser Maler anders: Mutter und Kind erhalten auf dem Blattgold der Nimben einen wunder baren Strahlenkranz. Stärker als beim in die Pariser Kunst integrierten Mazarine-Mei ster treten Eigenarten zu Tage, die aus dem Rheingebiet stammen könnten. Durch das Nebeneinander beider Maler gehört unsere Nr. 5 ebenfalls zu den erstaunlichen Neu funden von Buchmalerei aus dem Jahrzehnt nach 1400. Auch vom Boucicaut-Meister selbst bietet unser neuer Katalog ein eindrucksvolles, bis her unbekanntes Stundenbuch: Innerhalb einer gemeinsamen künstlerischen Kultur er kennt man den Maler an den Physiognomien, was durch die helleren Inkarnate in Nr. 6 gegenüber dem Einsatz von Terraverde in Nr. 5 unterstrichen wird. Zugleich wird deut lich, daß die beiden Handschriften nicht gleichzeitig entstanden sind: Hohe Rundbögen geben den Bildfeldern nun eine eindrucksvolle Höhe. Das lädt bei der Verkündigung zu einer kühnen Architektur ein, an die in Nr. 5 noch nicht zu denken war. In Nr. 6 stehen ältere Bildformen mit Mustergründen neben Szenen im Freien unter blauem Himmel; denn der Boucicaut-Meister bleibt zwar älteren Traditionen verpflichtet, brilliert aber mit seinem Sinn für ein neues, kraftvolles Kolorit und mit wunderbaren Variationen zu den wichtigsten Bildthemen. Der kostbare Randdekor nutzt Zeitsprünge aus der Entwicklung der Pariser Buchma lerei am Beginn des 15. Jahrhunderts zu hierarchischer Gliederung: Die wichtigsten In cipits schmückt bereits voll entwickelter Akanthusdekor, wie er um 1415 auch vom Bed ford-Meister gepflegt wird, der später derartige hierarchische Unterscheidung nivellieren wird. Von besonderer Bedeutung ist schließlich das Bild zum Totenof fizium, in dem der Boucicaut-Meister von Egerton-Meister das prachtvolle Blattwerk für den Fond über nommen hat. Auch in diesem Stundenbuch wird man einen Mitarbeiter ausmachen kön nen: Teile des Kalenders und drei der vier Evangelisten setzen sich vom Boucicaut-Mei ster ab. Die zeichnerische Gestaltung läßt an Künstler denken, die ihm wie der Meister des Guy de Laval (Nr. 7) verpflichtet waren. Mit all diesen Bezügen erweist sich Nr. 6 als ein besonders charakteristisches und über aus qualitätvolles Beispiel für den großen Höhepunkt, den die Buchkunst in Paris um 1415 erreichte. Zugleich wird durch die Provenienz des Werks ein neues Kapitel in der Geschichte Frankreichs aktuell: Mit dem englischen Herzog von Clarence war Thomas de Corlieu (oder Curlew), 1414 nach Frankreich gekommen, hatte die Burg von Gourville bei Angoulême erobert; dann aber heiratete er deren Erbin Renotte oder Perotte du Fresne. Der Sohn dieses Paares, Jean de Corlieu, dürfte die Wappen hinzugefügt haben. In bester Tradition des Boucicaut-Stils, dem die wichtigsten Vorlagen verdankt werden, steht Nr. 7. Am eindrucksvollsten wird das bei Davids Buße deutlich, wo sich die Art, wie sich die Hauptfigur in die Landschaft einbettet und im Bogenabschluß eine große Gotteserscheinung Platz findet, mit einschlägig berühmten Fassungen des BoucicautMeisters selbst (so im namengebenden Stundenbuch) auseinandersetzt. Doch zeugt un
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sere Nr. 7 von einem Maler eigener Statur, den man am einfachsten an seiner Neigung zu Figuren im Profil und am prägnantesten an bärtigen Greisen erkennen kann. In der Zeichnung präzise, im Kolorit auf große klare Farbflächen ausgerichtet, erreicht dieser Künstler vor allem in der Landschaft unter mit Wolken durchzogenem Himmel über zeugende Wirkungen. Millard Meiss hatte ihn von einem prachtvollen Stundenbuch in Chantilly, Ms. 64, aus bestimmt, dessen prächtiger Einband für den Herzog von Guise (1550-1588) geschaf fen wurde, während die Hauptminiatur, eine brillante Verkündigungsszene, aber vom Boucicaut-Meister stammt. Schon aus diesem Grund war die Bezeichnung unglücklich. Gabriele Bartz hat sich deshalb zu Recht um einen historisch angemessenen Notnamen bemüht: Fast ganz eigenhändig hat der Künstler ein Stundenbuch für Guy XIV de Laval ausgemalt, das von uns in die Sammlung Renate König gelangt ist.50 Deshalb sprechen wir nun vom Meister des Guy de Laval.51 Dieser Buchmaler gehört zu den entscheiden den Kräften, die in Paris ausgebildet wurden und dann offenbar in Zeiten der politischen Wirren die Hauptstadt verließen, um entweder in der Umgebung des Dauphins Karl, der bis zu seiner Krönung im Jahr 1429 als „König von Bourges“ verspottet war, oder in Westfrankreich neue Auftraggeber zu suchen. Zu denen gehörte der dem Dauphin die nende Guy de Laval, dessen wichtigste Besitztümer im Grenzgebiet zur Bretagne lagen. Unser Stundenbuch wird noch in Paris entstanden sein, auch wenn sich der Weg nach Westen in der Litanei andeutet. Unsere Nr. 7 gehört als ein bemerkenswertes und voll ständig erhaltene Stundenbuch zu den frühesten Werken, in dessen Kompositionen, die noch eng den Pariser Wurzeln verpflichtet sind, sich der persönliche Stil des Künstlers bereits klar zeigt. Von den Kompositionen, dem Kolorit und dem Buchdekor her steht Nr. 8 dem BoucicautMeister näher als dem Mazarine-Meister; der Schriftdekor und, der Mustergrund, vor dem nur einzelne Möbelstücke Interieurs andeuten, während die Landschaft hingegen selbst bei der Hirtenverkündigung und der Flucht nach Ägypten auf einfache Wiesen streifen beschränkt ist, folgt älteren Gewohnheiten. Deshalb wird dieser Maler um 1410 im Boucicaut-Kreis gelernt haben. Doch wann Nr. 8 entstanden ist, läßt sich nur schwer bestimmen. Ein verwandter Stil taucht in einem datierten Manuskript auf, dem Stunden buch des Jean de Gingins.52 Dort liest man auf fol. 193: „Ces heures sont à Jehan de Gingins seigneur Divonne et capitaine sur gens d’armes pour le roy nostre sire et furent faites a la rue neuffve de nostre dame par jaquet lescuyer l’an mil CCCCXXI “. Wie schon Hahnloser gezeigt hat, stammt der Buchschmuck dort im wesentlichen aus der Bedford-Werkstatt.
50 Mülheim an der Ruhr, deponiert im Erzbischöflichen Museum Kolumba, Köln: siehe den Beitrag von Gabriele Bartz in un serem Katalog Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III, 2000, Nr. 6 und kurz ihren später auch als Monog raphie erschienenen Katalogabschnitt zu Nr. 8 der Kölner Ausstellung von 2001. 51
Siehe die gerade erschienene Dissertation von Bartz 2017.
52
Siehe Anm. 4.
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Kat. 45, Nr. 6, fol. 77v (Laval-Meister)
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Kat. 45, Nr. 6, fol. 98v (Laval-Meister)
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Kat. 30, Nr. 13, fol. 239 (Meister des Londoner Alexander)
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Kat. 30, Nr. 13, fol. 225 (Meister des Londoner Alexander)
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Einige Miniaturen wie die Darstellung des Weltenrichters zu Doulz Dieu setzen sich vom Bedford-Stil ab und sind entsprechenden Bildern in Nr. 8 motivisch nicht ganz fremd.53 Vielleicht deutet sich hier eine Weiterentwicklung unseres Malers an, der sich dann ent schiedener vom Boucicaut-Stil entfernt und einer stärker zeichnerischen Arbeitsweise verschrieben hätte. Unser Manuskript wäre dann spätestens um 1420 entstanden. An dieses vollständig erhaltene Manuskript aus dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhun derts, das mustergültig für Pariser Stundenbücher um 1415 stehen kann, wie sie für eine Käuferschaft vorgehalten wurde, der es auf noble Schlichtheit und die Kostbarkeit des Goldes ankam, folgt in unserem Katalog ein Buch aus fremdem Zusammenhang: Nr. 9 fizien für den Brauch von Rouen ebenso wie in der Heiligenauswahl von vertritt mit Of Kalender, Suffragien und Litanei keineswegs Pariser Brauch; auch die nach den MarienLaudes geschalteten Suffragien verraten einen Stundenbuchtyp, den wir 2013 in Wieder sehen mit Rouen charakterisiert haben. Die Ausmalung wird im wesentlichen dem Ma ler verdankt, der für John Talbot, Graf von Shrewsbury, zwei sogenannte Holster Books, Stundenbücher, die in das Halfter eines Reiters paßten, sowie das 1444/45 in Rouen ge schaffene Shrewsbury Book für Marie d’Anjou, die Gemahlin des englischen Königs Hen ry VI , ausgemalt hat.54 Unter der Besatzung hat er bis 1449 für englische Auftraggeber gearbeitet, nach der Befreiung von Rouen aber das erste monumentale Manuskript für die Bibliothek der Schöffen illuminiert.55 Einen Platz in unserem Katalog erhält diese Handschrift, weil ihre wichtigste Bildseite ganz von der Hochblüte der Buchmalerei in Paris und Bourges unter Jean de Berry be stimmt ist: Gestaltet hat die Prachtseite mit der Verkündigung ein überragender Künst ler, vielleicht auf der Durchreise in Rouen, wo sonst kaum etwas von ihm zeugt, oder in Paris selbst: Nachdem auch wir 1993 bei der Bearbeitung eines ganz pariserischen Stun denbuchs, Nr. 13 unseres Katalogs Leuchtendes Mittelalter V, Meiss gefolgt sind, den Ma ler nach der Krönung Hannibals in einem Manuskript bei Harvard zu nennen, schlie ßen wir uns nun Catherine Reynolds an, die ihn vom Londoner Alexanderroman aus bestimmt hat.56 Der Meister des Londoner Alexander gehört wie der Meister der Marguerite d’Orléans zu den Buchmalern, die im Gegensatz zu malerischen Tendenzen des Bedford-Meisters 53
Lausanne, Archives Cantonales, Gingins-Stundenbuch, fol. 374v: König 2007, Abb. S. 66; der Maler fig uriert bei Clark 2016, S. 305-6, als „Paris Painter of the Ging ins Last Judgment“.
54 Die Stundenbücher sind Cambridge, Fitz william Museum, 40-1950 und 41-1950. Zums Shrewsbury Book (Royal 15 E VI der British Library): zuletzt Ausst-Kat. London 2011, Frontispiz und Nr. 143. 55
Sammelhandschrift mit Texten von Gilles de Rome, Cicero und Alain Chartier, fr. 126 der Pariser BnF: Avril und Reynaud 1993, Nr. 88.
56
Meiss 1974, S. 390-2 und passim; Reynolds 1989 und 1994; zuletzt Christine Seidel im Allgemeinen Künstler-Lexikon, Bd. 88, 2015, S. 395-396. Meiss nannte ihn nach einer Darstellung der Krönung Hannibals im Teilband eines Tite-Live in der Hough ton Library (Cambridge, Mass., Ms. Richardson 32, fol. 1: zuletzt Ausst.-Kat. Boston 2016, Nr. 189). Von ihm schied Ca therine Reynolds 1994 einen Künstler, den sie nach dem Alexanderroman Royal 20 B. XX der British Library als Meister des Londoner Alexander bezeichnete (Faksimile-Ausgabe Luzern 2014 mit Beiträgen von Joanna Fronska u. a.; ohne Interesse für Kunstgeschichte).
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eher plastische Effekte anstreben; dadurch erhalten Gesichter in seinen Miniaturen, selbst bei Frauen und Kindern unverkennbares Gepräge. Im Pariser Boucicaut-Kreis hat er be gonnen, danach aber auch von den Brüdern Limburg, wohl in Bourges, gelernt und Vor lagen übernommen. Zur Marien-Matutin zeigt er die Verkündigung keineswegs in einem echten Interieur, wie er sie meisterhaft zu gestalten wußte, sondern vor Karomuster. Ei genwillig setzt er in die Ecken der Zierleiste Halbfiguren von vier Propheten auf blauen Wolken, die lebhaft auf die Hauptszene reagieren; einer hält sich sogar erstaunt die Hand vor den Mund. Die leer gebliebenen Schriftbänder überspielen den Dornblattdekor und zeigen, daß Illumination und Bildgestaltung Hand in Hand gingen. In den übrigen Mi niaturen führt unsere Nr. 9 als ein vorzügliches Werk aus der Zeit um 1425 die faszinie rende Wirkung der Pariser Kunst auf die Buchmalerei in Rouen vor Augen. Zu lange im Schatten des Bedford-Meisters: der Meister der Münchner Legenda Aurea Geschichtsschreibung kommt nicht ohne Periodisierung aus; deshalb ist es gut und sinn voll, in der französischen Buchmalerei die Zeit des 1416 verstorbenen Herzogs von Berry und die Fouquet-Zeit nach 1450 zu scheiden. Doch können sich deshalb Künstler, de ren Œuvre die auf solche Weise entstandenen fiktiven Zeitgrenzen überschreitet, in der modernen Historiographie nur schwer behaupten, schon weil eine auf Fortschritt aus gerichtete Sichtweise ihre Kunst nur als Nachhall der früheren Periode begreifen kann. Das Problem erschwerte früher die Einschätzung des Bedford-Stils und heute noch viel entschiedener die Würdigung eines Malers, der wohl der eigentliche Held des hier vor gelegten Katalogs ist. An einigen der bedeutendsten Pariser Stundenbücher aus der ersten Hälfte des 15. Jahr hunderts wie am Luxemburg-Stundenbuch, unserer Nr. 12, arbeitete dieser Künstler ge meinsam mit dem Bedford-Meister, mußte jenem aber in der Regel die in der Texthier archie wichtigsten Incipits überlassen. Für ein breiteres Publikum jedoch verdrängen Miniaturen seiner Hand im Londoner Bedford-Stundenbuch, das gegen 1420 für einen unbekannten Auftraggeber geschaffen wurde und erst um 1423 Wappen und Bildnisse des englischen Gouverneurs in Frankreich erhielt, den konkurrierenden Stil des eigent lichen Bedford-Meisters, weil die schlichte Wucht, mit der er auftritt, fasziniert.57 Dabei verdankt man ihm dort nur Hinzufügungen, mit denen die Handschrift zum Geschenk für Heinrich VI . von England hergerichtet wurde, wohl im Blick auf dessen Krönung zum französischen König am 16. Dezember 1431 in der Pariser Notre Dame. Doch auch dort hat der Bedford-Maler selbst mit dem Paradies das erste der hinzugefügten Bilder geschaffen. 58 57
So repräsentiert eine der eingef ügten Miniaturen in Wikipedia den Bedford-Meister; und selbst auf dem Umschlag meines Buchs über die Londoner Bedford Hours hat man ein solches Bild gesetzt.
58
Es handelt sich um ganzseitige Miniaturen mit Darstellungen aus dem Alten Testament zwischen Kalender und Textblock, darunter eine der berühmtesten Darstellungen des Turmbaus von Babel, und die inhaltlich hoch bedeutende Schilderung, wie das Wappen mit den drei Lilien als Zeichen der Trinität von Gott über einen Einsiedler an die König in Clothilde ge langte, damit schließlich Chlodwig damit eingek leidet werden konnte. Noch der eigentlich scharfsichtige Charles Sterling
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Kat. 80, Nr. 12, fol. 90: David (Bedford-Meister)
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Kat. 80, Nr. 12, fol. 112: Trinität (Conrad von Toul)
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Im etwa gleichzeitig, also um 1430, entstandenen Sobieski-Stundenbuch in Windsor Ca stle arbeitete er neben Bedford- und Fastolf-Meister. Auch dort behauptete der BedfordMeister eine führende Stellung, übernahm er doch mit dem Marienzyklus die wichtige re Aufgabe, während der Meister der Münchner Legenda Aurea die Horen von Heilig Kreuz bebilderte. Den von dieser Mitarbeit abgeleiteten Spitznamen „Sobieski III “ er setzte Eleanor Spencer in ihrem Buch von 1977 durch Meister der Münchener Legenda Aurea, das geschah jedoch mit aller Vorsicht, weil sie die namengebende Handschrift nicht in dem von ihr gewünschten Maße selbst studiert hatte.59 Die Tatsache, daß beide Maler nebeneinander auftraten, läßt noch keine Abhängigkeit untereinander erkennen; denn vom Personalstil her haben sie nicht viel gemeinsam. Ihr Vorlagenmaterial haben sie kaum ausgetauscht; es sorgt für unterschiedliche Optik, die auch Pinselführung und Kolorit prägt. Am klarsten treten ihre Eigenarten dort zu Tage, wo von ihnen gemalte Köpfe derselben Grundidee verpflichtet sind: So sind David zu den Bußpsalmen und Gottvater zu den Trinitätshoren in direkt aufeinander folgenden Miniaturen unserer Nr. 12 als würdige Greise begriffen. Weiches Zerfließen der Form, das für den David des Bedford-Meisters charakteristisch ist, läßt der Meister der Münch ner Legenda Aurea nicht zu; deshalb mag er ein wenig jünger sein. Gotteserscheinun gen, die er dinglich greifbar gestaltet, zeigen, wie entschieden bei ihm die Wirklichkeit das Visionäre verdrängt. Erstaunlich treffend erschließt der Meister der Münchner Legenda Aurea bei Szenen im Freien wie der Taufe Christi den Raum bis zu Architekturen in der Tiefe. Gestalten und Gegenstände rückt er in den Vordergrund; spielerisch fügt er Stilleben in Interieurs, die er kaum mit bildrahmenden Bögen kombiniert. Mit kostbarem Blau und Flächen ver schiedener Rottöne erzielt er erstaunliche Wirkung. Die kompakten Körperformen, vor allem bei schon betagten Männern, denen der Maler gern breitkrempige Hüte aufsetzt, die ausdrucksvollen Gesten, gern mit Wendungen ins Profil haben keinerlei Vorbild in frühen Arbeiten des Bedford-Meisters, sondern lassen am ehesten an den Vergil-Meister denken, wenn man sie nicht ganz und gar auf Ausbildung irgendwo im östlichen Frank reich zurückführt. 60
beg nügt sich mit der Zuschreibung an den „Maître de Bedford et un collaborateur“ und bezeichnet damit unterschiedslos das erste textlose Bild mit der Geschichte Adams und Evas (fol. 14) ebenso wie die anschließenden und die Chlodwig-Miniatur (fol. 288v): Sterling I, 1987, Abb. 307-309. 59
München, BSB , cod. gall 3: Die Handschrift liegt offenbar zu weit außerhalb des Bereichs jener, die über französische Buch malerei schreiben, als daß es auch nur eine einzige vernünftige Beschreibung davon in der Literatur gäbe; den Notnamen hat Spencer 1977, S. 54-55, geprägt. Avril hält ihn für „un des nombreux satellites du Maître de Bedford…entre Paris et la Picar die“ (zu der Porträts der Familie de Neville in latin 1158: Ausst.-Kat. Paris 2004, Nr. 223, S. 356). In keiner großen Pariser Ausstellung spielt der Künstler eine Rolle.
60 Von Meiss definiert nach dem Vergil der Laurenziana in Florenz (Med.Pal. 69): Meiss 1974, S. 408-412 und passim; sie he meinen Versuch, diesen Künstler mit einem der Malouels zu verbinden: La question des emprunts aux Belles Heures, in: Ausst.-Kat. Paris 2012, S. 406-413.
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Beim Bedford-Meister hingegen, der die hierarchisch wichtigeren Miniaturen in unserer Nr. 12 gestaltet hat,61 ragt die Landschaft wie eine Tapisserie bis zum Ansatz des bekrö nenden Abschlußbogens der Miniaturen auf, während goldenes Licht im Bogenschei tel nach unten strahlt. Farbe trägt der Bedford-Meister malerisch auf; Licht breitet sich bei ihm weich über die Objekte. Schatten sorgen in der Landschaft für lebendige Effek te; aber die Figuren erhalten kaum plastische Kraft. Den Gotteserscheinungen im Krei se der Engel bei den Bußpsalmen und der Toten-Vesp er kommt das sogar zugute; denn Überwirkliches kann der Bedford-Meister überzeugend veranschaulichen. Das gilt be sonders, weil die Miniatur zum Totenof fizium aus dem vertrauten Genre der Totenbil der ausbricht, indem sie zeigt, wie Engel und Teufel um die Seele des Verstorbenen auf dem Friedhof kämpfen. Für das von Millard Meiss abgesteckte Feld der französischen Malerei zu Berrys Zeiten war der Meister der Münchner Legenda Aurea zu jung; und in der epochalen Ausstel lung von Avril und Reynaud 1993 fand er keinen Platz, weil sein Werk nach 1440 nicht mehr viel zur Entwicklung der Buchmalerei beitragen konnte. Die unpublizierte Disser tation von Laurent Ungeheuer über unseren Künstler, die in Paris abgeschlossen wurde, hat zwar Veröffentlichungen in der Zeitschrift art de l’enluminure, aber keine tiefschür fenden Erkenntnisse erbracht. 62
Familie Jouvenel des Ursins (Musée de Cluny) 61
Johannes auf Patmos, die ersten beiden Bilder zum Marien-Of fizium, und die Eröffnung von Bußpsalmen und Toten-Vesp er.
62
Laurent Ungeheuer, Le Maître de la Légende dorée de Munich, un enlumineur parisien du milieu du XVe siècle, formation, pro duction, influences et collaborations (unveröffentlichte Dissertation, die uns auch nicht in Auszügen vorlag; unter Leitung von Michel Past oureau), Paris 2015; Ungeheuer 2009 über die Songes d’Enfer fr. 1051 und 2016 über das Rothschild-Stundenbuch, der Pariser Nationalbibliothek. Im Rothschild-Stundenbuch der Pariser Nationalbibliothek übersieht der Autor den Umstand, daß bei einigen Hauptfig uren offenbar die Gesichter wegen Spuren frommen Gebrauchs im 19. Jahrhundert übermalt wur den. Schon aus diesem Grund ist Ungeheuers Ansätzen zu Händescheidung (2016, S. 6) nicht zu trauen; so bildet er auf S. 7 einen Marienkopf aus dem 19. Jahrhundert ab; keine weitere Klärung bringt der auch redaktionell ungenügend betreute Bei trag in der Revue de l’Art 2017.
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Jüngstes Gericht (Musée des Arts Décoratifs)
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Einleitung
Ein bemerkenswerter Umstand, der den späten Bedford-Stil und den Meister der Münch ner Legenda Aurea verbindet, ist in der neueren Literatur vernachlässigt worden: Mit beiden verbindet sich je ein schlecht erhaltenes Gemälde in altem Pariser Bestand: Ein Jüngstes Gericht, heute im Musée des Arts Décoratifs, das man zuweilen dem DunoisMeister zuschreibt, 63 und das eindrucksvolle Bild der Familie Jouvenel des Ursins aus No tre Dame im Musée de Cluny aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.64 Am engsten verwandt sind zwei Miniaturen, die für die englische Familie Neville zwischen 1427 und 1432 in ein älteres Pariser Stundenbuch eingefügt wurden.65 Spencer hat alle drei Gruppenbilder dem Meister der Münchner Legenda Aurea gegeben; den textlosen Bildern im Bedford-Stun denbuch stehen sie so nahe, daß zu überlegen wäre, ob nicht auch diese Londoner Minia turen aus dem Œuvre des Meisters der Münchner Legenda Aurea ausscheiden müßten, wenn man die Jouvenels und die Nevilles von ihm trennt. Was hier wirklich vorliegt, sei dahingestellt; doch tritt der Gegensatz zwischen den beiden Stillagen, für die der Her zog von Bedford und die Münchner Legenda Aurea Namen liehen, nirgendwo so deut lich zu Tage wie bei den beiden Pariser Tafelbildern. Wie in unserer Nr. 12 behauptet der Bedford-Meister meist seinen Vorrang, wenn die beiden Maler nebeneinander auftreten. In unserer Nr. 11 aber, dem Gaptière- oder Ga betière-Stundenbuch, hingegen sorgt zeitliche Distanz dafür, das Verhältnis zwischen den beiden Stilen umzukehren: Erst bei einer zweiten Ergänzung wurde zwar nicht der Bed ford-Meister selbst, aber immerhin dessen Nachfolger, der Dunois-Meister, mit einem Bild betraut. Seit geraumer Zeit haben wir uns bemüht, dem Meister der Münchner Legenda Aurea einen Namen zu geben: Conrad von Toul. Ausgangsp unkt für die Stilbestimmung wie für unsere Benennung war das schon von Eleanor Spencer benannte Exemplar der fran zösischen Übersetzung der Legenda Aurea von Jacobus de Voragine in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Dort notiert der Evangelist Markus einen möglichen Hin weis auf den Maler: Zumindest die beiden letzten Worte sind zweifelsfrei lesbar und schließen aus, daß ein Wort aus dem Evangelium gemeint ist: toliens(is) fecit. Strittig ist die erste Zeile, die Otto Pächt und Dagmar Thoss als Dorace Loma lasen, ohne daraus irgendeinen Nutzen ziehen zu können. 66 Die 2011 von uns vorgeschlagene Transkripti
63
Musée des Arts Décoratifs, Inv. Pe. 1: 110 x 65 cm: Sterling I, 1987, S. 457-460, in einer Gegenüberstellung mit dem Jüng sten Gericht im Sobieski-Stundenbuch von Windsor Castle, fol. 109, das eher dem greisen Bedford-Meister als dem DunoisMeister verdankt wird.
64 Vom Louvre im Pariser Cluny-Museum deponiert: 165 x 350,5 cm: Sterling II , 1990, S. 28-35; siehe Perls 1935 und Ring 1949, Nr. 112. 65
Gute Abb. bei Sterling II , 1990 Abb. 7-8; siehe auch Ausst.-Kat. Paris 2004, Nr. 223 mit Kommentar von François Avril, der die Zuschreibung der Miniaturen an den Meister der Münchner Legenda Aurea stützt, aber vom Gemälde aus Notre Dame trennt.
66 Pächt und Thoss Die illuminierten Handschriften und Inkunabeln der österreichischen Nationalbibliothek, Französische Schule I, Wien 1974, S. 140.
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Einleitung
München, BSB, cod. gall. 3, fol. 75v: Markus
on führte zu einem Toponym, das durchaus zu stilistischen Eigenarten paßt: Domi(nu)s conr(adu)s – oder conra(dus) – toliens(is) fecit. Erklärungsbedürftig ist zunächst Dominus.67. Demnach hätte ein Kleriker, also ein mit kirchlichen Weihen versehener Conrad, eine versteckte Signatur in sein Werk einge schrieben. Ein Geistlicher im Buchwesen wäre im Spätmittelalter keine Seltenheit;68 Persönlichkeiten, die zwischen geistlichem Stand und Stadtbürgertum unentschieden waren, kennen die Quellen zur Genüge; so war Peter Schöffer aus Gernsheim zunächst als Schreiber an der Sorbonne eingeschworen, wozu sicher niedere Weihen nötig waren, später aber verkaufte er seine Bücher als Bürger von Frankfurt, saß aber im erzbischöfli chen Gericht in Mainz.69 Manch ein anderer, der seinem geistlichen Stand untreu gewor den war, sollte im frühen Buchdruck einen Platz finden.70
67
Mehrere mittelalterliche Bist ümer sind namensähnlich: so Dolia auf Sardinien; Dol, das seit 1924 Dol-en-Bretag ne heißt und Dole in der Franche-Comté.
68 Man denke an Heinrich Albch, genannt Cremer, Vikar von Sankt Alban in Mainz, der eine der beiden Gutenbergbibeln in der Pariser Nationalbibliothek rubriziert, illuminiert und gebunden hat, wie er im Kolophon bezeugt, zuletzt mein Beitrag: Farbe für die Schwarze Kunst, in: Jeffrey F. Hamburger, Robert Suckale und Gude Suckale-Redlefsen, Unter Druck. Mittel europäische Buchmalerei im Zeitalter Gutenbergs, Luzern 2015, S. 182-196, bes. S. 183. 69
Zu Schöffer siehe die knappe Zusammenfassung von Rouse und Rouse 2000, II , S. 117.
70
Dazu gehörte offenbar schon Peter Schöffer, der in Paris vermutlich zum niederen Klerus gehörte, in Mainz am Erzbischöf lichen Gericht einen Sitz hatte, aber Bürger in Frankf urt war. Geheiratet hat er, und das ist gewiß auch charakteristisch, erst als der Besitzer der Druckerei Johannes Fust gestorben war und es sich anbot, durch eine Ehe mit dessen Tochter die Firma unbehelligt weiter führen zu können.
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Einleitung
Das Toponym „von Toul“, das wir seinerzeit vorgeschlagen haben, ist mehr als wahr scheinlich; denn die Stadt wird in mittelalterlichem Latein mal mit „o“, mal mit „u“ ge schrieben, woher sich die bei Graesse, Benedict, Plechl, Orbis latinus (III , S. 525) zitier ten Adjektive tollensis bzw. tullinsis ableiten. Zwar sind mehrere mittelalterliche Bist ümer namensähnlich: so Dolia auf Sardinien und Dol, das seit 1924 Dol-en-Bretagne heißt, die beide nicht in Frage kommen. Im französischen Artikel von Wikipedia – wie dort gewohnt anonym – wird Dole in der Franche-Comté (Dola Sequanorum) als Toponym vorgeschlagen; zwar wäre dann eher dolanus zu erwarten; dolinus ad Sequanam kommt aber auch vor;71 und von dort aus wäre tolinus zu lesen. Doch selbst wenn wir nun Toul durch Dole in der Freigrafschaft Burgund ersetzten, bliebe die offensichtliche stilistische Verwandtschaft zu Buchmalerei aus Besançon und auch den Ländern deutscher Zun ge gültig. Unser älterer Vorschlag hat kaum Nachhall gefunden: Ungeheuer, der kaum Deutsch liest, hat sich nicht weiter damit auseinander gesetzt; und Gregory Clark, der die jüng ste Werkliste für Maler und Stil lieferte, hat nur darauf hingewiesen, daß Mary und Ri chard Rouse auf keinen im Buchwesen tätigen Kleriker solchen Namens gestoßen sind.72 Auch dem als Ersatz in Erwägung gezogenen Namen fehlt der Segen der beiden Rouses; inhaltlich wäre der Unterschied gering; weil Dole ebenso wie Toul eine Nähe zum deutschsprachigen Raum verriete. Das Gaptière-Stundenbuch für den Bretonen Jean Troussier, Seigneur de la Gabetière, Sénéchal de Lamballe, hier unsere Nr. 11, mit seinen zwanzig großen Miniaturen von un serem Conrad von Toul und einer hinzugefügten Höllendarstellung vom Dunois-Mei ster liegt seit 1993 im Antiquariat Bibermühle.73 Von Text und Gestaltung her ist es ein großformatiges, vollständig erhaltenes Pariser Manuskript, das erst in dem Moment, da es in bretonische Hände geriet, vom Hauptmaler die beste Miniatur erhielt. Diese Buch malerei nimmt Grundzüge auf, die man aus der Goldschmiedekunst kennt, weil der Beter mit Wappen auf ähnliche Weise wie beim Goldenen Rössl in Altötting von einem unte ren Register aus zu Maria aufschaut, diesmal nicht zur lieblichen Jungfer im Grün, son dern zur Schmerzensmutter in einer ergreifenden Erscheinung der Pietà. Zwei bemerkenswerte Gegensätze, ein stilistischer und ein inhaltlicher, trennen das präch tige Bildnis des Jean Troussier, Herrn von La Gabetière, das ein von ihm im Maskuli num zu sprechendes Gebet eröffnet und sicher in dessen Lebzeiten, vielleicht zu Beginn seiner langjährigen Tätigkeit für die bretonischen Herzöge entstand, von dem ebenfalls dem Buchblock hinzugefügten Bild am Ende des Manuskripts. Dort wird in diffusem Bedford-Stil eindrucksvoll die Hölle geschildert; Höllenqualen soll ein Gebet abwenden, das im Femininum formuliert ist; deshalb wird die Witwe dafür den Auftrag gegeben ha 71
So bei Abbé Danet, Grand Dictionnaire françois et latin, Neuauflage Amsterdam 1710, S. 433.
72
Clark 2016, S. 298-304; die Rea ktion auf unseren Vorschlag auf S. 299.
73
Wir behalten den Beg riff Gaptière-Stundenbuch bei, den wir durch frühere Kataloge in der Literatur etabliert haben, so selbst bei Jean-Luc Deuffic, der uns auf La Gabetière hingewiesen hat (Deuffic 2010, S. 221-228).
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Einleitung
ben, nach dem Tod des Gatten, der vielleicht schon 1444, sicher aber 1450 verstorben ist. Damit wird die Miniatur einigermaßen datierbar; sie entspricht einer Höllendarstellung im Stundenbuch für Jean de Dunois, Bastard von Orléans und Halbbruder des Charles d’Orléans, von dem man bei der Bestimmung des Malers ausgeht.74 – hier findet sie sich nur in der Bordüre. Dem Gaptière-Stundenbuch geht unsere Nr. 10 voraus: Mit funkelndem Kolorit, der uner hörten Strahlkraft vor allem des tiefen Blaus erstaunt dieses Buch. Es gehört zu den frü heren Werken des Meisters der Münchner Legenda Aurea. Im namengebenden Werk, cod. gall 3 der Bayerischen Staatsbibliothek, mögen die noch ganz altertümlichen Sze nen auf einem Wiesenstück vor Mustergrund oder bestirntem Himmel ebenso durch die Tradition des Texts mitbedingt sein wie durch die Tatsache, daß man dabei auf spal tenbreite Bildfelder setzte, die in den Kolumnen verstreut und deshalb meist rechteckig waren. Von dieser nicht genau datierbaren frühen Phase geht der Maler aus und behält zunächst das eindrucksvolle dunkle Blau bei. Noch in unserer Nr. 10 ist es gern mit gol denen Sternen gemustert oder dann auch mit einer strahlenden Sonne im Bogenscheitel über stark reliefhafter Landschaft mit kraftvoll dunklen Tönen besetzt ist. Doch fehlt die Beweglichkeit der einzigen recht sicher (vor dem 16. Dezember 1431) datierbaren Miniaturen im Londoner Bedford-Stundenbuch. Damit steht unser ältestes Stundenbuch von seiner Hand zwischen den Miniaturen in Walters 288 in Baltimore, die Roger Wieck in seinem Katalog Time Sanctified von 1988 geradezu als Inbegriff eines Stundenbuchs vorangestellt hat, und Rothschild 2535 der Pariser Nationalbibliothek.75 Da unsere Nr. 10 für den englischen Gebrauch von Sarum eingerichtet ist, stammt dieses Stundenbuch aus der Zeit, in der die Engländer in den 1420er Jahren Paris besetzt hatten. Stilistisch schließt sich unser Hachette-Stundenbuch an, dessen Geschichte, wie gleich gezeigt werden soll, mit dem Abzug der Engländer 1435 verbunden ist und zu Dimensionen führt, die weit über die Vita des einen Malers hinausgehen. Deutlich später noch ist unsere Nr. 13 entstanden, ein wie Nr. 11 noch im originalen Einband erhaltenes, aber nun – im Gegensatz zum englischen Auftrag – von Text und Konzeption her geradezu mustergültiges Pariser Stundenbuch, in dem alle Miniatu ren im reifen Stil des Meisters der Münchner Legenda Aurea ausgeführt sind. Schon der Randschmuck verrät die recht späte Entstehungszeit, die sich auch in der aufgehell ten Palette, der lebendigen Bewegung, vor allem aber der auffälligen Lichthaltigkeit der Himmel ausdrückt. Noch ist der Maler ganz konzentriert; seine Präzision wird in spä teren Werken nachlassen. Damit zeigt er sich hier ganz auf der Höhe seines Könnens.
74
London, British Library, Ms. H. Y. Thompson 3: zuletzt Châtelet 2008.
75
Zuletzt Ungeheuer 2016.
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Paris und das Loiregebiet oder das spätere Schicksal des Luxemburg-Stundenbuchs Das in der Literatur zuweilen als Hachette-Stundenbuch bezeichnete Manuskript, hier Nr. 12, mit dem unsere Erörterung des Meisters der Münchner Legenda Aurea begann, ist als erstaunliches und beeindruckendes Beispiel Pariser Buchmalerei der frühen 1430er Jahre nicht nur numerisch das zentrale Werk dieses Katalogs. Die Miniaturen zu den wichtigsten Incipits gehören in die Zeit des Übergangs vom älteren Bedford-Meister zum Dunois-Meister. Da die charakteristischen rundköpfigen und kurzwüchsigen Gestalten des jüngeren Malers fehlen, war der alternde Bedford-Meister selbst für die Anlage un seres Buchs verantwortlich. Davon heben sich, wie schon erörtert, die Anteile des Mei sters der Münchner Legenda Aurea entschieden ab. Nur die Flucht nach Ägypten wirkt, als habe der Bedford-Meister die teppichhafte Landschaft unter himmlischen Strahlen konzipiert, der Meister der Münchner Legenda Aurea das Bild aber erst ausgemalt. Eine dritte Hand kommt wohl ins Spiel: Während Maria in der Flucht nach Ägypten wie ge wohnt den blauen Mantel mit goldenem Futter über einem ebenso blauen Kleid trägt, ist ihr Kleid bei der Anbetung des Kindes und der Marienkrönung mit Gold gemustert. Beide Miniaturen sind in einer Weise zentral komponiert, die weder zum Bedford-Mei ster, noch zum Meister der Münchner Legenda Aurea paßt. Die verantwortliche Hand mag bei den ersten Arbeiten im Stundenbuch der Marguerite de Foix mitgewirkt haben.76 Von einer vierten Hand hingegen stammen alle Marien- sowie die meisten Kinder- und Engelsköpfe, das gilt sogar für das Verkündigungsbild vom Bedford-Meister und die Mondsichel-Madonna vom Meister der Münchner Legenda Aurea. Deren Christuskind läßt erkennen, daß der Meister des Jouvenel des Ursins hier eingegriffen hat.77 Ich hat te den im Loiregebiet tätigen Maler vielleicht etwas zu entschieden von Pariser Trends seiner Zeit abgesetzt; Avril sah ihn hingegen vage im Fahrwasser des Dunois-Meisters.78 Sterling wiederum hatte 1990 im zweiten Band seiner Pariser Malerei 1300-1500 die von mir an der Loire angesiedelte Stilfolge von Jouvenel-Meister und Meister des Genfer Boccaccio ganz nach Paris versetzt und mit den dort dokumentarisch belegten Malerna men André d’Ypres und Colin d’Amiens verbunden.79
76
London, Victoria & Albert Museum, Salting Ms. 1222: Watson I, Nr. 53
77 Dessen relativ kurzes Auftreten von den 1430er bis in die 1450er Jahre behandelt mein Buch von 1982; Avril und Reynaud haben im Pariser Ausst.-Kat. 1993 das dort umrissene Bild von der Lokalisierung her unter dem Titel L’Anjou, le Maine et le Poitou (S.105-127) modifiziert; mit entschiedener Tendenz zu relativ späten Datierungen; denen widerspricht jedoch das inz wischen zugängliche Stundenbuch der Jeanne de France (NAL 3244 der BnF), das in die 1440er Jahre gehört: König 1982, S. 245-249; François Avril, Le Livre d’heures de Jeanne de France,in: art de l’enluminure 47, 2013; Philippe Contamine und Marie-Hélène Tesnière, Jeanne de France, duchesse de Bourbon, et son livre d’heures, in: Monuments Piot 92, 2013, S. 1-65; zuletzt Marie-Hélène Tesnière, Le Livre d’heures de Jeanne de France, Paris 2015. 78
So schreibt Avril über den Jouvenel-Meister in seinem Ausst:-Kat: Fouquet 2003, S. 169: „C’est un artiste de transition qui, tout en s’inscrivant dans le sillage du Maître de Bedford et de ses émules parisiens, s’est néanmoins mis à l’écoute du nouveau style naturaliste developpé dans les Flandres….“ und auf S. 416: „…encore profondément imprégné des conceptions plastiques très gothiques des enlumineurs parisiens de la mouvance Bedford…“
79
Sterling II , 1990, S. 76-175.
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Rosenberg Ms. 4, Totenbild (Meister des Bartholomäus Anglicus)
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Kat. 80, Nr. 12, fol. 178: Totenbild (Conrad von Toul)
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Kat. 80, Nr. 12, fol. 129v (Conrad von Toul)
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Rosenberg Ms. 4: Pfingsten (Meister des Bartholomäus Anglicus)
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Einleitung
So nahe wie hier kommt der Jouvenel-Meister Pariser Buchmalern sonst nie. Sein Ein satz in diesem Buch könnte zu den Fällen gehören, in denen wie in unserem Provost-Stun denbuch bis hin zu Jean Colombes Stundenbuch des Louis de Laval wichtige Gesichter be wußt leergelassen wurden, weil eine andere Hand sie vollenden sollte. 80 Dagegen spricht aber das Alter der Beteiligten; denn ein in solcher Weise bevorzugter Maler wird kaum der jüngste von allen gewesen sein. Deshalb hat man die Arbeit wohl zunächst unvollen det abgebrochen. Der Gegensatz von Buchmalerei aus Paris und dem Loiretal wird dann mit einem Wech sel der Auftraggeber einhergegangen sein. Die Zusammenarbeit der beiden Hauptmaler deutet auf den engeren Umkreis des Herzogs von Bedford, der beide 1431 mit den ganz seitigen Miniaturen in dem nach ihm genannten Londoner Stundenbuch betraut hatte. Als englischer Gouverneur residierte er zunächst in Paris und zog sich dann nach Rouen zurück, wo er 1435 starb. Wegen der Prominenz des seligen Peter von Luxemburg und aufgrund eines eindeutigen Wappens im Matthäusbild kommen am ehesten Mitglieder der Familie Luxemburg, entweder Johann, Bastard von Luxemburg, oder Jacquette von Luxemburg, die zweite Frau des Herzogs von Bedford und spätere Lady Rivers, in Fra ge. Bei der Rückeroberung von Paris 1435 dürfte das Buch in die Hände eines königs treuen Franzosen gelangt sein, der sich wegen der Königskrone im für ihn ergänztem Randschmuck zu Karl VII . und zugleich wegen der an mehreren Stellen auftauchenden Stachelschweine zum Haus Orléans bekannt hätte. Damit begann eine letzte Phase der Ausmalung, die dieses Stundenbuch zu einem der interessantesten Manuskripte aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts machte. Die Ergänzungen der Bordüren stammen nämlich nicht aus dem engeren Jouvenel-Kreis, sondern vom Meister des Bartholomäus Anglicus, fr. 135-136 der Pariser Nationalbiblio thek. Dieser Künstler gehört ebenso wie der Jouvenel-Meister in die Nachfolge des Mei sters der Marguerite d’Orléans und damit ins Loiretal oder, wie Nicole Reynaud meinte, nicht weit davon nach Le Mans. Sein einziges Stundenbuch81 stimmt in paradoxer Wei se mit unserer Handschrift überein; denn alle Textseiten sind dort mit senkrechten Bor dürenstreifen zu beiden Seiten des Textfelds ausgestattet, sehen also heute noch so aus wie unsere Textseiten, bevor der Meister des Bartholomäus Anglicus die waagerechten Bordürenstreifen ergänzte. Wie stark den Meister des Bartholomäus Anglicus unsere Nr. 12 beeindruckt hat, be weisen zwei entschiedene Rückgriffe auf einzelne Bilder: Exakt wiederholt er die Maria des Pfingstwunders; noch sehr viel entschiedener aber das ganze Bild zur Toten-Ves per bis in die Disp osition der Grabdeckel. Dort ersetzt er jedoch die Gotteserscheinung 80 Siehe unser Buch Das Provost-Stundenbuch. Der Meister der Marguerite d’Orléans und die Buchmalerei in Angers (Illuminatio nen. Studien und Monog raphien, hrsg. von Heribert Tenschert, IV ), Ramsen und Rotthalmünster 2002; König und, gerade erschienen, Seidel 2017, S. 53-61. 81 Ms. 4 der New Yorker Sammlung Alexandre P. Rosenberg: Ausst.-Kat. New York 1982, Nr. 35; Frau Rosenberg sei herzlich gedankt, daß sie uns noch ausg iebig Einblick in das Manuskript gewährte.
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Einleitung
durch eine Variante, die er ebenfalls aus unserem Stundenbuch kennt – Gottvater im Kreise der Seraphim aus der Taufe Christi. Da er sich somit auf Miniaturen bezieht, die von zwei verschiedenen Malern ausgeführt wurden, diente ihm unser Manuskript selbst als Quelle! Eindrucksvolle Stundenbücher im späten Bedford-Stil Obwohl der zunächst verantwortliche Künstler im Luxemburg-Stundenbuch der BedfordMeister war, geben die in der Texthierarchie nachgeordneten Miniaturen dieser pracht vollen Handschrift ihr eigentliches Gepräge; deshalb haben wir dieses Manuskript als Nr. 12 ins Zentrum der hier präsentierten Werke vom Meister der Münchner Legenda Aurea gestellt. Doch ist nun noch einmal auf den Bedford-Stil zurückzukommen, des sen historische Problematik schon zu Beginn unserer Tour durch das frühe 15. Jahrhun dert angesprochen wurde. Im zweiten Viertel des Jahrhunderts steigen die Landschaften zwar noch immer tep pichhaft an; aber die Räume wirken weiter, vor allem weil sich flaches Land um einzelne hoch aufragende Felsen breitet. Wie beim Meister der Münchner Legenda Aurea hat sich auch im Bedford-Kreis die neue Lichtfülle durchgesetzt. Der Himmel wird nun mit viel Weiß aufgehellt; Szenen aus der Heilsgeschichte werden weiterhin mit goldenen Strah len aus dem Bogenscheitel gleichsam unter Gottes Leuchten gestellt; doch verschwindet Metall: Silber, das beim hier kurz einbezogenen Meister des Bartholomäus Anglicus und bei Barthélemy d’Eyck eine späte Faszination im Herrschaftsbereich der Anjou behält, wird in der Pariser Buchmalerei nicht mehr eingesetzt. Gold, wo es nicht Nimben oder auch größere Flächen um die Gottheit bildet, beschränkt sich auf Gewandsäume; nur selten wird mit Pinselgold gehöht. Über den langen Zeitraum, in dem die Bedford-Werkstatt arbeitete, verwischen sich sti listische Grenzen, so daß persönliche Formensprache nicht immer leicht zu erkennen ist. Doch sollte man sich nicht mit allgemeinen Floskeln zufrieden geben, die den BedfordStil als Produkt einer nicht genauer umrissenen Werkstatt bezeichnen. 82 Die Namens formen um Haincelin helfen nicht weiter, zumal sich nicht nur die Rouses, sondern auch beispielsweise Gregory Clark vorstellen können, daß Haincelin de Haguenau und Jehan Haincelin ein und derselbe Maler war, der über ein halbes Jahrhundert lang tätig war.83 Wer angesichts der unübersichtlichen Quellenlage mit erhaltenen Werken argumentiert, kann zwei Stile durch die Gegenüberstellung der namengebenden Werke in der British Library, Add. Ms. 18850 und Yates Thompson Ms. 3 scheiden. Doch liegen fast zwei Jahrzehnte zwischen dem älteren, das ein paar Jahre vor 1423 entstanden ist und dann bis 1431 dem Herzog von Bedford gehörte, und dem jüngeren. Dieses sehr viel kleinere, aber ebenfalls ungemein kostbare Stundenbuch war von Anfang an für Jean de Dunois 82
Auf Differenzierung verzichtet beispielsweise Jenny Stratford in ihrem ansonsten sehr verdienstvollen Kommentar des So bieski-Stundenbuchs, Luzern 2017.
83
Rouse und Rouse 2000, II , S. 73-74; Clark 2016, S. 257-8.
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Einleitung
bestimmt. Als Bastard von Orléans gehörte er zu den Gegnern Burgunds, als Gefolgs mann des Dauphins hatte er mit Jeanne d’Arc dessen Krönung in Reims überhaupt mög lich gemacht. In Paris hat Dunois ein solches Buch erst nach der Wiedereinnahme der Stadt, also nach 1435 bestellen können. Wenn wir recht haben und unser Luxemburg-Stundenbuch (Nr. 12) direkt mit den Ereig nissen von 1435 zu tun hat, weil es von einem Mitglied des Hauses Luxemburg aus der Entourage des Herzogs von Bedford bestellt und dann unvollendet liegen geblieben war, dann geben die wunderbare Miniaturen zur Marien-Matutin und zu den Bußpsalmen, mit denen der Bedford-Meister seinen Vorrang behauptet, einen Eindruck vom Stand seiner künstlerischen Entwicklung in der Mitte der 30er Jahre. In unserer Nr. 14, dem Nanterre-Neufville-Stundenbuch, hat nicht nur der Bedford-Stil dieses Stadium überwun den. Offenbar gilt das auch für den an diesem Manuskript beteiligten Dunois-Meister; da beider Zusammenarbeit in diesem Manuskript so eng verbunden ist, daß es schwer fällt, jede Miniatur mit Gewißheit einem der beiden zuzuweisen, wird damit zugleich eine Datierung des namengebenden Dunois-Stundenbuchs, die in der Literatur zuwei len bis um 1440 ausgedehnt wird, exakt in die Zeit um 1435 bestätigt; denn die Festle gung auf um 1440 trifft eher auf unser Nanterre-Neufville-Stundenbuch zu! Damit ist diese Nr. 14 ein mustergültiges Beispiel eines prächtigen Pariser Stunden buchs aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts, das für eine vornehme Dame der Zeit (Geneviève de Nanterre?) geschaffen wurde, seinen bisherigen Namen aber einem bibliophilen Kardinal aus der Zeit Ludwigs XIV. verdankt. Ob der Bedford- oder der Dunois-Meister die Hauptverantwortung trug, läßt sich in diesem Fall nicht mehr sa gen; denn mit der Verkündigung und dem Davidbild fehlen leider die beiden Miniatu ren, die uns das verraten könnten. Für die allgemeine Kunstgeschichte enthält dieses Nanterre-Neufville -Stundenbuch zwei herausragende Bilder mit weiblichen Heiligen am Ende der Handschrift; sie werden einem sicher etwas jüngeren Künstler verdankt, des sen Vertrautheit mit flämischer Kunst erstaunt, dessen Itinerar aber im Dunkeln liegt. 84 Ein zweites Stundenbuch im späten Bedford-Stil ist Nr. 15, dessen Bebilderung durchweg ein und dieselbe Hand verrät. Die Pinselführung läßt ahnen, daß es sich um einen alten, geradezu greisen Maler handeln muß, dessen Motorik nicht mehr seiner reifen Schaffens zeit entspricht. Dabei beeindruckt aber wie bei anderen Werken hoch betagter Künstler zugleich, wie souverän er gegen Normen verstößt. Ich bin nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gelangt, daß es sich um den Bedford-Meister selbst handelt. Während der Dunois-Meister ohnehin kurzwüchsige Figuren mit runden Köpfen bevorzugte, sich vor allem in seinem namengebenden Werk stärker dem Einfluß der altniederländischen Tafelmalerei öffnete und dort sogar Bildmotive Jan van Eycks in seine Arbeiten integrier te,85 um in seinen späten Werken zunehmend beruhigte Flächen zu gestalten, wird man 84 Sie lassen an so hervorragende und schon länger in der Literatur bekannte Miniaturen denken wie die Madonna nach Jan van Eycks Antwerpener Brunnenmadonna in San Marino, Ms. HM 1100, fol. 182; siehe Van Buren 1999. 85
Faulheit wird auf fol. 162 durch einen Mann verkörpert, der auf einem Esel reitet und eingeschlafen ist; raf finiert wird dabei das Männerpaar variiert, das auf Jan van Eycks Pariser sogenannter Rolin-Madonna durch Zinnen einer Burgmauer auf eine
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es hier mit dem späten Bedford-Meister selbst zu tun haben. Der hätte dann aber fast ge nausolange gelebt wie sein Nachfolger. Somit kommen wir zu dem Schluß: In einer Zeit, da man auch in seiner Pariser Werkstatt die neue Kunst der Alten Niederländer wahrnahm, setzte sich der greise Bedford-Mei ster beharrlich über neumodische Bemühungen, Raum logisch zu gestalten, hinweg. Ihn interessierte die Fläche, die er mit erstaunlichen Schrägen gliederte. So hob er beispiels weise im Bild des Friedhofs die Erschließung der Bildtiefe auf und ließ den büßenden David in seiner Reue geradezu formlos werden, indem er alle Anforderungen an feinma lerische Technik und säuberliche Organisation aufgab, so daß einige geradezu ergreifen de Alterswerke entstanden. Aus dem Bedford- und Dunois-Stil hervorgegangene Buchmaler Die Notnamen, die man Künstlern gibt, schreiben ihnen in bewegten Zeiten wie der Time of War, mit der wir in diesem Buch zu tun haben, unwillkürlich Rollen zu, die we der ihrer Kunst noch ihrem ganzen Lebensweg gerecht werden. Durch diesen ganzen Katalog beschäftigt uns der Bedford-Meister, dessen vollendetes Hauptwerk nur drei Bildseiten enthält, die der Maler tatsächlich für den englischen Gouverneur geschaffen hat. Alles Übrige war schon für ein Mitglied des französischen Königshofs fertig, ehe Pa ris in die Hände des Feindes fiel; und dennoch bleibt der Notname berechtigt, weil der Pariser Meister tatsächlich den ehrgeizigsten Auftrag des Herzogs übernommen hatte: das Salisbury-Brevier, das bei Bedfords Tod noch nicht sehr weit gediehen war und un sere Überlegungen zum Stil des Künstlers um 1435 bestätigt. 86 Das ganze Problem wird durch die Identifizierung mit Haincelin de Haguenau auf den Punkt gebracht; denn sie beruht auf dem Brevier für den Dauphin Louis de Guyenne in Châteauroux. Im Umfeld des Bedford-Meisters werden Buchmaler faßbar, deren Œuvre noch nicht ausreichend erforscht ist und die deshalb von verschiedenen Autoren unterschiedlich ge tauft wurden. Das gilt für unsere Nr. 16: Mit Ausnahme des Davidbildes sind alle Bil der, die Medaillons im Kalender, die Bild-Initiale am Schluß und die großen Miniaturen zweifelsfrei von ein und derselben Hand ausgeführt, die in vieler Hinsicht der BedfordWerkstatt verpflichtet ist und zur Generation des Dunois-Meisters gehört. Wer bei der Benennung des Malers von unserem Stundenbuch ausgeht, ortet es in einem Stadtviertel im XI . Pariser Arrondissement, das noch in der Moderne nach der Familie Popincourt hieß. 87 Wer aber das schon früher im englischen Raum bekannt gemachte Stundenbuch des Thomas Lord Hoo von 1444 zum Ausgangsp unkt nimmt, bezieht sich nicht nur auf ein etwas größeres und mit 28 Miniaturen ausgestattetes Manuskript, das noch in Tex tura geschrieben ist, sondern auf einen ganz anderen politischen und topographischen Brücke schaut; der größere Mann im Gemälde ist jener, der in der Miniatur auf dem Esel eingeschlafen ist: Châtelet 2008, Abb. S. 22-23. 86 Paris, BnF, latin 17294: Spencer 1977; Ausst.-Kat. Paris 1993, Nr. 3; Sterling I, 1987, S. 435-449. 87
In der Zeit, in der das Manuskript noch zur Sammlung Beck gehörte, wurde es von Plotzek 1987, Nr 21, ausgestellt und ge würdigt.
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Raum. 88 Thomas Hoo war als Kanzler der Normandie ein hoher englischer Funktionär; und sein Auftrag an den Meister läßt vermuten, daß der in Paris verwurzelte Maler so eng mit den Engländern verbunden war, daß er ihnen vielleicht bis nach Rouen gefolgt ist. Erst nachdem auch Rouen und die Normandie wieder an die französische Krone gefal len waren, wird er nach Paris zurückgekehrt und für die dort prominenten Popincourts gearbeitet haben. Am besten erkennt man den Popincourt- oder Hoo-Meister an seinen zarten, zuweilen rührenden Frauengesichtern. Er ist ein begabter Landschafter und kann brillant mit Far ben umgehen. Dem Bedford-Meister verdankt er die Wirkung von Blau und Gold bei Marias Gewandung ebenso wie die schönen breiten mit Perlen besetzten goldenen Borten von Chormänteln. Die Verkündigung von rechts, die feinen silbernen Fenster, die Dichte des Figurenreliefs – all das hat er bei dem älteren Pariser Maler kennengelernt. Auf eigentümliche Weise bleiben in der Kunst dieses Malers wie auch im Randdekor sei ner Handschriften altertümliche Züge erhalten: So greift er in den beiden Bildern der Kreuzigung im Popincourt-Stundenbuch zwei verschiedene Stilstufen auf: In der „Klei nen Kreuzigung“ zur Matutin der Horen kombiniert er das bereits um 1410 beliebte Karomuster mit bestirntem Blau; daß seine Miniatur erst um die Jahrhundertmitte ent standen sein kann, merkt man nur an der mangelhaften Abgrenzung beider Sphären, die so in der älteren Pariser Buchmalerei unmöglich gewesen wäre. Hingegen vermag er den volkreichen Kalvarienberg vor einen hellen Himmel zu stellen, der sich über einer fernen Stadtlandschaft erhebt. In seinen Landschaften setzt der Maler zur Raumordnung Wege und Flüsse, vor allem aber Baumreihen ein. Der steile Anstieg seiner Miniaturen zu erstaunlich hohem Hori zont ist sicher noch ganz dem Bedford-Meister selbst verpflichtet. Doch ist dessen gern ein wenig malerische Malweise nun abgelöst durch einen zuweilen geradezu past osen Fa rbauftrag, insbesondere bei dem gern dick aufgetragenen Gold, das zu Höhung und Be lebung dient. Wie zuweilen in der Pariser Buchmalerei zu beobachten ist, hat dieser Meister einem Kol legen ein wichtiges Bild überlassen: Der Beginn der Bußpsalmen wurde von einem Maler gestaltet, den wir schon in einem Pariser Heilsspiegel kennen gelernt haben:89 Sein durch weg mit Paris verbundenes Œuvre unterstreicht noch einmal die auch von der Proveni enz unseres Stundenbuchs her naheliegende Lokalisierung in die Hauptstadt.90
88 Seit 1874 der Royal Irish Academy in Dublin, RIA MS 12 R 31: Williams 1975; Yates Thompson I, Nr. 35; Plotzek 1983, Nr. 21. Wir haben den Beg riff Hoo-Meister bisher immer vorgezogen, so im Fall des Stundenbuchs des Gilbert de Lafayette in Leuchtendes Mittelalter I, 1989, Nr. 56, und für zwei Handschriften in Leuchtendes Mittelalter Neue Folge IV, 2007, Nrn. 1213; Clark 2016, S. 291-295, nennt ihn ebenfalls Hoo Master, mit Hinweis auf Popincourt. 89
Sammlung Renate König (Depot im erzbischöflichen Museum Kolumba, Köln), Ms. 33. Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III , Nr. 8; zuletzt van Euw in Ausst.-Kat. Köln 2001, Nr. 33
90 Er hat das am 4. Mai 1441 von Bertran de Beauvau, einem königlichen Kammerherren in Paris erworbene fr. 541 der BnF ausgemalt.
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Keine entsprechenden Dimensionen eröffnen sich angesichts unserer Nr. 17, weil sich kei ne konkreten Hinweise zu den Auftraggebern erkennen lassen: Die Miniaturen stehen zwischen dem Bedford-Atelier und jenen neuen Stilrichtungen, die sich um 1440 in Pa ris durchsetzten, um dann schließlich in der Gestalt des Meisters des Harley-Froissarts sogar entscheidend auf flämische Buchmalerei zu wirken. Die einzelnen Persönlichkeiten sind nicht leicht zu fassen. So findet man unseren Maler unter jenen, die mit dem Bed ford-Meister und dem Dunois-Meister für den Herzog von Bedford am Salisbury-Brevier latin 17294 der Pariser Nationalbibliothek mitgearbeitet haben. Catherine Reynolds hat einen Stephanus-Maler definiert und ist dabei von einer dortigen Miniatur zu den Reli quien des Erzmärtyrers (fol. 529v) ausgegangen. Die Bezeichnung eines anonymen Meisters nach einem solchen im Riesenmanuskript versteckten einzelnen Bild ist unglücklich, weil sie ausformuliert schon viel zu kompli ziert ist, müßte man doch vom Meister der Miniatur zu den Stephanus-Reliquien im Salis bury-Brevier für den Herzog von Bedford sprechen. Besser scheint es uns, einen Auftrag zur Grundlage zu nehmen, der selbständig von dem Künstler erledigt wurde: Die beste Arbeit seiner Hand, in der man sie schlüssig erkennen kann, ist ein Pariser Brevier, das mit der Sammlung Brotherton in die Universitätsbibliothek Leeds gelangt ist: In dieser zweispaltig geschriebenen Handschrift recht stattlichen Formats aus der Zeit um 1450 ist der Künstler auf sich gestellt und vermag in den weiten Räumen seine anmutigen Fi guren auf eine für die Zeit fortschrittliche Weise in schlichten von Licht durchfluteten Landschaften unterzubringen. Dabei schwingen immer noch geradezu anachronistisch Erinnerungen an die Pariser Malerei des frühen 15. Jahrhunderts mit, wenn beispiels weise kleine Bäumchen im Vordergrund beim Einstieg ins Bild für eine gewisse Distanz sorgen sollen.91 Das Temperament dieses Malers ist verhalten. Mit rührender Unschuld blicken Gestal ten wie Gabriel und die Jungfrau in der Verkündigung. Die Szene spielt in einem knapp bemessenen Raum, der wie bei den Nachfolgern des Bedford-Meisters üblich durch ein bildparallel gespanntes Tuch mit buntem Muster nach hinten abgeschlossen wird. Hier prangt darüber noch der traditionelle Mustergrund aus Gold, Blau und Rot, sicher ein Zeichen für die recht frühe Entstehung des Buches, etwa zu jener Zeit, als die am schließ lich unvollendeten Salisbury-Brevier beteiligten Künstler durch den Tod des Herzogs von Bedford 1435 ihren Auftraggeber verloren hatten. Der Kreis der Künstler, die auf einem ähnlichen Niveau wie der Dunois-Meister aus dem Bedford-Stil hervorgegangen sind, schließt sich mit einem Buchmaler, der Paris eine Weile nach dem Abzug der Engländer in eine ganz andere Richtung verlassen sollte, um 91
Dieser Brotherton-Meister ist nicht identisch mit dem „Paris Painter of the Leeds Brotherton 1 Evangelists“, den Clark 2016, S. 306 aus der Taufe gehoben hat. Uns geht es um das Missale, siehe: John Alexander Symington, The Brotherton Library. A Catalogue of Ancient Manuscripts and Early Printed Books, Collected by Edward Allen, Baron Brotherton of Wakefield, Leeds 1931, S. 16-19. Von der Hand unseres Meisters ist auch Ms. Ludwig IX 6, heute im Getty Museum, Los Angeles, vgl. Plo tzek 1982, S. 103-114, mit Abb. 91-110, hier noch dem Bedford-Meister selbst gegeben, sowie Fitz william Museum, Ms. 81, mit fünf Miniaturen von seiner Hand (vgl. Ausst.-Kat. Cambridge Illuminations, 2006, Nr. 90, mit Farbabbildung). König 1991 (für den Meister des Étienne Sauderat).
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in die südlichen Niederlande, wohl nach Brügge zu gehen, wo er für den Burgunderher zog, für Gruuthuse und schließlich den dort im Exil lebenden englischen König Edward IV. aus dem Hause York monumentale Handschriften bebildern sollte. Noch in Paris entstand Nummer 18, ein seltenes Beispiel für ein Pariser Stundenbuch, das von einem Illuminator ausgemalt wurde, den man hauptsächlich aus profanen Brügger Handschrif ten kennt. Bekannt wurde er durch ein populäres Bilderbuch mit Miniaturen aus dem Froissart für Philippe de Commynes, Harley 4380 der British Library.92 Als Meister des Harley-Froissart93 vertritt er eine gern übersehene Tendenz: Während man immer wie der darauf hinweist, wie stark die Pariser Kunst von fremden Einflüssen bestimmt ist, ver gißt man gern, daß Künstler ebensogut aus der Metropole in den Norden gehen mochten. Analog zum 1481/82 verstorbenen Willem Vrelant, dessen Brügger Buchmalerei sich, wie Farquhar 1974 dargelegt hat, aus Paris und Rouen herleiten läßt, stammt der HarleyFroissart-Stil aus dem Umfeld des Dunois-Meisters, also der Pariser Bedford-Tradition. Das Auftauchen dieses wunderbaren kleinformatigen Stundenbuchs in einem unserer Kataloge bringt uns in einen gewissen Konflikt; denn es verlangt die Auseinandersetzung mit einer erstaunlichen Entdeckung zu diesem Stil, die Pascal Schandel 2011 gelungen ist: Alles, was die Quellen über Philippe de Mazerolles, den 1479 in Brügge verstorbe nen Hofmaler Karls des Kühnen von Burgund, erkennen lassen, deutet darauf hin, daß niemand anders als dieser 1454 in Paris und dann 1467 als Valet de chambre in Charolais dokumentierte Maler und Buchmaler den Froissart für Commynes und die entschei denden Werke für Karl den Kühnen und Edward IV. von England geschaffen hat. Nun hatten Mara Hofmann und Ina Nettekoven im vorzüglichen 4. Band unserer Serie Illu minationen 2004 überzeugend dargelegt, daß sich hinter dem Namen Mazerolles94 ein künstlerisch stärkerer Charakter verbergen könnte: der Meister von Fitzwilliam 26895, von dem wir seinerzeit ein unerhört schönes Stundenbuch als unbekanntes Hauptwerk präsentieren konnten.96 Nun sprechen Quellen von 1466 bis 1468 von einem in Gold und Silber gemalten Schwar zen Stundenbuch, das der Brügger Freie, eine bedeutende städtische Institution,97 beim Goldschmied Marc le Bongeteur 1466 erworben hatte, um es Karl dem Kühnen zuzueig nen.98 Der aber hatte dann selbst für die Illuminierung zu sorgen, die 1467 bei „Philippe de Masereulle“ bestellt und am 11. September 1467 bezahlt wurde. Statt dieses Werk mit 92
Ausst.-Kat. London 2003, Nr. 68; ein vorzügliches Bilderbuch mit Miniaturen daraus: George Gordon Coulton, The Chronicler of European Chivalry (Froissart and his Chronicles), London 1930.
93 Einen ausgezeichneten Ausgangsp unkt gibt Scot McKendrick im Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, S. 261-2, mit einem wichtigen Hinweis auf Philippe de Mazerolles in Anm. 4 Aauf S. 262. 94 Den besten Überblick zu den Quellen geben Hofmann und Nettekoven 2004, S. 94-100; grndlegend war Antoine de Schryver, L’œuvre authentique de Philippe de Mazerolles, enlumineur de Charles le Téméraire, in: Cinq-centième anniversaire de la bataille de Nancy 1477, Actes du colloque, Nancy 1979, S. 135-144. 95
Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Nr. 53.
96 Hofmann und Nettekoven 2004. 97 Der Sitz dieser Institution ist mit einem bemerkenswerten Gebäude auf dem Brügger Burgplatz erhalten. 98 Die wichtigsten Quellen zuletzt in Ausst.-Kat. Paris 2011, S. 295.
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dem erhaltenen Schwarzen Gebetbuch in Wien, cod. 1856, zu identifizieren, empfiehlt sich ein Doppelblatt im Louvre als die wichtigste Spur: Dort stammen die Bildintiale zur Totenvesp er und die Randmedaillons vom Meister des Harley-Froissart.99 Beide Stilgruppen treffen aufeinander bei den Ausgaben der Militär-Ordonnanz Karls des Kühnen von 1473, für die Philippe de Mazerolles 1475 entlohnt wurde. Von herausra gender Qualität ist das Londoner Exemplar Add. Ms. 36619, das wohl für den Herzog selbst bestimmt war;100 dessen Frontispiz malte der Meister von Fitzwilliam 268, also sozusagen unser Mazerolles, während alle anderen von Schandels Mazerolles ausgeführt wurden. Die große Diskrepanz zu den schlichten Bild-Initialen im übrigen Bestand101 erklärt Schandel so: Ausgerechnet als Hofmaler des Herzogs habe Mazerolles für das aufwendige Frontispiz im wichtigsten Exemplar der Ordonnanz einen brillanteren Kol legen eingesetzt. Daß dieser Gedanke nicht abwegig ist, beweist eine letzte Quelle: Kurz vor seinem Tod erhielt Mazerolles 1479 eine große Zahlung von Edward IV . bei dessen zweitem Exil in den Niederlanden für Folio-Bände, die den eigentlichen Kernbestand an flämischen Handschriften in englischem Königsbesitz bilden.102 Vom Meister des Harley Froissart bebildert wurde nur Royal 16 G ix; doch sind sie einheitlich im Stil des Harley Froissart illuminiert, erhielten ihre großen Miniaturen aber von unterschiedlichen jüngeren Hän den. Angesichts dieser unerwartet schlüssigen Argumentation fällt der Meister von Fit zwilliam 268 in die Anonymität zurück, der Maler unseres Stundenbuchs aber erhielte mit Philippe de Mazerolles den Namen eines wenigstens 1454 in Paris dokumentierten Künstlers, der seine Version des späten Bedford-Stils in den Niederlanden zu einer un gemein dekorativen Buchmalerei fort entwickeln sollte. Was hier vorliegt, ist ein vollständig erhaltenes Pariser Stundenbuch von elegantem klei nen Format; die Bilder zeugen von einem der bemerkenswertesten Künstler, die in einer Zeit, da die Hauptstadt allzu gern Tendenzen aus dem Norden aufnahm, seinerseits Pa riser Kunst in die Niederlande brachte: vom Meister des Harley-Froissart. Unabhängig von der vielleicht dann doch strittigen Namensfrage lassen Text und Gestaltung keinen Zweifel an der Tatsache, daß die hier beschriebene Handschrift das Pariser Stunden buch um 1450 brillant repräsentiert.
99 Paris, Louvre, Département des Arts graphiques, MI 1091: Ilona Hans-Collas und Pascal Schandel, Manuscrits enluminés des anciens Pays-Bas méridionaux. I. Manuscrits de Louis de Bruges, Paris 2009, S. 174-6; Schandel in Ausst.-Kat. Paris 2011, Nr. 156, mit vollständiger Abb. der erhaltenen Doppelseite auf S. 296-7. 100 Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Nr. 64. 101 Fünf der zwanzig sind erhalten in Den Haag, Kopenhagen, München, Paris und Wien, darunter der Münchner cod. gall. 18 und das Pariser ms. fr. 23963. 102 Royal 14 E i-ii, 14 E iv-vi, 15 E i, 16 G ix, 17 F ii-iii, 18 D ix-x, 18 E iii-viv, 19 E i und 19 E v: Ausst.-Kat. London 2011, in dem Scot Mc Kendrick jedoch nicht noch einmal auf Mazerolles zurückkommt.
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Kat. 80, Nr. 19, fol. 174v (Coëtivy-Meister)
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Kat. 68, Nr. 20, fol. 107 (Coëtivy-Meister)
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Ein altansässiger Maler gibt einem Fremden eine Chance: Anfänge des Coëtivy-Meisters Künstlerischer Wandel vollzog sich im Paris der Spätgotik nicht so abrupt, daß ältere Stile vollständig verdrängt worden wären. Zuweilen stehen unversöhnlich konkurrieren de Konzepte von Buchmalerei in einer Handschrift wie unserer Nr. 19 nebeneinander, ohne daß irgendeine stilistische Verbindung zu erkennen ist: Den Maler, der hier uner hörte Brillanz beweist, nennt man Coëtivy-Meister nach dem Stundenbuch des Olivier de Coëtivy und der Marguerite de Valois in Wien, das zwischen 1438 und 1473 entstanden ist.103 Die Vorliebe für Hermeline in den Bildbordüren unserer Nr. 19 deutet einen bre tonischen Bezug an; es könnte sich also neben Olivier de Coëtivy um einen zweiten Bre tonen unter den Auftraggebern handeln. Der künstlerischen Wucht beispielsweise der Bilder im Marien-Of fizium kann der an dere Maler nur seine Tradition entgegensetzen, vertreten seine Miniaturen doch noch immer eine um die Mitte des 15. Jahrhunderts für die Pariser Kunst charakteristische Manier. Ähnlich bleiche Inkarnate kennt man vom Dunois-Meister und vom Meister des Harley-Froissart. Der dafür Verantwortliche wurde erst 1991 im Stundenbuch der Marguerite d’Orléans identifiziert, wo er die letzten Ergänzungen gemalt hat.104 Als Meister des Étienne Sauderat habe ich ihn nach einem Livre des Propriétés des choses benannt, das 1447 Étienne Sauderat, ein Schreiber aus Auxerre, angelegt hat.105 Auf traggeber war ein Jean de Chalon aus jener Familie, die 1370 die Grafschaft Auxerre an die französische Krone verkauft hatte. Daß Schreiber und Maler in Paris ansässig waren, belegt das Werk, von dem aus sie bestimmt werden. Die etwas trockene Arbeitsweise des Sauderat-Meisters erkennt man sofort auf der ersten Seite des Textblocks; dort sind Szenen aus der Johannes-Legende in die Bordüre eingemalt. An anderen Stellen finden sich einzelne Heilige im Randschmuck; auch sie sind von diesem noch nicht allzu klar umrissenen Künstler. Während man deshalb zunächst den Eindruck gewinnen könnte, diese eher schlichte Hand habe sich neben dem genialen Miniaturenmaler nur als Illuminator behaupten können, so zeigt das Davidbild, daß der Sauderat-Meister hier wohl von Vorrechten Ge brauch machte, die ihm den Zugriff auf die wichtigsten Miniaturen sicherten. Doch fehlt heute leider die Verkündigung, die vielleicht bestätigt hätte, daß der Meister des Étienne Sauderat in traditioneller Weise den Auftrag dominierte, dafür aber einem jüngeren und sehr viel genialeren Buchmaler ermöglichte, fremde Qualitäten in hinreißenden Miniatu ren zu entfalten. Daß der in Pariser Traditionen verhaftete Buchmaler gegenüber den Auf traggebern die Verantwortung trug, beweist das Bild der Beterin neben der heiligen Mar
103 Wien, ÖNB , Cod. 1929: Durrieu 1921; Pächt und Thoss I, 1974, S. 29-32, mit Abb. 32-41; Nettekoven 2004, passim; Net tekoven in Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge IV, 2007, S. 239-244. 104 Paris, BnF, latin 1156B: König 1991, S. 49-53. 105 Amiens, Bibl. mun., ms. 399: König 1991, Abb. 1.
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garete im Kerker: Ihre Gestalt war kompositionell von vornherein geplant und ist in die sonst vom Coëtivy-Meister gestaltete Miniatur vom Sauderat-Meister eingefügt worden. In der Geschichte der Buchmalerei repräsentiert Nr. 19 einen historisch entscheidenden Moment: Als ein charakteristisches Pariser Stundenbuch vom Meister des Étienne Sau derat angelegt, brilliert das Manuskript durch unerhört schöne und lebendige Miniatu ren eines Künstlers aus dem Norden. Da keine stilistische Verwandtschaft zwischen den beiden Beteiligten besteht, wirkt es, als habe ein Fremder in einer alteingesessenen Pari ser Werkstatt mitgewirkt; das hieße, der Coëtivy-Meister sei in Paris genau in der Zeit angekommen, als unsere Nr. 19 geschaffen wurde. Kontakte zur Kunst des Nordens be schränkten sich nicht auf das, was Paris altniederländischen Maleren verdankte, sondern sorgten auch dafür, daß Einfluß aus der französischen Hauptstadt dort spürbar wurde. So verblüfft in diesem Stundenbuch, daß der Coëtivy-Meister in Frankreich Bildgedan ken formuliert, wie sie erst ein wenig später in Brügge und Gent aufgegriffen wurden und bis ins 16. Jahrhundert lebendig blieben. Neues vom Coëtivy-Meister Die Annahme, der Coëtivy-Meister habe als ein Ortsfremder in Paris begonnen und habe deshalb erst einmal bei einem dort schon ansässigen Maler unterkommen müßen, widerspricht der seit der Pariser Ausstellung von 1993 weithin gängigen Sicht des Ma lers. Nicole Reynaud zufolge vertritt der Maler nämlich bereits eine zweite Generation von Künstlern in Paris, die zwar aus dem pikardischen Amiens und letzten Endes noch weiter im Norden aus dem heute zu Belgien gehörenden Ypern stammten, aber bereits in der französischen Hauptstadt angesiedelt waren. Reynaud zufolge begann diese Familie in Paris mit einem Maler, den Sterling 1990 als Meister des Dreux Budé für ein einzelnes Werk definiert hatte; denn Dreux Budé (1396/99-1476), Sekretär der Könige Karl VII . und Ludwig XI . und Schwiegervater jenes Étienne Chevalier, für den Jean Fouquet gear beitet hat, war der Auftraggeber eines in alle Welt verstreuten Kreuzigungst riptychons.106 Die Grenzziehung zwischen den einzelnen Werkkomplexen bleibt strittig; so waren sich Sterling und Reynaud nicht einig, wem das spektakulärste Pariser Werk, das Retabel des Pariser Parlaments aus den frühen 1450er Jahren, zuzuschreiben ist.107 Im Louvre bietet das Nebeneinander dieser Tafel und der Auferweckung des Lazarus108 einen Gegen 106 Sterling II , 1990, S. 50-71: Die Haupttafel im Getty-Museum, Los Angeles, der linke Flügel vor kurzem aus der Berliner Sammlung Bischof vom Louvre erworben, der rechte im Musée Fabre. 107 Philippe Lorentz und Micheline Comblen-Sonkens, Musée du Louvre, Paris (Corpus des peintures des anciens Pays-Bas méridionaux et de la principauté de Liège au XVe siècle 19), Brüssel 2001, S. 81-132; Philippe Lorentz, La Crucifixion du Parlement de Paris (Solo 29), Paris 2004. Für Sterling II , 1990, S. 36-49, ist es ein Werk aus Tournai (vielleicht Louis le Duc); für Reynaud stammt es vom Dreux-Budé-Meister. Ausst.-Kat. Primitifs français. Découvertes et redécouvertes, Paris 2004, S. 92-102. Siehe auch Scot McKendrick, The Earliest Reproduction of the Crucifixion of the Parlement de Paris?, in: Caroline Zöhl und Mara Hofmann, Von Kunst und Temperament, Festschrift Eberhard König, Turnhout 2007, S. 176-182. 108 Louvre: Das Gemälde war lange Zeit verstümmelt, ehe Nicole Reynaud als Konservatorin das rechte Ende mit Aposteln und einer knienden Stifterin erwerben und wieder mit der Tafel vereinen konnte; bei Sterling II , 1990, Abb. 59, S. 74, wird das wieder integ rierte Bild noch als „Louvre et collection particulière“ bezeichnet.
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Kat. 68, Nr. 20, fol. 92v (Coëtivy-Meister)
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Kat. 68, Nr. 20, fol. 195 (Coëtivy-Meister)
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satz, der tatsächlich erlaubt, zwei Künstler zu bestimmen, die man am besten mit ihren Notnamen beläßt und als Meister des Dreux Budé und der Coëtivy-Meister anspricht.109 Zur Nachfolge des Coëtivy-Meisters gehört ein spektakulär winziges Stundenbuch der Königin Anne de Bretagne; dessen Maler heißt in der französischen Literatur der Maître des Très Petites Heures d’Anne de Bretagne.110 Wer ihn hingegen nach seinem gewaltigsten Werk als Meister der Apokalypsenrose der Sainte-Chapelle nennt, öffnet mit Ina Nette koven den Blick über die Buchmalerei hinaus; denn dieser jüngere Maler hat neben dem Coëtivy-Meister die wichtigsten Glasfenster in Saint-Séverin gestaltet und dort auch ein schlecht erhaltenes Wandbild gemalt. Selbst die Einhornteppiche im Pariser ClunyMuseum und im New Yorker Metropolitan Museum werden ihm zugeschrieben; sein wichtigstes Arbeitsfeld aber fand er im Pariser Buchdruck gegen 1500.111 Damit über schreitet seine Lebenszeit und sein Werk den Rahmen dieses (ersten) Katalogs von Pa riser Stundenbüchern. Für Nicole Reynaud und ihr folgend weite Kreise der Literatur liegt heute eine klare Ab folge dreier Individualstile in drei Generationen derselben Familie vor. Zunächst hatte sie jedoch in der Revue de l’Art 1973 nur für die beiden älteren Maler einen Namen gesucht und dabei, wie schon Durrieu 1927 gemeint, zwei Brüder aus der Familie Vulcop erken nen zu können, deren Tätigkeit nicht auf Paris beschränkt war. Mit der wachsenden Ein sicht, daß man es mit Künstlern aus der Hauptstadt zu tun hat, wuchs die Bereitschaft, eine dort angesiedelte Familie zu suchen, die in drei Generationen nachweisbar ist. So setzte Nicole Reynaud vor allem durch den Ausstellungskatalog von 1993 die Auffas sung durch, man habe es mit André d’Ypres, Colin d’Amiens und Jean d’Ypres zu tun.112 Der Coëtivy-Meister wäre Colin d’Amiens; doch diesem Vorschlag mochte Ina Nette koven, die sich mit der ganzen Stiltradition in ihrer Dissertation erhellend auseinander gesetzt hat, nicht folgen; sie schlug statt dessen eine Rückkehr zu Durrieu vor und gab damit der Verbindung zu den Vulcops wieder neues Gewicht. Berechtigte Zweifel an Reynauds Abfolge dreier Generationen hat neuerdings auch Carmen Decu Theodor escu in unveröffentlichten Vorträgen unterstützt.113 An dieser Stelle kann unser Befund zu Nr. 19 Klärung bringen: Wenn der Maler schon die zweite in Paris ansässigen Gene ration seiner Familie repräsentiert hätte, hätte er nicht beim Sauderat-Meister anheuern müßen, weil ihm ein Platz im Atelier des stilverwandten Dreux Budé-Meisters sicher ge wesen wäre. Wenn man jedoch die beiden anonymen Stilgruppen mit den beiden Brü dern Vulcop, Henry und Conrad, verbindet, wären beide in Paris etwa zur gleichen Zeit fremd gewesen. 109 Siehe die Beiträge von Reynaud in Ausst.-Kat. Paris 1993, S. 53-69. 110 Paris, BnF, NAL 3120 (Ausst.-Kat. Paris 1993, Nr. 143; siehe dort auch S. 265-270). 111 Nettekoven 2004 und in unserem Katalog HORAE B. M. V. vor allem die Zusammenstellung der Bilderserien in Band IX , 2015: 11, S. 3938-50; 15, S. 3964-71; 16, S. 3972-74; 17, S. 3975-78, sowie stilverwandte Zyk len. 112 Siehe auch oben Anm. 6. 113 So anläßlich eines von Anne-Marie Legaré und Philippe Lorentz geleiteten Kolloquiums im Pariser Institut national d’Histo ire de l’Art (INHA), das 2013 die Forschung der zwei Jahrzehnte seit der Ausstellung von 1993 diskutierte.
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Wir hatten schon früher die große Freude, Handschriften mit Miniaturen des CoëtivyMeisters präsentieren zu dürfen. Im Katalog Leuchtendes Mittelalter Neue Folge IV, 2007, lieferte Ina Nettekoven sogar eine kurze Darstellung der Problematik und Beschreibun gen zu drei Stundenbüchern dieser Hand.114 Dort wie in den nun hier beschriebenen Stundenbüchern erweist sich der Maler als ein Meister gleichermaßen des Interieurs wie der Landschaft. In Nr. 20 hat ihn die Beschränkung auf nur wenige Miniaturen vielleicht dazu inspiriert, den Details größere Aufmerksamkeit zu schenken. Die ungemein feine strichelnde, oft punktierende Malweise zeichnet seine Kunst hier ebenso aus wie das sehr zurückhalten de und vornehme Kolorit. Besonders fällt der Sinn für sacht ausgeführte Schlagschat ten auf. Das kommt diesem Stundenbuch zugute, dessen Bildausstattung auf ein in Pa ris seltenes Mindestmaß beschränkt ist. Die Miniaturen variieren in intelligenter Weise Bildvorstellungen, die auch im nur fragmentarisch erhaltenen, etwa zur gleichen Zeit ge schaffenen Wiener Manuskript zu finden sind. Dabei erstaunt der Sinn für Licht und Raumdarstellung trotz der Schwächen in der perspektivischen Konstruktion. Verwandt schaft zu altniederländischer Malerei höchster Qualität prägt die Kompositionen bis in Details; doch setzt sich das zarte Kolorit unseres in Paris tätigen Buchmalers entschie den von der Buntheit der großen flämischen Tafelmalerei von Rogier van der Weyden bis zu Hans Memling ab. Unsere Auswahl steigert sich bis zu Nr. 21, einem Stundenbuch für den in Paris höchst ungewöhnlichen Gebrauch von Rennes; um den Kalender und die Litanei hat man sich dabei kaum gekümmert; nur in den Suffragien treten mit Hervé und Méen zwei in der Hauptstadt kaum bekannte Heilige auf. Das Manuskript gehört zu den schönsten Wer ken des Coëtivy-Meisters, der sich darin unbestritten als einer der besten Maler und Buchmaler des 15. Jahrhunderts in Paris behauptet; es ist vollständig und brillant erhal ten. Zugleich ist das Buch wieder ein Beispiel dafür, daß nicht nur der aus der Bretagne stammende Olivier de Coëtivy, sondern auch andere Bretonen in Paris solch herrliche Bücher haben ausmalen lassen; um so bedauerlicher ist der Umstand, daß ihre Wappen getilgt wurden. François le Barbier Père und eine zweite Generationenfolge von Buchmalern in Paris Während der Coëtivy-Meister und die Stilgruppe, die ihn umgibt, in der älteren Lite ratur kaum eine ihnen gebührende Rolle gespielt haben, hat Paul Durrieu schon 1892 charakteristische Pariser Werke aus dem späteren 15. Jahrhundert unter dem Namen Jacques de Besançon versammelt. Doch vor allem durch Arbeiten von Eleanor Spencer wurde klar, daß auch in diesem Falle eine Werkstatt erfaßt war, in der mehrere, diesmal wirklich drei Generationen aufeinander folgten. 114 Die Dissertation ist erschienen als Nettekoven 2004; Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge IV, 2007, S. 239-244 und dann S. 245-294.
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Verwirrspiele um Namen traten auch in diesem Fall ein; denn schon der Ausgangsp unkt erwies sich als zweischneidig: Im Jahre 1485 hatte ein Illuminator diesen Namens für die Bruderschaft Johannes des Evangelisten an der Kirche Saint-André-des-Arts im Pariser fizium gestiftet, das in der Pa Universitätsviertel ein dem Evangelisten gewidmetes Of 115 riser Mazarine-Bibliothek erhalten ist. In diesem Manuskript finden sich zwei Johan nesbilder, und die stammen ärgerlicherweise nicht nur von zwei verschiedenen Händen, sondern vertreten geradezu zwei gegensätzliche Malweisen: Neben einer sehr sorgfältig ausgeführten Standfigur des Heiligen findet sich eine kleinere Miniatur, die ihn sitzend beim Schreiben zeigt; sie wirkt rasch gemalt und löst sich von älteren Konventionen, weil sie scheinbar Sorgfalt vermissen läßt. Kennerschaft steht also vor der Wahl, in welcher der beiden epochal gegensätzlichen Rollen sie den Stifter des Buchs, der selbst Illumina tor war, sehen sollte. Heute ist man sich einig, daß Jacques de Besançon nicht der kon ventionellere Miniator war.116 Angesichts der späten Entstehung des Johannes-Offiziums von 1485, die über den Zeit rahmen des hier vorgelegten Katalogs deutlich hinausgeht, müssen wir für diesen Künst ler auf den direkt anschließenden Band verweisen. Doch sei hier die davon ausgehen de Forschungssituation kurz skizziert: Dem jüngeren Meister des Jacques de Besançon gingen zwei stilverwandte Buchmaler voraus. Im Mittelpunkt des Interesses stand lange Zeit jener, den man allgemein als Maître François kennt. Als egregius magister Franciscus wird er in einem Brief genannt, in dem Robert Gaguin, selbst beispielsweise als Über setzer Cäsars für das Pariser Buchwesen sehr bedeutend,117 über eine 1473 datierte Cité de Dieu des Kirchenvaters Augustinus spricht,118 dem sich zwei stilverwandte Exempla re anschließen.119 Doch damit nicht genug: dem Stil, den man inzwischen sicher mit dem französisierten Namen Maître François verbindet, ging eine eng verwandte Buchmalerei voraus, deren früheste Beispiele in Büchern zu finden sind, die vom späten Bedford-Stil, wohl vom Du nois-Meister dominiert sind. In ihrer Arbeit über das qualitätvollste Exemplar von Hein rich Susos Horloge de Sapience, das zu den rezenteren Erwerbungen der Königlichen Bi bliothek in Brüssel gehört, hat Eleanor Spencer die Hand in ihrer Eigenart erkannt und den Moment beschrieben, da diese ungemein präzise und neuartige Kunst mit dem spä
115 Mazarine Ms. 461: Durrieu 1892; Sterling II , 1990, S. 216-7, mit Abb. 202-3; Ausst.-Kat. Paris 1993, S. 256-262 mit Fa rbabb. der besseren Miniatur aus dem Johannes-Of fizium auf S. 256. 116 Noch Sterling II , 1990, sieht den Unterschied der beiden von ihm auf S. 216-7 abgebildeten Miniaturen aus Mazarine 461 nicht. 117 Nach dem Widmungsexemplar, das wir in Leuchtendes Mittelalter VI, 1993/94 als Nr. 35 vorgestellt haben, nennt man einen bemerkenswerten Maler eigenen Gepräges, der uns ebenfalls im Folgeband dieses Katalogs beschäftigen wird. 118 Gaguin schreibt an Charles de Gaucourt, Lieutenant-général von Paris, und bezieht sich auf Paris, BnF, fr. 18-19: Ausst.Kat. 1993, Nr. 16. 119 Ste.-Geneviève Ms. 246 (Ausst.-Kat. Paris 1993, Nr. 17) und das heute auf zwei Bibliotheken verteilte Exemplar, das für Ja cques d’Armag nac begonnen und für Philippe de Commynes fertiggestellt wurde; Den Haag, Museum Meermanno-West reenianum, 10 A 11, und Nantes, Bibliothèque municipale, Ms. 181.
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ten Bedford-Stil zusammentrifft.120 Klarheit über den Rang des Künstlers schaffen Auf träge für Jean Rolin (1408-1483), den Sohn des burgundischen Kanzler Nicolas Rolin, der 1448 zum Kardinal erhoben wurde und für sein Bistum Autun (im Amt ab 1436) eine ganze Anzahl von ähnlich gestalteten Meßbüchern anlegen ließ.121 Für Spencer stand fest, daß der Meister des Jean Rolin aus den Niederlanden nach Paris gekommen ist, Charles Sterling hingegen hat versucht, ihn aus einer nicht ausreichend dokumentierten Buchkunst des französischen Burgunds herzuleiten.122 Forschungen von Peter Rolfe Monks, der sich intensiver mit Bildinhalten beschäftigt, sind nicht im erfor derlichen Umfang publiziert.123 Die hier nötige Geschichtsrekonstruktion, die schon mit Durrieu vom jüngsten Stil ausging, ist inzwischen durch einen Beitrag von Matthieu Deldique aus dem Jahre 2014 ein gutes Stück vorangekommen. 2014 hat Deldique gute Gründe vorgebracht, im egregius magister Franciscus und im Meister des Jacques de Be sançon zwei vorzüglich dokumentierte Künstler zu erkennen, auf die Durrieu und die Rouses bereits hingewiesen hatten: Vater und Sohn François Le Barbier. Während man vom jüngeren Träger dieses Namens sogar weiß, daß er 1501 verstorben war, steht beim älteren nur fest, daß er zwischen 1455/56 ein Haus auf dem Pont Neuf Notre-Dame ge mietet hat und 1473 in Pariser Dokumenten genannt wird. Diese Präzisierung sorgt dafür, ganz im Sinne von Eleanor Spencer endlich die letzten Zweifel zu beseitigen, man habe es mit einem Sohn François von Jean Fouquet zu tun; sie sorgt auch für eine willkommene Distanzierung von der Familie der d’Ypres oder d’Amiens. Historisch gefestigt wird durch Deldiques Erkenntnis, daß die Buchmalerei, die man als Stil mit Jacques Besançon verband, tatsächlich von den Personen her eng mit dem Buchdruck verbunden war; denn man wird nun annehmen dürfen, daß die Drucker Jean Barbier und Symphorien Barbier mit den Buchmalern verwandt waren. Die Überwindung des Bedford-Stils durch den Meister des Jean Rolin Der Name Le Barbier verrät jedoch nichts über die Ursprünge dieser Kunst in Paris; denn er ist nirgendwo mit einem Ortshinweis verbunden. Die Berufsbezeichnung legt immerhin nahe, daß man es hier mit Malern zu tun hat, die nicht zugewandert sind und deren Vorfahren als Barbiere nicht künstlerisch tätig waren. So ist über den ihnen vor ausgehenden Meister des Jean Rolin auf diesem Wege nichts zu erfahren. Seine Buch malerei verrät ein höheres Alter; er ist jedoch nur stilgeschichtlich Vater und Großvater von François Barbier père et fils. Von diesem großartigen Künstler können wir hier zwei Manuskripte präsentieren: Nr. 22 ist ein bisher unbekanntes, eindrucksvolles Werk des Meisters von Jean Rolin in 120 KBR , IV, 111: Spencer in: Sciptorium XVII , 1963, S. 277-299. 121 Lyon, Bibl. mun., Ms. 517; Autun, Bibl. mun., Ms. 108A und 114A, sowie ein Kanonbild in der Sammlung Wildenstein des Musée Marmottan-Monet, Paris. 122 Sterling II , 1990, S. 176-190. 123 Monks 1990.
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sehr schönem Zustand und relativ früh entstanden. Die spätgotische Eleganz der vor züglich artikulierten Figuren und die feine strichelnde Malerei mit ihrer treffenden Mo dellierung hebt die Kunst dieses Buchmalers entschieden ab gegen die späten Varianten des Bedford-Stils. Um so erstaunlicher ist die enge Verbindung beispielsweise mit unse rem Stundenbuch vom Meister des Harley-Froissart (Nr. 18). So wird in beiden Hand schriften dieselbe Bildvorlage zur Marienverkündigung unter freiem Himmel in einem Geschiebe von Gebäudeteilen verwendet. Den Ursprung dieser Komposition wird man nicht in Flandern finden; eher handelt es sich um eine Weiterentwicklung aus französi scher Buchmalerei. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Frankreich und den Niederlan den auf eine vielleicht doch subtilere Weise als selbst von Eleanor Spencer durchdacht: Man wird nicht einfach sagen dürfen, der Pariser Buchmalerei seien nach zunehmender Erschöpfung gegen die Jahrhundertmitte neue Konzepte aus dem altniederländischen Bereich aufgepfropft worden. Paris hatte offenbar auch selbst ein Potential, auf fremde grundstürzende Eindrücke zu reagieren und zu eigenständig neuer Gestaltung zu fin den. Deshalb mag der Meister des Jean Rolin seine Kunst durchaus in Paris gelernt ha ben; eine ausführliche Wanderschaft mag schon gereicht haben, das Neue kreativ in die eigene Kunst zu integrieren, zumal der Meister sicher in der französischen Hauptstadt immer wieder mit aus dem Norden stammender Kunst konfrontiert wurde. So konnte er aus Grundzügen der älteren Pariser Buchmalerei und wenigstens zum Teil mit Bild vorlagen, die dort geläufig waren, zu seinem eigenen Stil finden, der dann die Grundlage für die beiden François Le Barbier schuf. Zur guten französischen Tradition, die allerdings dann auch in den Niederlanden, vor allem bei Willem Vrelant, dessen Stil aus Paris und Rouen stammen dürfte, fruchtbar werden sollte, gehört der Sinn für die Reduktion von Farbe. Das gilt besonders für Stun denbücher kleinen Formats; und dazu gehört unser zweites Manuskript mit Miniatu ren vom Meister des Jean Rolin, Nr. 23, das wir nach dem Livre de raison der Familie des François de Dagues und seiner Frau Katherine Ferrault in Le Mans aus der Zeit von 1535-1616 benennen. Die Zuschreibung an den Meister des Jean Rolin und seine Werkstatt ist evident; doch hat sich der Meister damit begnügt, alle großen Miniaturen auszuführen, nicht aber die ungezählten Köpfe in Initialen und die Grotesken am Rand. Der Verzicht auf buntfar bige Gewänder rückt es in engen Bezug zum später von Jean Fouquet ergänzten Stunden buch des Simon de Varie, das in drei Bände aufgeteilt wurde, die heute in der Königlichen Bibliothek in Den Haag und im Getty-Museum in Los Angeles liegen.124
124 Den Haag, KB , 74 G 37 und 37a; Los Angeles, J.Paul Getty Museum, Ms. 7: Marrow 1994; König, Devotion, 2012, S. 40-44.
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Am Schluß ein Werk von François Le Barbier père Mit Maître François haben wir uns bereits in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge I, 1997, ausführlich auseinandergesetzt, weil uns damals ein eindrucksvoller Boccace vorlag; und es ist nicht das erste Mal, daß wir uns mit dem Stundenbuch befas sen, das hier als Nr. 24 von seiner Bedeutung her den eigentlichen Abschluß dieses Ka talogs bildet. Wir haben dieses Werk von François Le Barbier dem Älteren 1993/94, also lange, bevor man es besser wußte, im V. Band der Serie Leuchtendes Mittelalter als Nr. 21 noch als Maître François beschrieben. Es gehört zu den Pariser Manuskripten, die für Leute von weither geschaffen wurden; das legt die Ausrichtung auf den Gebrauch von Rom ebenso nahe wie die Einschaltung der Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist fizium. Ganz fremd war in Paris ein Passionszyklus für die Marienstunden ins Marienof von Laudes an; Bretonen hingegen schätzten diese Art der Bebilderung seit dem Stun denbuch des Guy de Laval. Dazu paßt, daß das Manuskript zumindest gegen Jahrhun dertende der Familie Texor de Ravisi oder besser Rais gehört hat, für die nach 1492 zwei eindrucksvolle Bilder ergänzt wurden. Bis zur Kreuzigung bietet dieses Stundenbuch den wichtigsten Passions-Zyk lus von François Le Barbier père und dazu ganz vorzügliche Evangelistenporträts. Der Buch block ist einheitlich illuminiert. Graues Violett, eigentlich die Farbe von Jesu Ungenäh tem Rock, kommt hier als Kleiderfarbe unterschiedslos Guten wie Bösen zu. Es ist neben den kleinen Partien von leuchtendem Rot geradezu eine Erkennungsfarbe des Künst lers, der dazu Grün und Blau setzt und besonders fein in Rot wie Schwarz übergehende Brauntöne differenziert. Da beide Träger des Namens François Le Barbier menschliche Haut eher grau tönen und sogar Gesichter kaum mit Rot beleben, schaffen sie ein klares Relief, das sie geschickt mit Schatten gliedern. Statt Raum zu erschließen, modellieren sie geschlossene Figurengruppen. Bei den Evangelisten und den Heiligen der Suffragien könnte der Eindruck entstehen, sie seien von anderer Hand; vielleicht aber ist nur die Intensität der Durcharbeit ange sichts der geringeren Bedeutung dieser Partien gemindert. Die hinzugefügten Miniaturen stammen aus zwei deutlich unterschiedenen Malkultu ren, die nicht genauer definiert werden können. Durch ihr dunkles Kolorit verbinden sich der Schmerzensmann und die Fußwaschung (die für die Rais gemalt wurde) gegen den namenlosen Bischofsheiligen. Am eindrucksvollsten ist dabei der Schmerzensmann, zumal der Wahl des Sujets ein kluger Gedanke zugrunde liegt: Indem statt der Dar stellung der Gregorsvision nur der geistliche Kern der Vision gezeigt wird, versetzt der Maler die Beter in die Rolle des Kirchenvaters, dem der Schmerzensmann beim Meß opfer erschienen ist. Unser Katalog, der sich als ein erster Band zum Pariser Stundenbuch versteht, schließt mit Nr. 25, einem auf wendig angelegten Manuskript aus der bedeutenden Generati onsfolge, die vom Meister Jean Rolins über Maître François zum Meister des Jacques
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Kat. 45, Nr. 9, fol. 67v (Meister des Jean Rolin)
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Werkg rupp en und die Hands chrift en in uns er em Bes tand
Kat. 45, Nr. 9, fol. 27 (Meister des Jean Rolin)
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de Besançon führt. Es weist altertümliche Züge auf und geht bei den Bildern zu den Bußpsalmen und zum Totenof fizium, auf Bildvorlagen zurück, die seit den Anfängen des Meisters von Jean Rolin in dessen Pariser Stilkreis verwendet wurden. Aus dessen Kunst erklärt sich auch das kühle Kolorit. Man hat es mit einem ungenügend definier ten Maler zu tun, der auf die Kunst des älteren François le Barbier zurückgeht, aber in seinen wichtigsten Miniaturen nicht einfach nur „Nachfolger“ bleibt, sondern einen ei genen und für aufmerksame Augen auch klar wieder zu erkennenden Charakter verrät. Er war am wichtigsten Stundenbuch der Stilgruppe beteiligt, dem einzigen, dessen ge samter Bildschmuck einem breiteren Publikum vertraut ist: Margaret Manion hat diese Handschrift als Wharncliffe Hours publiziert; dort stammt mit dem Bild des Johannes auf Patmos schon die erste Miniatur von dieser Hand. Doch erst 1997, im I. Band der Neuen Folge von Leuchtendes Mittelalter, der den Boccace des Nicolas Foucault beschreibt, wurde der Maler genauer definiert. Da er dort für das Frontispiz zuständig war, nennen wir ihn nach diesem bedeutenden Manuskript. Doch hat er in Nr. 25 nicht den Johannes auf Patmos gemalt; vielmehr weist diese Miniatur mit einigen anderen in eine ganz ande re Richtung, verbindet sie doch mit der Werkstatt der Schöffen von Rouen und schafft somit eine Brücke hinüber in die Normandie. Paris – eine Liebe wert? Wer die Bilder unseres Katalogs durchblättert, kann atemlos verfolgen, was Pariser Buchmaler in den drei Generationen geleistet haben, bevor der Buchdruck mit der Gu tenberg-Galaxis125 auch an die Seine kam und dort für unerhörten Bilderreichtum sorg te. Selbst wer sich im Blick auf das 15. Jahrhundert nicht von der Vorstellung befreien kann, die Entwicklung der Malerei sei von Fresken aus Italien und Tafelbildern aus den burgundischen Niederlanden her zu begreifen, begegnet einem weiteren Medium und einem dritten Zentrum: der Metropole Paris, in der noch lange galt, daß die große Ma lerei in den Büchern war.126 Nach einem Jahrhundert edler Zurückhaltung im Kolorit bis hin zur Grisaille127 er laubten neue Farben eine unerhörte Pracht, die sich am herrlichsten im Zusammenspiel von kostbarem Ultramarin-Blau mit raf finiert bearbeiteten Metallfolien ausdrückt. Die se Buchmalerei, die um 1410 ihre volle Schönheit entfaltete, konkurrierte mit der Gold schmiederei, die als Leitkunst dieser Zeit gelten muß. Im Goldenen Rössl von Altötting, das 1404 als Neujahrsgabe für den französischen König Karl VI . bestimmt war, findet
125 Herbert Marshal McLuhan, The Gutenberg Galaxy, London 1962, deutsch Die Gutenberg Galaxis, Bonn u. a. 1995; siehe auch Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informationsund Kommunikationst echnolog ien (stw; 1357). Frankf urt: Suhrkamp, 1998. – und für unsere Zusammenhänge unsere neun Bände: HORAE B. M. V. 126 Der Beg riff spielt auf den Titel an, den die wunderbare Ausstellung von Avril und Reynaud, Paris 1993 , auf den Plakaten hatte und den Mara Hofmann und Caroline Zöhl als Herausgeberinnen für die Festschrift von François Avril (Turnhout 2007) wählten. 127 Treffend der knappe Überblick in Avril 1978.
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die Epoche, die man im Deutschen als Weichen Stil und weltweit als International Style around 1400 kennt, ihren von keinem anderen Werk erreichten Höhepunkt.128 Von dem Schimmel in weißem Email, der in Altötting über einem Goldkern die Nü stern bläht, mag der wiehernde Esel bei der Flucht nach Ägypten, der unserer Nr. 1 den Spitznamen gibt, noch ein Stück entfernt sein. Doch weist die Miniatur die Richtung, die Künstler schon vor 1400 einschlagen wollten. Die kühn verkürzten Pferde in unserer Nr. 4 verraten noch anschaulicher, wie die folgende Generation mit neuen Beobachtun gen verblüffen wollte, selbst wenn die Maler dafür Bildmuster einsetzten, die nicht immer aus ihrer eigenen Naturerfahrung entsprangen. Um etwas ganz Neues zu erreichen, mußte ein ungemein faszinierender Schub die Zeich nung verwandeln: Während irgendwo im böhmisch-österreichischen Raum ein Maler und Buchmaler mit den Ahorntäfelchen des Musterbuchs im Wiener Kunsthistorischen Museum seine Kunst anpries, die ein Panoptikum aus Charakterköpfen von Mensch und Tier bot,129 entfaltet sich in unserer Nr. 4 eine ganz andere Art von Zeichnung: Hier läßt sich zunächst verfolgen, wie ein Künstler aus dem Norden geschickt Anregungen auf greift, die ihm die Kunst aus dem Süden bot. Darüberhinaus aber gibt der in Nr. 4 von späteren Entstellungen verschonte Zustand eines bei den Zeichnungen belassenen Bu ches kostbare Einblicke in die komplexe Werkgenese, deren Spuren sonst unter den Far ben verschwanden. Einblicke in die Kunst der Zeichnung erlauben auch die beiden hier als Nr. 2 und 3 ge führten Manuskripte; denn Jean de Nizières hat in Nr. 2 auf deckende Farben verzich tet; und in Nr. 3, an der Jacquemart de Hesdin beteiligt war, fehlen in einigen Miniaturen abschließende Farbschichten. Die daran anschließenden Stundenbücher vom Mazarineund Boucicaut-Meister bieten wiederum ganz andere Einsichten: Natur ließ sich nicht angemessen wiedergeben, wenn man nur wie in der Goldschmiedekunst die Farben in all ihrer Kostbarkeit wirken lassen wollte und wie beim Rössl für die Jungfrau Maria eine Laube aus goldenem Blattwerk mit Perlen schuf. Der Umgang mit dem Farbmaterial mußte subtiler werden und sich vom Zauber des Metalls lösen. Mit dem Durchbruch zu neuen Buchmalerfarben ging eine Gegenentwicklung einher: Der Preis des Materials und der Wert der künstlerischen Arbeit gerieten in einen Kon flikt, der wie unsere Auswahl aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigt, schon bald zugunsten der künstlerischen Virtuosität entschieden wurde. In der Buchmalerei kam früher als bei den wenigen erhaltenen Tafelbildern aus Frankreich die Frage auf, ob nicht Blattgold besser durch Himmel, also teures Material durch Kunst zu ersetzen war, die immerhin noch mit der teuersten Malfarbe arbeitete. Dabei mag sogar eine Rolle ge spielt haben, daß wenigstens der eine oder andere Buchmaler wie Jacquemart de Hesdin bis nach Avignon gekommen war und deshalb italienische Fresken bewundert hatte, die 128 Reinhold Baumstark (Hrsg.), Das Goldene Rössl. Ein Meisterwerk der Pariser Hofkunst um 1400, München 1995. 129 Siehe meinen Beitrag, Ein Reg ister von Gott, Mensch und Tier zwischen Werkstatt und Kunstkabinett, in: Maria Theisen und Eberhard König, Das Wiener Musterbuch, Kommentarband, Simbach 2012, S. 66-82.
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nur ausnahmsweise größere Goldflächen enthielten. Geschlossenen Goldgrund war man ohnehin nicht gewohnt, sondern kostbare Spiele mit farbigen Karomustern auf Blattgold, wie sie alle Miniaturen in Nr. 5 schmücken. Nicht der einzelne Maler, sondern eher der sich wandelnde Zeitgeschmack führte dazu, daß sich wie in Nr. 6 neben solchen Must ergründen Himmel zunächst noch als Alternative zum dekorativen Fond und nicht als inhaltliches Motiv durchsetzte. Dem Gold blieb die Buchmalerei dennoch treu, schon um die Miniaturen kostbar zu rahmen. Höhung mit Pinselgold erlebte sogar erst nach der Jahrhundertmitte ihren wah ren Höhepunkt. Doch begriffen einige der führenden Köpfe schnell, daß das Neue ge eignet war, statt nur einen unerhört schönen Schein zu erzeugen, ein verändertes Bild von der Welt zu geben. Schon um 1405, also eine Generation, bevor Leon Battista Al berti (1404–1472) die Vorstellung beschrieb, Bilder seien wie Fenster in die Welt,130 be gann man in Paris den Blick im Pergamentblatt zu öffnen und auf jene Wirkung hinzu zielen, die sich dann in flämischer Buchmalerei über zwei Generationen später vollenden sollte.131 In den vom Buchformat bestimmten Bildfeldern der Miniaturen lernte man, die Erde als Landschaft zu gestalten und darüber den Himmel über hellem Horizont zu wöl ben.132 Dazu mußte sich auch die Bildrahmung verändern: Schon in den vorausgehenden Generationen war man sich in Paris nicht mehr recht einig, ob für das, was man histoire nannte, wie bei Glasbildern und in unserer Nr. 1 ein Vierpaß oder sogar eine Art goti sche Ädikula erforderlich war, die wie ein Tabernakel oder eine Monstranz auf dem Per gamentblatt liegen sollte, oder nicht doch ein Rechteck, von einfachen Leisten gerahmt, ausreichte. Dafür mag es Anstöße aus dem Norden gegeben haben, wie das Verkündi gungsbild in Nr. 1 nahelegt. Solche schlicht gefaßten Bilder waren in weltlichen Handschriften schon seit dem 13. Jahrhundert verbreitet, während sich in Gebetbüchern der Sinn für durch architek tonische Zier vorgespielte Kostbarkeit am längsten hielt. Wichtiger aber war die Tatsa che, daß die Natur in der neuen Pariser Buchmalerei ihren Raum im Licht beanspruchte. In diesem Raum verlor die Architektur ihre Rolle als zierender Rahmen und entwickelte sich entweder rasch vom Kulissenhäuschen zum eindrucksvollen Gebilde, das nun mit seiner Umgebung von außen gesehen wurde, oder zum Interieur, für das man zunächst Wände öffnen mußte, so daß das Innere noch eine Weile einher ging mit einem für mo derne Augen irritierenden Blick auf eine Außenwand oder ein Dach.
130 Leon Battista Alberti: „Principio, dove io debbo dipingere scrivo uno quadrangolo di retti angoli quanto grande io voglio, el quale reputo essere una finestra aperta per donde io miri quello che quivi sarà dipinto;“, Als Erstes zeichne ich auf der zu be malenden Fläche ein rechtwinkliges Viereck von beliebiger Größe; von diesem nehme ich an, es sei ein offenstehendes Fen ster, durch das ich betrachte, was hier gemalt weden soll;“ (zitiert nach: Alberti 2002, S. 92-93. [Leon Battista Alberti, Della Pittura. Über die Malkunst, Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda (hg., eingel. übers. und komm.), Darmstadt 2002] 131 Siehe dazu vor allem Otto Pächt, Konflikt Fläche – Raum, durchgehende Entwicklungstendenzen, in: Pächt 1984, S. 173202. [Otto Pächt, Die Buchmalerei des Mittelalters, München 1984] 132 Am schönsten sollte das Jean Fouquet um 1455 im Stundenbuch des Étienne Chevalier gelingen.
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Statt wie in Italien oder im deutschen Reich im Buchstabenkörper beengt zu sein, thront das Bild im Buch schon im 14. Jahrhundert in den meisten illuminierten Handschrif ten aus Paris als Kopfminiatur über den wichtigsten Incipits. Im Stundenbuch diente es nicht als Illustration, sondern markierte Textanfänge als Gedächtnisstütze, damit sich Leser und Leserinnen im Buch zurechtfinden konnten. Daß Miniaturen direkt aus dem Text hervorgingen, blieb noch aus einem weiteren Grund eine große Ausnahme; denn Maler waren ihrerseits auf ihre Aufgaben professionell vorbereitet; das aber hieß, daß sie für die wichtigsten Sujets, vor allem aus dem religiösen Bereich, über Musterbücher und einen Schatz von Grundmotiven verfügten, mit denen sie ein ungewohntes Thema aus Bildformeln bewältigen konnten. Im späten 14. Jahrhundert, das zeigen unsere Nrn. 1-3, genügte auch den besten Pariser Buchmalern ein schmaler Bodenstreifen als Bühne für reliefhaft nebeneinander gestell te Figuren. Einzelne Möbelstücke genügen anzudeuten, daß eine Szene im Innenraum spielt; das hinderte aber nicht daran, den Bodenstreifen auch in solchen Miniaturen mit karger Vegetation zu besetzen. Berg und Tal, Weg und Gewässer fanden nur ausnahms weise Platz. Solche Disp ositionen wirkten noch bis ins zweite Jahrzehnt nach 1400 nach, wobei dann der rote Fond als Ornament abwechselnd mit blauem Himmel erscheint. Das für uns in teressanteste Beispiel ist ein Exemplar des Livre de la Propriété des Choses von Barthomäus Anglicus im Fitzwilliam Museum zu Cambridge,133 wo jener Maler, der unsere Nr. 5 ge staltet hat, die auszumalenden Flächen in deutscher oder niederländischer Sprache mit einem aufschlußreichen begrifflichen Unterschied beschriftete: Mit „rot“ oder „root“ be zeichnet er den roten Ornamentgrund, Blau, das atmosphärisch belebt wird, aber nennt er gleich „himel“.134 Wie dieses Beispiel zeigt, profitierte Frankreich um 1400 von der unwiderstehlichen An ziehungskraft, die Paris auf Künstler aus der gesamten lateinischen Welt ausübte. Epochal war dabei die kreative Wucht, mit der oberitalienisches Formengut und Tendenzen aus dem Norden und aus dem Osten aufeinander trafen, um offenbar sofort – und darin er wiesen sich der Königshof und die Metropole als inspirierendes Forum – all das zu über treffen, was die Künstler zu Hause gelernt hatten. 2014 stellte sich bei der Vorbereitung der Jubiläumsausstellung in Konstanz135 die Frage, was denn die zum Konzil angereisten Herrschaften an Kunst im Gepäck mitgeführt haben mochten. Hätten die erforderlichen Mittel und der nötige Raum zur Verfügung gestanden, das Erhaltene aus aller Welt ange messen zu präsentieren, dann hätte Paris die anderen Orte ausgestochen. Wer beispiels weise nachfragt, was denn in Brügge erhalten ist, um auf den in Paris und Mailand pro minenten Jacques Coene hinzuführen, oder in Nimwegen im Vorfeld der Maelwael oder 133 Cambridge, Fitz william Museum, ms. 250: Ausst.-Kat. Cambridge 2016, Nr. 1. 134 Diese Erkenntnis verdanken wir den neuen Forschungen von Stella Panayotova und ihrem Team am Fitz william Museum: Ausst.-Kat. Cambridge 2016, S. 127-129. 135 Das Konstanzer Konzil. 1414-1418. Weltereignis des Mittelalters, Ausst.-Kat. Konstanz, Darmstadt 2014.
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der Brüder Limburg, stößt auf wenig Substanz.136 Ähnlich sieht es aus, wenn man ältere Spuren für Haincelin de Haguenau im elsässischen Hagenau oder am Bodensee sucht, wo es ein Hagnau gibt, aus dem auch Stephan Lochner in Köln stammte.137 Wenn man historisch nüchtern bleibt, entsprechen den hier ins Spiel kommenden Na men im erhaltenen Bestand Maler, denen man nach ihren Hauptwerken Notnamen ge geben hat: Eine stolze Reihe tritt in unserem Katalog auf: Angeführt von einem der drei Brüder Limburg, für den wir sogar in Anspruch nehmen, es sei der führende Kopf, also Paul, stoßen wir auf den Mazarine-Meister, der in Nr. 5 dem stilverwandten BoucicautMeister (Nr. 6) vorausgeht; es folgen die Meister des Guy de Laval (Nr. 7) und jener, den Meiss nach der Krönung Hannibals in einem Tite-Live der Harvard-Bibliothek benannt hat und der hier sinnvoller nach dem Londoner Alexanderroman bezeichnet wird (Nr. 9). Der Zufall, von dem die Bestände eines Antiquariats immer abhängen, sorgt dafür, daß wir für die Frühzeit eines weiteren führenden Meisters auf unseren Katalog 66 zurück verweisen müßen, in dem wir 2011 von brillanten Werken des Bedford-Meisters aus gehen konnten, um eine Untersuchung zum Pariser Stundenbuch an der Schwelle zum 15. Jahrhundert zu liefern. In nun vorgelegten Katalog 80 stoßen wir erneut auf diesen Künstler, der wie kein anderer die Pariser Buchmalerei in der ersten Jahrhunderthälfte geprägt hat; doch begegnet er uns mit Werken seiner Spätzeit und im Zusammenspiel mit Künstlern, die von der kunsthistorischen Literatur allzu schnell mit ihm in einen Topf geworfen werden. Entscheidende Kenntnis verdanken wir Eleanor Spencer, die in ihrem langen Leben ver sucht hat, die Pariser Kunst vom Bedford-Meister bis zu jenem Künstler zu begreifen, den die Literatur Maître François getauft hatte. Auch wenn sie nicht zu einer Synthe se gekommen ist, so hat sie doch die entscheidenden Weichen gestellt und die Künstler umrissen, denen die wichtigsten Werke in diesem Katalog verdankt werden.138 Im eigentlichen Zentrum unseres Katalogs stehen Werke eines Malers, dessen Eigenart Eleanor Spencer als erste erkannt hat; allgemein nennt man ihn Meister der Münchner Legenda Aurea; wir sehen in ihm Conrad von Toul. Sein Werk beginnt mit einer feurigen Farbkraft, die ganz den Neuerungen der Jahre um 1410 verdankt wird; davon zeugt unsere Nr. 10. Sein eindrucksvolles Eröffnungsbild zu Nr. 11 verbindet sich sogar durch die Farbwucht wie auch inhaltlich mit dem Goldenen Rössl; doch ist nicht Marias Freude, sondern ihr Schmerz über den Tod des Gottessohns Ziel des Gebets. In Nr. 12 triumphiert die Kunst dieses Malers; und das geschieht, wie auch in den bereits der Literatur bekannten Manuskripten, im Zusammenspiel mit dem Bedford-Meister selbst: Unser Stundenbuch stammt aus den Jahren um 1435, in denen die englische Herr schaft über Paris ihr Ende fand und der als Gouverneur von Frankreich eingesetzte Her 136 The Road to Van Eyck, Rotterdam und Nimwegen 2005. 137 König 2007, passim. 138 Siehe die Angaben in der Bibliog raphie.
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zog von Bedford starb. Die Hauptminiaturen waren dem Bedford-Meister anvertraut, der jedoch Conrad von Toul die meisten Bilder überließ. Als eindrucksvolle Gegensät ze erweisen sich die Arbeiten der beiden Maler, so daß keine Rede davon sein kann, der weniger bekannte Künstler sei einfach nur ein Nachfolger des Bedford-Meisters gewe sen. Wie im Londoner Bedford-Stundenbuch selbst, in dem die für Dezember 1431 nach getragenen Miniaturen bis auf eine von der Hand unseres Künstlers stammen, und wie im Sobieski-Stundenbuch in Windsor Castle muß Conrad von Toul zwar dem BedfordMeister, also wohl Haincelin de Haguenau, die führende Rolle lassen; er übertrifft ihn aber durch das Feuer und die Kraft seiner Farben, die körperliche Präsenz der Figuren und Geschlossenheit der Form. Damit erweist der hier vorgelegte Katalog in seinem Kern einem bisher stiefmütterlich behandelten Künstler endlich die ihm zukommende Ehre. Wir bestehen auf der Eigen ständigkeit seiner Kunst, deren Wurzeln eher in Arbeiten des Vergil-Meisters aus den 1410er Jahren als in der Malkultur des Bedford-Meisters zu suchen sind. Zugleich er laubt die erstaunliche Dichte von Werken seiner Hand, in diesem Katalog zu verfolgen, welch ein entscheidender Wandel sich in seinem Œuvre vollzieht; denn in Nr. 13 ist be reits die Aufhellung der Farben, vor allem in Landschaft und Himmel erreicht, die dann für die Jahrhundertmitte in Paris charakteristisch wird. Dem schließen sich zwei späte Arbeiten im Bedford-Stil an, Nr. 14 und 15; und wir ge stehen, daß es uns angesichts der Meinungsvielfalt in der Literatur schwerfällt, in sol chen Werken die beiden von Spencer ausgemachten „Hände“ oder Tendenzen dieses Stils genau zu trennen, die in der Literatur gemeinhin als Bedford- und Dunois-Meister geführt und gern mit Haincelin und Jean Haincelin de Haguenau identifiziert werden. Wer könnte sagen, wie lang ein Maler jener Zeit leben und arbeiten konnte? Deshalb wagen wir hier, für Nr. 15 zu behaupten, daß der Bedford-Meister selbst in einem schon beträchtlichen Lebensalter darin gewirkt hat, mit großem Respekt für seinen freien Um gang mit der Form. Statt solche epochalen Künstler wie Conrad von Toul und Haincelin de Haguenau mit einer indifferenten Gruppe von Malern zu umgeben, die man als Umkreis oder Nach folge bezeichnet, fühlen wir uns durch die daran anschließenden Nrn. 16, 17 und 18 er muntert, die aus Pariser Maltradition gespeisten Eigenarten zu benennen: Nach Tho mas Hoo, der zur englischen Besatzung gehörte, oder nach dem Pariser Juristen Jean de Popincourt benennt man den für Nr. 16 verantwortlichen Meister, der stärker dem Du nois- als dem Bedford-Stil verpflichtet ist. Da wir es hier mit dem Popincourt-Stunden buch selbst zu tun haben, wird niemand bestreiten können, daß sein Maler zu Recht als Popincourt-Meister bezeichnet werden kann. Daneben steht der Künstler von Nr. 17, den man nach einem komplizierten Bild zu den Reliquien des heiligen Stephanus im Salisbury-Brevier des Herzogs von Berry nennt; wir nennen ihn lieber nach dem Brother ton-Missale, für das er allein die Verantwortung trug. Am Anfang des Katalogs stand schon das Wechselspiel von Paris und den Niederlanden. Es entwickelt mit Nr. 18 einen ganz besonderen Reiz; denn dessen Künstler, unabhän
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gig davon, wie man ihn nennt, hat Motive und Stil aus Paris wohl nach Brügge gebracht. Da wir immer bereit sind, auch von den Kollegen in aller Welt zu lernen, schließen wir uns Pascal Schandel an, der in ihm jenen Philippe de Mazerolles sieht, den wir in Illu minationen V, 2004, noch ganz anders definiert haben. So wie dieser Künstler aus der französischen Metropole nach Norden gewirkt hat, so zeigt sich in Nr. 19 eine erstaunliche Gegenbewegung. In diesem ganz aus Pariser Brauch zu erklärenden Stundenbuch, das der zu derselben Stilgruppe wie der Popincourt-Mei ster und Mazerolles gehörende Sauderat-Meister angelegt hat, taucht plötzlich ein über wältigender Stil aus dem Norden auf. Es ist die Kunst des Coëtivy-Meisters, dessen wohl früheste Pariser Arbeit hier vorliegt. Das Werk schärft den Sinn für die Benennung des Malers: Wenn er, wie sich hier zeigt, in der französischen Hauptstadt noch als Fremder bei einem Alteingesessenen seinen Platz sucht, ist er nicht in Paris aufgewachsen; des halb verabschieden wir uns um so entschiedener von der für viele gültigen Annahme, er sei Colin d’Amiens und damit bereits Sohn eines an die Seine gekommenen Künstlers. Wie schon in Band IV der Neuen Folge Leuchtendes Mittelalter sehen wir ihn als einen der Brüder Vulcop! Bei ihm sind die Farben aufgehellt; die Natur zeigt sich in einem anderen Licht; doch kostbar tiefes Blau verblüfft in den Himmeln. Neue Lebendigkeit erfaßt die Gestalten, ihre Mimik und ihre Gestik. Noch einmal ist also eine neue Zeit angebrochen. Diesen Wandel sollte man nicht einfach nur auf den überwältigenden Einfluß der Tafelmalerei der Alten Niederländer zurückführen. Zwar sind gewisse Ähnlichkeiten mit Rogier van der Weyden unverkennbar; aber die Miniaturen in unseren Nrn. 19, 20 und 21 schließen sich nicht nur durch individuelle Eigenarten als Werk des einen bedeutenden Künstlers zusammen, sondern setzen sich ab von der Tafelmalerei in Brüssel, Brügge oder Löwen. Viel prägender ist ihre Nähe zur letzten großen Stilgruppe in unserem Katalog: Was der Graf Durrieu einst unter dem Namen von Jacques de Besançon zusammengefaßt hatte, erwies sich schon für die ältere Literatur, insbesondere im Pariser Ausstellungskatalog von 1993 als eine Generationenfolge aus drei großen Pariser Buchmalern, deren jüng ster erst im nächsten Katalog diskutiert werden kann. Denn dort wird zu diskutieren sein, wie die Buchmaler auf den Buchdruck reagierten. So setzen wir hier an mit dem von Eleanor Spencer definierten Meister des Jean Rolin, der noch unter dem greisen Bedford-Meister oder dem Dunois-Meister begonnen hatte. Von seinen Miniaturen in Nrn. 22 und 23 spannt sich ein überzeugender Bogen hin zu Maître François, den wir nun endlich namentlich fassen können: als François le Barbier den Älteren, dessen Sohn gleichen Namens wohl der Meister des Jacques de Besançon war. In Nr. 24 tritt uns François le Barbier der Ältere mit einem würdigen Werk entgegen, das vor Augen führt, wie weit die Pariser Buchmalerei, die zwar immer für fremde Einflüsse offen war, aber dann doch eigenen Traditionen treu blieb, in jenen Jahrzehnten gekom men war, in denen der Mainzer Buchdruck aufkam. Als die neue, zunächst bilderfreie Kunst an die Seine gelangte, mußte sie sich der von Pariser Buchmalern geförderten Bil derlust stellen; davon wird dann in unserem nächsten Katalog in aller Ausführlichkeit
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die Rede sein. Hier enden wir mit Handschriften, die in der Rückschau auf die Anfänge vor 1400 anschaulich machen, welche unerhörten neuen Möglichkeiten sich die Pariser Künstler eröffnet hatten, Licht und Raum, Bewegung und Aktion zu gestalten. Liebe zu Paris? Dafür genügt es, zunächst einmal zu verfolgen, welch ein Zauber von den noch stark stilisierten Anfängen vor 1400 über die Zeichnungen der Brüder Limburg zu den farbstarken Miniaturen der nach Mazarine, Boucicaut und Bedford benannten Meister führt, und dann wahrzunehmen, wie sich im Werk unseres Conrad von Toul in bester Tradition eine dem Neuen offene Kunst entwickelt, um schließlich zu den luftig klaren Bildern jener Künstler zu gelangen, die um 1450 im Umfeld des späten BedfordStils begonnen haben. Weltoffenheit schenkte der Metropole an der Seine einen unerhör ten Reichtum an Ideen; die große Disziplin und die Konkurrenz zwischen Buchmalern unterschiedlichen Alters garantierte eine künstlerische Qualität, die zum Kennzeichen wurde. Vertrautheit und Treue gehören zur Liebe; Vertrautheit gibt Buchmalereien aus Paris ihre wiedererkennbare Eigenart, die vielleicht dazu geführt hat, daß sich die Buchund Kunstgeschichte der letzten Jahrzehnte statt mit der Hauptstadt lieber mit den Re gionen Frankreichs beschäftigt hat. Gegen deren Kunst aber war man in Paris geradezu immun; das zeigt sich in unserer Nr. 12, wo plötzlich Gesichter des Jouvenel-Meisters und Bordüren des Meisters des Bartholomäus Anglicus auftreten, die man an der Seine vergeblich sucht. Doch indem dieses Manuskript so überwältigend auch von diesen bei den Malern zeugt, wird die weit über Paris hinaus wirkende Kraft der dort versammel ten Kunst nur immer deutlicher. Kein Schlußwort Wissenschaft, Antiquariat und Kunstmarkt haben vieles gemeinsam, gründen sie doch auf Altbekanntem, leben aber von den jüngsten Neuigkeiten und streiten erbittert, wer welche Wahrheit für sich gepachtet hat. Immer wieder bilden sich neue Verbünde, frü her war von Cliquen die Rede, heute spricht man in einer der seltenen Verdeutschungen aus dem Amerikanischen von Netzwerken. Innerhalb dieser Clubs arbeitet man einan der zu, auch indem man die anderen energisch negiert, wenn man nicht gar nur noch an sich selbst glaubt und von dem Wenigen zehrt, das man selbst geschrieben hat. Als Aus gangs- und Endpunkt dient die Bibliographie, bei der es um Zitieren und Zitiertwerden geht. Zur scheinbar natürlichen Begrenzung ist die Sprachkompetenz geworden, die im Zeichen der Globalisierung nur noch ein geographisch eigenwüchsig entstandenes Idi om kennt, das dessen Mutterland nicht einmal schätzt, und das, wie viele damit aufge wachsenen Autorinnen und Autoren meinen, der Mühe enthebt, noch andere Zungen zu verstehen. Der Entwicklung von Erkenntnis tut die Abkapselung individuell und in Gruppen nicht gut; geschwollen gesagt ist sie eine epistemologische Katastrophe. Ergebnisse, die den ei nen seit Jahrzehnten geläufig sind, bleiben den anderen fremd, zumal oft zwischen der eigenen produktiven Arbeit und der Publikation viele Jahre liegen, in denen sich auch ein paar Grundlagen verändert haben. So kommen wir zum Ausgangsp unkt zurück: Mit
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Art in a Time of War gibt Gregory Clark auch ein Musterbeispiel dafür, was es heißt, sich allgemeinen Entwicklungen der Kenntnis zu verschließen, weil sie nicht der einmal ein geübten Sichtweise entsprechen, die auf dem beruht, was bis 1974 kodifiziert und 1982 mit der eindrucksvollen New Yorker Ausstellung The Last Flowering schon fast abge schlossen war.139 Mit diesem Katalog zeigen wir uns selbst neuen Anregungen gegenüber offen. Er will in dieser Zeit dem gegenwärtigen Kenntnisstand gerecht werden. Wie schön wäre es, er trä fe auch bei dem einen oder der anderen, die sich gern unseren Argumenten verschließen, auf offene Ohren oder besser Augen.
139 An diesem lange Zeit prägenden Event war Gregory Clark als Mitarbeiter von John Plummer wesentlich beteiligt.
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1 Das Stundenbuch mit dem wiehernden Esel von Perrin Remiet
1 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische Handschrift auf Pergament, lateinische und französische Rubriken in hellem Rot, geschrieben in schwarzer Textura. Paris, um 1385-95: Perrin Remiet und zwei in der Stadt fremde Maler: einer aus dem Umfeld des Meisters der Maria von Geldern und ein Engländer? Zwölf Bildseiten mit großen Miniaturen in rechteckigen Feldern über vier Zeilen In cipit mit einer vierzeiligen, sonst dreizeiligen Dornblatt-Initialen: eine Miniatur, die das ganze Bildfeld nutzt, eine weitere in einem geschwungenen Vierpaß, die übrigen zehn in Vierpaßrahmen mit leuchtendem rot-weiß-blauem Rand, mit dreiseitigen Zierleisten und Dornblattranken in Gold, Blau und Rot mit Drolerien in Grisaille im Bas-de-page sowie Grotesken, Vögeln und Insekten in den Randstreifen; alle Textseiten innen und außen mit senkrechten Doppelstäben, aus denen entsprechende Dornblattranken sprießen, um Vollbordüren zu bilden. Die Mariengebete mit dreizeiligen, Psalmenanfänge und ähnliche In cipits mit zweizeiligen Dornblatt-Initialen, die oft mit der Zierleiste organisch verbunden sind; Psalmenverse mit einzeiligen Goldbuchstaben auf purpurnen und blauen Flächen mit weißem Liniendekor; Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien rot angestrichen. 169 Blatt Pergament, dazu jeweils ein festes und zwei fliegende Vorsätze aus Pergament zu Beginn und am Ende des Bandes. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon ab weichend die Endlage des Marienoffiziums 10 (6) sowie die Endlage 22 (2+1, 3. Blatt hinzu gefügt). Moderne Folierung mit Bleistift rechts unten. Oktav (168 x 120 mm; Textspiegel: 90 x 58 mm). Rot regliert zu 14 Zeilen; horizontale Reklamanten. In Sämisch-Leder gebunden, mit weißem Seidenüberzug, zwei vergoldete Schließen, signiert auf dem zweiten fliegenden Vorsatz hinten: „James Brockman 1989“. Als einziger Hinweis auf frühe Besitzer ist das schon um 1400 hinzugefügte Gebet des heili gen Thomas von Canterbury zu werten; Schrift und Dekor sind Paris fremd; offenbar geriet das Buch früh in englische Hände, wofür auch die englische Machart der Miniatur zu den Bußpsalmen spricht. Provenienz: Ein vermutlich englisches Wappen mit schwarzem, steigendem Löwen auf rotem Grund, der jedoch durch die Position im Bild zum schreitenden Löwen wird, schmückt die Po saune eines liegenden Engels im Bas-de-page auf fol. 79. Die Farbkombination kommt in kei nem prominenten Löwenwappen vor, wie sie vor allem in den südlichen Niederlanden beliebt waren. [Charles van der Elst], Vente II: Paris, 16. Sept. 1988, lot 67: 2.150.000 frs.; Privatsamm lung (USA).
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Der Text: fol. 1: Ma rien of fi zi um für den Gebrauch von Rom: Matutin (fol. 1), Laudes (fol. 21), Prim (fol. 34), Terz (fol. 39), Sext (fol. 44), Non (fol. 48v), Vesper (fol. 53), Komplet (fol. 61v); fol. 72v: Adventsoffizium. fol. 79: Bußpsalmen, mit extrem kurzer Litanei (fol. 91v): Pariser Prägung mit Dionysi us und Eustachius. fol. 95: Horen von Heilig Kreuz (fol. 95) und Horen von Heilig Geist (fol. 99). fol. 103: To ten of fi zi um, für den Gebrauch von Rom: Vesper (fol. 103), mit einem Für bittgebet am Ende in weiblicher Form: pour vne fe(m)me or(aison). Quesumus domine pro tua pietate miserere anime famule tue… (fol. 110), Matutin (fol. 111, mit Rubrik), Laudes (fol. 135v, mit Rubrik). fol. 149: Mariengebete: Obsecro te (fol. 149), redigiert für einen Mann, gefolgt vom O in temerata (fol. 152v), für einen Mann redigiert (et esto michi peccatori…, fol. 154). fol. 156v: Votivmessen: Heilig-Geist-Messe: la messe du saint esprit: Spiritus domini rep levit orbem terrarum…, Heilig-Kreuz-Messe (fol. 161v): la messe de la crois: Nos autem gloriari oportet in cruce domini…, Marienmesse (fol. 164v): la messe de nostre dame: Salve sancta parens… fol. 168 (nachgetragen): Gebete des heiligen Thomas Becket von Canterbury (docteur et martir saint thomas de chanthorbie): Gaude flore virginali que honore speciali transcendis splendiferum… (fol. 168v) und Dulcissime domine ihesu christe qui beatissimam genitricem tuam gloriosam virginem mariam… (fol. 169v). fol. 169v Textende. Schrift und Schriftdekor Mit seiner sorgfältigen Textura, den leuchtend roten Rubriken und dem vorzüglichen Schriftdekor erweist sich das Manuskript als ein ausgesucht schönes Beispiel aufwen dig gestalteter Pariser Stundenbücher aus der Umbruchzeit zwischen dem 14. und dem 15. Jahrhundert. Doch gegen den Ortsbrauch sind die Versalien nicht gelb laviert, son dern rot angestrichen. Als Kuriosum wird man bemerken, daß auf fol. 48v eine Reklam ante loria lautet, weil nicht einbezogen wird, daß dem vom Schreiber notierten Folgewort die Initiale G noch fehlte. Psalmenverse setzen am Zeilenanfang an und verlangen deshalb viele Zeilenfüller in der gleichen Familie des Flächendekors. Die drei- bis vierzeiligen Dornblatt-Initialen auf den Bildseiten stehen auf farbigen Feldern und sind nur im Buchstabenkörper mit Blattgold gefüllt, während die drei- und zweizeiligen im Text ganz auf Blattgold erscheinen. Die hinzugefügten Gebete des Thomas von Canterbury am Schluß eröffnen mit Blattgold buchstaben auf Federwerk.
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Erstaunlich reich ist der Randdekor der einfachen Textseiten; denn obwohl bei den zweizeiligen Initialen noch nachwirkt, daß Zierleisten eigentlich mit Buchstaben orga nisch verbunden sein müßten, werden die Doppelstäbe einfach als senkrechte Rahmen links und rechts eingesetzt. Aus ihnen sprießt farbiges Dornblatt, das der Entstehungs zeit entsprechend keine geschlossene Teppichwirkung erreicht; die hinzugehörigen Dra chen in Blau und Rot entspringen vorzugsweise den äußeren Zierleisten. Die Bildseiten erhalten dreiseitige Zierleisten, die um die Initialen kräftiges Dornblatt entwickeln, ehe sie zunächst durchweg in Flächendekor ausgeführt werden, von der fünf ten Miniatur aber innen und unten nur noch als Doppelstäbe, um am Schluß beim To tenof fizium noch einmal alle drei Leisten mit Flächendekor zu gestalten. Drolerien in Grisaille erscheinen unter dem Incipit, mit einer Ausnahme im Bas-de-page, das bei der Flucht nach Ägypten nicht ausgebildet ist. Grotesken, Vögel und Insekten bevölkern die Randstreifen, z. B. oft ein Storch oder Pelikan mit verdrehtem Hals. Nur die erste Miniatur nutzt das ganze Bildfeld; sonst sind Vierpässe mit rot-weiß-blauen Rahmen eingesetzt; einer von ihnen wird durch seine geschwungene Form und zierliche re Ausführung von den anderen abgesetzt. Das Grundmuster war in der Pariser Buch malerei der beiden letzten Jahrzehnte vor 1400 ungemein beliebt und zwar für Einzel bilder in Stundenbüchern ebenso wie für mit vier Miniaturen bestückte Frontispize; im 15. Jahrhundert kommt es nur noch selten vor. Von hier erschließt sich die Verbindung mit den wichtigsten Handschriften, die heute mit Perrin Remiet und Jean de Nizières verbunden werden, allen voran das Exemplar der Pélerinage des Guillaume de Degulleville, fr. 823 der Pariser Nationalbibliothek (Camille 1996, Abb. 6 und 162.). Hinzu kommt, in unserem Kontext besonders wichtig, das Stundenbuch H. Y. Thompson 45 in der British Library (ebenda, Abb. 174). Die Bildseite mit einem abweichend gestalteten, stärker filigranen Vierpaß und die erste Miniatur, die auf eine Binnengliederung der Miniatur ganz verzichtet, sind charakteri stischer Weise von anderer Hand. Die Bilder: Im Marienof fizium hat sich noch nicht die im 15. Jahrhundert dann für Paris gültige Bildfolge durchgesetzt: Kindermord und Flucht nach Ägypten bilden den Abschluß; spä ter sollte die Flucht nach Ägypten die Vesp er besetzen, so daß zur Komplet Marias Er höhung im Himmel gezeigt werden konnte. Das Eingangsbild mit der Marienverkündi gung zur Matutin ist doppelt von der übrigen Bildfolge abgesetzt: im Layout wie im Stil. Von den Laudes (fol. 21) an werden die Bilder von liegenden Vierpässen umschlossen, die im rechteckigen Bildfeld von einer Goldfläche umgeben sind, die ihrerseits mit einem Doppelstab aus Gold und Farbe gerahmt ist. Dreifarbig wie die heute für Frankreich stehende Trikolore sind die Ränder des Vierpasses angelegt und zwar im Wechsel von Rot-Weiß-Blau und Blau-Weiß-Rot; folgerichtig alternieren auch die Mustergründe der Bilder, zunächst in Altrosa und dann in Blau und so fort. Landschaft wie Interieur wird
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nur durch die Böden angedeutet: Felsgrund mit Bäumchen wird so von einem graugrü nen Estrich unterschieden, auf dem Marias Wochenbett ebenso wie hölzerne Kästen für Altäre und Throne Mobiliar repräsentieren. Zur Matutin wird die Verkündigung an Maria (fol. 1) in ein fast quadratisches Bildfeld gesetzt, das vom Doppelstab gerahmt wird. Statt eines Mustergrundes strahlt blauer Himmel hinter den Architekturen, die als Schauplatz dienen; auf einen Blick in Land schaft ist ganz verzichtet. Wie in manchen anderen frühen Versionen zu diesem Thema, verweilt der Erzengel in einer Art Antichambre vor dem Kapellenraum, in dem Maria vor einem Altar gebetet hatte und sich nun zu ihm umdreht. Das Silber der fünf rund bogigen Fenster hinter ihr hat einst genau so prächtig geglänzt wie das Gold eines Bo gens über Gabriels niedrigerem Gewölbe. Dort erscheint Gottvaters Haupt mit dichtem weißen Bart und sendet die Taube des Heiligen Geistes zur Jungfrau. Von anderer Hand gemalt sind die drei musizierenden Engel im Bas-de-page. Wohl noch von einer dritten Hand, wenn nicht sogar vom Maler des Hauptbildes ausgeführt sind die Engelsköpfe auf Vogelkörpern im äußeren Bordürenstreifen. Die Heimsuchung (fol. 21) spielt auf nach rechts leicht ansteigendem Gelände. Zu Ma ria, die „über’s Gebirg“ gekommen ist, kommt von links die betagte Elisabeth, sinkt in die Knie und legt, von der Jungfrau mit beiden Händen am rechten Arm geführt, ihre Hand auf deren gesegneten Leib. Sie wächst mit ihrem graugrünen Kleid gleichsam aus dem Boden heraus, die Farbflächen sind nicht ganz konsequent zwischen den Konturen ausgefüllt. Den Gesamteindruck bestimmt der koloristische Grundgedanke, mit dem Zinnoberrot von Elisabeths Mantel und Marias Blau sowie dem Weiß der Haube für die ältere Frau den Dreiklang der Bildrahmung noch einmal zu wiederholen. Der Gruß der beiden Basen wird auf anmutige Weise im Bas-de-page von Engeln per sifliert, die aufeinander zugeflogen sind und nun einander die Hand geben wollen. In diesem Falle ist derselbe Maler tätig geworden, der die Miniatur geschaffen hat, nur hat er sich auf Grau beschränkt und dabei eher Grisaille als reine Zeichnung schaffen wol len. Daß er auch die zwei Vögel und den Schmetterling in der Bordüre ausgeführt hat, ist nicht offensichtlich, aber möglich. Ein ähnliches Spiel mit Rot, Weiß und Blau wird im Bild der Geburt Christi (fol. 34) wiederholt: Die leuchtend rote Decke des schräg von links oben nach rechts unten ins Bild ragenden Wochenbetts bildet die größte Farbfläche. Das Weiß des Bettzeugs und des Wickelkindes setzt Marias blaues Kleid davon ab. Blau ist auch Josephs Mütze; doch mit dem Altrosa seines Kittels kommt ein weiterer Farbton ins Bild. Etwas ungefüge sind Betten in solchen Miniaturen; diesmal dient eine Art Flechtzaun als Bettkanten. Davor ragen die Köpfe von Esel und Ochs von links ins Bild; sie drängen zur hölzernen Krippe, die aber leer ist. Joseph, der in früheren Miniaturen meist noch ganz unbeteiligt neben dem Bett sitzt und schläft, macht sich hier nützlich, als müße er die Hebamme ersetzen, die ein Bad für das Neugeborene anrichtet. So beugt er sich über die hölzerne Wanne, obwohl ja der Knabe bereits schön gewickelt in der Jungfrau Arm liegt.
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Der Unterschied zwischen den Vögeln im Randschmuck und den beiden Harpyen im Bas-de-page zeigt, daß der Maler der Miniatur mit raschem und sicheren Strich die bei den einander im Bas-de-page begegnenden Wesen gestaltet hat, aber nicht in der Bor düre tätig war. Von geradezu emphatischer Schönheit ist das Bild der Hirtenverkündigung (fol. 39), das wieder mit den Hauptfarben spielt: Vor mit Goldranken gemustertem Altrosa erschei nen oben die weiß gekleideten Engel mit ihren roten Flügeln aus dreifachen blauen Wol kenkreisen, um ihre Botschaft mit weißen Schriftbändern anzudeuten, die dort jedoch nicht eingetragen ist. Zu ihnen blicken die beiden Hirten auf unterschiedliche Weise auf; von links schreitet einer mit seinem Hund heran, während der andere in komplizierter Windung auf dem Boden sitzt. Die Herde sorgt für weitere weiße Flecken im Bild. Von geübter Hand ausgeführt wurde die elegante Jagdszene von Hund und Hase im Basde-page. Dagegen tritt das Teufelchen mit den gedrehten Hörnern zurück; der Schmet terling erinnert an hier schon Gesehenes und der Schwan mit dem gewundenen Hals erweist sich als Variante eines Motivs aus dem Randschmuck zur Heimsuchung. Bei der Anbetung der Könige (fol. 44) ist die linke Bildhälfte Maria, die rechte den drei Weisen aus dem Morgenland zugewiesen. Mit einem zurückgewendeten Blick versichert sich der nackte Jesusknabe der Zustimmung seiner Mutter, um sich dann dem greisen König zuzuwenden, der vor ihm kniet, die Krone in der gesenkten Linken und sein gol denes Geschenk in der erhobenen Rechten. Derweil spricht der mittlere König, in lan gem Gewand, mit dem jüngsten, der eine modische kurze Robe trägt. Von systematischer Arbeitsverteilung kann nicht die Rede sein; denn diesmal sind die geflügelten Halbwesen – mit Hinterbeinen von Säugetieren und Menschenköpfen – im Bas-de-page von derselben resoluten Hand hingestrichen, die auch einen Vogel in die Bordüre setzte, zweifellos vom Maler der Miniatur. Vor Goldranken auf Rosa nimmt der hölzerne Altar bei der Darbringung im Tempel (fol. 48v) die Bildmitte ein. Von links ist die Muttergottes in Blau über ihrem rosafar benen Kleid mit einer in Rot gekleideten Begleiterin eingetreten, die sich als Mädchen mit offenen Haaren, aber einem goldenen Heiligenschein zeigt und die Kerze sowie ein Körbchen mit drei Tauben hält. Maria reicht Simeon den nackten Knaben, der zu ihr zurückblickt und mit beiden Händen auf den Greis zeigt; Simeon kommt barhäuptig und ohne Nimbus, die Arme bis zur Schulter mit einem weißen Tuch bedeckt, ohne Be gleiter auf sie zu. Der Tempel als Ort der Priester regt im Bas-de-page eine groteske Begegnung zweier Halbwesen an, die sich mit einer einfachen Papstkrone links und der Mitra von Bischof oder Abt rechts zeigen. Nicht so rasch hingeworfen, aber doch ganz in der Machart des Hauptmalers sind sie gestaltet, der vielleicht auch die Bordüre mit einem Vogel belebt hat.
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Auch der Kindermord (fol. 53) spielt in einem Raum, wie der Thron und der glatte Est rich zeigen: Links thront Herodes, die Beine wie bei einem Richterspruch gekreuzt, als König und befiehlt mit ausgestrecktem Arm einem Soldaten, auf ein Wickelkind, das bereits blutet, einzustechen; derweil verschwindet ein zweiter Mann in voller Rüstung nach rechts, offenbar um ähnliche Untaten zu begehen. Ein nackter Mann geht im Bas-de-page mit seinem Schwert auf einen Affen los; ein klei ner Drache breitet im Randstreifen daneben die Flügel, beides vom Miniaturenmaler. Seinen Spitznamen unter Kennern verdankt das Buch der Flucht nach Ägypten (fol. 61v), die den Kindheitszyklus zur Marien-Komplet abschließt: Während Joseph unter dem erhobenen Kopf des Esels vorausgeht, sitzt Maria auf dem Lasttier und hält den in Weiß gewickelten Jesusknaben; da hebt das Tier seinen Kopf und wiehert. Dieses Moment ist vorzüglich beobachtet; in der strikten Ausrichtung im Profil vertritt es eine nordalpine Tradition, die sich deutlich von dem abhebt, was die Brüder Limburg nur wenig später in unserer Nr. 4 sowie in den Belles Heures bei der Anbetung der Könige und dem heili gen Georg aus italienischen Anregungen gestalten sollten. Die steile Wendung nach oben wird in der Bordüre links von einem Storch nachgeahmt. In den Ranken unter dem Schriftfeld, wo kein Bas-de-page eingerichtet ist, verfolgt ein nackter Mann, der sich mit einem Schild schützt, einen Vogel mit einem Stein. Auch diesmal war der Miniaturenmaler verantwortlich. Die Bußpsalmen eröffnet hier wie in vielen Pariser Stundenbüchern noch nach der Wende zum 15. Jahrhundert eine Majestas Domini mit den vier Evangelistensymbolen (fol. 79): Der Bedeutung dieses Incipits, das in der Hierarchie vor den einfachen Marien stunden steht und nur von der Matutin übertroffen wird, soll offenbar dadurch entspro chen werden, daß ein anderer Maler eingesetzt wird und, auch wenn das Layout grund sätzlich gleich bleibt, die Vierpaßform kunstvoll abgewandelt wird: Sehr viel zierlicher sind die Rahmen in denselben drei Farben, sie bilden in den Ecken Spitzen, die zwar nur wenig mehr Bildraum schaffen, aber feiner und ausgefallener wirken. Ohne eine Angabe von Boden setzt Gottes Thron hinter dem Zierrat des Rahmens an. In den vier Ecken sind die Wesen verteilt, an denen man die Evangelisten erkennt, und zwar so, daß die zweibeinigen mit ihren Flügeln oben, die vierbeinigen aber flügellos unten erscheinen; alle vier tragen Schriftbänder mit dem Namen des jeweiligen Evangelisten. Die Gottes erscheinung oszilliert zwischen Christus und dem Vater. In Altrosa gekleidet mit ei nem innen rot, außen blau gefärbten Mantel sitzt die Gestalt mit der Sphaira und einem goldenen Zepter leicht nach links gewendet und segnet mit der Rechten, eine weltliche Krone auf dem Haupt. Der Maler dieser Hauptminiatur hat auch den kuriosen Jüngling mit zwei Posaunen ge staltet, der im Bas-de-page liegt. Ebenso war er verantwortlich für einen zum Schwert streich ausholenden Wilden, der so weit in den Rand gerückt ist, daß er als einziger vom Buchbinder beschnitten wurde. Wie diese beiden Gestalten verrät auch ein in Tuch ein
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gehüllter Drache mit Affenkopf und Mitra links und Drachenkopf rechts eine Art von Bildphantasie, die sonst in unserem Stundenbuch nicht zu finden ist. In besonderer Weise beeindruckt der Maler mit den drei im Leiden und Schmerz erfaß ten Gestalten der Kreuzigung (fol. 95) zu den Horen des Heiligen Kreuzes: Der Erlöser mit seinem wallenden blonden Haar erscheint tot, aber durch die Linien, mit denen sein Antlitz, sein Leib, vor allem auch Arme und Beine gestaltet sind, noch im Tode belebt; energisch heben sich die drei schwarzen Nägel ab, die ihn ans hellbraune Kreuz heften. Entsprechend erschüttert sind Maria, die wie frierend die Arme kreuzt, und der Lieb lingsjünger Johannes. Vom Maler der Miniatur rasch hingestrichen sind die Halbfiguren zweier weinender En gel im Bas-de-page sowie Vogel und Insekt im Randschmuck. In der Zeit vor 1400 hatte sich das Pfingstbild zur Eröffnung der Horen des Heiligen Geists noch nicht allgemein durchgesetzt; deshalb kann hier der sogenannte Gnaden stuhl (fol. 99) zur Matutin gezeigt werden: Über spitzig aufragenden Motiven eines ab strakten Grundes thront eine Gotteserscheinung, der die charakteristischen Alterszü ge des Vaters fehlen, auf einem Regenbogen, der aus denselben drei Farben gebildet ist, die dem Vierpaß als Rahmung dienen. Haar und Bart sind blond wie beim Gekreuzig ten, den dieser Gott hält; von seinem Mund gleitet die Taube zum Nimbus des Sohnes. Im Bas-de-page erheben sich zwei nackte Auferstehende aus ihren Särgen; sie deuten die Gotteserscheinung als ein Bild vom Jüngsten Tag. Der Maler der Miniatur hat sie eben so sorgsam ausgeführt wie einen Schmetterling am Rand. Vor einem Rautenmuster aus Gold und Blau mit weißen fleurs-de-lis steht eigentümlich nach rechts ansteigend der Katafalk mit dem Toten beim To ten of fi zi um (fol. 103), von vier Kerzen umgeben: Das blaue Tuch wird von einer goldenen Borte geschmückt, die hier kaum erkennbar ein Kreuz über den Verstorbenen breitet. An seinem Fußende ste hen die Pleurants in Schwarz; zum Haupt ist ein hohes Sängerpult mit dem Vortrage kreuz gestellt. Dorthin schauen die drei Priester hinter dem Katafalk und stimmen das To ten of fi zi um an. Eigentümlich wirkt die Persiflage der Priester im Bas-de-page: Der Maler der Minia tur, der rechts oben im Rand auch einen hockenden Hund gezeichnet hat, zeigt dort zwei muskulöse Nackte, von denen einer zwei Glocken schwingt, während der andere ein Vortragekreuz hält. Eher nicht von derselben Hand sind der Storch und das Halb wesen darunter. Lokalisierung, Datierung und Zuschreibung: Geprägt ist die Handschrift von jenem Buchmaler, der die zehn Bildseiten mit blau-weißrot umrandeten Vierpässen gestaltet hat, wie sie in der Pariser Buchmalerei in den Jahr zehnten vor 1400 vor allem bei Perrin Remiet und Jean de Nizières beliebt waren. An den zehn Miniaturen selbst war zwar kein Mitarbeiter beteiligt; denn die sind ganz und
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gar einheitlich. Die Gestalten im Bas-de-page und die Insekten, Vögel und Grotesken in den Bordüren sind jedoch teilweise so verschieden, daß ein Nebeneinander mehrerer Hände nicht zu verkennen ist. Eine strikte Trennung zwischen dem historieur, der die Bilder gemalt hat und den für Initialen und Randschmuck verantwortlichen enlumine urs hat es nicht gegeben; denn manche Figur in Bas-de-page und Bordüren stammt vom Maler der Miniaturen. Diese Hand hat auch die Engel im Bas-de-page der Verkündigung gemalt; doch diesen Künstler als Hauptmaler der Handschrift zu bezeichnen, ist nicht ganz unproblema tisch; denn die Miniatur zur Marien-Matutin (fol. 1) stammt ebensowenig von seiner Hand wie das von der Texthierarchie zweitwichtigste Incipit, die Bußpsalmen (fol. 79). Zudem sind beide Bildseiten wiederum so unterschiedlich gestaltet, daß man nicht recht weiß, ob sie nicht ihrerseits von zwei verschiedenen Malern ausgeführt wurden. Sie ent ziehen sich der sonst herrschenden Werkstattdisziplin: Beim Anfang des Marien-Of fizi ums wirkt es, als habe der sonst verantwortliche Maler nur das Hauptbild einem Frem den überlassen, nachdem er wohl schon die Vogelkörper in der Bordüre angelegt hatte, deren Menschenköpfe dann der Maler des Verkündigung hinzufüg te. Miniatur und Randschmuck der Majestas domini zu den Bußpsalmen hingegen wirken ebenso weit entfernt von dem sonst hier üblichen Stil, aber in sich einheitlich. Die Arbeitsverteilung mag nicht von den Malern, sondern von einem libraire, also einem für das Projekt verantwortlichen Buchhändler verfügt worden sein, der auch Schreiber gewesen sein mag. Der hätte sich, was den Löwenanteil der Arbeit betraf, auf einen soli den ortsansässigen Maler verlassen, für die beiden Hauptbilder aber Ortsfremde, Durch reisende für eine Art Gastauftritt engagiert. Für die in Paris ansässigen Beteiligten kommen drei Namen ins Spiel: Der libraire Ren aut oder Regnault du Montet (Rouse und Rouse 2000, I, S. 287-297, und II , 123-125, mit einem wohl etwas zu spät angesetzten Geburtsjahr um 1375) und der Buchmaler Perrin Remiet (Rouse und Rouse 2000, II , S. 115), sowie als weiterer Buchmaler Jean de Nizières, der in einem Exemplar der französischen Fassung des Bartholomaeus Anglicus mit „Jehan de Nizieres, enlumineur“ seinen Namen hinterlassen hat (Paris, Bibliothèque Sainte-Geneviève, ms. 1028: Rouse und Rouse 2000, II , S. 79). Pierre oder Perrin Rem iet hingegen wird in zwei Manuskripten namentlich erwähnt und zwar paradoxer Wei se an Stellen, die keine Miniaturen von ihm zeigen: In einem Exemplar der Histoire an cienne jusqu’à César, die man auch als Orosius bezeichnet, der British Library (Royal 20 D I, fol. 8v), das in Neapel um 1330-40 entstand (Avril 1969, S. 308-310; zuletzt Ausst. Kat. London 2011, Nr. 135), ist von Regnault du Montet und Perrin Remiet gemeinsam die Rede, wenn es in einer Randbemerkung heißt, Magister Regnault dürfte die zwei te Lage noch bei sich haben, weil sie Remiet zum Illuminieren einer Kopie geliehen sei („Ci faut le secont cayer que maistre Renaut doit avoir, qui fu baillié à Perrin Remiet pour fai re l’enlumineure de l’autre cayer“). 1393 mag Regnault du Montet selbst in ein Exemplar einer Pélerinage des Guillaume de Digulleville (fr. 832 der Pariser BnF, mit Datierung fol. 168v) auf fol. 18v eingetragen haben, Remiet solle den Raum für ein Bild leer lassen,
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weil er dort etwas selber einmalen werde (‚Remiet, ne faites rien cy, car je y feray une figure qui y doit estre‘), was dann nicht geschehen ist. Deshalb müßte Remiet den Rest der entsprechenden Lage in fr. 832 ausgemalt haben. In dem Michael Camille 1996 den Maler aber Master of Death nannte, setzte er zugleich ei nen prägnanten Beinamen in die Welt, der eine Trennung von Œuvre und Namen in der nachfolgenden Diskussion zumindest erleichterte. Auf eigenhändige Arbeiten von Perrin Remiet zu schließen, wird nämlich problematisch, wenn man der zweiten Erwähnung folgt: Sie muß sich auf eine Pariser Kopie des Orosius aus Remiets Lebzeiten beziehen; dieses Exemplar erkennt man in français 301 der BnF. Dort aber stammt die Ausmalung der entsprechenden Lage nicht vom Master of Death, sondern von einem Künstler, der nach diesem Manuskript als Orosius-Meister bezeichnet wird. Zudem fehlt in Français 301 die Hand des Master of Death; daneben nimmt dort der mit Jean de Nizières iden tifizierte Stil breiten Raum ein. Ein weiteres Problem kommt hinzu, auf das Rouse und Rouse 2000, II , S. 216, mit aller Schärfe hingewiesen haben: Dokumente mit dem Namen Perrin Remiet überspannen einen Zeitraum, der über die Lebenserwartung eines einzelnen Buchmalers hinausgeht: Schon 1368 wurde ein Illuminator dieses Namens in Paris von der Wacht auf den Mau ern befreit, erhielt also ein Privileg, das erste künstlerische Leistungen voraussetzt. Daß derselbe Mann zwischen 1422 und 1428 in Paris an der Nordseite der Rue des Ecrivains ein Haus direkt neben jenem bewohnte, das der bis 1418 dokumentierte und vor 1425 verstorbene Regnault du Montet besessen hatte, scheint mehr als zweifelhaft. Deshalb wird man der Kritik an Camille soweit zustimmen müßen, als es sich bei Pierre oder Perrin Remiet in Paris um zwei verschiedene Maler, vielleicht Vater und Sohn gleichen Namens, gehandelt haben dürfte. In den Jahren kurz vor 1400 aber kommen beide für eine Mitarbeit mit dem 1396, spätestens 1399 zum erstenmal erwähnten Regnault du Montet in Frage. Camilles Identifizierung seines Master of Death mit Perrin Remiet wird man nicht über Bord werfen; denn der Namensträger, der 1368 zum erstenmal erwähnt wird, kommt für die meisten Miniaturen unseres Stundenbuchs noch aus einem anderen Grund in Frage: Er hat bereits für den 1380 verstorbenen Karl V. gearbeitet (so in den Grandes Chroniques, fr. 2813 der BnF, fol. 149-230v) und dürfte auch in Quellen von 1396 ge meint sein, die Aufträge für Louis d’Orléans betreffen. Dieser 1407 ermordete Herzog besaß mehrere stilgleich illuminierte Manuskripte, darunter die vom libraire Thevenin de l’Angevin verantworteten zwei Bände der Cité de Dieu, fr. 170-171 der BnF (Camille 1996, S. 68-70) sowie die Éthiques des Aristoteles, Ms. 277 in Chantilly und dessen Pol itiques und Économiques, fr. 9106 der BnF, alle aus der Zeit um 1396. Am sinnvollsten ist es deshalb, gegen die Bedenken von Rouse und Rouse 2000 in großen Zügen Micha el Camilles Konzeption von 1996 zu folgen und Remiet als den Namen anzuerkennen, der sich hinter dem Master of Death verbirgt. In der Pélerinage fr. 823 von 1393 hat Rem iet demnach die erste und die dritte Abteilung illuminiert, während Jean de Nizières die zweite Abteilung verantwortete.
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Die meisten mit dem Stil des Master of Death und dem Namen Perrin Remiet verbun denen Manuskripte sind weltlicher Natur (Liste bei Camille 2000, S. 249-254). Ein mit 38 Miniaturen reich ausgestattetes Stundenbuch, das später dem burgundischen Kanzler Nicolas Rolin gehört hat (H. Y. Thompson Ms. 45 der British Library, London) kommt unserer Handschrift schon deshalb besonders nahe, weil auch dort die meisten Minia turen mit Vierpässen gestaltet sind (Camille 2000, Abb. 128 und 174, nicht jedoch 182). Noch viel wichtiger aber ist die Tatsache, daß die meisten Miniaturen denselben Bild vorlagen folgen und auch stilistisch engstens übereinstimmen, obwohl in dem Londoner Manuskript Gewänder in Grisaille gehalten sind. Die engen Bezüge zur Pariser Produk tion vor 1400 lassen keinen Zweifel an der Lokalisierung in die französische Hauptstadt und der Datierung um 1385-95. Von besonderem Interesse ist dann aber die Frage, wer die stilfremden Bilder auf fol. 1 und 79v verantwortete. Für die Verkündigung mit ihrer frühen Öffnung zum Raum mit Darstellung des Himmels um das Kulissenhäuschen könnte man an die nur wenig spä ter entstandenen Bilder im Stundenbuch der Marie d’Harcourt d’Aumale denken, die 1405 den Herzog Reinhald IV. von Geldern und Jülich geheiratet hatte und auch als Maria von Geldern bekannt ist. Vor allem mit dem reichen Passionszyklus stimmen Farbge bung und Pinselführung soweit überein, daß an ein und denselben Maler zu denken wäre. Freilich ist das heute in Berlin aufbewahrte Stundenbuch (Staatsbibliothek, Ms. germ. qu. 42: Ausst.-Kat. Berlin 1987, Nr. 45), von dem einigen Lagen in Wien liegen (ÖNB , cod. 1908: Ausst.-Kat. Konstanz 2014, Nr. 68), erst 1415 von Bruder Helmich die Lewe aus dem Kloster Marienborn bei Arnheim geschrieben worden. Wenn es sich nicht nur um dieselbe Stiltendenz, sondern sogar um dieselbe Hand handelt, vertritt unser Stun denbuch eine frühere Phase dieses Künstlers und beweist dessen Aufenthalt in Paris. Ganz von der Hand zu weisen ist eine solche Konjektur nicht: Immerhin besteht ein en ger Bezug auf doppelter Ebene: Perrin Remiet, der dem fremden Maler das Hauptbild dieses Stundenbuchs überlassen hat, schuf einige seiner wichtigsten Arbeiten für Louis d’Orléans. Dieser Herzog war seinerseits entscheidend an der dynastischen Verbindung zum Herzogtum Geldern beteiligt, hat er doch die Ehe zwischen Marie d’Harcourt und Reinhald IV. gestiftet. Angesichts der Miniatur zu den Bußpsalmen wird man jedoch in eine ganz andere Rich tung schauen müßen; denn nicht auf dem Kontinent, wohl aber in England hat man ähn lich gemalt: Stilistisch bewegen sich die Zeichnung wie die Malerei zwischen Buchma lerei der Bohun-Gruppe aus dem späten 14. Jahrhundert und der Kunst, die man mit Herman Scheere verbindet. So ist an einen Psalter in Holkham Hall, Ms. 26, zu denken (Sandler 1986, Nr. 143, mit Abb. 382), während die Stilisierung der Scheere-Gruppe, z. B. im berühmten Marco Polo, Oxford, Bodley 264 (Scott 1996, Nr. 13, Abb. 63 und 65) noch nicht erreicht ist.
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Mit diesem eventuell ohne Kalender (wobei auch Yates Thompson 45 keinen be sitzt!), aber sonst vollständig und vorzüglich erhaltenen Stundenbuch für den Ge brauch von Rom, dessen kurz gefaßte Litanei Pariser Prägung verrät und das wegen zweier hinzugefügter Gebete wohl früh in englische Hände gelangt sein mag, ist ei nes der wenigen charakteristischen Pariser Stundenbücher der Zeit um 1385-90 aufgetaucht, die von dem sonst eher mit der Bebilderung großer Texthandschrif ten betrauten Perrin Remiet illuminiert wurden. So steht dieser Kodex neben dem Stundenbuch der Sammlung Henry Yates Thompson, das später dem burgundischen Kanzler Rolin gehört hat (Yates Thompson Ms. 45 in der British Library). Bei der Zuteilung der Aufgaben konnte sich der verantwortliche libraire auf die be währte Werkstatt von Perrin Remiet verlassen. Sie liefert ein klares Konzept für ein überzeugendes Layout mit Bildern in Vierpässen, die alles Wesentliche in einer knappen und klaren Bildsprache ausdrücken. Zeichnerisch hervorragend gestaltet, arbeiten die Miniaturen mit wenigen leuchtenden Farben. Architektur ist noch kein Thema für diese Malerei, wohl aber Landschaft. Mustergründe textiler Art treten neben kostbaren Karogründen und frühen Beispielen von Goldranken auf. Fortschrittlicher wirkt demgegenüber das mit einem Kulissenhaus vor Himmels grund gezeigte Verkündigungsbild, das stilistisch auf die wohl in Geldern gemalten Miniaturen im Stundenbuch der Marie d’Harcourt oder Maria von Geldern hin führt und möglicherweise von einem darin noch 1415 faßbaren Maler bei einem Pa risaufenthalt gemalt wurde, den man in den Suffragienbildern des Berliner Manu skripts antrifft. Die Einbeziehung eines englischen Malers für das zweitwichtigste Bild, die Maiestas Domini zu den Bußpsalmen unterstreicht, wie lebendig Paris als Drehscheibe zwischen Frankreich, den Gebieten niederländischer Sprache und Eng land wirkte; ob die Miniatur dann wirklich in Frankreich geschaff en wurde oder im Zusammenhang mit dem wohl etwas späteren englischen Wappen steht, das den äl testen Besitzerhinweis bietet, müßte noch geklärt werden. Die Tatsache, daß ein von Jan van Eyck und Rogier van der Weyden mit sehr viel fortschrittlicherer Kunst verwöhnter Auftraggeber wie der burgundische Kanzler Nicolas Rolin ein nach denselben Prinzipien gestaltetes Manuskript als sein per sönliches Stundenbuch behielt und daß ein moderner Sammler wie Henry Yates Thompson, der alles beiseiteschob, was ihm nicht in seine Sammlung der hundert schönsten Bilderhandschriften paßte, dieses wichtigste Vergleichsstück hochschätz te, beweist den Rang auch unseres Stundenbuchs weit über die Fragen hinaus, ob der Maler denn nun Remiet hieß oder als einer der großen Visionäre seiner Zeit namen los zu bleiben hat. LIT ER AT UR: Das Manuskript ist der wissenschaftlichen Literatur unbekannt. Zu Perrin Remiet siehe Avril 1969, Camille 1996 sowie Rouse und Rouse 2000.
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2 Jean de Vignays Epistolar und Evangelistar mit Miniaturen von Jean de Nizières
2 • Épîtres et évangiles, in der Übersetzung des Jean de Vignay, also Lektionar und Epistolar für das Kirchenjahr. Französische Handschrift auf Pergament, mit Rubriken in Rot, in brauner Bastarda. Paris, 1390er Jahre: Jean de Nizières Neunzehn Bilder, das erste ganzseitig und koloriert, die übrigen meist halbseitig als teil kolorierte Grisaille, dazu eine große Wappenmalerei aus späterer Zeit. Zweizeilige Initia len auf Federwerk, seltener einzeilige Paragraphenzeichen abwechselnd rot auf Schwarz und blau auf Rot. Versalien gelb laviert 200 Blatt Pergament des ursprünglichen Buchblocks, lückenlos und vollständig foliiert vom er sten Rubrikator i-cc; dazu ein leeres Pergamentblatt mit nachgetragenem Wappen, fol. 201, an den Falz geklebt sowie als fliegende Vorsätze je zwei Blatt neueres Pergament. Gebunden in Lagen zu acht Blatt. Mit regelmäßigen Reklamanten. Quart (220 x 165 mm; Textspiegel: 185 x 120 mm). Zu 29 Zeilen, meist ohne sichtbare Reglierung. Vollständig und sehr schön erhalten. Die Kolorierung der ersten Miniatur erfolgte vielleicht erst im 16. Jahrhundert, als Wappen auf fol.1 und fol. 201 nachgetragen wurden. Historisierender Einband in dunkelbraunem Maroquin, von Brugalla 1974 signiert, mit Hin weisen auf Françoise d’Alençon und in goldener Textura „Cette traduction a été exécutée pour Jeanne de Bourgogne“. Zwei gotisierende Schließen und Beschläge aus Silber. Goldschnitt. In geprägter und geletterter Maroquin-Chemise über Holzdeckeln, in farblich passendem Maro quin-Steckschuber. Provenienz: Die Übersetzung entstand 1336 für den französischen Hof, in dessen Umfeld auch dieses Exemplar geschaff en wurde. Die nachweisbare Provenienz dieses Exemplars beginnt je doch fast hundert Jahre nach seiner Entstehung: Hinweise auf die Besitzerreihe des Manu skripts, dessen königliche Herkunft nicht ausgeschlossen werden kann, beginnen mit dem Ex libris von Jean Budé, königlichem Ratsherrn (1430-1503), Vater des Humanisten Guillaume Budé, auf fol. 199v. Durch irriges Auskratzen eines „c“ liest es sich heute als 1386; doch findet sich in fr. 964 der Nationalbibliothek ein entsprechendes Exlibris von 1486 (Henri Omont, Notice sur les collections de Jean et Guillaume Budé, in: Bulletin de la Société de l’Histoire de Paris XII, 1885, S. 100-113, und XIII, 1896, S. 112). Nach 1500 gelangte der Band an Françoise d’Alençon, die 1513 den Herzog von Vendôme, Charles de Bourbon, heiratete und 1537 starb: Ihr rautenförmiges Wappen aus Alençon und Bourbon-Vendôme hängt an einem Ast in der Eingangsminiatur, dort über ein nicht mehr les bares älteres Wappen gemalt. Françoise d’Alençon und Charles de Bourbon waren über ihren Sohn Antoine de Vendôme Großeltern von König Heinrich IV. Um 1830 im Besitz des Joseph Barrois; 1848 von dort mit über 700 weiteren, teils gestohle nen Handschriften an Lord Ashburnham; lot 192 in der Auktion Ashburnham-Barrois, Sot heby’s 1901; für 175 Pfund verkauft; danach bei Charles Fairfax Murray; von ihm an Charles
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Dyson Perrins, dessen Exlibris erhalten ist; dann Erwin Rosenthal („A Gentleman resident in Switzerland“); von ihm zu Sotheby’s 4. Juni 1934, lot 42 (200 Pfund); aus einem Pari ser Antiquariat an Robert Danon, in dessen Versteigerung lot 4, das am 21. März 1973 für 92.000 frs. verkauft wurde. Für eine spanische Privatsammlung (Dom B. March) entstand der Prunkeinband Brugallas. Leuchtendes Mittelalter III, 2000, Nr. 3. Text Jean de Vignays Übersetzung von Lesungen vorwiegend aus Episteln und Evangelien, aber auch aus dem Alten Testament sowie der Apokalypse, wie sie im Pariser Missale üblich waren, für Jeanne de Bourgogne, Gemahlin König Philipps VI . von Valois (siehe Samuel Berger, La Bible française au Moyen Age, Paris 1884, S. 221-229, und C. Knowles, Jean de Vignay, un traducteur du XIVe siècle, in: Romania 75, 1954, S. 353-383, bes. 362 ff.). fol. 1: Temporale: Cy commencent les epistres et les evangiles de tout lan selon le messel a l’usa ige de paris. Translatees de latin en françois. Et premierement du premier dimenche de l’advent n(ost)re s(eigneur). Textanfang auf fol. 1v –Cy finent toutes les epistres et les euuangiles de tout le temps selon l’usage de paris (fol. 155v). fol. 155v: Sanctorale rein Pariser Prägung mit kurzen Lesungen, oft nur Incipits, unter anderem zu Eligius, Gencian und Fuscian, Julian von Le Mans, Balthildis, Auf fi ndung des Dionysius, Auf fi ndung des Kreuzes, Translation des Nikolaus, Germanus von Pa ris, Gervasius und Prothasius, Translation des Thomas von Canterbury, Translation des Marcellus, Transfiguration, Germanus von Auxerre, Auf fi ndung des Stephanus, Leo von St. Cloud, Ludwig IX , Avia, Dionysius mit Vigil, Maglorius, Marcellus, Genovefa. Da bei ist das frühe Auftreten der Transfiguration auffällig. fol. 177v: Commune Sanctorum: Apostel (fol. 177v), Märtyrer (fol. 183), Bekenner (fol. 187v), Weibliche Heilige (fol. 191v), Pfingsten, Trinitatis, Fronleichnam und Heilig Kreuz (fol. 195), Requiem (fol. 197). fol. 199/199v: Cy finent les epistres et euuangiles translatées de latin en françois/ selon le mes sel a l’usaige de paris. fol. 200 (noch als leeres Blatt mit cc foliiert): um 1500 nachgetragen: darunter Ordo ad sponsam benedice(n)dam cu(m) venerunt an(te) valuas eccl(es)ie, also Elemente eines Rituale. fol. 200v: Textende.
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Schrift und Schriftdekor In flüssiger Bastarda ohne sichtbare Reglierung ist das Manuskript geschrieben; der Schriftdekor beschränkt sich auf Federwerk. Rubriken geben die jeweilige Bibelstelle an, die lateinischen Incipits erhalten dabei die zweizeiligen Initialen; sie sind zuweilen durch einzeilige Paragraphenzeichen vom französischen Text abgesetzt; dabei alternie ren Rot auf Schwarz und Blau auf Rot. Erst später hat man die lateinischen Incipits mit dunkelroter Tinte unterstrichen, die sich von den helleren Rubriken absetzt; vielleicht kamen im gleichen Zuge knappe Angaben der betreffenden Bibelstellen am Rand hinzu. Die Bilder im Jahreslauf Das Format der Bildfelder schwankt, zuweilen stehen nur Restfelder unter dem Text zur Verfügung. Im Textverlauf schaltet der Schreiber ohne eine erkennbar strenge Vor gabe nach Belieben. Von Hierarchie wird man nur bei der Eingangsminiatur sprechen, die in eigenartiger Spannung zum Pariser Prinzip steht, nur Kopfbilder über Incipits zuzulassen: Mit jeweils einer Leerzeile, die ihrerseits dem gewohnten Horror vacui wi derspricht, sind die zwei Rubriken vom Bildfeld und untereinander getrennt. Von den übrigen Miniaturen unterscheidet sich das große Bild durch die Rahmenleiste in Blatt gold, die eigentlich als Doppelstab angelegt ist, zum Bild hin aber nicht wie üblich einen Farbstreifen erhielt. Hier finden sich auch die einzigen Elemente eines Blattgold-Dekors aus Paaren von Dornblättern an einfachen schwarzen Tintenlinien. In schlichten roten Rahmen, also im Minium, von dem der Begriff der Miniatur stammt, sind die übrigen Szenen gefaßt. Die breit angelegten Bilder stellen zwar weitgehend The men dar, die auch in Stundenbüchern vorkommen, jedoch ohne allzu enge Bezüge zu dieser Buchgattung. Die Figuren bewegen sich auf grünem, meist mit Grasbüscheln als Wiese charakterisiertem Grund, auch wenn sie sich in Innenräumen bewegen müßten. Als Fond dient einfacher Pergamentgrund. Die Figuren sind als Portraits d’encre angelegt; Nimben, Gürtel und Gefäße sind in Gelb gegeben. Einzelne Elemente wie der Stall von Bethlehem in der Weihnacht, Marias Bett bei Epiphanias, Sitzmöbel, das Kamelfell des Täufers und das Wasser des Jordans sind koloriert; mit Schwarz gefüllt sind der Pilgerhut des Jakobus und die Gewänder beim Bild zum Requiem. fol. 1: Zum 1. Advent las man aus dem Römerbrief und vom Einzug in Jerusalem nach Matthäus. So stellt das große, wohl erst nachträglich kolorierte Bild vielleicht im Rück griff auf sienesische Beispiele aus der Nachfolge von Duccios Maestà (um 1305) den Einzug nach Jerusalem mit Jesus auf der Eselin, die von ihrem Füllen begleitet wird, der Apostelschar und zwei jungen Männern dar, deren einer eine rote Tunika ausbrei tet, während der andere in einen Baum mit roten Blüten (oder gar Früchten) über Jesu Haupt gestiegen ist. Das Stadttor nimmt mehr als die Hälfte der Miniatur ein und läßt
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bereits an Kompositionen der Brüder Limburg wie die wohl 1408 den New Yorker Bel les Heures hinzugefügte Miniatur mit einer Reisegesellschaft denken. fol. 9v: Zur Mitternachtsmesse von Weihnachten die Geburt Christi, stark älterer Tra dition verpflichtet: In einem bildparallel gestellten Stall, der letztlich aus der Tradition von Giottos berühmtem Paduaner Fresko aus der Zeit um 1305 stammen könnte, sitzt Maria links aufgerichtet im Bett, berührt sacht die Stirn des Wickelkindes. Rechts hin gegen ist Joseph, Sinnbild von Alter und Winter, in seinem runden Lehnstuhl eingeschla fen, während zwei Hirten zwischen beiden zum Stall gehen. fol. 12v: Zum Neujahrst ag (1. Januar) ist irrig das eigentlich erst zu Lichtmeß (2. Febru ar) passende Bild der Darbringung im Tempel geschaltet: Von der durch Nimbus ausge zeichneten Magd mit Kerze und Taubenkörbchen begleitet, reicht Maria ihr Kind dem von rechts herangetreten Simeon, der ebenfalls einen Heiligenschein trägt. Bildparallel ist der Altar mit einem bildlosen Retabel in die Mitte gestellt. fol.13v: Zum Matthäus-Evangelium, das an Epiphanias (6. Januar) gelesen wird, die An betung der Könige: Auf einer Wiese steht das rote Himmelbett der Jungfrau. Maria sitzt aufrecht mit dem nackten Knaben, der den Deckel des Gefäßes aufgeklappt hat, das ihm der barhäuptige ältere König darreicht, während die beiden jüngeren noch mit ihren Kro nen auf dem Haupt miteinander sprechen. fol. 16: Zu Oktav von Epiphanias wird der Bericht des Matthäus von der Taufe Chri sti gelesen, die deshalb dargestellt wird: Ohne eine göttliche Erscheinung reckt sich der Täufer, stehend, im Kamelfell gehüllt, um Christus aus einer Schale zu taufen; der nackt in einem Wasserrund steht, während ein Engel, größer als die anderen, seinen ungenäh ten Rock hält. fol. 65v: Da das Bildthema zu Palmsonntag bereits auf fol. 1 erschienen ist, eröffnet der Text aus Matthäus mit der Salbung Christi: Mit drei Aposteln sitzt er an einem Tisch; hinter ihn tritt, nimbiert wie die anderen, Magdalena und träufelt das Salböl auf sein Haupt. fol. 77: Zu Gründonnerst ag folgt das Letzte Abendmahl in ähnlicher Komposition: Nun müßen alle zwölf Apostel Platz finden; deshalb ist der Tisch viel größer, je ein Apostel sitzt am Tischende, ein weiterer vorn, neben Judas, der als einziger nicht nimbiert ist. Der Verräter kniet und greift zum Tisch, als nehme er das Brot entgegen, doch seiner Geste antwortet Jesus nicht; eher wirkt es, als kündige er gerade den Verrat an. fol. 82v: Zum Bericht des Johannes wird am Karfreitag die Kreuzigung gezeigt, auf den Gekreuzigten zwischen der Muttergottes und dem Lieblingsjünger beschränkt, mit be sonderer Betonung der großen Nägel, aus denen ebenso wie aus der Seitenwunde kräf tig Blut strömt. fol.88v: Zum Oster-Evangelium des Markus wird statt der Auferstehung das ältere Mo tiv der Frauen am Grabe gezeigt: In ihren Nimben farblich unterschieden nahen die drei Frauen von links, als erste die Muttergottes. Auf dem in befremdlicher Perspektive auf
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ragenden Grabesdeckel sitzt ein Engel, mit rotem Antlitz und roten Händen, als sei er ein Seraph; er breitet die Flügel und hält ein Zepter; mit der Rechten weist er auf das leere Grab. fol.101: Zur Himmelfahrt Christi haben sich zwölf Apostel, also die verbliebenen elf mit Matthias, versammelt, ohne Maria. Vom Auferstandenen ist nur noch der Rocksaum mit den Füßen zu sehen, die keine Leidenspuren mehr zeigen. In einer Art Vorgriff auf das Pfingstwunder erfassen von ihm ausgehend rote Strahlen die Apostel. fol.105: Zum Pfingstfest wird die Aussendung des Heiligen Geistes gezeigt, erneut ohne die Muttergottes: Den Nimben zufolge sitzen vierzehn Apostel auf einer Wiese; über ihnen erscheint ungewöhnlich groß die Taube in einer nur gezeichneten Gloriole, von der erneut rote Strahlen ausgehen. fol.110v: Zu Trinitatis wird der Anfang des Johannesevangeliums gelesen. Als Bild er scheint der Gnadenstuhl: Die große Gestalt Gottvaters sitzt auf einem kastenförmigen Thron; er hält den Sohn als kleines Kruzifix; von seinem Munde geht die Taube des Hei ligen Geistes aus. fol.155v: Ein großes Bild mit Christus zwischen Andreas und dem Täufer eröffnet das sehr kurz gefaßte Sanctorale. fol. 177v: Zum Commune der Apostel eine Apostelversammlung um Paulus und Petrus, neben denen nur Jakobus an Hut und Pilgerstab noch erkennbar ist; nur elf Gestalten sind zu zählen; sie wirken, als strömten sie gerade von links und rechts herbei, so daß an zunehmen ist, daß die fehlenden noch kommen. fol. 183: Zur Lesung aus dem alttestamentlichen Buch der Weisheit zu „plusieurs martirs“ treten nur Fünf Diakone auf, mit den Protomärtyrern Stephanus (mit dem Stein) und Lorenz (mit dem Rost ) im Zentrum. Ein dritter trägt ein glühend rotes Herz. fol. 187v: Die Bekenner werden von zwei namenlosen Bischöfen sowie den Ordensgrün dern Franziskus mit den Wundmalen der Stigmatisation und Benedikt als Abt mit Krümme vertreten. fol. 191v: Die Weiblichen Heiligen werden ebenfalls von vier Gestalten repräsentiert; ein deutig bestimmbar ist nur Katharina mit Krone, Rad und Schwert; links neben ihr steht eine namenlose Märtyrerin mit Palmzweig und Buch, rechts wohl Margarete mit einem kleinen Kreuz und eventuell Genovefa, um deren brennende Kerze allerdings kein Streit zwischen Engel und Teufel gezeigt wird. fol. 195: Für Pfingsten, Trinitatis, Fronleichnam und Heilig Kreuz genügt ein Bild der Apostelkommunion: Die Komposition ist stark asymmetrisch: Auf einer Wiese, die nach links schräg abfällt, knien sechs nicht weiter benannte Jünger an einer Kommunions bank. Von rechts ist Jesus als Liturg von einem bildparallel stehenden Altar vorgetreten; mit dem Kelch in der Linken reicht er Hostien.
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fol. 197: Die Eigenart der Pariser Buchmalerei gegen 1400, auch Szenen, die im Innen raum spielen, auf eine Wiese zu setzen, verunklärt den Totendienst mit Katafalk zum Requiem durch Vermischung von verschiedenen Elementen des Totenkults: Wie in ei ner Kirche steht der Katafalk, mit zwei Kerzen und einem Kruzifix nun auf einer Wie se. Von links sind vier Priester hinzugetreten; sie singen, angeführt von jenem, der ein Buch aufgeschlagen hält und zugleich mit dem Weihwasserwedel den Katafalk einseg net; hinten steht noch das Weihwasserbecken. Von rechts hingegen sind mindestens acht Pleurants gekommen und verharren gesenkten Haupts. fol. 201v: Ganzseitig das Allianzwappen der Françoise d’Alençon aus Bourbon (France moderne mit rotem Schrägstrich) und Alençon (France moderne in einer Bordüre aus Rot und Silber). Zum Stil: Die Miniaturen sind der Kunst unter Karl V. (gestorben 1380) verpflichtet, entstanden aber in den ersten Jahrzehnten der unglücklichen Herrschaft Karls VI . Sie verstehen sich als Federzeichnungen im Sinne der Portraits d’encre, die nur zur Verdeutlichung einzel ner Elemente, die für das Verständnis der Bilder wichtig waren, schlichte Kolorierung bemühte. Dieser Kunst geht es darum, mit sicherem Strich zu entschiedener Charakte risierung zu kommen und dabei auf Raumangaben weitgehend zu verzichten. Bezüge zu Perrin Remiet, der unsere Nr. 1 illuminiert hat, sind ebenso unverkennbar wie zu den Arbeiten, die man vom Bild der Krönung Karls VI . in den Grandes Chroniques, fr. 2813 der Pariser Nationalbibliothek, aus bestimmt (Avril 1978, Nr. 35, S. 108 f.). Der Ausarbeitung der Zeichnungen in unserer Handschrift fehlt die Fülle, die man bei dem von Michael Camille als Master of Death bezeichneten Perrin Remiet findet. Tatsächlich führt die Suche nach dem verantwortlichen Künstler zu demselben Exem plar von Guillaume Digullevilles Pélerinage zurück, von dem aus man trotz besonnener Einwände von Rouse und Rouse 2000 Remiet bestimmen sollte: In fr. 823 der Natio nalbibliothek dürfte der zweite Text von derselben Hand gestaltet sein wie unsere Mi niaturen, während Remiet den ersten und dritten Text illuminierte. Damit kommt man zu Jean de Nizières, der in engem Bezug zu Remiet stand und des sen Signatur in einem Livre des propriétés des choses (Paris, Bibliothèque Sainte Gene viève, Ms. 1028, fol. 12) zu finden ist. Das auf fol. 14 folgende Frontispiz (Martin 1924, S. 99 und Abb. XCIX auf Taf. 74) erlaubt diese Zuschreibung. In diesem Lektionar aus Bibelstellen im Pariser Missale, die 1336 von Jean de Vig nay für die französische Königin Jeanne de Bourgogne übersetzt wurden, liegt ein selten zu findender Text für Laien vor, die beim Gottesdienst die entscheidenden Lesungen mitverfolgen und zugleich die im Kirchenjahr reflektierte Heilsgeschich te bildlich vor Augen haben wollten. Einer frommen Schlichtheit und Strenge ent
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sprechen Schrift und Ausstattung; auf Gold ist mit Ausnahme der Eingangsseite ganz verzichtet. Verantwortlich war Jean de Nizières, der in enger Zusammenarbeit mit Perrin Rem iet wirkte und stilistisch nicht immer klar von diesem zu scheiden ist. Beide gehören noch nicht zu jenen Buchmalern, die im wesentlichen Stundenbücher illuminiert ha ben. Ihre Kunst ist noch ganz den großformatigen Büchern verpflichtet, die keinen Unterschied zwischen profanen und geistlichen Inhalten machten. Statt üppiger Pracht herrscht hier eine kluge, auf Zeichnung gründende Darstel lungsweise, die ganz im Sinne des französischen 14. Jahrhunderts, das eine große Epoche der Grisaille war, fast ohne Buntfarben auskommt und noch kein Interesse zeigt, das Ambiente aus Interieur und Landschaft auszuschildern. Dafür gewinnt die szenische Vergegenwärtigung der Bildthemen eine bemerkenswerte Präzision, die das Interesse an einem solchen auf den ersten Blick altertümlichen Manuskript auch über die revolutionäre Umwälzung der Buchmalerei im 15. Jahrhundert hinweg lebendig hielt. Davon zeugen hier das Interesse von Jean Budé, 1486, und Françoise d’Alençon, die sich dieses Lektionar im frühen 16. Jahrhundert zu eigen machte, ebenso wie die Aufmerksamkeit späterer Besitzer – Earl of Ashburnham, Ch. Fair fax Murray, Ch. W. Dyson Perrins, R. Danon – bis hin zu einem notorischen spani schen Sammler, der um 1974 einen hist orisierenden Einband schaff en ließ, wie man ihn über ein Jahrhundert früher erwartet hätte. LIT ER AT UR: Henri Omont, Notice sur les collections de manuscrits de Jean et Guillaume Budé, in: Bull. de la Soc. de l’Histoire de Paris XII, 1885, S. 100-113, sowie XIII , 1886, S. 112 f. Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III, 2000, Nr. 3.
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3 Das Stundenbuch des Pierre Poictevin aus Selles-sur-Cher gegen 1390
3 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rom mit einem Pariser Kalender. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, in brauner Textura mit leuchtend roten Rubriken, im Kalender Blau, Weinrot und Gold. Paris (oder Bourges), gegen 1390: Jacquemart de Hesdin, Pseudo-Jacquemart und weitere Buchmaler 35 Bildseiten mit rechteckigen Miniaturen über vier Zeilen Text, mit dreiseitiger Zierlei ste, meist aus Doppelstäben gebildet mit ausgreifenden Ranken, deren Zweige und Dorn blatt farbig gefüllt sind; die Initialen auf den Bildseiten in der Regel dreizeilig in Dorn blattdekor; die Hauptminiatur, fol. 21, mit vierzeiliger Dornblatt-Initiale und dichterer, durch Akelei und Vögel belebter Bordüre. Alle Textseiten, auch bei geringer Zeilenzahl mit einer Zierleiste links, aus der oben, unten und in der Mitte Dornblattranken ent springen, darein integriert Drachen in Rot und Blau. Psalmenanfänge und ähnliche Texte mit zweizeiligen Dornblatt-Initialen, wo möglich mit der Zierleiste verbunden. Psalmenverse am Zeilenbeginn mit einzeiligen Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen; Zeilenfüller derselben Art. Versalien gelb laviert. 229 Blatt Pergament; dazu je zwei Blatt Papier als fliegendes Vorsatz vorn und hinten. Ge bunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, die jeweils am Lagenbeginn unten links nummer iert sind. Abweichend die Kalenderlage 1 (12), sowie die Lagen 6 (8-1, das vorletzte Blatt viel leicht nach Schreiberfehler entfernt), die Endlage des Marien-Offiziums 13 (6), Lage 15 (8-1, das vorletzte Blatt vielleicht nach Schreiberfehler entfernt), die um ein Blatt am Ende ergänzte Endlage des Toten-Offiziums 22 (8+1), die Endlage der Messen 25 (6) und die Endlage der VII Requestes 27 (2) sowie schließlich das Textende 30 (4). Keine Reklamanten. Zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen; die rote Reglierung unterdrückt. Sedez (145 x 100 mm, Textspiegel 70 x 42 mm). Komplett und vorzüglich erhalten; bei der Bindung die sehr breiten Ränder unwesentlich ge trimmt. Intakter Prachteinband der Zeit um 1580: Olivbraunes Kalbleder, goldgeprägt, mit glattem Rücken, Rücken und Deckel mit in 15 Zeilen angeordneten ligierten Lettern DC geschmückt; Rücken wie Deckel mit je drei Linien umrandet; auf den Deckeln die Ecken mit Rankenwerk verziert. Goldschnitt. Provenienz: In der Mitte des vorderen Deckels ovales Medaillon mit Kreuzigung: Über ei ner großen Dornenkrone, in der ein Herz mit drei Nägeln steckt, wird das Jesus-Monogramm IHS , das zu jener Zeit vor allem die Jesuiten propagierten, aus drei stehenden Figuren und ei nem daneben geschriebenen S gebildet. Der waagerechte Strich des H ergibt sich aus den Kei len, aus denen das weit über den Sternen zu Sonne und Mond erhobene Kreuz mit Christus aufwächst; dessen Erscheinung wird durch gekräuselte Wolken von den Beifiguren getrennt, dabei ist gegen die Tradition der dreifigurigen Kreuzigung noch Magdalena zu Maria links hinzugekommen.
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Ein ebenso ungewöhnliches Medaillon schmückt den hinteren Deckel: Über dem Schriftzug ave gratia / plena öffnet sich die Kammer der Jungfrau, in deren Mitte eine Lilienvase steht. Von links durch die offene Tür, durch die man auf ein Gebäude im Hintergrund blickt, ist der Engel in stoffreichem antikischen Peplos eingetreten, hebt die Rechte und weist mit sei nem Stab auf eine Himmelserscheinung, die mit dichtem Strahlenbündel auf die unter einem Baldachin sitzende Maria trifft. Die Jungfrau nimmt nur den Engel wahr, zu dem sie sich von ihrem Betpult aus umwendet. Im Scheitel des Bildfeldes erscheint Gottvater als Halbfigur mit Tiara und sendet aus einem Kranz von Engelsköpfen die Taube und hinter ihr, fast als Bild mitte, zeigt sich das IHS in prächtigem Kranz. Damit wird die Societas Jesu als spirituelles Umfeld der prächtigen Neubindung manifest. Das Monogramm DC läßt sich vielleicht deuten, wenn man einen von Guigard I, S. 119, abgebil deten Einband mit berücksichtigt: Dort wird DC zweimal übereinandergesetzt; das weist auf die Schwester Heinrichs IV., Catherine de Bourbon (1559-1604), die 1599 Henri de Pont-àMousson heiratete, der später Herzog der Lorraine wurde. Weder ein Stundenbuch noch erst recht der jesuitische Bezug würde zwar zu dieser Fürstin passen, die sich nach der Bartholo mäus-Nacht kurzzeitig und nur in Lebensgefahr zum Katholizismus bekannte, aber doch zeit lebens, auch nach ihrer späten Eheschließung, eine entschiedene Protestantin blieb. Das Buch könnte dennoch als ein Geschenk gedacht gewesen sein, in der Hoffnung, diese Fürstin für die katholische, jesuitische Seite zu gewinnen. Eine weitere Kombination von DC , jedoch mit ver schränkten Lettern, findet sich auf einem 1592 datierten Einband eines Stundenbuchs, das kürzlich aufgetaucht ist (Vente Paris 13.05.2014, lot 33). In vier verschiedenen Weisen gibt sich etwa zwei Generationen später ein Pierre Poictevin, Chirurg in Celles im Berry, heute Selles-sur-Cher, mit den Jahreszahlen 1635 und 1636 als Besitzer aus: auf dem letzten Vorsatz vorn: Ces heures appartiennent / A Pierre (ligiert) poictevin m(aître ?) chirurgien / A Celles en Berry / 1636. In anderer Tinte und mit Pa raphen (oder reinen Schnörkeln) pierre.poictevin mit nicht aufgelöstem Kürzel; dieser Eintrag wird genauso am Textende auf fol. 229 wiederholt; in weiteren Zeilen dann pierre. (gefolgt von einem Kürzel) und in der Folgezeile poictevin, darunter 1635 in großformiger Textura. In Selles-sur-Cher residierte zu Pierre Poictevins Lebzeiten jener Philippe de Béthune (15651649), der als Baron, später Graf von Selles, zu den auffälligsten Bibliophilen in der Zeit Hein richs IV. und Ludwigs XIII. gehörte. Als Sammler bemühte sich Philippe de Béthune, durch Aufbrechen und Neubinden von Manuskripten wie der Heures de Marie de Rieux (Edin burg, New York, Paris und Tours) oder eines 1428 in Bourges geschriebenen Exemplars des Livre des Sécrets d’histoire naturelle (Paris, BnF, fr. 1377-1379) vorzutäuschen, er verfüge über eine Bibliothek aus vielen Bänden, die er zum Teil mit fiktiven Exlibris großer Souverä ne des Mittelalters und der Renaissance versehen ließ. Die Aufmerksamkeit des Grafen für Bücher mag das Interesse des Chirurgen Pierre Poictevin an dem kostbar gebundenen Stun denbuch bestärkt haben. Quaritch’s Catalogue of Bookbindings, 1889, Nr. 165 (der Katalog-Eintrag auf ein Vorsatz geklebt). Sir Charles Clore.
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Der Text und die Bebilderung Letztes Vorsatz mit Besitzeintrag von 1636. fol. 1: Kalender in stark dialektal geprägter französischer Sprache, jeder Tag besetzt: Goldene Zahl in Blau, Sonntagsbuchstaben A in Gold auf blauen und roten Flächen; Sonntagsbuchstaben b-g in bräunlicher Tinte; römische Tageszählung mit weinroten Zahlen zu blauen Bezeichnungen Nos/Idus in einer ersten Spalte sowie mit Kürzeln N, Id und kl abwechselnd zinnoberrot, weinrot und blau in einer zweiten Spalte; die An gaben zu den Tagen ohne Hervorhebung des Anfangsbuchstabens abwechselnd in den beiden Rots und in Blau; Feste in Gold. Die Heiligenauswahl weist auf Paris mit Gen ovefa (3.1.), Marcellus (12.4.), Ludwig (25.8.), Remigius (1.10.), Dionysius (9.10.); dazu das Fest des in Bourges verehrten Heiligen Wilhelm (10.1.); ungewöhnlich der heilige Bonitus von Clermont in Gold am 15.1, die Hervorhebung des Thomas von Canterbury in Gold (29.12.) sowie der nur in Rot gegebene Perpetuus von Tours am 30.12, für den der 8. April und der 1. Januar ebenso in Frage kämen. fol. 13: Perikopen mit ungewöhnlicher Bebilderung: Johannes auf Patmos (fol. 13), Ma rienverkündigung zu Lukas (fol. 15), Drei Könige vor Herodes zu Matthäus (fol. 17), Christus erscheint den Jüngern zu Markus (nach einer Zeile Rubrik fol. 19). fol. 20v: leer. fol. 21: Marien-Of fizium für den Gebrauch von Rom: Matutin mit Marienverkündi gung (fol. 21, mit drei Psalmengruppen für die Wochentage); Laudes mit Heimsuchung (fol. 41); Prim mit Weihnachtsbild (fol. 54v), Terz mit Hirtenverkündigung (fol. 60); Sext mit Anbetung der Könige (fol. 65v); Non mit Darbringung im Tempel (fol. 70v); Vesp er mit Kindermord (fol. 75v); Komplet mit Flucht nach Ägypten (fol. 84v), Advents-Of fizi um (fol. 90), statt Rubriken rote Unterstreichungen. fol. 104: ursprünglich bis 105v leer; in kleinformiger Bastarda aus dem entwickelten 15. Jahrhundert als Psalmen des heiligen Hilarius bezeichneter Text, der Psalmen-In cipits für besondere Gemütslagen, gegen Versuchungen usw. bündelt. fol. 106: Bußpsalmen mit Jüngstem Gericht, danach Litanei (fol. 118v); deren Heiligen auswahl sehr bescheiden. fol. 128-128v leer. fol. 129: Toten-Of fizium: Vesp er mit Chorgesang am Katafalk (fol. 129), Matutin (ru briziert fol. 137v), Laudes (nicht markiert fol. 163v); fol. 177v leer. fol. 178: Horen: von Heilig Kreuz mit Kreuzigung (fol. 178) und von Heilig Geist mit Trinitätsbild (fol. 182). fol. 186: Messen: zur Marienmesse die Madonna stehend: Salve sancta parens, (fol. 186), Weihnachtsmesse mit Weihnachtsbild: Puer natus est (fol. 190v), Ostermesse mit Aufer stehung aus dem Grabe: Resurrexit (fol. 193v), Pfingstmesse mit Apostelversammlung um Maria: Spiritus domini replevit orbem (fol. 196v).
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fol. 200: Gebete in französischer Sprache: die XV Joyes mit Milch spendender Madonna thronend: Douce Dame (fol. 200); die VII Requestes mit Gottvater, in der Art des Gna denstuhls ein Kruzifix weisend: Quiconques veuit (fol. 206). Dame sainte Marie, mere de dieu mit Jesusknaben, der Maria beim Garnwickeln hilft (fol. 210); O très entière esp érance mit Madonna stehend (fol. 214, nach Textende von ei ner Zeile). fol. 218: Suffragien; durch Rubriken auf den Verso-Seiten in dieser Reihenfolge und Aus wahl gesichert; mit nur zwei Märtyrern und ohne Bekenner: Michael mit Drachenkampf (fol. 218), Petrus mit Schlüsseln (fol. 219), Paulus mit Schwert und Buch (fol. 220), Johan nes der Täufer in der Einöde, auf das Lamm weisend (fol. 221), Johannes der Evangelist mit Kelch (fol. 222), Jakobus der Ältere mit Stab und Pilgertasche (fol. 223), Christoph orus mit dem Christusknaben im Fluß (fol. 224, nach Textende von einer Zeile), Georg im Drachenkampf (fol. 225), Katharina mit Rad und Schwert, den Herrscher überwin dend (fol. 226), Margarete aus dem Rücken des Drachen aufsteigend (fol. 227), Magda lena mit Salbgefäß (fol. 228). fol. 229: Textende mit vier Zeilen und einer Bordüre mit Drachen; darunter Besitzein trag des Pierre Poictevin in Kursive und in Textura, mit Jahreszahl 1635. Schrift und Schriftdekor Das Buch ist in einer sorgfältigen Textura mit roten Rubriken sowie im Kalender ab wechselnd in Blau, Weinrot und Zinnoberrot geschrieben, mit in Gold hervorgehobenen Festen. Psalmenverse setzen am Zeilenbeginn an; ihre einzeiligen Initialen erscheinen wie die Zeilenfüller in Blattgold auf roten und blauen Flächen. Die höher bewerteten Incipits erhalten Dornblatt-Initialen, die, wo immer von der Buchstabenform her mög lich, mit einer Zierleiste links verbunden werden. Dessen ungeachtet erhalten alle Text seiten auch ohne ein solches Incipit entsprechenden Randschmuck mit einem Doppel stab links, der eigentlich allein den größeren Initialen zugeordnet sein müßte. Selbst Seiten mit sehr wenig Text werden geschmückt, wenn auch mit Zierleisten, die sich auf die Texthöhe beschränken; sie können aber dekorativ gewichtig wirken, wenn beispiels weise zu nur drei Zeilen auf fol. 127v nicht nur eine kurze Bordüre, sondern darin auch noch ein Drache gezeigt wird. Wie das besonders eng verwandte Stundenbuch Ms. 159 der Biblioteca Palatina in Parma aus der Zeit um 1390 wirkt diese Handschrift wie eine charakteristische Arbeit aus Paris; beide Stundenbücher mögen aber wegen der beteilig ten Buchmaler ebensogut in Bourges entstanden sein, wo vermutlich auch Berrys Petites Heures fertiggestellt wurden. Die Bildfolge Nach der gewohnten Darstellung von Johannes auf Patmos zum Beginn des JohannesEvangeliums (fol. 13) werden die Perikopen auf ungewohnte Weise bebildert: Die An fangssätze der anderen drei Perikopen sorgten dafür, daß drei Situationen so geschildert
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werden, als habe der Maler nur die vier Zeilen der Incipits wahrgenommen: Die Marien verkündigung (fol. 15) verbildlicht Lk 1.26 (Missus est angelus gabriel: Der Engel Gabriel wurde gesendet). Die Drei Könige vor Herodes (fol. 17) beziehen sich auf Mt 2.1 (Cum natus esset ihesus in bethleem in diebus he(ro)dis ecce magi ab oriente/ venerunt hierosolymam: Als Jesus geboren war, in den Tagen des Herodes, kamen die Magier aus dem Orient). Christi Erscheinung bei den Jüngern (fol. 19) nimmt Mk 16,14 auf (Recumbentibus und ecim discipulis appa/ruit: Als die elf Jünger ruhten, erschien ihnen der Auferstandene). Johannes wird noch ein zweites Mal, dann nicht als Evangelist, sondern als Wunder wir kender Heiliger auf fol. 222 wiederkehren; die Marienverkündigung, die hier wie in der Hauptminiatur der Petites Heures des Herzogs von Berry mit stehenden Figuren gezeigt ist, wird auf fol. 21 sehr viel eleganter mit kniendem Gabriel geschildert; der Besuch bei Herodes bereitet die Anbetung des Kindes durch die Weisen aus dem Morgenland vor, die zur Marien-Sext auf fol. 65v folgt. Im Marienof fizium beschränken sich die acht Bilder (das Adventsof fizium bleibt wie so oft bildlos) ganz auf die Kindheitsgeschichte Jesu. Der vom frühen 15. Jahrhundert an in Paris und weiten Teilen Frankreichs gültige Zyklus war offenbar noch nicht festgelegt. Deshalb wird, wie später in den südlichen Niederlanden, der Kindermord der Vesp er (fol. 75v) und die Flucht nach Ägypten der Komplet (fol. 84v) zugeordnet. Ein leuchtend roter Grund mit einem engmaschigen textilen Muster spannt sich hinter dem wichtigsten Bild, der Verkündigung zur Matutin (fol. 21), die derselben Bildvorla ge wie auf fol. 22 im Stundenbuch Pal. 159 der Biblioteca Palatina in Parma folgt; ihre Ränder sind wie in unserer Nr. 1 und auf vielen Bildseiten von Jean de Berrys Petites Heu res mit Vögeln belebt. Ein Rankenmuster, das eine Art Damastwirkung anstrebt, hin terfängt die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 41). Der Stall von Bethlehem ist als Bild begriff bei der Geburtsszene zur Prim (fol. 54v) und der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 65v) unverzichtbar. Beim Weihnachtsbild ist der Ziehvater eingeschlafen, während der nackte Jesusknabe auf dem Bauch der Jungfrau sitzt, von ihr zärtlich gehalten. Das unterscheidet die Miniatur von der Version zur Weihnachtsmesse (fol. 190v). Der bis auf einen Haarkranz kahlköpfige Alte mit dem langen weißen Bart, der mittlere König mit einer kurzen Locke, die unter der Krone absteht, und der bartlose Blonde, der sein Haupt sacht dreht, führen Haupttypen von Herrschern aus der Zeit König Wenzels vor Augen. Karomuster auf Blattgold bildet von der Prim an den Fond; das gilt auch für die Ansätze von Landschaft bei der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 60). Architektur ist auf Versatzstücke wie den Altar bei der Darbringung im Tempel zur Non (fol. 70v) be schränkt, bei der Maria von ihrer Magd begleitet wird. Im Nebeneinander isolierter Elemente verweist der Kindermord zur Vesp er (fol. 75v) darauf, wie stark die Bildwelt dieses Stundenbuchs in recht alten Quellen wurzelt; He rodes folgt der bekannten Tradition mittelalterlicher Richter. In der zweiten Bildhälfte steht ein Soldat mit seinen Eisenschuhen auf den Oberschenkeln einer Mutter, die ih ren nackten Knaben an sich reißen will, während er das Kind mit dem Eisenhandschuh am Hals hält, um es mit einem erhobenen Dolch zu töten. Bemerkenswert komponiert
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ist die Flucht nach Ägypten zur Komplet (fol. 84v): Joseph blickt zu Maria zurück, die mit dem Kind auf einem fülligen Esel sitzt, im Damensitz, die Beine dem Betrachter der Miniatur entzogen, also ähnlich wie auf dem Polyptychon des Antwerpener Museums Mayer van den Bergh aus der Zeit um 1400 und durchaus auf die berühmte Miniatur der Limburgs in den Belles Heures der New Yorker Cloisters vorausweisend. Ehe sich der Brauch durchsetzte, die Bußpsalmen mit einem Bild von Davids Buße zu eröffnen, stellte man lieber Gott als Adressaten dieser Psalmen dar: Hier ist das Jüngste Gericht (fol. 106) gemeint; denn mit Posaunen wenden sich zwei Engel zur Erde, um die Toten aufzuerwecken, die – eine Frau links und ein Mann rechts – nackt aus dem Gras boden auftauchen und unter dem Regenbogen beten. Christus weist mit erhobenen Ar men die Wunden seiner Hände und bildet damit zugleich die Kreuzform, die der Ver heißung gemäß einst am Himmel erscheinen soll. Auf das Nötigste beschränkt ist der Totendienst in der Kirche zum Totenof fizium (fol. 129): Vor nur undeutlich gemustertem dunkelblauen Grund nimmt der Katafalk etwa zwei Drittel der Bildbreite ein; drei goldene Leuchter schweben gleichsam davor und lassen ahnen, daß man den nächtlichen Brauch der Rezitation des Toten-Of fiziums in der Kirche im Sinne hatte. Links stehen, eng gedrängt, drei bartlose Chorsänger. Die Kreuzigung Christi zur Matutin des Heiligen Kreuzes (fol. 178) verinnerlicht die stille Trauer der Muttergottes und des Lieblingsjüngers unter dem Kreuz; das Karomu ster des Fonds ist beruhigt. Der Erlöser wirkt kleiner als die Beifiguren; Christi Kreuz bestimmt mit dem Querbalken die Dimensionen der Komposition. Zur Matutin des Heiligen Geistes (fol. 182) wie später noch einmal zur Pfingstmes se (fol. 196v) wäre ein Bild der Ausgießung des Heiligen Geists zu erwarten. Statt des sen besinnt man sich darauf, daß der Heilige Geistnach der Fleischwerdung des Sohns durch die Geburt die Dreieinigkeit vollendet, indem er bei der Taufe Christi in Gestalt einer Taube erscheint. Als ein Trinitätsbild erscheinen auf felsigem Grund zwei jugend liche Gestalten einander zugewandt und halten gemeinsam die Weltkugel. Der Vater wird mit dem Segnenden rechts gemeint sein, weil der Gottessohn ja zur Rechten des Vaters, also für den Betrachter links zu denken ist. Über ihnen kommt die Taube steil aus dem Himmel herab, vor dunkelblauem, Ton in Ton mit Dornblattranken gemuster tem Grund. Die Gruppe ist deutlich aus der Symmetrieachse nach rechts verschoben, als solle Christus, der für den Betrachter links erscheint, mehr Gewicht gegeben werden. Vor dem gleichen Mustergrund wie die Trinität zur Geist-Matutin, nur diesmal in Rot, steht die Madonna mit dem Kind zu Marienmesse (fol. 186). Wieder ist die Gestalt aus der Bildmitte gerückt, diesmal nach links. Zur Weihnachtsmesse wird dieselbe Bildvorlage der Geburt Christi (fol. 190v) variiert, die schon zur Prim diente. Nun hat die Jungfrau das Kind in eine weiße Windel gehüllt und an ihre Brust gelegt. Sie wendet sie sich nach links, nicht dem Betrachter zu, son dern weg von Joseph, der nun aufgewacht ist und zwei Hirten aufhält, die hinter dem Flechtzaun vor dem Mustergrund aus goldenen, roten und blauen Karos auftauchen.
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Mit seiner strichelnden Malweise besonders sensibel ausgeführt ist das Bild der Aufer stehung aus dem Grabe zur Ostermesse (fol. 193v); damit wird hier ein Stil erreicht, der bereits entschieden ins 15. Jahrhundert weist. Vor das diagonal nach rechts aufsteigende Karomuster ist nur der bläulich modellierte Sarkophag gestellt. Auf dessen Stufe sitzen vorn zwei Soldaten, der eine schläft, der andere schaut ungläubig hoch zur Erscheinung des Auferstandenen, der doppelt so groß wie die Wächter ist; links hinten taucht noch ein dritter auf. Auch zur Pfingstmesse wird kein Bild des eigentlichen Pfingstwunders geboten: In den rechteckigen Bildraum zwängt der Buchmaler nur Maria mit den Aposteln (fol. 196v); von der Taube und den goldenen Flämmchen zeigt er nichts. Mit den zwei Reihen von jeweils sechs Aposteln, die sich um Maria als Ecclesia versammeln, deutet er das Ereig nis vielleicht theologisch bewußt als Begründung der Kirche. Die Bilder zu den Gebeten in französischer Sprache eröffnet die Milch spendende Ma donna (fol. 200) zu den XV Freuden Mariä: Als wahrhafte Mutter erweist sich die Jung frau Maria, indem sie zeigt, daß sie dem Jesusknaben die Brust gibt. Durch die Art, wie sich die Wangen des steinernen Throns öffnen, gehört die Miniatur zu einer Gruppe von Bildern, die um 1386 in der berühmten Serie der Propheten und Apostel von An dré Beauneveu im Psalter des Herzogs von Berry, fr. 13091 der Pariser Nationalbibliothek, ihren frühen Höhepunkt fanden. Die VII Klagen des Herrn, die hier mit der zum Text erhobenen Rubrik Quiconques veult estre bien conseillé beginnen, richten sich eigentlich an Christus und nicht an Gottvater; doch eröffnet der Text mit einem vor allen in Burgund verbreiteten Bild der Trinität (fol. 206), bei dem der Vater ein kleines Kruzifix hält. Doch anders als in burgundischen Varianten entspringt die Taube nicht Gottes Mund, sondern stößt aus der Höhe her ab. Wieder wird die Vorstellung der im Einzelnen nicht unterscheidbaren Personen der Dreieinigkeit so ernst genommen, daß Gottvater in Christi Gestalt als ein Mann besten Alters mit bräunlichem Haar erscheint. Wieder richtet sich diese Miniatur auf – nicht dargestellte – Beter oder Beterinnen, die von links herankommen. Von besonderer Anmut sind Bilder der Madonna als Jungfer im Grün; gerade in den Jahrzehnten um 1400, als auch die nordalpine Malerei zaghaft die Darstellung von Na tur und Umwelt wagte, entstanden rührende Schilderungen der Muttergottes mit dem Jesusknaben im Garten. Zu diesen gehört die im Text als Dame sainte Marie, mère de dieu, angesprochene Madonna (fol. 210): Maria sitzt neben einem Bäumchen auf einer Wiese, hoch aufgerichtet; sie nimmt die Mitte ein und wendet sich nach links, wo der in einen roten Rock gekleidete Jesusknabe mit nackten Füßchen steht. In einer überaus seltenen Bildidee hilft er seiner Mutter, rotes Garn zu wickeln. In gleicher Weise vollendet ist die Stehende Madonna, die den Jesusknaben herzt, zum Gebet O très entière esp érance (fol. 214). Mit seinem rechten Ärmchen ergreift das Kind den Saum des Mantels, der das Haupt der Muttergottes umspielt; ein Kuß wird ange
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deutet. Die Gesichtszüge der beiden wirken plastisch; kräftige Locken geben dem blon den Haar Fülle. Die Bildfolge zu den Suffragien setzt mit dem Erzengel Michael (fol. 218) vor dem tief blauen Grund. Er trägt einen rosafarbenen Mantel über Fliederfarben, steht mit seinen in blauem Panzer steckenden Beinen auf dem Teufel, der als Drache verstanden ist. Ei gentlich müßte die Folge mit Johannes dem Täufer fortgesetzt werden; denn dieser Hei lige, der noch vor Christi Kreuzigung als der große Vorläufer und letzte Vertreter des Alten Bundes sein Martyrium erlitt, war kein Apostel. Doch wird er hier in einer Fol ge von fünf Bildern in deren Mitte plaziert, um nach den beiden Apostelfürsten Petrus und Paulus, mit Johannes dem Evangelisten ein zweites Paar zu bilden. Auf einem Bo denstreifen, der nur beim Täufer in der Einöde durch Hügel mit Bäumchen ergänzt ist, stehen die einzelnen Gestalten jeweils vor rotem Mustergrund, der mit nur dünn aufge tragenem Schwarz mit dornblattähnlichen Ranken belebt ist. Der rote Grundton sorgt dafür, daß alle, auch der Täufer, einen leuchtend blauen Mantel tragen. Nur Petrus wen det sich nach links unten. Die Apostel sind an ihren Attributen wie auch einer gewissen Porträt-Ikonographie zu erkennen: Petrus mit Schlüsseln (fol. 219), Paulus mit Schwert und Buch (fol. 220), Johannes der Täufer mit dem Lamm (fol. 221), Johannes der Evan gelist mit dem Kelch (fol. 222) und Jakobus mit dem Pilgerstab (fol. 223). Nach der streng einheitlichen Erscheinung der Apostel boten die Darstellungen der bei den Ritterheiligen und Märtyrer Christophorus und Georg dem Buchmaler mehr ge stalterischen Anreiz; dem Beter aber entziehen sich die beiden Heiligen, weil sie im Bild beschäftigt sind: Christophorus schreitet mit dem Christusknaben durch einen Fluß (fol. 224). Vom Wind gezaust, der den blauen Mantel weit nach rechts weht, stützt er sich auf einen Stab; dabei wird er von dem in leuchtendes Rot gekleideten Knaben ge radezu bedrängt; denn der stützt sich, nach rechts gewendet, mit seiner Linken auf die Haare des Riesen, um mit der Rechten zu segnen. Nachdem das „Landschaftsbild“ mit Christophorus noch vor den mattroten Mustergrund gestellt war, was auch zur Folge hatte, daß der Heilige wie die Apostel in Blau gekleidet ist, zu dem Violett für das Un tergewand und Zinnoberrot für Christi Rock kommen, tritt Georg (fol. 225) in Rüstung vor ungemustertem Dunkelblau auf, wie man es in manchen Bildern von Berrys Brüsseler Stundenbuchs und bei der Taufe im Pariser Band seiner Très Belles Heures de Notre-Dame findet. Die Landschaft ist ähnlich bewegt wie das Flußtal mit Christophorus. Zu Fuß, im taillierten Panzer des späten 14. Jahrhunderts, über dem er das weiße Wams mit dem roten Kreuz trägt, steht Georg auf dem Drachen, greift nach dessen Schopf und führt das Schwert gegen das nach links gedrehte Maul des Untiers, das in seiner Bewegung dem Bild ornamentalen Reiz gibt. In veränderter Rahmung erscheinen die drei weiblichen Heiligen am Schluß des Buches: Katharina (fol. 226) wendet sich mit gesenktem Blick nach links; sie steht auf dem heid nischen Herrscher, der sie auf das Rad spannen und schließlich enthaupten ließ. Mora lisch aber hat sie ihn besiegt, wie sie sich nun in eindrucksvoller Wirkung auf das noch unzerstörte Rad stützt und das Schwert nur locker am Griff hält. Margarete (fol. 227)
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ist der Legende nach im tiefsten Verließ von Beelzebub, der ihr dort in Gestalt eines Dra chen auflauerte, verschlungen worden. Doch so schnell, daß noch ein Zipfel ihres Mantels dem Ungeheuer aus dem Maul hing, konnte die Heilige mit ihrem kleinen Kruzifix des sen Rücken sprengen. Aus dem Drachen, der ihr Attribut wurde, aufsteigend und zum Kruzifix in ihrer Hand betend erscheint sie vor Akanthusmuster, ohne Hinweis auf den Kerker. Als Vertraute Jesu und damit als eine Gestalt aus dem Evangelium steht Maria Magdalena (fol. 228) in der Hierarchie eigentlich vor Katharina und Margarete; in un seren Suffragien besetzt die Heilige der Reuerinnen aber das Ende der Suffragien. Vor dem im wesentlichen von Blau und Gold geprägten Karomuster steht die Heilige mit dem Salbgefäß, als einzige Gestalt in diesem Stundenbuch in Gelb gekleidet, über das ein rosafarbener Mantel gelegt ist. Zeichnung blieb sichtbar, weil der Farbauftrag beim Mantel unvollendet blieb. Fertigungsgrad und Händescheidung, Zuschreibung, Datierung und Lokalisierung Alle Miniaturen sind gut lesbar, in den Hintergründen immer, meist auch in den Ge wändern vollendet; das gilt ebenfalls für die Rahmung, die meist als letztes ausgeführt wurde. Jedoch fehlt manchen Gesichtern und Händen, seltener auch den Draperien die letzte Ausmalung. Daraus ergeben sich wunderbare Einblicke in die Art, wie gezeichnet wurde, beispielsweise bei den Köpfen von Maria und dem Kind der Flucht nach Ägypten. Die Zuschreibung wird jedoch erschwert, zumal in einzelnen Fällen ein gewisser Zeit raum zwischen der Anlage der Bilder und der Fertigstellung der Gesichter nicht auszu schließen ist. Das gilt besonders für die erste Miniatur, Johannes auf Patmos, deren stark ins 15. Jahrhundert weisender Charakter darauf zurückgehen mag, daß sie vielleicht in zwei Etappen ausgeführt wurde. Händescheidung kann sich an den schlüssig zu Ende gemalten Miniaturen orientieren. Bemerkenswert ist der Unterschied der beiden Verkündigungsbilder, fol. 15 und 21: Das erste mit dem stehenden Engel verrät noch eine stärkere Orientierung an der Hauptmi niatur in Berrys Petites Heures, die um 1375 von Jean le Noir angelegt, aber in fortschritt licherer Manier ein Jahrzehnt später vollendet wurde; das zweite, mit kniendem Gabriel entspricht dem zweiten Verkündigungsbild dort (fol. 141v), das zwar ebenfalls älteren Quellen verpflichtet ist, aber ganz von einer jüngeren Hand ausgeführt wurde. Die Zei ten von Jean le Noir, der in den 1370er Jahren gestorben sein dürfte, sind in jedem Fall Vergangenheit; doch bleiben beide Miniaturen in unserem Stundenbuch älterer Pari ser Tradition treu. An italienischer Modellierung orientiert und deshalb stilistisch fort schrittlicher ist das zweite Verkündigungsbild, fol. 21; es eröffnet als typische Haupt miniatur die Marien-Matutin und verrät wie die Endfassung der ersten Verkündigung in den Petites Heures jenen jüngeren Stil, den Robert de Lasteyrie 1896 – natürlich ohne unser Buch zu kennen – mit Jacquemart de Hesdin verbunden hat. Von Berrys Grandes Heures, latin 919 der BnF, ausgehend widersetzte sich Paul Dur rieu dieser Identifizierung, indem er den Hauptstil in deren erhaltenem Buchblock für Jacquemart in Anspruch nahm. Nachdem Panofsky 1953 Lasteyrie gefolgt war, Millard
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Meiss die Identifizierung des Künstlers im gleichen Sinne neu begründet hatte und Carl Nordenfalk ebenso wie Otto Pächt 1956 sowie später François Avril (1975 und 1989) dem zugestimmt hatten, schien die Frage endgültig geklärt. Doch Albert Châtelet ist im Jahr 2000 mit veränderter Argumentation auf Durrieu zurückgekommen, jedoch ohne großen Widerhall, wie Avril 2004 und die verschiedenen Beiträge von Inès Villela-Pe tit zeigen. Die Lösung des Problems sah nach Meiss folgendermaßen aus: Da Jacquemarts Name für Berrys Grandes Heures zwar verbürgt ist, dort aber die Vollbilder fehlen, hielt er des sen Arbeit in der Handschrift (bis auf das von ihm falsch eingeschätzte spaltenbreite Da vidsbild, fol. 45) für vernichtet. Die verlorenen Vollbilder stellte sich Meiss ähnlich wie das Folio-Blatt der Kreuztragung im Louvre vor, das erst 1930 aufgetaucht ist, zunächst als italienisch galt und seit Nordenfalk 1956 als Restbestand aus den Grandes Heures diskutiert wird, obwohl er das Blatt nicht als Fragment aus dem Manuskript anerkann te. Ein Grundproblem wurde dabei kaum angesprochen: Jacquemart, wie ihn Meiss und die anderen sahen, vertritt eine Plastizität und ein gedämpft farbenfrohes Kolorit, das entschieden ins 15. Jahrhundert vorausweist; diesen Grundzug erklärte Meiss mit fri scher Erfahrung des Malers aus dem Artois in Avignon. Den altertümlicheren Minia turisten – also Durrieus und Châtelets Jacquemart –, der die Grandes Heures dominiert, taufte er Pseudo-Jacquemart. Auch dieser Buchmaler war an unserem Stundenbuch beteiligt: Seine schönste Minia tur ist die Madonna im Garten, der Jesus als Knabe beim Garnwickeln hilft, fol. 210. Von hier aus sind Pseudo-Jacquemart (bzw. Durrieus und Châtelets Jacquemart) nicht nur die Bilder zu Marien-Sext und -Non, sondern auch das Jüngste Gericht zu Beginn der Bußpsalmen zuzuschreiben. Der fortschrittlichere, also Jacquemart, wie Meiss ihn sieht, übernimmt in unserem Manuskript die Führung und verweist von der Hierarchie der Textanfänge her Pseudo-Jacquemart auf den zweiten Platz. Die anderen Buchma ler sind schwer zu fassen; die erste Verkündigung, fol. 15, mag von Pseudo-Jacquemart stammen; die drei Bilder der weiblichen Heiligen am Schluß sind schon wegen der abwei chenden Rahmung mit altertümlichen Rauten in den Ecken von eigenständiger Hand. Chronologische Probleme, wie sie die entschieden fortschrittliche Figurenbildung der Hauptminiatur stellen könnte, werden durch die enge Verwandtschaft unseres Erzengels Gabriel auf fol. 21 mit den knienden Wappen-Engeln auf dem Frontispiz zum zweiten Band der Bibel Vat. lat. 50/51 aus dem Weg geräumt; denn die Heraldik dort hat Jean de Berry zwischen 1389 und 1394 für Papst Clemens VII . einmalen lassen. Mit diesem Hinweis gerät man zugleich in Grauzonen, weil Millard Meiss um die wenigen Werke seiner Meister, die er für eigenhändig hielt, Scharen von Mitarbeitern und Nachfolgern versammelte. Er hätte unser Manuskript vermutlich ebenso wie die am besten vergleich bare Parallel-Handschrift, Ms. 159 in Parma, der Jacquemart-Nachfolge oder vielleicht seinem ungenau definierten Dreifaltigkeits-Meister zugesprochen. Der Begriff follower hat dabei kaum chronologische Relevanz; denn Meiss datiert das Stundenbuch in Par ma als vermeintliches Nachfolgewerk des erst 1384 auftretenden Jacquemart bereits um
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1390; der daran mitwirkende Meister der Brüsseler Initialen dürfte jedoch erst im Lau fe der 1390er Jahre nach Frankreich gekommen sein. Damit ergibt sich, unabhängig davon, wessen Jacquemart denn nun der echte war, die Zuschreibung unseres Stundenbuchs an das Atelier des seit 1384 in Berrys Diensten nachgewiesenen Jacquemart de Hesdin aus dem Artois. Im Vergleich mit dem Manu skript in Parma ist ein Ansatz gegen 1390 angemessen. Mit dem in Bourges ansässigen Jacquemart de Hesdin ergibt sich aber zugleich das Problem, daß dieses in jeder Hin sicht für Paris mustergültige Stundenbuch in der Hauptstadt des Berry entstanden sein könnte. Eine bis zu unserem Buch von 2015 völlig unbekannte Handschrift, die in Text, De kor und Bebilderung mustergültig den Typus des Pariser Stundenbuchs vertritt. In zehn überschaubare Abschnitte eingeteilt, klug rubriziert, dem Brauch von Rom fol gend mit einem Pariser Kalender, der durch nicht ganz eindeutige regionale Färbung ergänzt ist, zeugt das Manuskript von einer Phase in der Entwicklung des Hand schriftentyps, in der die ikonographische Auswahl noch nicht schlüssig festgelegt war: Drei der Perikopen werden mit inhaltlich den Text veranschaulichenden Bil dern eröffnet; der Kindermord verdrängt die Marienkrönung; das Jüngste Gericht erscheint statt Davids Buße; Gottesbilder und Marienbilder von erstaunlicher In vention bereichern das Spektrum, zu dem gute Heiligenbilder gehören. Jacquemart de Hesdin und Pseudo-Jacquemart gestalteten gemeinsam mit weiteren Malern die teilweise in den Gesichtern unvollendet gebliebenen Miniaturen. Noch sind Tradi tionen des 14. Jahrhunderts, wie sie in Berrys Petites Heures kulminierten, sehr le bendig. Wie das am besten vergleichbare Manuskript 159 in Parma könnte unser Stundenbuch als ein kleiner Bruder der zu Recht berühmten Petites Heures des Her zogs von Berry angesprochen werden, die um 1375 angelegt und etwa zeitgleich um 1385/90 vollendet wurde. In jeder Hinsicht bietet der Kodex spannende Einblicke in einen entscheidenden Moment der Buchmalereigeschichte: Hinreißend sind eini ge der als Zeichnung stehen gebliebenen Passagen; bemerkenswert ist der von kei nem Illuminator anschaulicher als von Jacquemart vertretene Wechsel von der Ma lerei des Kurzen 14. Jahrhunderts zum Goldenen Zeitalter unter dem Mäzenat des Herzogs Jean de Berry. LIT ER AT UR: Eberhard König: Vom Psalter zum Stundenbuch. Zwei bedeutende Handschriften aus dem 14. Jahr hundert mit einem Versuch über das Phänomen Jacquemart de Hesdin (Illuminationen 22, Katalog 76), Bibermühle 2015.
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4 Ein Stundenbuch mit dreißig Zeichnungen eines der drei Brüder Limburg als Berrys Geschenk für Louis d’Orléans und Valentina Visconti
4 • Stundenbuch: Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris, mit einem von den Her zögen Philipp le Hardi von Burgund und Jean de Berry bevorzugten Kalender. Lateinische Handschrift mit Kalender in Französisch und lateinischen und französischen Ru briken, in Textura, in Gold, Blau und Schwarz. Paris, vor November 1407 in zwei Etappen gezeichnet: von dem für den Hieronymus der Bible moralisée verantwortlichen Limburg-Bruder, vielleicht Paul von Limburg: vor Dezember 1408 mit einer Textlage und Bordüren ergänzt; (zuletzt um 1460 mit einer weiteren Bordüre versehen). Dreißig Bildseiten mit Zeichnungen, sechzehn davon zu Doppelseiten kombiniert: darun ter eine Doppelseite mit einer dreizeiligen Bild-Initiale und symmetrischem Randschmuck aus Figuren und Akanthus mit Blumen, eine weitere Doppelseite auf Verso mit Neben szene im Bas-de-Page und auf Recto mit dreizeiliger Initiale und Bordürenschmuck, die anderen Doppelseiten jeweils mit nur einer dreizeiligen Initiale, bei Marien-Terz und Marien-Vesp er auf Recto, bei den Suffragien auf Verso; dazu sechs weitere Seiten mit leer gelassenen Räumen für Bilder in unterschiedlichen Fertigungsstufen. Zwei leere vierzei lige Initialen mit Bordürenklammer von links; ein Raum für eine vierzeilige Initiale leerge lassen. Psalmenanfänge und ähnliche Texte mit zweizeiligen goldenen Initialen auf roten und blauen Flächen mit in den Rand ausstrahlendem rein goldenem Dornblatt; Psalmenverse am Zeilenbeginn mit einzeiligen Initialen derselben Art; die Zeilenfüller entsprechend. Versalien gelb laviert. 178 Blatt Pergament, dazu jeweils vier Blatt Papier als fliegendes und festes Vorsatz vorn und hinten. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, einschließlich des Kalenders; Abweichungen durch Zäsuren und durch Einfügung von Doppelblättern für die Bebilderung sowie durch Blattver luste. Mit Reklamanten unterschiedlicher Art. Kalender: 1 (8-1) – 2 (8), das erste Blatt entfernt; die folgenden zwei Blätter und die RectoSeite von fol. 3 ursprünglich leer; fol. 15v leer; Perikopen und Mariengebete: 3 – 4 (8), 5 (4): 33v-35v leer; Marien-Offizium: 6 (2): Hinzufügung für das Bild auf fol. 37v; 7 – 11 (8); 12 (8-2): das mittlere Doppelblatt fehlt zwischen fol. 81/82; 13 (8); 14 (8-4): die beiden äußeren Doppelblätter fehlen; 15 (8); 16 (8-2): zweites Doppelblatt fehlt; 17 (6): fol. 115-115v leer; 18 – 19 (8): Horen des Heiligen Kreuzes (fol. 116); 130v-131v leer; Messen und Suffragien, Gebe te zum Tageslauf hinzugefügt: 20 (8); 21 (8-1, + 2): nach fol. 139 fehlt ein Blatt; fol. 143/144 eingefügt; 21 (8-1): erstes Blatt fehlt vor fol. 149; 22 (8); 23 (8-1 + 8): fol. 167v leer; in die Lagenmitte eingestellter Quaternio mit 18 statt 13 Zeilen (fol. 168-175); ein leeres Blatt der älteren Lage entfernt; fol. 176-178 leer; fol. 178v gebräunt durch Einkleben in einen Einband. Sedez: 143 x 104 mm; Textspiegel 79 x 49 mm. Zu 13, im Kalender zu 17 Zeilen, ein in die letzte Lage eingeschalteter Quaternio zu 18 Zei len, rot regliert. In zwei Kampagnen wurde das Manuskript ergänzt und dann aufgegeben, aber sorgfältig auf bewahrt. Im gültigen Bestand fehlen vier Doppelblätter im Marien-Offizium. Ohne jede Spur frommen Gebrauchs, frisch und brillant sowie unbeschnitten erhalten.
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Früher in einem völlig demolierten französischen Schafl ederband des 18. Jahrhunderts mit verdorbener Marmorierung; heute in altem schwarzen Samt über Holzdeckeln, einer Schlie ße. Goldschnitt. Provenienz: Die einzigartige Disp osition dieses Manuskripts läßt erkennen, daß es sich um ein Werk aus dem engsten Kreis des französischen Königshofs handelt, und zwar um eine Pariser Arbeit eines der aus Nimwegen gekommen Brüder Limburg, der sich dabei in vielfältiger Weise an oberitalienischen Vorbildern orientierte. Das verraten un gewohnte Bildmotive, Entlehnungen aus einem Legendarium des 14. Jahrhunderts für Einzelbilder und Bildpaare in den Suffragien und vor allem für die auf zwei Seiten ver teilte Marienverkündigung, die in Handschriften aus Mailand vorbereitet wird. Von be sonderer Bedeutung könnte der Umstand sein, daß ein nur in Gold und Blau geschrie benes Stundenbuch aus der Lombardei mit Miniaturen von Ramo de Ramedellis, das Valentina Visconti nach Paris mitgebracht haben dürfte, eine von zwei Vorstufen für die auf zwei Seiten verteilte Marienverkündigung ist (unser Katalog 67, Nr. 9). Die als Tartschen geformten leeren Wappen in den Bordüren zu dieser Doppelseite nehmen ein Motiv der Visconti auf; die Harpyen, die sie tragen, lassen sich in der He raldik des Hauses Orléans nachweisen. Der irritierende Umstand, daß die Arbeit an diesem Buch zunächst abgebrochen, dann aber wieder aufgenommen wurde, spricht für zwei rasch aufeinander folgende Schicksalsschläge. Zu den Hinzufügungen in unse rem Stundenbuch gehört ein Text, den man mit der Ermordung von Louis d’Orléans am 23. November 1407 verbindet und den Jean de Berry in mehreren Stundenbüchern mit Limburg-Miniaturen ebenfalls hinzufügen ließ. Deshalb nehmen wir an, daß der ur sprüngliche Bestand vor der Ermordung geschaffen wurde. Mit der Hinzufügung kam der Randschmuck in Dornblatt und Akanthus hinzu, der nicht mit den ursprünglichen Intentionen übereinstimmt. Nur kurze Zeit später wurde die Arbeit an der Handschrift aufgegeben. Da die Brüder Limburg in den Diensten Jean de Berrys standen und die Zeichnungen zeitgleich zur Vollendung von Berrys Belles Heures entstanden sind, ist anzunehmen, daß Jean de Berry das Manuskript zunächst seinem Neffen Louis d’Orléans zueignen woll te; nach dessen Ermordung am 23. November 1407 wird Berry noch Ergänzungen für die Witwe Valentina Visconti in Auftrag gegeben haben, um nach deren Tod am 4. De zember 1408 das Projekt aufzugeben. Um 1600 wurde das Buch zweimal mit der Bezeichnung „dessainctz“ versehen, die nicht als Namenszug gemeint ist, sondern in antiquierter Orthographie auf desseins (=dessins), also die Zeichnungen verweist. 2013 ist das Manuskript in einer in Belgien ansässigen Seitenlinie der aus dem fran zösischen Quercy stammenden Adelsfamilie Castelnau aufgetaucht; vielleicht aus dem Besitz des Maurice de Castelnau (1678-1742), dessen Stammbaum auf Antoine de Ca stelnau (1471-1541) zurückführt, der im Dienst de Marguerite de Valois oder d’An goulême (1492-1549) stand, einer Urenkelin des Herzogs Charles de Bourbon (14011456), seinerseits Enkel des Herzogs Jean de Berry (1340-1416).
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Die Textfolge fol. 1: Nachträge aus dem 17. Jahrhundert in roter Tinte: Oreson du st. Augustin in der Art einer Rubrik, dann aber gestört durch die Angabe le v jour du mois d’avril (ohne Jahresangabe; im Kalender entspräche dies dem Festtag von saint yraine), dann zwischen Kreuzzeichen in großen Lettern: + dessainctz + Tres doulx Jesus Crist vray dieu: ein barockes Gebet mit Tour d’horizon der Heilsgeschich te; darin, in schwarzer Tinte hervortretend, die Letter „N“ an den Stellen, an denen sich der Beter namentlich nennen soll. fol. 2v: Jahreszahl 1403 in derselben schwarzen Tinte wie das N. fol. 3v: Kalender, ein überaus rares Exemplar mit den Monaten auf gegenüberliegenden Doppelseiten, ähnlich disp oniert wie in Jean Pucelles New Yorker Stundenbuch der Jean ne d’Evreux aus den 1320er Jahren und in einem Hauptwerk aus der Lombardei: Paris, ms. lat. 757, dem Stundenbuch-Missale für Bertrando de’ Rossi (gest. 1396). Der Text folgt einem Formular, das unter anderem für Berrys Belles Heures ebenso wie in Handschrif ten für weitere Mitglieder des französischen Hofs von Philipp dem Kühnen an gedient hat, darunter auch das später an Bedford gelangte Londoner Add. Ms. 18850. fol. 15v leer. fol. 16: Perikopen in ungewohnter Reihenfolge: Johannes (fol. 16), Lukas (fol. 18), Mar kus (fol. 19v), Matthäus (fol. 21). fol. 23: Mariengebete, für einen Mann konzipiert, das erste der Version in den Belles Heures eng verwandt; das zweite davon entschieden abweichend: Obsecro te (fol. 23) und O intemerata (fol. 28). fol. 33v-37 leer. fol. 37v: Marien-Of fizium für den Gebrauch von Paris: (A)ve maria (fol. 37v); Matutin wie in den Belles Heures mit drei vollen Nokturnen, die auch als solche bezeichnet wer den (fol. 38); Laudes (fol. 67v); Prim (fol. 82, Anfang fehlt); fol. 87v textlos, Terz (fol. 88); Sext (fol. 92, Anfang fehlt), Non (fol. 96, Anfang fehlt); fol. 101v textlos, Vesp er (fol. 102, Textblatt fehlt nach fol. 104); Komplet (fol. 109, Anfang fehlt). fol. 115-115v leer. fol. 116: Horen des Heiligen Kreuzes: Matutin (fol. 116), Prim (fol. 118), Terz (fol. 120), Sext (fol. 122), Non (fol. 124), Vesp er (fol. 126), Komplet (fol. 128). fol. 130v-131v leer. fol. 132: Wie die Belles Heures, aber umgekehrt, schließt das Buch mit zwei Textgruppen, die in Berry-Stundenbüchern sonst nicht in gleicher Weise vorkommen: auf vier Messen folgen zwölf Suffragien. Messen bilden in den Très Belles Heures de Notre Dame heute einen ganzen Band für sich, der aus Mailand nach Turin gelangt ist; sie besetzen in den
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Très Riches Heures einen wichtigen Textblock; hingegen gab es in Berry-Handschriften sonst nur ein einziges Suffragium, das des heiligen Julian im verbrannten Turiner Band der Très Belles Heures de Notre Dame. Votivmessen kurz gefaßt, vom Text her eher dem sogenannten Bedford-Stundenbuch in London als Berrys Belles Heures verwandt: Marienmesse (fol. 132); Heilig Geist-Messe (fol. 135v); Trinitätsmesse (fol. 140, Anfang fehlt); 143-144 leer, 144v textlos, Requiem (fol. 145 Textende fehlt nach fol. 148), fol. 149: Suffragien: mit Ausnahme des ersten Blatts lückenlos in ungewohnter Auswahl und Reihenfolge, die durch die Lagenordnung festliegt; die Hierarchie der Heiligen wird nicht beachtet; die Frauen sind unterbesetzt; und es gibt mit Christophorus und Georg nur zwei Märtyrer: Michael (fol. 149, Anfang fehlt auf Verso); Petrus (fol. 150); Paulus (fol. 151); Johannes der Täufer (fol. 152v); Christophorus (fol. 154); Katharina (fol. 155v); Nikolaus (fol. 157v); Jakobus der Ältere (fol. 159); Antonius Abbas (fol. 160v); Paulus Eremita (fol. 162); Hie ronymus (fol. 163v); Georg (fol. 165v). fol. 167v leer. fol. 168: auf dem eingefügten Quaternio (fol. 168-175): Gebetsfolge für den Tag, wie sie anders formuliert und geordnet, jedoch weitgehend in französischer Sprache, im ver brannten Turiner Band der Très Belles Heures de Notre Dame zu finden war; die ersten beiden aufgebaut wie Suffragien mit gleichlautender Antiphon Deus propicius esto michi peccatori, aber veränderten Schlußgebeten: zum morgendlichen Aufstehen Domine deus omnipotens qui nos ad principium huius diei (fol. 168), zum Schlafengehen Visita quesumus domine habitationem istam (fol. 168v), am Eingang der Kirche Introibo in domum tuam mit dem Schlußgebet Ingredere domine ihesu xpiste templum corporis mei (fol. 169), beim Betreten der Kirche Pax huic domui et omnibus habitantibus in ea (fol. 169v), wenn man Weihwasser nimmt Asp erges me domine ysopo mit zwei Schlußgebeten Domine sancte pa ter omnipotens eterne deus emittere digneris sanctum angelum tuum und Deus qui contrito rum non despicis gemitum (fol. 170), beim Kreuzzeichen Per crucis hoc signum (fol. 171), beim Anschauen der Hostie Ave verum corpus (fol. 171v), bei der Elevation der Hostie Xpisti corpus ave sancta de virgine natum (fol. 171v), beim Empfang der Hostie Perceptio corporis tui (fol. 172), nach Empfang der Hostie Quod ore sumpsimus und Corpus tuum domine quod sumpsi und Laudes et gratias tibi ago (fol. 172v), Mariengebet nach der Kom munion: Serenissima et inclita mater domini (fol. 173v). fol. 174: Reise-Of fizium: In viam pacis, das Benedict us nur als Incipit. Diesen in Stun denbüchern extrem seltenen Text hat Jean de Berry, wohl nach der Ermordung Ludwigs von Orléans 1407, an zwei seiner Handschriften, die Petites Heures und die Belles Heu res, anfügen lassen; ein weiteres Beispiel gibt eine Lithographie für Auguste de Bastard wieder, die irrig den Très Belles Heures zugewiesen wird. Unser Exemplar ist das einzige Beispiel, das den Text an die – hier allerdings auch erst nachträglich eingefügten – Ge bete für den Tageslauf anschließt. Nur in dem deutlich späteren Psalter-Stundenbuch für
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Langres des Antiquariats Bibermühle (Tour de France, Kat. 71, Nr. 11) gehört er zum Grundbestand eines Gebetbuchs. fol. 175v: Textende. fol. 176: drei Zeilen in derselben roten Tinte wie fol. 1-3, diesmal mit dem ausdrucks vollen „N“ in Rot. fol. 176v-178v leer. Schrift und Schriftdekor Angesichts der bemerkenswerten Nähe zu italienischer Malerei ist die Feststellung wich tig, daß das Manuskript in einer vorzüglichen französischen lettre de forme, also Libraria oder Textura, geschrieben ist, mit blauen und goldenen Rubriken. Mit zwei unreglierten Doppelblättern, die nur zur Ergänzung des Bildbestandes dienen, setzt sich die Illuminierung von Anfang an vom Konzept des Schreibers ab. Der De kor wurde dann in mehreren zeitlich nicht allzu weit auseinanderliegenden Kampagnen angelegt: Ganz vollendet sind die textbegleitenden Initialen von vorzüglicher Qualität. Nur auf fol. 37v/38, sind eine historisierte Initiale und Bordüren als Zeichnung ange legt worden und so stehen geblieben; sonst erhielten Bildseiten zunächst weder Initialen noch Randschmuck. Erst, als in Lage 23 noch ein Quaternio, mit 18 statt 13 Zeilen Text, eingefügt wurde, entstand der ausgezeichnete Dornblatt-Dekor mit Doppelstab, eng ge führten Spiralranken und kleinen Elementen aus Akanthus und Blattwerk in Buchma lerfarben, wie er erst im Jahr 1408 für Paris dokumentiert ist (Oxford, Bodleian Library, Ms. Douce 144). In auffälliger Weise greifen die Bordüren von links um Text und Bildfeld und lassen den rechten Randstreifen aus; unter dem Incipit nehmen sie die volle Breite des Textspiegels ein, reichen aber – mit Ausnahme der Incipits der Messen und der beiden letzten Sei ten – über der Miniatur von links nur bis zum Scheitel des Abschlußbogens. Diesen Schmuck gewährte man ausschließlich den Seiten mit Textbeginn; auf Doppelbildern ließ man jedoch die Seiten ohne Initialen aus: in Marien-Of fizium und Requiem die Ver sos, in den Suffragien hingegen die Rectos. Unklar bleibt, wann die Goldleisten zur Rah mung der Bildflächen, die ganz erratisch auftreten, ausgeführt wurden. Zur zweiten Kampagne gehören zwei vierzeilige Initialen zu den Mariengebeten (in drei vom Schreiber freigelassenen Zeilen und dem oberen Rand), deren Binnenfelder viel leicht für Bildmotive freigelassen wurden, ebenso wie die vorzüglichen Initialen KL im Kalender mit nach links und oben ausstrahlenden Ranken. Die erste Bildseite wurde in einer dritten Kampagne um 1460 ausgestattet: mit dreisei tigem Doppelstab um Bild und Incipit, gröberer Dornblatt-Initiale und Vollbordüre aus Dornblatt mit dichtem Rankenwerk aus blau-goldenem Akanthus und stilisierten Blu men sowie einem Vogel.
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Die Bebilderung und die leer gebliebenen Bildflächen im Überblick fol. 16: Von den Perikopen sollte nur der Johannes-Text bebildert werden: Lesung wäh rend der Messe (fol. 16). fol. 23: Die Mariengebete sollten vielleicht vier Zeilen hohe Bild-Initialen erhalten (fol. 23 und 28). fol. 37v: Am Anfang ist ein Doppelblatt vorgeschaltet, damit die Matutin mit einer Dop pelseite eröffnet wird; auf deren Verso wird der Engel der Verkündigung gezeigt; die Ver kündigungsmaria hingegen erscheint auf der ersten Seite der Anfangslage des Marienfiziums (fol. 37v/38). Zu den wenigen Vorläufern in der Buchmalerei gehören zwei Of lombardische Stundenbücher: das von Giovanni di Benedetto da Como um 1380 illumi nierte Stundenbuch α.S.2-31 der Biblioteca Estense in Modena sowie die beiden Haupt miniaturen in Nr. 9 unseres Katalogs 67, Unterwegs zur Renaissance, von 2011, das wohl zu den von Valentina Visconti aus Mailand mitgebrachten Manuskripten gehört hat. Für Laudes ist nur ein vier Zeilen hohes Buchstabenfeld vorgesehen, ob mit Bild-Initia le, bleibt offen (fol. 67v). Auf leeren Verso-Seiten war vor Terz und Vesp er Platz für Bilder, so daß dort jeweils Doppelseiten bebildert sind mit den sonst vor Sext und Non erscheinenden Themen der Anbetung der Könige und der Darbringung im Tempel zur Terz (fol. 87v/88) sowie den sonst auf Vesp er und Komplet verteilten Darstellungen von Kindermord und Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 101v/102). Die vier heute fehlenden Doppelblätter sind vielleicht bei der Herstellung des Manu skripts an den Zeichner ausgegeben und von ihm nicht zurückgegeben worden. fol. 116: Zu den Horen des Heiligen Kreuzes ein Passionszyklus: zur Matutin die Ge fangennahme (fol. 116), zur Prim in ein Bildfeld eingepaßt Verleugnung Petri und Jesus vor dem Hohenpriester (fol. 118), zur Terz Kreuztragung (fol. 120), zur Sext Kreuzigung mit Essigschwamm (fol. 122), zur Non Kreuzigung nach dem Lanzenstich (fol. 124), zur Vesper Kreuzabnahme (fol. 126), zur Komplet Grablegung (fol. 128). fol. 132: Jede Messe sollte bebildert werden: Marientod und leibliche Himmelfahrt zur Marienmesse (fol. 132); zur Messe von Heilig Geist leeres Bildfeld mit Bordüre und In itiale (fol. 135v); das Incipit der Trinitätsmesse fehlt (vor fol. 140). Vor das Requiem ist ein sonst leeres Doppelblatt geschaltet, um eine Doppelseite mit Bil dern zu ermöglichen, die erste Zeichnung nach einem Entwurf, der anschließend, wohl vor 1417, im Psalter Heinrichs VI. (London, British Library, Cotton Domitian A. XVII) benutzt wurden: Klösterliches Chorgebet mit dem Toten auf dem Friedhof in der Bordü re und Chorgebet für einen verstorbenen König (fol. 144v/145), fol. 149: Alle Suffragien sollten wenigstens mit einem Bild versehen werden. Anders als bei Marien-Matutin und Requiem, denen jeweils ein leeres Doppelblatt vorgeschaltet ist, wurde bei den Suffragien schon in der Grundplanung mit zwei Bildern gerechnet;
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zu diesem Zweck setzt der Textanfang wie im Passions-Of fizium der Belles Heures auf Verso wie Recto mit nur drei Zeilen ein: Das Michael-Suffragium sollte wohl Drachenkampf und Seelenwaage erhalten: der Text anfang fehlt, das zweite Bildfeld (fol. 149) ist leer gelassen und ohne Bordüre geblieben; zu Petrus der Fall des Simon Magus mit dem jugendlichen Nero, der vom Palast aus zuschaut (fol. 150); zu Paulus Predigt mit dem Sturz des Eutychus (fol. 151); zum Täu fer Salome mit dem Johanneshaupt und die Johannesschüssel an der Tafel der Herodias (fol. 152v/153); zu Christophorus leeres Bildfeld mit Initiale und Bordüre (fol. 154); zu Katharina das Radwunder und die Bergung des Leichnams auf dem Sinai, mit Pilgern (fol. 155v); zu Nikolaus Rettung eines Schiffs im Sturm (fol. 157v); zu Jakobus dem Äl teren leeres Bildfeld mit Initiale und Bordüre (fol. 159); zu Antonius Abbas der hei lige Antonius, als Statue überlebensg roß thronend, von Kranken und Krüppeln ange fleht (fol. 160v); zu Paulus Eremita zwei Miniaturen der Belles Heures in einem Bild zusammengefaßt die Bestattung des ersten Eremiten durch Antonius Abbas nach der Entrückung von dessen Seele (fol. 162); zu Hieronymus Heilung des Löwen und Tod mit Entrückung der Seele (fol. 163v/164); zu Georg Drachenkampf mit der kilikischen Prin zessin und, ikonographisch einzigartig, die Bekehrung der persischen Königin mit ihrem Henker (fol. 165v/166). fol. 168: In der Gebetsfolge für den Tag sollte nur der Empfang der Hostie bebildert wer den: leeres Bildfeld mit Initiale und Bordüre (fol. 172). fol. 174: Zum Reise-Of fizium leeres Bildfeld mit Initiale und Bordüre. Der verantwortliche Künstler Verantwortlich war jener Limburg-Bruder, der den Hieronymus im Gehäus als Front ispiz zur Bible moralisée für Philipp den Kühnen von Burgund vor April 1404 gezeichnet hat und der zumindest zur zweiten Lage jener Handschrift beigetragen hat; in den Belles Heures hat dieselbe Hand beispielsweise die meisten Bilder aus der Legende von Anto nius und Paulus Eremita gestaltet hat; um 1408 zeichnete dieser Künstler die Randbil der im Oxforder Stundenbuch Douce 144; gegen 1416 schuf er Miniaturen in den Très Riches Heures und erreichte mit dem Februar und anderen berühmten Miniaturen eine unerhörte Höhe. Der Schöpfer unserer Zeichnungen war besonders eng mit italienischer Kunst vertraut, hat mit besonderem Engagement Architekturen gestaltet und ist weitgehend mit der „ele gant hand“ identisch, die Margaret Lawson in den Belles Heures erkannt hat. Da dieser Limburg in der mit winzigem „P“ signierten letzten Miniatur der Belles Heures zu fassen ist, wird es sich um Paul von Limburg handeln.
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Zum Rang des Manuskripts Das neu entdeckte Manuskript verändert unseren Blick auf die Brüder Limburg nach haltig. Zwar teilweise noch unvollendet geblieben, erwecken einige Zeichnungen den Eindruck, man habe sie als „portraits d’encre“ belassen wollen. Die Zeichnungen über treffen unvollendet gebliebene Miniaturen aus dem frühen 15. Jahrhundert durch ihre entschiedene Tendenz zu vollendet bildhafter Wirkung. Als das bedeutendste Beispiel für die Kunst der Zeichnung erhält dieses neu entdeckte Stundenbuch seine erstrangige Bedeutung durch außerordentliche und bisher unbekannte Qualität; damit übertrifft es Nachfolgewerke, die meist auf die Belles Heures zurückgreifen. Die Arbeit an den Bildseiten hat man gegen Buchmalerbrauch nicht mit dem Rand schmuck und den großen Initialen, sondern mit den Bildern begonnen; das gilt sogar für die Doppelseite zur Marien-Matutin mit ihren nur gezeichneten Bordüren, die in einer zweiten Arbeitsp hase vom selben Zeichner – und nicht wie neuerdings zuweilen vor getragen wird, vom Bedford-Meister – ausgeführt wurden. Ähnlich angelegt sind nur Berrys Très Riches Heures in Chantilly, die von den Brüdern Limburg vor 1416 begonnen wurden, für mehr als zwei Generationen unvollendet blieben und auf vielen Bildseiten ohne Bordüren belassen sind, obwohl dasselbe Atelier mit den 1408 vollendeten Belles Heures Maßstäbe für frühen Dornblattdekor gesetzt hatte. Nicht von der Technik, wohl aber von der Wirkung her nähert man sich den im 14. Jahr hundert beliebten Grisaillen. In dieser Hinsicht, ebenso wie beim reduzierten Format mag man sich an Pucelles Stundenbuch der Jeanne d’Evreux, das Jean de Berry besessen hat (heute in den New Yorker Cloisters) orientiert haben. Einzigartig sind die Qualität der Zeichnungen, die Bildphantasie und die Dichte der Darstellung. Als ein Meisterwerk eines der drei Brüder Limburg bereichert dieses bisher völlig unbekannte Stundenbuch auf unerhörte Weise unsere Kenntnis von der Kunst der Limburgs in den Jahren 1404 bis 1408, in denen sie die Belles Heures in mehreren Etappen illuminierten. Der mit der Aufgabe betreute Limburg des Hiero nymus hatte sich bei diesem Projekt nicht mit vorher festgelegtem Randschmuck zu arrangieren. Das kleine Format förderte zudem seine erstaunliche Virtuosität. Die hier vorgeschlagene Deutung als ein Geschenk, das Jean de Berry zunächst seinem Neff en Louis d’Orléans und nach dessen Ermordung der Witwe Valentina Visconti zueignen wollte, gibt dem Manuskript seinen historischen Rang. Aber unabhängig von allem, was wir vermuten mögen über den Künstler, den Auftraggeber und jene, für die das Manuskript bestimmt war, ist schon die reine Existenz dieses großarti gen Stundenbuchs ein Triumph des Genies der Zeichnung, ist es doch ein Wunder, daß es überlebt hat und wieder aufgetaucht ist in einer Zeit, in der wir meinen, alles über die Herrlichkeiten der Vergangenheit zu wissen.
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Katalognummer 4 LIT ER AT UR: Eberhard König, Das Genie der Zeichnung. Ein unbekanntes Manuskript mit 30 großen Darstellungen von einem der Brüder Limburg – wohl im Auftrag des Herzogs von Berry für Louis d’Orléans & Valentina Visconti (Illumi nationen. Studien und Monog raphien, hrsg. von Heribert Tenschert, 23; zugleich Katalog LXXVII ), Bibermühle 2016. Andreas Platthaus, Das Buchwunder der Brüder Limburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Aug ust 2016, S. 9; Albert Châtelet, Une nouvelle œuvre des frères Limbourg, in: art de l’enluminure 57, 2016, S. 59-60.
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5 Eines der frühesten bekannten Stundenbücher des Mazarine-Meisters
5 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Hellrot und Purpur, mit einem Kalender in Schwarz und Rot, geschrieben in schwarzer Textura. Paris, um 1405-07: Ein Stundenbuch vom jungen Mazarine-Meister, mit einer Mi niatur von einem unbekannten Meister, vielleicht vom Mittelrhein 12 Bildseiten mit fast quadratischen Miniaturen von Doppelstäben gerahmt, über vier Zeilen Text mit dreizeiligen Dornblatt-Initialen in dreiseitigen Zierleisten, die ein Bas-depage unter dem Text aussparen und meist als Doppelstab gebildet sind, nur zur MarienMatutin mit Flächendekor, daraus sprießend Vollbordüren und Ranken im Bas-de-page aus feinen Tintenspiralen, die in goldenem Dornblatt enden. Eine dreizeilige Initiale glei cher Art mit dreiseitigem Doppelstab und vierseitiger Dornblattbordüre sowie eine dreiz eilige Initiale im Flächendekor mit sprießenden Tintenspiralen und goldenem Dornblatt. Zweizeilige Initialen zu den Psalmenanfängen in Gold auf purpurnen und blauen Flächen mit weißem Liniendekor; einzeilige Initialen zu den an Zeilenbeginn einsetzenden Psalmenversen in gleicher Art, ebenso die Zeilenfüller. Versalien nicht behandelt. 158 Blatt Pergament, dazu jeweils ein fliegendes Vorsatz aus Papier zu Beginn und am Ende des Bandes. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderla ge 1 (12) sowie Lage 10 (8-2) am Ende des Marienoffiziums ohne Textverlust, die um jeweils ein Textblatt ergänzten Lagen 13 (8+1) und 14 (8+1), die um das erste Blatt mit dem Beginn des Totenoffiziums beraubte Lage 15 (8-1), sowie die um das letzte, leere Blatt gebrachte End lage 20 (4-1). Moderne Bleistiftfoliierung rechts oben. Oktav (165 x 127 mm; Textspiegel: 110 x 63 mm). Rot regliert zu 15, im Kalender zu 16 Zeilen; keine Reklamanten. Bis auf den Verlust des Incipits zur Vesper des Totenoffiziums vollständig erhalten. Unten vom Buchbinder so getrimmt, daß die ursprünglichen Proportionen leicht alteriert sind und das Rankenwerk der Bildseiten oben oder unten minimal beeinträchtigt ist. Auf fol. 83/83v Rückstände von Klebstoff; hier waren einmal beidseitig ganzseitige Pilgerbilder oder Vergleich bares eingeklebt, ebenso auf fol. 158v, wo der Abdruck eines Pilgerabzeichens zu erkennen ist. Französischer roter Maroquin-Einband des 18. Jahrhunderts mit goldgeprägten Rahmen aus Blattgirlanden auf den Deckeln mit je vier auf Eck gestellten Blumenstempeln in den Ecken; glatter Rücken mit 6 Kompartimenten und jeweils einem zentralen Blumenstempel, mit der Aufschrift offices / de / l’eglise; Marmorpapier als fester und fliegender Vorsatz vorn und hinten, Goldschnitt. Auf dem Nachsatz (fol. 158v) ein nicht mehr leserlicher Gebetseintrag.
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Der Text fol. 1: Kalender, mit vorwiegend Pariser Heiligen, mit Fest der Genovefa (3.1.) und Dio nysius (9.10.) sowie Translatio Genovefas als einfacher Eintrag (26.11.) in stark dialek taler Schreibweise. fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14), Matthäus (fol. 15) und Markus (fol. 16v). fol. 17: Mariengebet O intemerata in französischer Übersetzung: O tres enternie et per durablement benoite singuliere non comparable vierge marie. fol. 21: Marienof fizium für den Gebrauch von Paris, mit drei Nokturnen zur Matutin: Matutin (fol. 21), Laudes (fol. 42v), Prim (fol. 53), Terz (fol. 58v), Sext (fol. 62v), Non (fol. 67), Vesp er (fol. 71), Komplet (fol. 77v). fol. 83: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 95), die auf Pariser Heilige ausgerichtet ist; unter den Bekennern auch Lebuinus von Utrecht und Severin, unter den Frauen Genovefa, Christina, Christiana, Corona und Columba von Sens. fol. 100: Horen von Heilig Kreuz (fol. 100) und Heilig Geist (fol. 104v). fol. 108v: Französisches Gebete: Fünfzehn Freuden Mariä: Doulce dame de misericorde, gefolgt den Fünf Schmerzen unsres Herrn (V plaies de nostre seigneur): Quiconques veult… Dous dieu (fol. 113). fol. 116: Totenof fizium, für den Gebrauch von Paris: Vesp er (Anfangsblatt fehlt vor fol. 116), Matutin und Laudes werden nicht durch Rubriken bezeichnet; mit der Beson derheit, daß die Responsorien der neun Lesungen gemäß Ottosen (1993) nach Paris ge hören, jedoch das abweichende fünfte Responsorium Domine dum veneris iudicare… in keinem seiner vollständigen Beispiele verzeichnet ist. Schrift und Schriftdekor Das Stundenbuch ist in einer recht großen Textura geschrieben, was für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts auch in Paris nicht verwunderlich ist. Auch das leuchtende Hellrot der Rubriken ist in dieser Zeit typisch. Die Abfolge der Texte wird durch die Ordnung der Lagen in ihrer aktuellen Form bestätigt. Bemerkenswert in unserem Stundenbuch ist der Umstand, daß zwei Schreiber zusam mengearbeitet haben: den ersten Hinweis darauf liefert die abweichende Farbe der Ru briken, die von einem hellen Rot zu einem dunkleren wechseln, das sich dem Rot des Initialdekors annähert. Auch die schwarze Tinte ist in diesen Texten durchweg weniger gut erhalten als in den übrigen Teilen des Manuskripts. Da die Texte aber zum Teil in denselben Lagen nebeneinander stehen, handelt es sich nicht um nachträgliche Erwei terungen. Dabei wurde auf fol. 17 eine dreizeilige Initiale, die sonst in Dornblatt ausge führt sind, in Blattgold auf einer rot-blauen Fläche mit einem sonst nicht wiederkehren den weißen Spiralmuster gegeben.
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Der für die ein- und zweizeiligen Initialen vorherrschende Flächendekor besticht vor allem durch die kräftige schwarze Umrandung und den dem Initialkörper folgenden Grund, der gelegentlich weit in den Rand ausschlägt und das dicht mit Zeilenfüllern besetzte Schriftbild dynamisiert. Das Rahmensystem der Bildseiten – dreiseitige Doppelstäbe und Dornblattranken, die in feinen Tintenlinien aus den Ecken und der Mitte der Zierstäbe in die Ränder wach sen, ist relativ neu und setzt sich in Paris erst im Jahrzehnt nach 1400 langsam durch. Die wichtigste Miniatur des Stundenbuchs, die Verkündigung an Maria, erhält als be sondere Auszeichnung auf allen drei Seiten Zierleisten im Flächendekor. Die Zierleisten folgen nicht konsequent einem einzigen Muster, sondern treten in zwei Varianten auf: Entweder sprießen die Doppelstäbe aus der Initiale oder sind unverbunden und stoßen zuweilen so aneinander, als habe man zunächst mit abweichenden Rahmen gerechnet. Die Bilder Weder der Kalender noch die Perikopen wurden in diesem Stundenbuch bebildert und so eröffnet die Bildfolge mit der Verkündigung (fol. 21) zur Matutin des Marienof fiziums. Vor wechselnd goldenen beziehungsweise mit weißen fleur de lis auf Rosa und Blau ver zierten Rauten steht eine schräg in den Bildraum gestellte Kapelle mit Apsis nach links. Vor einem mit rotem Tuch verhangenen Altartisch mit Retabel hat die ganz in Blau ge hüllte Jungfrau ihr Buch aufgeschlagen und sich auf ein davorliegendes Kissen gekniet. Nun hebt sie überrascht beide Hände und wendet sich über die Schulter dem in einen rosafarbenen Chormantel gehüllten Erzengel Gabriel zu, der – wie in vielen Stundenbü chern der Bedford-Gruppe, aber nur selten in solchen des Boucicaut-Stils – von rechts hinzugetreten und vor dem Kapellenraum auf dem gemeinsamen Fliesenboden niederge kniet ist. Das Schriftband mit seinem Gruß schwebt vor ihm, ohne daß er es selbst hielte. Begleitet wird er von der Taube des heiligen Geistes, die seinem Gruß folgend auf Maria herabsinkt, ausgesendet von einer kleinen Gotteserscheinung in der oberen rechten Ecke. Zu den Laudes folgt auf fol. 42v die Heimsuchung: Von links tritt Maria an ihre Base Elisabeth heran, die sich demütig vor der zukünftigen Gottesmutter verneigt und sanft deren schwangeren Leib berührt. Die beiden Frauen treffen einander in einer flachen Wiesenlandschaft, wobei Maria ein einzelner Baum, Elisabeth aber ein Fels zugeordnet wird. In der Entstehungszeit unseres Buches war die Zeit für große Landschaftsausblicke noch nicht gekommen, statt dessen spannt sich ein kleinteiliger Mustergrund als Fond hinter die Landschaftskulisse. Ins Zentrum rücken die großen Figuren von Maria und Elisabeth – die eine mit blondem Haar, die andere mit verhülltem Haupt – vom Maler durch den Einsatz von tiefem Blau und leuchtendem Rot und Rosa, wie es auch das Ge wand des Engels in der Miniatur zuvor charakterisierte, spannungsreich kontrastiert. Die Geburt zur Marien-Prim (fol. 53) gehört zu den einfallsreichsten und lebendigsten Miniaturen in unserem Stundenbuch; der Stall überspannt die gesamte Breite des Bildes und ist doch schräg ins Bild gestellt. Von hinten blicken Ochs und Esel über die Krip pe auf Maria, die auf einem großen roten Bett sitzt und das Wickelkind zart an sich
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schmiegt. Sie bekommt ihren eigenen Bildraum in der Komposition, der zugleich der größte ist. Wie ein anekdotischer Nebengedanke ist in der rechten Bildhälfte, umschlos sen von zwei Holzpfosten des Stalls, Joseph in hellgrünem Gewand und rosafarbenem Bonnet gezeigt, wie er auf einem Holzstuhl seinen Kopf stützt, um ein Nickerchen zu halten; als eine besonders individuell gestaltete und genrehafte Szene ist dies wohl eines der schönsten Weihnachtsbilder, die der Mazarine-Meister gemalt hat. Es folgt zur Marien-Terz die Hirtenverkündigung auf fol. 58v. Im Vordergrund grast eine Gruppe von Schafen, während die zwei Hirten und ihr Hund zum Engel aufblicken, der als Halbfigur in einer blauen Wolke erscheint und ein leeres Schriftband präsen tiert. Wieder genügen ein Baum und ein schroffer Felsen, um verständlich zu machen, daß diese Szene im Freien spielt. Der Mazarine-Meister zählt zu jenen Künstlern, die besonders schöne Versionen dieser Szene entwickelt haben; der Hirte in rosafarbenem Mantel, der, offenbar beim Musizieren von der himmlischen Erscheinung überrascht, seine Flöte absetzt und sich umwendet, dominiert als großartige Gestalt den Bildraum. Zur Anbetung der Könige auf fol. 62v hat der Maler den Stall so gedreht, daß Maria links auf ihrem Bett Platz nehmen und die von rechts hinzutretenden Könige wie auf einem Thron empfangen kann. Der Knabe sitzt nun nackt auf ihrem Schoß und greift nach dem Geschenk des ältesten Königs, der seine Krone schon abgenommen hat und vor der Muttergottes kniet. Die beiden anderen Könige sind noch gekrönt und einander so zu gewandt, als müßten sie sich erst über das Ereignis klar werden. Die Profile der beiden spiegeln sich in der Verwendung des Hellgrüns wieder, das sowohl für den Kragen des mittleren als auch das Gewand des jüngsten Königs verwendet wurde. Dabei wird auch klar, daß die kraftvollen Farben Blau und Rot als Auszeichnung Maria und dem Kind vorbehalten sind, während nachgeordnete Figuren Mischtöne tragen. Dies trifft auch für die Darbringung im Tempel auf fol. 67 zur Marien-Non zu. Auf Eck gestellt ist der Altar auf einem bunt gekachelten Fußboden vor einem Karo-Mustergrund mit fleurs de lis. Dahinter steht Simeon in rotem Chormantel, die Hände mit einem wei ßen Tuch verhüllt, um den Knaben entgegenzunehmen. Der sitzt nackt auf den Armen seiner Mutter, die, wieder ganz in Blau gekleidet, an den Altar tritt. Begleitet wird sie von einer – ihres Nimbus wegen – heiligen Magd mit Kerze als Anspielung auf Licht meß, aber leerem Körbchen. Daß auf die Charakterisierung des Sakralraums verzichtet wird, beweist die frühe Entstehung der Miniatur. Zur Flucht nach Ägypten zur Marien-Vesp er auf fol. 71 hat der Ziehvater Joseph Ma ria mit dem Wickelkind auf einen großen grauen Esel gesetzt, der behäbig, wie schon zur Geburt mit einem geradezu fröhlichen Ausdruck im Gesicht, nach links über die Wiese trabt. Maria hat sich und das Kind in ihren langen blauen Mantel gehüllt, wäh rend Joseph den Esel bei dem Zaumzeug führt und über seine Schulter auf die kostba re Fracht blickt. Am Ende des Marienof fiziums erscheint in französischen Stundenbüchern üblicher weise die Marienkrönung zur Komplet, so auch in unserem Buch. Auf fol. 77v sind zwei
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Thronstühle schräg in den Bildraum geschoben. Der linke, ein stattlicher Holzthron, der mit einem roten Stoff bezogen ist, dessen Blumenmuster an millefleurs-Teppiche den ken läßt, wartet mit dem dicken weißen Kissen auf Maria. Die Muttergottes kniet aber noch vor dem Herrn, der rechts unter einem grünen Baldachin thront. Mit seinem Se gen richtet sich Christus in königlichem Ornat an seine Mutter; und als würde sie sei nen Gestus begleiten, schwebt die Krone ganz unauffällig vor dem mit goldenen fleurs de lis gemusterten Fond. fol. 83: Die Bußpsalmen eröffnen mit der Majestas domini. Gottvater, von den vier apo kalyptischen Wesen umgeben, thront zwischen den Zeichen des alten und des neuen Bundes; das weist zurück auf die Tradition des 14. Jahrhunderts; auf einem Steinthron sitzt der Bärtige mit grauem Haar, die Rechte zum Segen erhoben und eine goldene Ku gel in der Linken, die auf die weltliche und himmlische Macht Gottes verweist. Die vier Wesen werden auf Spruchbändern als Symbole der Evangelisten identifiziert: Die zur Erde gehörigen, Löwe und Ochse, liegen zu Füßen von Gottes Thron, die Wesen der Lüfte, Engel und Adler, schweben vor einem blauen Wolkenband in den oberen Ecken über demselben Fond mit durch fleurs-de-lis gemusterten Rauten, der auch die Verkün digung und die Darbringung schmückte. Im Boucicaut-Stil wie im frühen Bedford-Stil gab man zur gleichen Zeit schon David als biblischem Autor der Psalmen in seiner Buße den Vorzug; siehe dazu unser Buch von 2011 (Katalog 66) mit Gottesbildern in Nr. 1 (S. 161), im Joffroy-Stundenbuch vom Bedford-Meister (Nr. 2: S. 195) und in Nr. 5 vom Mazarine-Meister (S. 269), während beim Bedford-Meister zu diesem Incipit in Nrn. 3 und 4 (S. 229 und 249) und bei Conrad von Toul in Nr. 6 (S. 297) David erscheint. fol. 100: Die gewohnten Erkennungsbilder der Horen haben sich hier bereits durchge setzt: Heilig-Kreuz wird mit einem Bild der Kreuzigung auf fol. 100 eingeleitet. Statt eine Szene des Passionsgeschehens inmitten von römischen Söldnern und klagenden Frauen zu zeigen, spannt sich das Kruzifix in voller Bildhöhe auf einer Wiese vor dem Mustergrund, während unter den Kreuzesarmen Maria und Johannes in stiller Trauer zum Kreuz gewendet die Köpfe neigen. Maria hat die Hände zum Gebet gefügt, wäh rend Johannes, als Evangelist mit einem Buch bezeichnet, die Hand an die Wange legt; es ist eine stille, zeitlose Fassungslosigkeit, die der Maler in diesem Kreuzigungsbild zum Gedenken an die Passion Christi entwickelt hat. Die Horen von Heilig-Kreuz eröffnen mit einer Darstellung des Pfingstwunders (fol. 104v). Auf einer Holzbank, die wohl an ein Chorgestühl erinnern soll, sitzt die blau gewande te Gottesmutter in der Mitte, die Füße auf einem roten Kissen. Über ihr erscheint die Taube des Heiligen Geistes, die einen roten Strahlenkranz aussendet; darunter teilt sich die Gruppe von Aposteln symmetrisch in zwei Gruppen. Die linke wird angeführt vom jugendlichen Apostel Johannes in rotem Gewand, die rechte von Petrus als Apostelfürst in einem grünen Gewand, das durch das rote Innenfutter in den Mantelumschlägen eine aufregende Dynamik entwickelt. Mehr braucht der Maler nicht, um das Geschehen wie dererkennbar zu charakterisieren; die übrigen Apostel werden durch halbe Köpfe und
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Heiligenscheine angedeutet. Einzig der Apostel neben Johannes ist vollständig charak terisiert; er trägt Schwarz. fol. 108: Die letzte Miniatur begleitet das französisches Mariengebet Doulce dame, das gern von einem Herrengebet mit Anrufungen des Dous dieu begleitet wird, in unserem Manuskript aber nur durch eine dreizeilige Dornblatt-Initiale mit Vollbordüre hervor gehoben wird. Auf fol. 108v sitzt nun auf einem rosafarbenen Thron ohne Lehne die Madonna mit Kind: Nun trägt Maria ein rosafarbenes Gewand und ist in einen blauen Mantel mit goldenem Saum gehüllt. Die sonst so elegante Streckung des Kopfes weicht einem rundlicheren Antlitz mit spitzem Kinn. Die blonden Locken legen sich bewegt um das Haupt und fallen locker auf die Schultern; ruhig blickt sie auf den kleinen Chri stusknaben, der, hier mit etwas bleichem Inkarnat und blondem Haar, in ein transp a rentes Tuch gehüllt, lebendig auf dem Schoß seiner Mutter turnt und die kleinen Ärmchen ausstreckt. Zum Stil: In ihrer Gesamtgestalt repräsentiert diese Handschrift einen Stil, den man vom Gra fen Paul Durrieu bis zu Millard Meiss 1968 vom Stundenbuch des Marschalls Boucicaut, Ms. 2 des Pariser Musée Jacquemart-André, aus bestimmt hat. In ihrer wegweisenden Studie, die 1999 als erster Band unserer Reihe Illuminationen erschienen ist, hat Ga briele Bartz eine heute allgemein anerkannte Scheidung vollzogen: Während Meiss dem Hauptmeister nur das namengebende Manuskript sowie ein später im Besitz des Étienne Chevalier befindliches Stundenbuch, Add. 16996 der British Library, und sonst nur we nige andere Miniaturen als eigenhändige Beiträge zuwies, läßt sich der inzwischen auch durch Neufunde gewachsene Gesamtbestand schlüssig in zwei Stilvarianten scheiden: Neben dem Boucicaut-Meister steht ein Künstler, der von einem vielleicht für den Da uphin Louis de Guyenne oder sogar König Karl VI . bestimmten Stundenbuch der Pa riser Bibliothèque Mazarine, Ms. 469, aus definiert wird. Dieser Künstler zeichnet sich durch elegantere Linienführung aus, bevorzugt vor allem in frühen Werken wie unse rem Manuskript Terra verde für die Modellierung von Inkarnaten. Seine Kompositio nen sind weniger von Perspektive und Raumgewinnung bestimmt; der besondere Sinn für rechte Winkel, der den Boucicaut-Maler auszeichnet, fehlt ihm. Insgesamt dürfte der Mazarine-Meister etwas früher ansetzen als der bisher berühmtere Stilgenosse; inten siv waren seine Beziehungen zum frühen Bedford-Meister und zum Egerton-Meister. Eine bemerkenswerte neue Erkenntnis ergibt sich aus Untersuchungen in Cambridge un ter der Leitung von Stella Panayotova. Im neuesten Ausstellungskatalog des Fitzwilliam Museums Cambridge (Colour. The Art & Science of Illuminated Manuscripts, London 2016, S. 127-129) teilt sie im Beitrag über „Master’s Secrets“ gemeinsam mit Paola Ricci ardi mit, daß der Mazarine-Meister in einem Exemplar des Livre des propriétés des choses von Bartholomäus Anglicus (Ms. Founders 251) Farben in Mittelholländisch oder gar Deutsch an gegeben hat: rot oder root steht da neben himel für Blau.
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Damit erweist sich Paris auch für den Mazarine-Meister als der Schmelztiegel, in dem Leute aus der ganzen lateinischen Welt zusammenfanden und neue, dann für die franzö sische Hauptstadt charakteristische Kunst entwickelten. Nicht ganz so charakteristisch für Paris war hingegen jener Maler, der mit dem Madonnenbild am Schluß die elegan te Proportionierung und den Linienfluß vermissen läßt, die den Mazarine-Meister aus zeichnen. Dieser aus Deutschland stammende Mitarbeiter gestaltet seine Figuren mit kompakter Lebendigkeit; wo der Mazarine-Meister die farbstarken Gewänder ganz aus der Dichte des Pigments zu entwickelt, benutzt er dunkle Konturen, um die kleinteili gen Stoffkaskaden des blauen Marienmantels vorzubereiten und dann mit vielen feinen Pinselstrichen in einem hellen Blau zu höhen. Selbst den Heiligenschein gestaltet dieser Maler anders; Mutter und Kind erhalten bei ihm einen wunderbaren Strahlenkranz um das Haupt, der auf dem Blattgold der Nimben gearbeitet ist. Zu den vielen erstaunlichen Neufunden von markanten Werken der französischen Buchmalerei aus dem ersten Jahrzehnt nach 1400 gehört dieses Stundenbuch ei nes der führenden Buchmaler, handelt es sich doch um eine recht frühe Arbeit des Mazarine-Meisters, dessen Eigenart inzwischen klar vom Stil des Boucicaut-Mei sters unterschieden wird. Vom Buchdekor und dem Zuschnitt der fast quadrati schen Miniaturen gehört diese Handschrift in die Zeit vor dem Auftauchen des ab 1407/08 dokumentierten Akanthus. In der schlichten und überzeugenden Bildspra che in Miniaturen, die noch weitgehend auf Architektur und Landschaft verzichten, dafür aber mit kostbaren Mustergründen aufwarten, bereiten Werke wie dieses die großen Neuerungen vor, die das zweite Jahrzehnt bringen sollte. In der kostbaren Farbigkeit und der eindrucksvollen Modellierung verraten die Miniaturen bereits die technischen Neuerungen, die, wie wir heute wissen, nicht allein auf den BoucicautMeister, sondern vor allem auf den hier tätigen Mazarine-Meister und auch den Bed ford-Meister zurückgehen, die wohl beide nicht in Paris geboren wurden. Durch die Mitarbeit eines wohl aus dem Rheingebiet stammenden Buchmalers könnten von deutschsprachigem Gebiet herrührende Einflüsse Gewicht bekommen, zumal der Mazarine-Meister selbst, wie gerade erkannt wurde, Farben auf Deutsch oder Hol ländisch notierte. LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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6 Ein Pariser Stundenbuch des Boucicaut-Meisters mit den Wappen von Corlieu und Lusignan
6 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament, mit teilweise französischen Rubriken in Rot und ei nem französischen Kalender in Gold, Blau und Rot, geschrieben in Textura. Paris, um 1412-15: Meister des Marschalls Boucicaut 26 Bilder: zehn große Miniaturen mit Bogenabschluß über vier Zeilen Text mit dreizeili gen Dornblatt-Initialen, davon zwei in Vollbordüren mit symmetrisch angelegtem bunten Akanthus, mit Goldeinschlüssen und Vögelchen, die anderen mit dreiseitiger DornblattZierleiste und Dornblattbordüren mit Blüten am Ende der Spiralen; vier fünfzeilige Bil der im Textfeld, davon eines in Vollbordüre mit Doppelstab um das Textfeld, ausstrah lender Akanthus oben; zwölf Vierpässe im unteren Randstreifen des Kalenders. Alle Textseiten mit Doppelstab außen und dreiseitiger Klammer aus Dornblattbordüren von außen. Zweizeilige Dornblatt-Initialen zu den Psalmenanfängen auf Recto mit ausstrahlen dem Dornblatt, einzeilige Initialen zu den am Zeilenbeginn einsetzenden Psalmenversen in Gold auf roten und blauen Flächen mit weißem Liniendekor; Zeilenfüller in gleicher Art. Ver salien gelb laviert. 143 Blatt Pergament, je ein fliegendes Vorsatz altes Pergament. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12) sowie die Lagen 2 (6) mit den Perikopen, 5 (4), Lage 11 (8-2, die beiden ersten Blätter entfernt), 15 (8-1, das zweite Blatt entfernt) und die Endlage 19 (8-4; Text bricht auf fol. 143v ab). Reklamanten in etwas kleinerer Textura zuweilen beim Trimmen abgeschnitten. Oktav (210 x 150 mm; Textspiegel: 100 x 70 mm). Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen. Gebunden in alten roten abgegriff enen Samt über Holzdeckeln mit zwei Messingschließen. Goldschnitt mit Spuren alter Bemalung. Immens breitrandig und nahezu ohne Benutzungsspuren erhalten; das Johannesbild durch Ver werfung des Pergaments mit minimalen Fehlstellen. Zwei Blätter mit Miniaturen und dazu ein Textblatt sowie das Ende des Toten-Offiziums mit der 9. Lesung und den Laudes fehlen. Ein Flicken für eine Fehlstelle auf fol. 9 ist heute entfallen. Provenienz: Mit wenig später nachgetragenen Wappen Corlieu-Lusignan, in denen Silber durchweg als Weiß gegeben ist: auf fol. 19 geviert: im 1. und 4. Feld de sinople au chevron d’argent chargé de trois quintefeuilles de gueules, im 2. und 3. Feld d’argent au lion de gueu les, armé, lampassé et couronné d’or (Corlieu, Curlew oder Corleix von York), als Herzschild burelé d’argent et d’azur de huit pièces (Lusignan). Das Wappen mit sinople au chevron d’argent chargé de trois quintefeuilles de gueules neben dem Wappen der Lusignan auf dem Katafalk fol. 115 ergänzt Thomas de Corlieu oder Curlew, geb. um 1390, kam 1414 mit Thomas von Lancaster oder Thomas Plantagenet, Herzog von Clarence (gest. 1421), nach Frankreich, hielt die Burg von Gourville bei Angoulême besetzt, bis er deren Erbin Renotte oder Perotte du Fresne aus dem
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Anjou heiraten konnte; Thomas oder der Sohn Jean de Corlieu dürfte die Wappen hinzuge fügt haben. Text: fol. 1: Kalender in französischer Sprache abwechselnd in Rot und Blau, Feste in Gold. Die Heiligenauswahl mit Festen von Genovefa (3.1.), Germanus (27.5.), Ludwig IX . (27.8.) und Dionysius (9.10.) weist auf Paris. fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14), Matthäus (fol. 15v) und Markus (fol. 17); fol. 18/v: leer. fol. 19: Marienof fizium für den Gebrauch von Paris, wie zur Marien-Laudes bezeugt: Matutin (fol. 19, mit drei vollständigen Nokturnen), Laudes (fol. 42, mit ausführlicher Rubrik auf fol. 41v: Ci commencent les laudes des heures de n(ost)re dame a l’usaige de pa ris), Prim (fol. 52v), Terz (fol. 58v), Sext (fol. 63v), Non (fol. 67v), Vesp er (fol. 72), Komplet (Rubrik auf fol. 79v, die ersten beiden Blätter fehlen). fol. 85: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 97v) mit Pariser Heiligen: u. a. Gervasius und Pro thasius, Anastasia, Genovefa, Opportuna, Avia. fol. 103v: Horen von Heilig Kreuz (fol. 103v) und Heilig Geist (fol. 111, das erste Blatt entfernt). fol. 115v: Totenof fizium, für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 115v), Matutin (fol. 123v, nicht markiert); Text bricht nach dem Responsorium zur achten Lesung der Matutin ab. Schrift und Schriftdekor Die sorgfältige Textura, die auch für die dekorativen Reklamanten verwendet wurde, verrät die gepflegte Buchkultur in Paris im zweiten Jahrzehnt nach 1400: Klar geschie den sind die Dekorationsstufen mit dem Flächendekor für die einzeiligen Initialen und dem Dornblatt für die zweizeiligen. Dornblatt erscheint in den Randstreifen durchweg nur in Blattgold an einfachen Tintenlinien. Der Konflikt zwischen einem von Initialen abhängigen Randschmuck und einem für alle Doppelseiten gültigen Gleichklang wird hier so gelöst, daß der Textspiegel jeweils von außen von einem Doppelstab begleitet wird, der eine zum Falz hin ausgreifende Klammer aus reinen Dornblattranken sprießen läßt. Doch gibt man den Gedanken, Dornblatt müße aus den entsprechenden zweizeiligen In itialen sprießen, hier nicht ganz auf: Wo Platz ist, also nur auf Recto, kommen Ausläu fer von Dornblatt hinzu und sorgen damit für weiteren Reichtum und ein gewisses Un gleichgewicht. Dieser Dekor ist durchweg von einem Illuminator geschaffen, der seinen eigenen Vorrat an Rot und Blau für die kleinen Blüten und aus den Zierleisten sprießen den Blattformen verwendet. Seine Arbeit erstaunt insofern, als die waagerechten Ran ken nicht in ganzer Breite des Textspiegels ausgreifen und unten gleich hoch wie oben bleiben, also nicht auf den sehr viel größeren Randstreifen unten eingestellt sind. Beson
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ders irritierend wirken deshalb die Recto-Seiten des Kalenders; dort verdrängen die recht großen Medaillons den Rankenschmuck, der sich nur mit ein paar Dornblättchen um die Monatsarbeiten legt, während vom KL aus kräftiger Dekor zum Falz hinzukommt. Davon unterschieden werden die Ranken der Seiten mit großen Bildern sowie des In cipits zu Johannes, fol. 13: Für sie werden Buchmalerfarben eingesetzt: Aus dem stren gen, hart konturierten Blattwerk des Illuminators, wie es auf fol. 14 zu finden ist, schlagen die Doppelstäbe in rote und blaue Akanthusblätter aus, die sich um Blattgold-Einschlüs se legen; und an den Enden der Dornblatt-Spiralen sprießen nun gemalte Blätter, Blüten oder Früchte. Als Zierleisten werden breite Bänder des Dornblattdekors in den Farben des Illuminators eingesetzt; einmal jedoch verdrängt der in der Pariser Buchmalerei erst ab 1407/08 nachgewiesene Akanthus die ältere Ornamentik: zur Non mit der Darbrin gung im Tempel (fol. 67v). Von hier ist es noch ein erheblicher Schritt zu den beiden wichtigsten Buchseiten, zur Marien-Matutin und den Bußpsalmen. Dort ist der Dornblattschmuck fast ganz von Blattwerk in den Buchmalerfarben verdrängt: Akanthus in vielen Farben bestimmt nun den Eindruck; er geht von einem Blumentopf oder einem Knoten im unteren Randstrei fen aus, bildet dann in den Senkrechten Mittelachsen, schließt prächtige Goldflächen ein und entwickelt so eine geschlossene Wirkung, die der Natur verpflichtete Blumen und Früchte nicht duldet. Die Bilder fol. 1: Den Kalender begleiten wie beispielsweise in den Belles Heures des Herzogs von Berry (New York, Cloisters) auf allen Recto-Seiten im unteren Randstreifen stehende Vierpässe mit Monatsbildern; die auffällig spitz gezackten Bildfelder zeigen in unre gelmäßiger Folge vor fein gestricheltem Himmel oder vor mit Goldranken gemusterten Gründen in Blau, seltener Rosa einzelne Gestalten in einschlägig vertrauten Motiven: Im Januar sitzt ein Mann am Kamin und schaut wie gespannt ins lodernde Feuer; den Fond füllt Blau, das den Kamin, der eigentlich in eine von rechts in die Tiefe fluchten de Wand eingebaut sein müßte, wie ein Möbelstück isoliert. Vor Himmelsblau sind die Arbeiten von Februar und März gezeigt: Da bückt sich zunächst ein Mann unter einem dürren Bäumchen und bindet das sauber beschnittene Reisig beim Holzholen; dann wird im März bei der Arbeit im Weinberg der Boden vor den Weinstöcken gelockert. Ein vor nehmer Jüngling mit Blumenzweigen in Karminrot mit zinnoberrotem Kopfputz spaziert vor dem blauen Mustergrund im April. Auch der Falkner beim Ausritt im Mai erscheint vor blauem Fond. Die bisher nicht beachtete Tradition, eigentlich Mustergründe in Blau und Altrosa alternieren zu lassen, setzt sich im Juni bei der Heuernte vor Altrosa durch; viel Gras steht da nicht, so daß der Bauer mit seiner Sense etwas verloren wirkt. Fast mannshoch hingegen erheben sich die Ähren bei der Kornernte im Juli, die vor zartem Himmelblau stattfindet. Im Freien, vor Himmel, erfolgt auch das Dreschen im August. Der Bottich mit dem Mann, der die Reben niedertritt, zur Kelter im September steht hingegen vor Altrosa. Unter blauem Himmel schreitet der Sämann im Oktober. Kräftig
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holt der Schweinehirt im November mit seinem Stock aus, um Eicheln für die Schweine herab zu schlagen. Zum Schweineschlachten im Dezember holt ein Mann vor Altrosa mit einem Holzhammer aus. fol. 13: Kleinbilder eröffnen die Perikopen; fünf Zeilen hoch sind sie als Quadrate ne ben der Dornblatt-Initiale eingerichtet und nehmen die halbe Breite des Textspiegels ein. Den ersten Text hebt eine Vollbordüre mit dreiseitiger Zierleiste hervor, die in den Ecken und Enden in kräftigen blau-roten Akanthus ausschlägt. Ungeachtet des kleinen Bildformats werden die Evangelisten in Ganzfigur mit ihren geflügelten und nimbierten Attributswesen beim Verfassen ihrer Texte gezeigt. Die Bildtradition unterschied bei Johannes nicht zwischen dem Evangelisten und dem Apokalyptiker; deshalb wird der blond gelockte Johannes auf Patmos (fol. 13) gezeigt: Das runde Eiland wird von einem silbernen Fluß umrundet, den wiederum in den Ecken vorn und hinten das Ufer umgibt, hinten sogar mit zwei Bäumen vor dem Himmel. Der Evangelist hockt auf dem Gras und schreibt auf ein Schriftband; der Adler taucht hinter ihm auf und hält das unverhältnismäßig große Schreibzeug in schwarzem Leder. Vor blauem Grund mit Goldmuster sitzt der greise Lukas (fol. 14) an einem Schreib pult, ihm gegenüber liegt sein Stier auf dem Fliesenboden und schaut wie ein Schüler auf zum Meister. Ähnlich ausgestattet ist das Bild des ebenfalls greisen Matthäus (fol. 15v), der zudem über eine Fußbank verfügt; er beugt sich angestrengt über seine Schreibar beit, während der Engel gelassen neben ihm steht und das schwarze Schreibzeug hält. Bei Markus (fol. 17), im ersten Bild mit einem kostbaren Karogrund, ändert sich die Richtung: Nun sitzt der Löwe mit seinen mächtigen roten und grünen Flügeln links und schaut aufrecht zum Evangelisten, der über ein drehbares Schreibpult gebeugt ist. fol. 19: Das Marienof fizium wird vom im 15. Jahrhundert in Paris gewohnten Bildzy klus begleitet: Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 19) ist als Interieur mit Ausblick in der Mitte begriffen und von einem Diaphragma aus Säulen und leicht vorspringendem Bogen ge rahmt. Ein mit goldenen Sternen geschmücktes blaues Kreuzgratgewölbe vermag kaum die gegensätzlich konstruierten Seiten des Raumes zu fassen; denn statt mit Seitenwän den Ordnung zu schaffen, arbeitet der Buchmaler mit jeweils in eigener Art fluchtenden Nebenräumen, einer Altarnische links und einem Nebenraum für Marias Baldachin rechts; deren Fenster sind so unterschiedlich hoch, daß rechts im sehr viel niedriger an setzenden Gewölbe noch Platz für ein zusätzliches Fenster bleibt. Grundsätzlich soll hier Zentralperspektive herrschen; doch selbst der Ausblick ins Freie fügt sich dem nicht; ge zeigt wird eine Terrasse, auf deren Mäuerchen zwei Blumentöpfe stehen. Zu dieser Ter rasse führt von rechts unten eine Treppe hinauf, die gerade noch angedeutet ist. Gabriel ist links niedergekniet, hat sein Spruchband vor der Lilienvase und dem Betpult gesenkt; die Jungfrau ist ihm zugewandt, läßt die Linke auf ihrem Gebetbuch ruhen, während sie
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mit der Rechten offenbar gestisch über die Botschaft des Erzengels so spricht, als biete das Buch Argumente. Die Taube des Heiligen Geistes erreicht gerade Marias Nimbus, sie ist aus dem von Seraphim gebildeten Kranz um die Gotteserscheinung herab geflo gen, die sich vor goldenem Grund im Bogen des Bildes zeigt. Silber ist in ungewohnter Vielfalt eingesetzt: Die Fenster wirken unterschiedlich dunkel oxidiert; die Lilienvase ist silbern und in einem lichteren Ton auch Gabriels Albe, der darüber eine rosafarbene Dalmatika trägt. Nach soviel Aufwand für die Eröffnungsminiatur wirken die folgenden Bilder schlicht und sachlich, was auch die einfachen Dornblattbordüren unterstreichen: Bei der Heim suchung zu den Laudes (fol. 42) genügt ein Grasstreifen und ein nur kurz hinter Ma ria aufragendes Felsstück als Andeutung, daß die Jungfrau übers Gebirg gekommen ist; beim Fond darf man sich nicht täuschen lassen: Sein Goldmuster mit kleinen Karos ist ungemein teuer und kostbar. Davor steht Maria im blauen Mantel über einem Kleid in Altrosa und wird von der greisen Elisabeth begrüßt, die über grauviolettem Kleid leuch tendes Zinnober und eine weiße Haube trägt. Vor Karomuster steht bei der Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 52v) der Stall von Bethlehem mit seinem steilen Dreiecksgiebel, nach rechts hinten verkürzt. Die Dächer wie die aus grünlichem Flechtwerk gebildete Seitenwand sind in vorzüglichem Zustand, während sonst mit den Fehlstellen malerische Effekte erzeugt werden. Auch die hölzer ne Krippe vorn links wirkt geradezu wie neu. Von Esel und Ochs gleichsam bewacht, liegt der nackte Jesusknabe auf grünem Grund. Ihn betet die Jungfrau Maria kniend an, während der greise Ziehvater Joseph mit gebeugtem Haupt hinter ihr steht. Daß Landschaftsmalerei eine Option des verantwortlichen Buchmalers war, zeigt die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 58v), auch wenn ihr nur wenig Raum gegeben wird: Unter einer Engelserscheinung in einem Segment bestirnten Blaus spannt sich textil ge mustertes Altrosa; darunter wird dann doch recht geschickt Landschaft ausgebreitet: Die Schafherde ist vor einem Feldhügel und einem Baum links versammelt, das Gelän de steigt rechts an, wo zunächst der Hirtenhund mit dem Stachelhalsband aufmerksam nach oben schaut, ein wenig zu den beiden Hirten gedreht, deren einer sitzend zum En gel aufblickt und mit der Hand seine Augen schützt, während der andere ruhiger auf ei nen Stock gestützt dasteht. Bei der Königsanbetung zur Sext (fol. 63v) wird der Blick auf den Stall von Bethlehem umgedreht. Der Zustand des Dachs bleibt gleich; doch ist die geflochtene Wand nicht so sorgsam geordnet. Maria sitzt links, wie andere Versionen des Themas vermuten las sen, auf der Kante ihres roten Betts, hält den nackten Knaben, der sich auf seinen Füß chen aufrichtet und in den Kelch faßt, den der älteste König barhäuptig kniend darreicht, während sich die beiden anderen noch unterhalten, wohl über den Stern, der jedoch ein wenig hinter ihnen in bombiertem Blattgold vor dem Himmelblau erscheint. Ein ausgesucht schönes getrepptes Muster bilden die Karos als Fond der Darbringung im Tempel zur Non (fol. 67v): Das Personal ist auf die jugendliche Magd, die drei Tau
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ben in einem steilen Korb bringt, Maria und Simeon beschränkt. Die Jungfrau reicht das Wickelkind wie einen Laib Brot über den Altartisch; selbst sie faßt es nur mit vom Mantel verdeckter Hand; entsprechend hält der greise Priester seine Hände unter einem weißen Tuch verdeckt. Auch die Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 72) spielt vor wiederum anders gemuster ten Karos. Joseph trägt an aufgerecktem Stock ein hellgrünes Bündel, wendet sich um und führt den Esel. Auf dessen Rücken sitzt Maria, ganz vom Blau ihres Mantels um flossen und schaut innig auf ihr Wickelkind. Vor fol. 80 fehlt wohl eine Marienkrönung als Bild zur Komplet. fol. 85: Die Boucicaut-Werkstatt hat sich besonders gern mit Davids Buße in der Ein öde auseinandergesetzt; hier aber eröffnen die Bußpsalmen mit dem älteren, bereits in unserer Nr. 1 zu findenden Motiv der Majestas domini: In einer ähnlich prachtvollen Akanthus-Bordüre wie zur Marien-Matutin erscheint das Bild des greisen Gottvaters, der barhäuptig den Kreuznimbus des Sohnes trägt. Er sitzt auf einem Thron, dessen Wangen zur Linken die Gesetzestafeln und zur Rechten, also für die Betrachter links, den Meßkelch mit der weißen Hostie tragen. So zwischen dem Alten und dem Neuen Bund zeigt sich Gott vor bestirntem Rosa, das von tiefblauen Wolken umgeben ist; dort sitzen unten Löwe und Stier mit hellen Flügeln, oben aber der Engel und der Adler, also die vier Wesen, die als Attribute die Evangelisten verkörpern. fol. 103v: Zu den Horen ist nur die Kreuzigung (fol. 103v) erhalten geblieben; das Bild zu den Horen von Heilig Geist fehlt vor fol. 111; es stellte vermutlich das Pfingstwunder dar. Streng und schlicht ist die Kreuzigung auf den Erlöser zwischen der Muttergottes und dem Lieblingsjünger beschränkt. Die Beifiguren stehen mit gesenkten Häuptern auf kargem Boden. Das Kreuz ragt vor textil gemustertem Rosa auf; doch im Bogen oben zeigt sich tiefes Himmelsblau mit Sternen sowie Sonne und Mond als Ausweis der kos mischen Dimension des Ereignisses. ten of fi zi um zum ent fol. 115v: Aus einem gängigen Bildmotiv macht der Maler beim To sprechenden Text eine prachtvolle Miniatur: Streng bildparallel steht vorn der Katafalk mit rotem Kreuz auf dem blauen Tuch, auf das erst nachträglich Allianzwappen aufge malt wurden. Nur vorn ist Platz für zwei hohe Kerzen; denn hinter dem Sarg stehen links drei Priester in schwarzen Chormänteln am Chorbuch, während von rechts drei Pleurants hinzugetreten sind. Ins leuchtende Blattgold des Fonds sind breite grüne Ran ken eingefügt, wie sie der Egerton-Meister in die Pariser Buchmalerei einbrachte. Gera dezu einen jubelnden Ton stiften die zinnoberroten Blüten in diesem Pflanzenmuster.
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Zum Stil Die Hauptminiaturen verraten durchweg den Stil und die Hand des Malers, den schon Paul Durrieu vom Stundenbuch des Marschalls Boucicaut (Paris, Musée Jacquemart-An dré, Ms. 2) aus bestimmt hat und dem Millard Meiss 1968 eine Monographie widmete. Eine entscheidende Klärung erhielten die mit diesem Stil verbundenen Probleme durch Gabriele Bartz, die in ihrem Buch von 1999, mit dem wir unsere Reihe Illuminationen er öffneten, neben den Boucicaut-Meister mit dem Mazarine-Meister einen zweiten Buch maler stellen konnte. Im Nebeneinander unserer Nr. 5 und des hier beschriebenen Stundenbuchs treten die Unterschiede bei aller Ähnlichkeit von Kompositionen und Kolorit klar zu Tage: Inner halb eines gemeinsamen Rahmens unterscheiden sich die Physiognomien, was durch die helleren Inkarnate hier gegenüber dem Einsatz von Terra verde dort unterstrichen wird. Zugleich wird deutlich, daß die beiden Handschriften nicht gleichzeitig entstanden sind: Die durch hohe Rundbögen abgeschlossenen Bildfelder hier entwickeln eine eindrucks volle Höhe. Das lädt bei der Verkündigung zu einer kühnen Architektur ein, an die in Nr. 5 noch nicht zu denken war. Von besonderer Bedeutung ist schließlich das Bild zum Totenof fizium, das eines der sel tenen Beispiele im Werk des Boucicaut-Meisters mit direkter Anlehnung an den Eger ton-Meister ist. Von diesem Künstler ist hier das prachtvolle Blattwerk für den Fond übernommen. Auch in diesem Stundenbuch wird man einen Mitarbeiter ausmachen können: Einige Vierpässe im Kalender und drei der vier Evangelisten setzen sich vom persönlichen Stil des Boucicaut-Meisters etwas ab. Die stärker zeichnerische Gestaltung läßt an Künst ler denken, die wie der Meister des Guy de Laval (unsere Nr. 7) dem Boucicaut-Meister verpflichtet sind. Ein bisher unbekanntes, künstlerisch eindrucksvolles Stundenbuch mit Miniatu ren des Boucicaut-Meisters und eines nicht genau bestimmbaren Gehilfen aus dem zweiten Jahrzehnt nach 1400: In den Miniaturen zwischen den älteren Bildformen mit Mustergründen und Szenen im Freien unter blauem Himmel schwankend, ent hält das Manuskript auf seinen wichtigsten Buchseiten bereits den voll entwickel ten Akanthusdekor, wie er etwa zeitgleich auch vom Bedford-Meister gepflegt wird. Die Bebilderung zeigt sich einerseits älteren Traditionen verpflichtet, beweist aber den für den Künstler charakteristischen Sinn für ein neues, kraftvolles Kolorit. So warten einige Bilder mit wunderbaren Variationen zu den wichtigsten Bildthemen auf. Begleitet werden sie von einem kostbaren Dekor, der Zeitsprünge, die sich aus der Entwicklung der Pariser Buchmalerei zu Beginn des 15. Jahrhunderts erk lären, sofort für eine hierarchische Unterscheidung der beiden wichtigsten Incipits vom üb rigen Bestand einsetzt. Damit ist dieses Manuskript in unserer Abfolge ein beson
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ders charakteristisches und überaus qualitätvolles Beispiel für den künstlerischen Gipfel, den die Buchkunst in Paris um 1415 erreichte. LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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7 Ein Pariser Stundenbuch des Meisters des Guy de Laval
7 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, mit Rubriken in Rot und einem französischen Kalender in Schwarz und Rot, geschrieben in Textura. Paris, um 1415: Meister des Guy de Laval (ex-Guise-Meister) Vierzehn große Miniaturen mit eingezogenem Bogenabschluß: einmal über vier Zeilen Text mit vierzeiligen Dornblatt-Initialen, sonst über drei Zeilen Text mit dreizeiligen Dornblatt-Initialen, in Vollbordüren mit dreiseitiger Dornblatt-Zierleiste und Dorn blattbordüren mit vielen grünen Blättchen und Blüten am Ende der Spiralen; die beiden wichtigsten, Marien-Matutin und Bußpsalmen mit Paaren bunter Akanthusblätter. Zwei dreizeilige und zu den Psalmenanfängen zweizeilige Dornblatt-Initialen und Bordürenstreifen in der Höhe des Textspiegels außen, auf Recto mit ausstrahlendem Dornblatt nach links, also mit Randschmuck links und rechts; Seiten ohne solche Initialen jedoch ohne Randschmuck; einzeilige Initialen zu den Psalmenversen am Zeilenbeginn in Gold auf roten und blauen Flä chen mit weißem Liniendekor, Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert. 166 Blatt Pergament, je ein Doppelblatt altes Pergament als fliegendes Vorsatz. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12) und die Lagen 3 (2) und 12 (2) sowie die Endlage 23 (2). Keine Reklamanten. Oktav (180 x 133 mm; Textspiegel: 100 x 70 mm). Rot regliert zu 14, im Kalender zu 17 Zeilen. Neuer Einband mit schwarzem Samt über den alten Holzdeckeln, fünf sichtbare Bünde. Goldschnitt mit Spuren alter Punzierung. Vollständig und ohne Benutzungsspuren erhalten; die breitesten Ranken vom Buchbinder leicht getrimmt. Ohne Hinweise auf ältere Besitzer; zuletzt Privatsammlung, USA . Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt: einfache Tage in Schwarz, Feste und Goldene Zahl in Rot, die Sonntagsbuchstaben A in goldenen Initialen auf Rot und Blau, Sonntagsbuchstaben b-g schwarz; römische Tageszählung abwechselnd schwarz und rot. Die Heiligenauswahl mit Festen von Genovefa (3.1.; auch ihre Trans latio 26.11. als Fest), Germanus (28.5.), Ludwig IX . (27.8.) Dionysius (9.10.) weist eben so auf Paris wie die dialektale Färbung (so „La typhaingne“ für Epiphanie). fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14), Matthäus (fol. 15) und Markus (fol. 16v). fol. 17v: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro (fol. 17v), O intemerata für Ma ria und Johannes (fol. 20); fol. 22v leer.
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fol. 23: Ma rien of fi zi um für den Gebrauch von Paris: Matutin (fol. 23 mit einer lee ren Anfangszeile, vielleicht für eine Rubrik, mit drei vollständigen Nokturnen), Laudes (fol. 46v), Prim (fol. 58), Terz (fol. 64), Sext (fol. 68v), Non (fol. 72v), Vesp er (fol. 77), Komplet (fol. 84). fol. 89: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 101v) mit normannischen Heiligen: an zweiter Stelle der Bekenner Laudus, also Saint Lô von Coutances, der im Kalender (21. oder 22. Sep tember) fehlt; Romanus und Audoenus (Ouen) von Rouen. fol. 106v: Horen von Heilig Kreuz (fol. 106v) und Heilig Geist (fol. 110v). fol. 114v: Totenof fizium, für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 114v), Matutin (fol. 122v, rubriziert), Laudes (fol. 145). fol. 157: Französische Gebete: Lez xv ioies nostre dame: Doulce dame (fol. 157); Lez v plaies nostre seigneur: Doulz dieux (fol. 162v). fol. 165: Textende. fol. 165-166v leer. Schrift und Schriftdekor Im Schriftdekor herrscht das in Paris übliche System von Textura mit gelb lavierten Ver salien, einzeiligen Initialen und Zeilenfüllern im Flächendekor zu den Psalmenversen, die am Zeilenbeginn einsetzen. Die Schrift ist auf der Höhe der Zeit; beim Flächendekor sorgen die harten Grenzlinien, die auch meist etwas weiter ausgreifen, durch Einbuch tungen für eine gewisse Dynamik. Ungewohnt ist der Umstand, daß einfache Textseiten ganz ohne Bordüren auskommen, während bei den beiden dreizeiligen und den vielen zu den Psalmenanfängen geordneten zweizeiligen Dornblatt-Initialen Bordürenstreifen in der Höhe des Textspiegels außen und dazu noch auf Recto nach links ausstrahlen des Dornblatt hinzukommen. Der Rankenschmuck auf den äußeren Randstreifen ist dann recht locker, richtet sich nicht strikt nach den Randlinien des Textspiegels, son dern strahlt von einem Punkt etwa auf der Mitte des Textspiegels jeweils in zwei gegen läufigen Spiralen nach außen aus. Während solcher Dornblattdekor recht locker wirkt, werden dieselben Elemente auf den Bildseiten sehr dicht in Spiralen geführt, die auf die Schematik späterer bretonischer Handschriften hinführen. Auffällig ist die Beschrän kung auf die Farben des Illuminators: Blüten sind traditionsgemäß nur blau und rot ge färbt; ovale grüne Blättchen mit spitzigen Konturen kommen hinzu, die im Wechsel mit Dornblatt Spiralen bilden. Zur Hervorhebung von Marien-Matutin und Bußpsalmen dienen Paare bunter Akanthusblätter, vorwiegend in wenig modelliertem Rot und Blau. Nur auf diesen beiden Seiten werden auch die unter den Incipits von der Zierleiste aus gesparten Räume mit Rankenwerk aus Dornblatt gefüllt.
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Die Bilder fol. 23: Zum Marienof fizium der übliche Bildzyklus in schlichten Bildern, die das Per sonal auf das Nötigste beschränken. Mit Ausnahme des Weihnachtsbildes wird auf Ar chitektur weitgehend verzichtet. Hintergründe erscheinen nach weitgehend dekorativen Gesichtsp unkten in großformigen Karomustern mit Gold, bestirntem Blau, bei Heim suchung, Hirtenverkündigung und Flucht nach Ägypten aber auch als zum Bogenab schluß dunkler werdender Himmel, mit silbernen Wolken durchzogen. Die großen, we nig modellierten Farbflächen vor allem von Blau, vier Rottönen, darunter ein auffällig helles Zinnober, sowie grauem Violett und auch gern für Gewänder eingesetztem Grün bestimmen den Eindruck. Die Marienverkündigung zur Matutin (fol. 23) vor Karomuster überzeugt in ihrer kar gen Bildsprache: Auf einer Wiese steht in der Mitte die silberne Lilienvase. Links ist Gabriel ins Knie gesunken, in Zinnober gekleidet mit innen weißen, außen blauen Flü geln. Mit gekreuzten Armen und ausgestrecktem rechten Zeigefinger spricht der Erzen gel das Ave aus, das auf einem weit nach oben schwingenden Spruchband steht. Maria, die unter einem karminroten Baldachin ihr Gebetbuch gelesen hatte, hebt beide Hände und wendet sich sacht um, während durch den Bogen des Schriftbandes aus einem dun kelblauen Himmelssegment, das einst silbern leuchtete, die Taube des Heiligen Geistes auf sie herabschwebt. Vor steil nach rechts zum Himmel ansteigenden Felsklippen mit vereinzelten Bäumchen sind bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 46v) die großen Flächen von Blau und Zin nober gestellt, die Maria und Elisabeth einhüllen und von den weißen Hauben gleichsam bekrönt werden. Die Jungfrau ist von links gekommen; die Greisin sinkt ins Knie, beide suchen einander mit den Händen. Beim Weihnachtsbild zur Prim (fol. 58) wird der säuberliche Stall von Bethlehem zum Interieur mit glatten Wänden und intaktem Dach gezeigt; durch eine dreieckige Luke fallen Strahlen von einem der Sterne, die den blauen Grund mustern. Über einen Flecht zaun blicken Ochs und Esel; eine Krippe gibt es nicht. Den nackten Knaben auf dem karminroten Bett betet Maria allein an, während der greise Joseph mit seinem Gehstock im Lehnstuhl rechts vorn dasitzt, als halte er ein Selbstgespräch. Bei der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 64) grenzt ein silberner Bach die Wiese vorn von einem gegen den Himmel aufsteigenden Hügel ab. Zwischen zwei Gruppen von Schafen sitzt links ein Hirte und spielt Flöte, während ein zweiter rechts, auf seinen Stab gestützt, sich zum Engel wendet, der im Bogenscheitel ein wenig nach links verschoben mit dem gloria auf einem Spruchband erscheint. Bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 68v) ist auf die Darstellung des Stalls ver zichtet. Unter einem roten Baldachin vor mit Sternen gemustertem Blau sitzt Maria auf einer hölzernen Kiste, die Füße auf karminrotem Kissen. Sie hält das nackte Kind, das die Arme nach dem Goldkasten des in Zinnober gekleideten Königs ausstreckt; zu ihm
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schaut auch der in Violett gewandete mittlere sowie der jüngste König, der eine modisch grüne Robe courte trägt. Vor das Karomuster ist bei der Darbringung im Tempel zur Non (fol. 72v) der Altar schräg gestellt: Von links ist die mit Nimbus gekennzeichnete Magd mit drei Tauben im Korb und einer Kerze hinter Maria hinzugetreten. Die Jungfrau hält ihr Wickelkind noch fest im Arm, während der greise Simeon beide bloßen Hände nach ihm ausstreckt. Landschaft unter Himmel mit Silberwolken erhält bei der Flucht nach Ägypten zur Ves per (fol. 77) besondere Aufmerksamkeit; mit Grasnarbe besetzte Felsen steigen nach rechts auf und verstärken die Bewegung, in der Joseph vorausgeht, nicht ohne sich nach Maria umzuschauen, die – sehr viel kleiner als der Ziehvater – auf dem Esel sitzt und das Wickelkind im Arm hat. Statt einer an dieser Stelle üblichen Marienkrönung wird Maria auf Christi Thron zur Komplet (fol. 84) gezeigt. Vor Karomuster und breitem roten Brokat, der den Thron bedeckt, haben beide barhäuptig Platz genommen. Maria wendet sich betend ins Profil, während Christus mit einer goldenen Sphaira, die kein Kreuz bekrönt, in der Linken die Muttergottes segnet. fol. 89: David in der Buße zu den Bußpsalmen besetzt die Mitte der Landschaft, wie er nach links gewendet aus einer Grube steigt, die Harfe links neben sich. In blauem Ge wand und mit Hermelin gefüttertem roten Mantel, die Krone auf dem Haupt, blickt er in die Höhe. Über dem rosafarbenen Mustergrund mit Goldranken erscheint oben Gott vor Goldgrund, in einem blauen Himmelssegment von Seraphim umgeben; da er eben falls die Mittelachse besetzt, und nach rechts schaut, treffen sich die Blicke nicht. fol. 106v: Zu den Horen von Heilig Kreuz ist die Kreuzigung (fol. 106v) vor textilem Mustergrund auf einen schmalen Landschaftsstreifen mit dem Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes beschränkt. Das Pfingstwunder zu den Horen von Heilig Geist (fol. 110v) dominiert Maria als Ver körperung der Kirche, auf einem Thron, von Johannes und Petrus links und den ande ren Aposteln umgeben. Diesmal ist der Mustergrund in Altrosa wirklich als Tuch ver standen, dessen Halterung gegen das tiefe Blau im Abschlußbogen abgesetzt ist; dort erscheint die Taube des Heiligen Geistes mit Goldstrahlen; doch sind die Flämmchen, von denen die Apostelgeschichte spricht, nicht gezeigt. fol. 114v: Beim To ten of fi zi um wird der mit rotem Kreuz gezeichnete schwarze Katafalk vor rosafarbenem Mustergrund auf dem grünen Boden schräg gestellt; ihn umstehen zwei Priester am Singpult links und zwei Pleurants rechts. fol. 157: Zu den Fünfzehn Freuden Mariae zeigt sich die thronende Madonna mit dem in ein rotes Hemdchen gekleideten Jesusknaben auf einem Faltstuhl unter einem großen roten Baldachin mit goldenen Fleurs-de-lis.
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fol. 162v: Zu den Fünf Wunden des Herrn wird die Auferstehung der Toten durch einen Mann und eine Frau verkörpert, die nackt zwischen Felsen unten beten. Als Weltenrich ter erscheint oben der Schmerzensmann in rosafarbenem Mantel mit den Füßen auf ei nem ersten Regenbogen und dann auch einem zweiten Regenbogen thronend und seg net. Im Bogenscheitel über ihm leuchtet golden göttliches Licht, das Strahlen aussendet. Zum Stil: Dieses Stundenbuch steht in bester Tradition des Boucicaut-Stils; ihm sind die wichtig sten Vorlagen verdankt. Am eindrucksvollsten wird das bei Davids Buße deutlich, wo die Einfügung der Hauptfigur in die Landschaft und die große Gotteserscheinung im Bogenabschluß eine interessante Auseinandersetzung mit einschlägig berühmten Fas sungen des Boucicaut-Meisters selbst (so im namengebenden Stundenbuch) bietet. Durchweg zeugt diese Handschrift aber von einem Maler eigener Statur, den man am einfachsten an seiner Neigung zu Figuren im Profil, am prägnantesten an bärtigen Grei sen erkennen kann. In der Zeichnung präzise, im Kolorit auf große klare Farbflächen ausgerichtet, erreicht dieser Künstler vor allem in der Landschaft unter mit Wolken durchzogenem Himmel überzeugende Wirkungen. Millard Meiss hatte ihn von einem prachtvollen Stundenbuch in Chantilly, Ms. 64, aus bestimmt, das die Wappen des Her zogs von Guise trägt, in seiner Hauptminiatur, einer brillanten Verkündigungsszene aber von anderer Hand ist. Schon aus diesem Grund war die Bezeichnung unglücklich. Gabriele Bartz hat sie deshalb zu Recht durch eine historisch angemessene ersetzt: Fast ganz eigenhändig hat der Künstler ein Stundenbuch für Guy XIV de Laval ausgemalt, das von uns in die Sammlung Renate König gelangt ist (deponiert im Erzbischöflichen Museum Kolumba, Köln). So sprechen wir nun von einem Meister des Guy de Laval, wie er von Gabriele Bartz in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge III, 2000, Nr. 6 und kurz darauf in einem später auch als Monographie erschienenen Beitrag zu Nr. 8 der Kölner Aus stellung von 2001 umrissen wurde – auf die Drucklegung der Dissertation, die sich mit dem Künstler auseinandersetzt, wird noch gewartet. Dieser Buchmaler gehört zu den entscheidenden Kräften, die in Paris ausgebildet wurden und dann offenbar in Zeiten der politischen Wirren die Hauptstadt verließen, um entweder in der Umgebung des Dauphins Karl, der bis 1429 als „König von Bourges“ verspottet war, oder in Westfrank reich neue Auftraggeber zu suchen. Zu denen gehörte der dem Dauphin dienende Guy de Laval, dessen wichtigste Besitztümer im Grenzgebiet zur Bretagne lagen. Unser Stundenbuch wird noch in Paris entstanden sein, auch wenn sich der Weg nach Westen in Elementen wie der hohen Position von Saint Lô in der Litanei andeutet. Ein bemerkenswertes vollständig erhaltenes Stundenbuch aus der Stiltradition des Boucicaut-Meisters von einem eigenständigen Buchmaler ausgemalt, den man schon länger unter dem irreführenden Namen Guise-Meister kennt und der durch neuere
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Forschungen als Meister des Guy de Laval zunehmend Gestalt gewinnt. In seinem Œuvre gehört dieses Manuskript zu den frühesten Beispielen. In den Kompositionen noch eng den Pariser Wurzeln verpflichtet, hat sich der persönliche Stil des Künst lers bereits klar erkennbar ausgeprägt. Werke seiner Hand sind rar; doch zeigt sich schon durch den hier präsentierten neuen Fund, wie Forschung und Antiquariat ein ander ergänzen können. LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert. Zum Maler siehe Bartz 2017.
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8 Ein Stundenbuch aus der unmittelbaren Boucicaut-Nachfolge
8 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit einem Kalen der in Schwarz und Rot, geschrieben in Textura. Paris, um 1415-20: Nachfolger des Boucicaut-Meisters 14 große Miniaturen mit flachem Rundbogenabschluß in Doppelstab gerahmt, über fünf Zeilen Incipit mit vierzeiligen Dornblatt-Initialen, mit dreiseitiger Dornblatt-Zierleisten, aus deren Enden sich dichte Vollbordüren mit goldenem Dornblattdekor sowie roten und blauen Blüten entwickeln; eine vierzeilige Initiale ohne Bild (fol. 177) in Blau auf rotem Grund; alle Textseiten mit Doppelstab außen und dreiseitiger Dornblattbordüre, die in Verbindung mit zweizeiligen Initialen auf Recto-Seiten einen Streifen zum Falz erhält, also zur Vollbordüre wird. Zweizeilige Dornblatt-Initialen zu den Psalmenanfängen, einzei lige Initialen zu den Psalmenversen in Gold auf roten und blauen Flächen mit weißem Lini endekor, Zeilenfüller in gleicher Art. Gelbe Lavierung der Versalien kaum noch sichtbar. 180 Blatt Pergament, dazu vorne ein fliegendes und hinten drei fliegende Vorsätze aus altem Pergament, die alten Einbanddeckel als Doublure. Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die erste Kalenderlage 1 (12) sowie die Lagen 2 (4) mit den Perik open, 5 (8-1, Endblatt ohne Textverlust entfernt), 6 (8-1, erstes Blatt ohne Textverlust entfernt), Lage 11 (6) am Ende des Marienoffiziums, Lage 17 (8-1, letztes Blatt ohne Textverlust ent fernt), Lage 18 (8-1, erstes Blatt ohne Textverlust entfernt), Lage 20 (2+1) und die letzte Lage 24 (4); modern Bleistiftfoliierung rechts unten. Oktav (185 x 135 mm; Textspiegel: 100 x 60 mm). Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen; zwei Arten horizontaler Reklamanten. Sehr schön und breitrandig erhalten; trotz einiger unregelmäßiger Lagen vollständig, auf dem textlosen Blatt fol. 18/v vor dem Beginn des Marienoffiziums sind Nahtlöcher zu erkennen: Rückstände eingenähter Pilgerabzeichen. Modern gebunden in alten grünen Samt, die Deckel des alten braunen Ledereinbandes aus dem 16. Jahrhundert mit gestempelten und vergoldeten Medaillons als Doubluren vorne und hinten; eine zentrale Schließe. Provenienz: Eintrag auf Vorsatz hinten: „acheté de M Lenfumé le 9, 9bre 1809 a vellefrie“. Davor: „Séminaire de Langres“. Später P. Berès, Cat. 66 (1974), Nr. 6: frs. 180.000,-. Seit her europäischer Privatbesitz. Der Text: fol. 1: Kalender fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14), Matthäus (fol. 15v) und Markus (fol. 17). fol. 18/v: leer.
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fol. 19: Marienof fizium für den Gebrauch von Paris, mit drei vollständigen Nokturen zur Marien-Laudes: Matutin (fol. 19), Laudes (fol. 44), Prim (fol. 55), Terz (fol. 61), Sext (fol. 65v), Non (fol. 70), Vesp er (fol. 74), Komplet (fol. 80v). fol. 87: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 100) mit Pariser Heiligen. fol. 106: Horen von Heilig Kreuz (fol. 106) und Heilig Geist (fol. 113v). fol. 119v: Totenof fizium, für den Gebrauch von Paris: Vesp er (rubriziert „ad vesperas mortuorum“, fol. 119v), Matutin (fol. 127, von einer Rubrik eingeleitet), Laudes nicht markiert. fol. 165: Französisches Mariengebet: Doulce dame de misericorde, gefolgt von dem fran zösischen Herrengebet: Doulz dieu (fol. 170v). fol. 173v: Mariengebete: Obsecro te (fol. 173v), redigiert für einen Mann; O intemerata (fol. 177), redigiert für einen Mann. Schrift und Schriftdekor: Mit der sorgfältigen Textura und den wesentlichen Grundzügen seines Layouts ent spricht dieses Stundenbuch weitgehend Handschriften des Boucicaut-Meisters wie un serer Nr. 6. Hier wie dort werden alle Textseiten mit Rankenklammern aus Doppelstä ben mit ausstrahlendem Dornblatt gerahmt; dabei sprießen auf Recto-Seiten aus den zweizeiligen Initialen Dornblatt-Ausläufer. Nicht scharf zu bestimmen ist, ob individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Werken einer kontinuierlichen Entwicklung der Buchkunst, persönlicher Eigenart der ausführenden Hände oder gar Spielereien der Beteiligten verdankt werden. So bleibt es beim Textdekor dieser Handschrift beim gleichen Grundbestand mit dem rein goldenen Blattwerk an einfachen Tintenlinien und den nur mit dem Rot und Blau des Illuminators gestalteten ornamentalen Blüten. Doch wandelt sich der Charakter die Rankenklam mern: Während die Zierleisten in Nr. 6 immer wieder an den Enden streng stilisier te größere Blätter ausbilden können und damit eine gewisse Dominanz gegenüber den relativ schwachen waagerechten Ranken erhalten, werden sie in dem hier vorliegenden Manuskript zu einfachen Stäben reduziert, während das Rankenwerk die von der Reg lierung vorgegebenen Flächen ganz ausfüllt. Die Entwicklung führt von ausstrahlenden Ranken zu teppichhafter Wirkung; daß man hier diesen Weg entschiedener beschrei tet, wird am deutlichsten an der Tendenz sichtbar, die Ausläufer der Initialen auf RectoSeiten zum Anlaß zu nehmen, die Ränder ganz auszufüllen und damit zu vierseitigen Vollbordüren zu gelangen. Auf den Bildseiten bleibt es beim Dornblatt; die fortschrittlichere Dekorationsart der mit den Farben des Buchmalers gestalteten Akanthusblätter und Blumen gehörte entweder nicht zum Repertoire oder paßte nicht zum konservativen Auftrag. Dornblatt dominiert bei den Zierleisten; anders als in den Stundenbüchern vom Mazarine- und BoucicautMeister wird unter dem Textbeginn kein noch an Bas-de-page erinnernder Raum frei
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gelassen; zu Eigenart des Illuminators gehören zudem die asymmetrisch und abrupt in den Randstreifen endenden Stücke von dicken Zierleisten. Bei den Miniaturen hat sich ein flacher Rundbogenabschluß durchgesetzt; dem älteren Brauch, die Bilder rechtwink lig zu belassen, folgt noch die Miniatur zur Marien-Non. Die Bilder: Wie gewohnt eröffnet das Marienof fizium mit der Verkündigung an Maria (fol. 19). Die Muttergottes kniet unter einem großen Baldachin; ein grünes Tuch an einer Stange da neben ist so zurückgeschlagen, als solle es den Blick auf die betende Maria ausnahms weise gestatten und damit die Intimität der Verkündigung in Marias Kammer betonen, die sich erst etwas später als populäres Bildthema durchsetzen wird. Der Baldachin wird später Teil ihres Bettes sein; in Nr. 7 dienten die nur an Tüchern befestigten Stangen zur Abgrenzung eines Altars; in unserer Nr. 10 ist er hingegen Marias Stuhl; hier aber nimmt er eine Zwischenstellung ein: Maria hat sich von ihrem Faltstuhl erhoben, um vor einem Altar kniend in ihrem Buch zu lesen. Der von links hinzutretende Engel ist bereits in die Knie gesunken und verkündet mit zum Gebet gefalteten Händen die Bot schaft, über ihm in der Bildecke Gottvater als Halbfigur, der beide Hände erhebt und den Heiligen Geist aussendet, hier nur in Form von Strahlen, nicht aber in der Gestalt der Taube. Das aus Gold mit Rot und Blau zusammengesetzte Karomuster des Fonds wirkt, als richte es sich in seiner Neigung nach der Gotteserscheinung. In den Stationen des Marienlebens folgt auf die Verkündigung das Zusammentreffen Mariens mit ihrer schwangeren Base Elisabeth. Dazu muß die Gottesmutter den be schwerlichen Weg übers Gebirge antreten. Zwar kannte man in der Pariser Buchmale rei zu dieser Zeit bereits Landschaften unter blauem Himmel, doch unser Maler zeigt seine Heimsuchung (fol. 44) auf einer einfachen Wiese vor Mustergrund. Elisabeth links wirkt, als sei sie die Reisende. In einem weißen Beutel trägt sie ein Buch, während sie zu gleich nach Marias Händen greift. Elegant neigen sich beide Frauen einander zu. Statt kräftigen Rots bevorzugt dieser Maler ein leuchtendes Orangerot, das neben dem tiefen Blau des Mantels zu den Auszeichnungsfarben Mariens gehört. Elisabeth hingegen trägt über Karminrot Rosa und eine weiße Haube, die viel Fläche beansprucht Zur Prim wird die Geburt Christi auf fol. 55 gezeigt. Auf einem großen Bett, das die gesamte Bildbreite einnimmt und zur Gänze von dem Stalldach überfangen wird, hat sich Maria mit verhülltem Haupt niedergelassen. Mit aufgestütztem Arm schaut sie auf den nackten Knaben, den sie nackt in den leeren Kasten der Krippe gelegt hat, über die Ochs und Esel auf den Neugeborenen schauen. Diese Art der Darstellung, die das Kind in der Krippe vor der Mutter mit Kind im Arm bevorzugt, ist aus der byzantinischen Ikonenmalerei, aber auch der italienischen Malerei des Trecento bekannt; in Frankreich findet man diese Bildlösung eher selten. Joseph hat auf einem kleinen Flechtstuhl links Platz genommen; als kleine Profilfigur ist er mit Violett und Orangerot nur Assistenz in diesem Bild.
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Die Hirtenverkündigung auf fol. 61 zur Terz findet ebenfalls auf einer Wiese vor einen eigentümlich aus dem Gleichgewicht verrutschten Mustergrund statt, wobei die blau en und roten Rauten, die sich mit Gold abwechseln, hier mit weißen fleur-de-lis verziert sind, wie wir sie schon beim Mazarine-Meister in Nr. 5 gesehen haben. Einer häufig ein gesetzten Bildvorlage des Boucicaut-Meisters folgen die zwei Hirten. Begleitet von zwei weidenden Schafen und einem Hirtenhund, wenden sie dem Betrachter den Rücken zu und blicken auf zu der himmlischen Erscheinung: ein rot geflügelter Engel erscheint am oberen Bildband und stimmt das Gloria in excelsis deo et in (terra pax) an. Für die Anbetung der Könige (fol. 65v) hat Maria unter einem blauen Baldachin Platz genommen, den nackten Sohn auf ihrem Schoß. Der älteste König, in orangerotem Ge wand, ist vor dem Gottessohn auf die Knie gegangen, um ihm sein Geschenk darzurei chen. Der mittlere und der jüngste König, hier in kurzem Rock, haben sich hinter ihm einander zugewandt. Beide sind bartlos; noch mit den Kronen auf dem Haupt warten sie darauf, dem Christuskind ihre Geschenke übergeben zu können. In einem Wechsel von Blau, Orangerot und Rosa entwickelt der Maler eine leuchtende Farbfolge, die span nungsreich mit dem gemusterten Fond kontrastiert. Zur Non wird wie üblich die Darbringung im Tempel auf fol. 70 gezeigt. Es ist die ein zige Miniatur im Buch, die keinen flachen Rundbogenabschluß besitzt sondern ein qua dratisches Bildfeld einnimmt. Ein großer, von rechts schräg in den Bildraum ragender Altartisch genügt, um den Tempel anzudeuten. Maria ist von links mit einer Begleite rin an den Altartisch getreten, um das Wickelkind zu übergeben, der Priester Simeon neigt sich von rechts über den Altar, um es mit verhüllten Händen entgegenzunehmen. Daß die abweichenden Maße des Bildfeldes den Künstler hier irritiert haben, zeigt sich in der Art, wie der weiße Hut des Hohepriesters weit über den goldenen Rahmen der Miniatur ragt. Die Flucht nach Ägypten auf fol. 74 ist eine besonders kraftvolle Miniatur, die sich fast ganz aus dem dynamisch bewegten Joseph entwickelt, der nichts mehr mit dem Greis im Geburtsbild gemein hat, wie er nach rechts schreitend den Esel führt und dabei mit Knie und Stock sogar den Bildrand überschneidet. Auch mit den Füßen durchbricht er ebenso wie der Esel die Bildgrenzen – ein in der zeitgenössischen Buchmalerei seltenes Phänomen. Joseph packt das Tier bei der Mähne, indem er sich zu Maria umwendet, die in ihren blauen Mantel gehüllt das Wickelkind eng an die Brust drückt. Die zwei wun derbar einander zugeneigten Figuren bestimmen den Bildraum, der hier fast etwas zu eng wirkt. Der Esel hingegen ist recht klein, zudem nur in Versatzstücken präsent – mit nur je einem Vorder- und einem Hinterbein. Zur Komplet wird die Marienkrönung (fol. 80v) gezeigt. Christus thront hier in der lin ken Bildhälfte, also eigentlich auf der heraldisch besseren Seite, obwohl die Konvention eine Bewegung in Leserichtung bevorzugt, die Maria von links auf den Thron zukommen läßt. Unter einem roten Baldachin ist der gekrönte Gottessohn mit Weltenkugel einem König gleich, mit der Rechten segnet er Maria, die noch vor ihrem Holzthron kniend verweilt. Demütig fügt sie die Hände zum Gebet, während über ihr ein kleiner Engel
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erscheint, um ihr von oben die Krone auf das Haupt zu setzen. Daß diese Szene eigent lich in himmlischen Sphären spielt, hat der Maler nicht weiter beachtet; wie auch die übrigen Bilder findet das Geschehen auf einer Wiese vor kleinteiligem Karomuster statt. Unser Stundenbuch stammt aus einer Zeit, in der Davids Buße bereits zum beliebten Bildthema der Eröffnungsminiatur zu den Bußpsalmen wurde. Auf fol. 87 kniet der Kö nig als eindrucksvoll große Profilfigur in orangerotem Gewand und dem blauen geschlitz ten Mantel eines Königs in der felsigen Einöde, vor Mustergrund. An seinem Gürtel hängt eine Geldbörse, seine Harfe ist beiseite gelegt; er trägt aber die Krone. Nach rechts wendet er sich mit offenen Händen zur kleinen Halbfigur Gottvaters, der am Himmel den Sünder zu rufen scheint. Die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist werden von den üblichen Bildern eröffnet: In der wie gewohnt dreifigurigen Kreuzigung (fol. 106) ist eine ungewohnte Spannung entwickelt. Christus wirkt geradezu zierlich, wie er mit weit aufgespannten Armen leb los am Kreuz befestigt ist. Während die Gottesmutter sich ganz in ihren blauen Man tel gehüllt hat und fast schwerelos verharrt, hat sich der blonde Johannes in rasantem Schwung ins Profil gedreht, um fassungslos aufzublicken. Seltsam körperlos wirken die zierlichen Figuren, allein durch die Dynamik ihrer Gewänder bewegt. Ganz im Gegensatz dazu steht das Pfingstbild zu den Horen von Heilig Geist auf fol. 113v. Fast riesenhaft sitzt Maria in ihrem langen blauen Mantel in der Bildmitte, umgeben von nur sechs Aposteln, die sich um sie ins Bild drängen, ohne vollständig hinein zu pas sen. Die Taube des Heiligen Geistes fehlt; statt dessen sind die Figuren ins Gespräch vertieft einander zugewandt. Allein der weißhaarige Bärtige links, der von seinem Buch aufschaut und die Hand auf die Brust legt, scheint etwas vom himmlischen Geschehen zu wissen. Eigentlich würde man hier Petrus als identifizierbaren Apostel erwarten; dem widerspricht jedoch der besonders lange Bart. Wer von den jungen Gestalten der sonst gern hervorgehobene Johannes sein soll, läßt sich nicht klar entscheiden. Die Toten-Vesp er wird eingeleitet durch ein Bild vom To ten of fi zi um ( fol. 119v). Statt in einem Kirchenraum liegt der mit einem blauen Tuch verhüllte Katafalk auf einer Wiese, vor einem Grund aus schräg verlaufenden Rauten; doch ist kein Ritus auf dem Friedhof gemeint. Hinter einem langen hölzernen Gestühl, das zum Kircheninterieur gehört, sen ken zwei in Schwarz gekleidete Pleurants die Köpfe, während ein dritter sein Gesicht in die Bildtiefe gewendet hat. Links an einem mit Grauviolett verhüllten Pult stehen zwei Kleriker, um aus dem Chorbuch zu singen. Das für Pariser Stundenbücher typische Mariengebet Doulce dame leitet die thronende Maria mit Kind auf fol. 165 ein. Auf einem hölzernen Faltstuhl, ein goldenes Kissen un ter den Füßen, sitzt die elegant gestreckte Gottesmutter. Ihr nacktes Kindlein bedeckt sie
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mit einem weißen Tuch und neigt den Kopf dabei sacht zu Seite, als wolle sie den Blick wenden und auf etwas schauen, dem links außerhalb des Bildes auch die Aufmerksam keit des Kindes gilt. Das folgende Herrengebet eröffnet der Weltenrichter (fol. 170v), der auf einem Regen bogen thront, mit den Füßen auf einer Weltkugel, die auf uns sonst unbekannte Art von zwei kleinen Engeln mit bunten Flügeln gehalten wird. Auf einer Wiese vor Muster grund steht der Regenbogen des wiederkehrenden Gottessohnes, dessen Erscheinung mit den Wundmalen an die bei Matthäus beschriebene zweite Wiederkehr erinnern soll. Die Rechte hat er zum Segen erhoben und gegen die zentralperspektivische Anlage der Komposition blickt er nach rechts aus dem Bild, als wolle auch er einen Außenstehen den auf der Seite gegenüber mahnen. Zum Stil: Von den Kompositionen, dem Kolorit und dem Buchdekor her gehört dieses Stunden buch ebenso wie unsere Nr. 7 vom Meister des Guy de Laval ins Umfeld des BoucicautStils. Es steht dem Boucicaut-Meister näher als dem Mazarine-Meister, wie ein Vergleich mit unseren Nrn. 5 und 6 zeigt. Die traditionelle Ausrichtung des Schriftdekors, die Be schränkung auf Szenen vor Mustergrund, in denen Möbelstücke Interieurs andeuten, die Landschaft hingegen selbst bei der Hirtenverkündigung und der Flucht nach Ägypten auf einfache Wiesenstreifen beschränkt ist, läßt den Zeitpunkt einigermaßen bestim men, an dem der Maler dieses Manuskripts im Boucicaut-Kreis gelernt haben dürfte: Das dürfte noch im ersten Jahrzehnt nach 1400 gewesen sein, spätestens um 1410. Wann dann genau unser Buch entstanden ist, läßt sich nur schwer bestimmen. Ein ver wandter Stil taucht in einem datierten Manuskript auf, dem Stundenbuch des Jean de Gin gins (Lausanne, Archives Cantonales Vaudoises, Archives du Château de la Sarraz, H 50). Dort liest man auf fol. 193: „Ces heures sont à Jehan de Gingins seigneur Divonne et capitaine sur gens d’armes pour le roy nostre sire et furent faites a la rue neuffve de nostre dame par jaquet lescuyer l’an mil CCCCXXI “. Wie schon Hahnloser 1972 gezeigt hat, stammt der Buchschmuck dort im wesentlichen aus der Bedford-Werkstatt. Doch set zen sich vom Bedford-Stil einige Miniaturen wie die motivisch nicht ganz fremde Dar stellung des Weltenrichters zu Doulz Dieu ab (fol. 374v: König 2007, Abb. S. 66). Viel leicht deutet sich hier eine Weiterentwicklung des Malers an, der sich dann noch stärker vom Boucicaut-Stil weg einer zeichnerischen Arbeitsweise verschrieben hätte. Auf alle Fälle rückt durch die frühe Zeitstellung des Gingins-Stundenbuchs unser hier be schriebenes Manuskript eher in das zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. Ein vollständig erhaltenes Pariser Stundenbuch aus dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts, das bereits wesentliche Neuerungen, die der Boucicaut-Stil späte stens um 1410 entwickelt hatte, verwirklicht, dabei aber eine Tendenz vertritt, die der Tradition treu bleibt. Ein eindrucksvolles Werk eines noch ungenügend definier
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ten Künstlers, in dessen Arbeitsweise zeichnerische Elemente stärker zu Tage treten, selbst in der Modellierung der Schatten. Mustergültig kann dieses Manuskript für das Pariser Stundenbuch um 1415 stehen, wie es für eine Käuferschaft vorgehalten wurde, der es auf schlichte Noblesse ankam. Dabei darf die Kostbarkeit des Goldes nicht unterschätzt werden, das für die üppige Ausstattung des Randschmucks aller Textseiten und für die Mustergründe der Bilder eingesetzt wurde. LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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9 Der Meister des Londoner Alexander aus Paris in einem Stundenbuch für Rouen aus der Werkstatt des Talbot-Meisters
9 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Rouen. Lateinische und französische Handschrift auf Pergament, mit Rubriken in Rot und einem französischen Kalender in Schwarz und Rot, geschrieben in Textura. Rouen, um 1425: Meister des Londoner Alexander (bzw. des Harvard Hannibal) und Talbot-Meister Vierzehn große Miniaturen mit flachem Bogenabschluß, über vier Zeilen Text mit vierz eiligen Dornblatt-Initialen, seltener über drei Zeilen Text mit dreizeiligen Dornblatt-In itialen, in Vollbordüren mit dreiseitiger Zierleiste, bei Marien-Matutin mit vier Halb figuren in den Ecken und einem Blumentopf in der Mitte außen, sonst mit schmaleren Zierleisten in Dornblatt oder Flächendekor und Dornblattbordüren mit Blumen und Akanthus in den Ecken und der Mitte außen. Die beiden Mariengebete mit fünfzeiligen Dornblatt-Initialen, einem Doppelstab außen und einer Rankenklammer aus Dornblatt von links. Zwölf vierzeilige Initialen (für die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist und den Beginn von Quiconque veult) sowie die zweizeiligen Initialen zu den Psalmenanfängen als Goldbuchstaben auf roten und blauen Flächen mit einem Streifen Dornblattbordüre links; einzeilige Initialen zu den Psalmenversen am Zeilenbeginn und Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien gelb laviert 160 Blatt Pergament, ein Blatt Papier vorn, zwei hinten als fliegende Vorsätze. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12) sowie die Lagen 3 (8-2: zwei leere Blätter entfernt), 6 (6) und 11 (2). Regelmäßig Reklamanten aus jeweils wenigen Buch staben in derselben Schrift wie der Text, durchweg getilgt. Groß-Oktav (205 x 145 mm; Textspiegel: 111 x 75 mm). Rot regliert zu 14, im Kalender zu 17 Zeilen.; der Kalender mit extrem hohem unteren Rand: 65 mm. Vollständig, breitrandig und ohne Benutzungsspuren erhalten. Olivgrüner Maroquinband des 18. Jahrhunderts, auf fünf sichtbare Bünde, die Deckel mit ei ner floralen Dentelle in Goldprägung, der Rücken ohne Titel mit Feuerrädern und Eckblüten; die Innenseiten mit Marmorpapier, das vordere fliegende Vorsatz grob abgerissen. Provenienz: Louis Michault, ein Pariser Sammler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (siehe unseren Katalog Horae B. M. V., Nrn. 14, 64, 103.1, 116); dessen gedrucktes Monogramm LM mit einem Papierschildchen im Vorderdeckel, darunter in Tinte mit 3 numeriert. Text fol. 1: Kalender in französischer Sprache, nur wenige Tage besetzt, in Schwarz, Feste und Goldene Zahl in Rot, Sonntagsbuchstaben A in goldenen Initialen auf Rot und Blau, Sonntagsbuchstaben b-g schwarz; römische Tageszählung abwechselnd schwarz und rot. Heiligenauswahl für Rouen: mit Fest des heiligen Martial (2.7.), Translatio des
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heiligen Ouen (5.5.), Ursin 12.6, Evod (8.7. Bischof von Rouen), Romanus (9.8. und als Fest am 23.10.). fol. 13: Perikopen, abweichend vom Brauch beginnend mit Lukas (fol. 13), Matthä us (fol. 14v), Markus (fol. 16 mit falscher Rubrik: secundum matheum). und Johannes (fol. 16v, als Suffragium, mit zusätzlichem Endgebet Ecclesiam tuam, wie es im Pariser Marien-Of fizium als Schlußgebet der meisten Stunden verwendet wird). Diese extrem selten zu findende Abfolge hat offenbar zum Ziel, den Beginn des Johannes-Evangeli ums am Ende als gültige Lehre hinzustellen, die sich aus der Erzählung von Verkündi gung, Epiphanie und Letzten Worten des Herrn ergeben soll. Der Rubrikator konnte dem offenbar nicht ganz folgen. fol. 18v: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro (fol. 18v), O intemerata für Ma ria und Johannes (fol. 21v). fol. 25v-26v leer. fol. 27: Ma rien of fi zi um für den Gebrauch von Rouen, mit eingeschalteten Suffragien nach den Laudes: Marien-Matutin (fol. 27), Marien-Laudes (fol. 37). Suffragien: Heilig Geist (fol. 47v), Heilig Kreuz (fol. 47v), Trinität (fol. 48), Michael (fol. 48v), Petrus (tatsächlich auch an Paulus gerichtet, fol. 49), Jakobus (fol. 49v), Johan nes der Evangelist (fol. 50v), Romanus (fol. 50v), Lorenz (fol. 51v), Nikolaus (fol. 52), Anna (fol. 52v), Magdalena (fol. 53), Katharina (fol. 53v), Clarus (fol. 54), Sebastian (fol. 54v), Blasius (fol. 55), Quintinus (fol. 55v), Alle Heiligen (fol. 56). Marien-Prim (fol. 57), Terz (fol. 62), Sext (fol. 65v), Non (fol. 69), Vesper (fol. 72v), Komplet (fol. 77v). fol. 83: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 93v); der sehr reiche Bestand auch mit normanni schen Heiligen: Audoenus (Ouen), Romanus, Wandrigisilus. fol. 100: Horen von Heilig Kreuz (fol. 100), Kreuz-Prim (fol. 101v) und Heilig Geist (fol. 107). Fol. 113v: Französische Gebete: Doulce dame (fol. 113v), Quiconque veult (fol. 118), als Ein leitung zu Doulx dieux (fol. 118v); fol. 120/v leer. fol. 121: To ten of fi zi um, für den Gebrauch von Rouen: Vesper (fol. 114v), Matutin (fol. 128v, rubriziert), Laudes (fol. 150, nicht markiert). fol. 160v: Textende. Schrift und Schriftdekor Das Buch ist mit schwarzer Tinte und leuchtend roten Rubriken in einer großformigen Textura geschrieben. Die Flächen-Initialen mit goldenen Lettern auf Blau und Rot sind lebendig konturiert, oft schwung voll und leicht kurvig umrandet. Textbordüren sind durchweg als Streifen mit paarweise um eine senkrechte Mittellinie geordnetem Dorn blatt gestaltet; sie treten zwar nur als Hervorhebung von zweizeiligen oder vierzeiligen
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Initialen auf, sind aber nicht organisch mit ihnen verbunden. Ein mit der Initiale durch eine einfache Tintenlinie verbundener goldener Punkt links neben dem Buchstaben dient als Ursprung. Das rein goldene Dornblatt bildet stark vereinfachte zackige Formen aus und wechselt oft mit schmalen ovalen Blättchen ab, die mit Schwarz gezackt sind; oft en den die geraden Ranken in einer mit dem Rot oder Blau des Illuminators gefärbten Blüte. Hervorgehoben werden die beiden lateinischen Mariengebete durch fünfzeilige Dorn blatt-Initialen und eine Rankenklammer von links, die von einem Doppelstab ausgeht. Zierleisten auf den Bildseiten sind in ungeordnetem Wechsel entweder im Flächendekor oder mit Dornblatt gestaltet. Ohne hierarchische Staffelung kann die Leiste zum Falz hin auch als schlichter Doppelstab erscheinen. Unter dem Incipit wird jeweils eine Zei lenhöhe ausgespart, die hin und wieder mit Dornblatt gefüllt wird. Das Rankenwerk beschränkt sich zum Falz hin auf ausstrahlende Einzelformen; nach unten und außen entwickelt Dornblatt eng gezogene Spiralranken, die in mit Buchma lerfarben gemalten Blüten enden. Hart konturierter Akanthus in kräftigem Rot, Blau und Grün bestimmt mit seinen zackigen Blattformen den Gesamteindruck. Daneben kommen auch Blumen und Erdbeeren als Eckmotive vor, jeweils stark abstrahiert. Die originelle Bordüre zur Marien-Matutin ist von dem dafür herangezogenen Pariser Bil dermaler gestaltet und setzt sich deshalb entschieden von den anderen Bordüren auf Bildseiten ab. Die Bilder fol. 13: In Rouen sahen Schreiber zu den Perikopen meist nur eine Miniatur vor, die in der Regel mit vier Bildern aller Evangelisten gefüllt wurden. Hier erscheint hingegen Lu kas (fol. 13); er thront mit seinem Schreibpult vor Karomuster; der Stier versteckt sich geradezu unter dem Sitz; auf das Schriftband blickend schärft der Bärtige seine Feder. fizium ist mit dem vertrauten Zyklus geschmückt. fol. 27: Das Marienof Die Eingangsminiatur wurde mit besonderer Sorgfalt und ungewohntem Aufwand ge staltet: Vier Propheten, die als Halbfiguren aus dunkelblauen Wolkenbändern auftau chen, mit leeren Spruchbändern, umgeben in den Ecken von Zierleiste und Bordüre die Marienverkündigung zur Marien-Matutin (fol. 27): Maria steht links neben ihrem Bet pult unter einem Baldachin, von rechts kommt der Engel, kniet mit dem ave gra(cia) ple na nieder, während über ihm oben aus dem Mund des Vaters die Taube auf goldenen Strahlen herabkommt und gerade in Marias Nimbus eindringt. Der kostbare Karogrund aus Blattgold mit Blau und Rot, der hinter Lukas und der Ver kündigungsszene eingesetzt ist, kehrt als recht kleine Himmelsfläche noch in der Heim suchung und später der Kreuzigung wieder. Sonst aber steht bestirntes Blau entweder über Landschaft oder über textil gemustertem Altrosa, unabhängig davon, ob eine Sze ne im Freien oder in einem Innenraum spielt.
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Die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 37) spielt vor einer abstrakt schräg nach links und rechts oben ansteigenden Landschaft, Maria links steht links, Elisabeth ist von rechts ge kommen und sinkt in die Knie, zur Jungfrau aufschauend. Farbharmonie entsteht durch den Umstand, daß beide Frauen in den Kleiderfarben tauschen: Ihre innen weiß ausge schlagenen Mäntel sind bei Maria blau, bei Elisabeth hingegen genauso violett wie Ma rias Kleid, während die ältere Frau Marias Blau als Kleid trägt. Die Anbetung des Kindes zur Prim (fol. 57) spielt im bildparallel gestellten Stall, der in perfektem Zustand mit vier silbernen Fenstern und einem intakten Dach gezeigt wird. In einer zentralen Öffnung zum bestirnten Blau zeigt sich hinten die Halbfigur eines En gels. Vorn links beten Maria und hinter ihr Joseph kniend das segnende nackte Jesuskind an, das auf dem blanken Estrich liegt und Strahlen aussendet. Die Köpfe von Ochs und Esel flankieren ein eigentümlich ansteigendes Stück Landschaft, das ins Innere versetzt ist. Vorn rechts tauchen über einem Flechtzaun zwei Köpfe auf, wohl Hirten. In einer steil nach oben ansteigenden Hügellandschaft findet die Verkündigung an die Hirten zur Terz (fol. 62) statt: Unten schläft ein Hirte; die Mitte besetzt ein schwarzer Hund. Links stehen zwei weitere Hirten, von denen der jüngere zum Engel aufschaut, der andere aber zu einem Dudelsackbläser, der rechts am Boden hockt, auch er von ei nem jüngeren begleitet, der wohl die Hand zur Engelsbotschaft erhebt. Oxidiert ist das Silber, in dem zwei Landschaftsp artien hinten einmal glänzten. Die Königsanbetung zur Sext (fol. 65v) folgt vertrauten Mustern aus dem Boucicaut-Stil: Der Stall ist auf einen Dreiecksgiebel nach rechts ausgerichtet; darunter sitzt Maria auf ihrem roten Bett, diesmal vor einem silbern verglasten Fenster, also einem Okulus, wie er eher in einen Sakralbau paßt. Das nackte Kind sitzt elegant auf ihren Armen und faßt ohne große Neugier nach dem Kelch, den der älteste König kniend darreicht, während die beiden jüngeren, noch mit den Kronen auf den Häuptern und modischer gekleidet, miteinander sprechen. Die ganz auf flächige Wirkung ausgerichtete Kunst des Buchmalers sorgt bei der Dar bringung im Tempel zur Non (fol. 69) für eine doppelt paradoxe Wirkung: Der rote Fond unter dem Himmelssegment wirkt wie eine mit Tuch ausgekleidete Rundnische, der Al tar hingegen wie eine über Eck stehendes Gestell aus schmalen Wänden, die mit weißem Tuch verhängt sind. Wo eigentlich die Tischplatte sein müßte, steht der Priester Simeon wie in einer Schachtel. Mit seiner Mitra auf dem großen Kopf wirkt er wie eine Halbfi gur, die in den Proportionen gar nicht zu den von links eintretenden weiblichen Figuren paßt. Da begleitet die heilige Magd mit dem Taubenkörbchen und der Kerze die Jung frau Maria mit dem in graugrünes Tuch gewickelten Kind. Die Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 72v) folgt erneut einem Bildmuster, das wohl aus dem Boucicaut-Kreis stammt, wie unsere vorigen Nummern zeigen. Auf einem getreppten steinigen Weg, der nach rechts ansteigt, schreitet Joseph mit dem Esel, der wie in Nr. 8 einen sehr kleinen Kopf hat. Der Ziehvater blickt zu Maria zurück, die ihr Kind wieder in Graugrün gewickelt hat. Nicht nur die Landschaft, sondern auch die in kon
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zentrischen Bögen angeordneten Sterne im Blau des Fonds umrahmen die Muttergot tes; besonders eigenartig wirken dabei zwei sie flankierende Zweige. Im Hintergrund ist ein Landschaftsteil mit Grau von den begrünten Felsstufen abgesetzt. Bei der Marienkrönung zur Komplet (fol. 77v) dient eine einfache Steinkiste auf einer Wiese als Gottes Thron: Davor kniet die Muttergottes und betet zur Gestalt ihres Soh nes. Wie in der Heimsuchung zu den Laudes sind die Gewandfarben der beiden ge tauscht: Blau ist Marias Mantel und Christi Gewand, mit Pinselgold hingegen glänzt ihr Gewand und sein Mantel. Ein Engel überquert das wieder als Halbrund gegebene Ehrentuch unter dem bestirnten Blau. fol. 83: Davids Buße eröffnet die Bußpsalmen in einer Variante zu Vorgaben aus dem Boucicaut-Kreis, wie sie auch der Meister des Guy de Laval (unsere Nr.7) nutzte. In Rouen schätzte man Rosa als Gewandung Davids. Der König mit Krone und Schul terpanzern, eine weiße Binde um den Bauch, taucht aus der Tiefe auf und wendet sich mit offenen Händen zu Gott, der im Wolkenkranz erscheint. Diesmal ist das bestirnte Blau durch bewölkten Himmel ersetzt, der Ton in Ton gemalt ist und zum Horizont leicht aufhellt. Noch entschiedener als sonst steigen die Klippen der Landschaft in stei len Schrägen von der Mitte nach außen. fol. 100: Die Kreuzigung zu den Horen von Heilig Kreuz (fol. 100) ist auch in diesem Stundenbuch auf drei Gestalten beschränkt: Vor einem glatt gezogenen bestirnten Tuch, dessen Borte exakt unter dem Querbalken ansetzt, stehen Maria und Johannes, die Köp fe leicht über die fernen Hügel erhoben. Über dem Kreuzbalken breitet sich dann noch einmal ein ausgesucht schönes Karomuster. Offenbar irrtümlich wird zur Kreuz-Prim (fol. 101v) die Hirtenverkündigung, nun mit zwei Hirten wiederholt; das Schriftband mit dem Gloria läßt keinen Zweifel daran, was der Maler hier gemeint hat. Der Irrtum mag sich daraus erklären, daß man in Rouen ge wohnt war, die Horen ins Marien-Of fizium einzuschalten. Zu den Horen von Heilig Geist gehört das Pfingstwunder (fol. 107): Eine kleine Tau be in roter Gloriole sendet Goldstrahlen vor dem tiefblauen Fond, ein rotes Ehrentuch spannt sich als Bogen. In der Mitte thront die Jungfrau Maria, erhöht, nicht als Matro ne gekennzeichnet, in der Apostelschar, im Vordergrund hervorgehoben links der greise Petrus, rechts der jugendliche Johannes. fol. 113v: Zum Doulce dame (fol. 113v) die Pietà mit dem toten Christus auf Marias Schoß, dessen winzige Gestalt an die berühmte Formulierung in den Grandes Heures de Rohan, latin 9471 der BnF, denken läßt, vor dem kurvig gespannten Ehrentuch des Pfingstbildes, nun unter bestirntem Blau. fol. 121: Vor ähnlichem Fond, auf grüner Wiese steht zum To ten of fi zi um der Katafalk mit weißen Kreuz, das Tuch dunkelblau und bestirnt, links vier Priester am Sängerpult,
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rechts schematisch, aber eindrucksvoll angeordnet fünf Pleurants, deren Profile unter den Kapuzen zu sehen sind, dahinter vier, von denen nur die Stirn hervorschaut, vor drei schwarzen Kopf kalotten. Zum Stil: Wie schon durch seine liturgische Ausrichtung auf Rouen in den Of fizien ebenso wie in der Heiligenauswahl von Kalender, Suffragien und Litanei vertritt dieses Stundenbuch keineswegs Pariser Brauch: Es entspricht mit dem einen Bild zu den Perikopen, den nach Laudes eingeschalteten Suffragien und den aus Paris entlehnten französischen Gebeten am Schluß dem Standard, der in Rouen im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts galt und den wir 2013 in Wiedersehen mit Rouen anhand von Handschriften vom Meister des Humphrey von Gloucester charakterisiert haben. Hier nun tritt uns stilverwandt, aber wohl etwas älter der Maler entgegen, den man nach Arbeiten für John of Talbot, Graf von Shrewsbury, nennt: Dazu gehören zwei sogenannte Holster Books, Stunden bücher von extrem steilem Format, die in das Halfter eines Reiters paßten (Cambridge, Fitzwilliam Museum, 40-1950 und 41-1950), sowie das 1444/45 in Rouen geschaffene Shrewsbury Book, eine monumentale Sammelhandschrift mit französischen Texten für Marie d’Anjou, die Gemahlin des englischen Königs Henry VI (Royal 15 E VI der Bri tish Library: zuletzt Ausst-Kat. London 2011, Frontispiz und Nr. 143). Dieser Buchma ler hat in der Besatzungszeit bis 1449 eindrucksvolle Werke für englische Auftraggeber geschaffen, nach der Befreiung von Rouen aber auch das erste monumentale Manuskript illuminiert, das dort für die Bibliothek der Schöffen bestimmt war: eine Sammelhand schrift mit Texten von Gilles de Rome, Cicero und Alain Chartier (Paris, BnF, fr. 126: Avril und Reynaud 1993, Nr. 88). In dem besonders reichen Stundenbuch (Vat. lat. 14935), das in der Vatikanischen Bi bliothek lange als Ms. York 1 geführt wurde (König und Bartz 1998, passim), tritt die ser Maler neben einem älteren Künstler auf, der ebenfalls in Rouen für die Engländer gearbeitet hat und dann offenbar mit John Fastolf, den man als Falstaff in Drama und Oper kennt, nach England gegangen ist. Dieser sogenannte Fastolf-Meister kannte die Kunst von Mazarine- und Boucicaut-Meister aus Paris; über seine Arbeiten erklärt sich die Kenntnis von Pariser Vorlagen beim Talbot-Meister. Um so erstaunlicher ist dann die entschiedene Abstraktion in dessen Miniaturen, die jedoch auch poetische Züge trägt, wie unser hinreißendes Bild der Verkündigung an die Hirten zeigt. Noch das ganze Feuer der Gründergeneration der großen Pariser Buchmalerei des 15. Jahrhunderts lebt hingegen im Werk des überragenden Künstlers, der hier – viel leicht auf der Durchreise, wenn nicht sogar in Paris selbst – die Prachtseite mit der Ver kündigung gestaltet hat: Millard Meiss (1974, S. 390-392 und passim) nannte ihn nach einer Darstellung der Krönung Hannibals im Teilband eines Tite-Live in der Houghton Library (Cambridge, Mass., Ms. Richardson 32, fol. 1: zuletzt Ausst.-Kat. Boston 2016, Nr. 189). Von ihm schied Catherine Reynolds 1994 einen Künstler, den sie nach dem Alexanderroman Royal 20 B. XX der British Library als Meister des Londoner Alex
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ander bezeichnete (Faksimile-Ausgabe Luzern 2014 mit Beiträgen von Joanna Fronska u. a.; ohne Interesse für Kunstgeschichte). Wir können die Stilunterschiede nicht recht nachvollziehen. Da aber Meiss mit seiner Bezeichnung nach der Krönung Hannibals keineswegs den Kern des Stils trifft, sei hier Reynolds gefolgt: Es handelt sich um einen herausragenden Künstler, der in Paris im Boucicaut-Kreis aufgewachsen ist und offenbar auch in engerem Kontakt mit den Brü dern Limburg, wohl in Bourges gestanden hat (siehe zuletzt den Eintrag von Christine Seidel im Allgemeinen Künstler-Lexikon Bd. 88, 2015, S. 395-396). Ein fast ganz eigen händig von ihm ausgemaltes, besonders prächtig und charakteristisch gehaltenes Stun denbuch haben wir als Nr. 13 in Leuchtendes Mittelalter V, 1993, vorgestellt. In einer Darstellung zur Entwicklung Pariser Stundenbücher mag ein derartig für Rouen eingerichtetes Manuskript irritieren. Es ist jedoch einerseits geeignet, die von der Hauptstadt initiierte Entwick lung beim Talbot-Meister zu veranschaulichen. Zugleich enthält sie aber eine der besten Bildseiten eines in Paris aufgewachsenen Meisters, dessen hohen Rang wir bereits 1993 angesichts von Nr. 13 des Katalogs Leuchtendes Mittelalter V gewürdigt haben. So erweist sich dieses Stundenbuch als ein vorzügliches Werk aus der Zeit um 1425, das die faszinierende Wirkung der Pariser Kunst auf die Buchmalerei in der gar nicht so fernen Erzbischofsstadt der Normandie vor Augen führt und zugleich eine der herausragenden Malereien birgt, die dem Meister des Harvard Hannibal, den wir wohl besser Meister des Londoner Alexander nennen, verdankt wird. LIT ER AT UR:
Das Manuskript ist bisher nicht publiziert.
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10 Ein Stundenbuch vom Meister der Münchener Legenda Aurea, Conrad von Toul, für den Gebrauch von Sarum, im alten Einband
10 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Sarum. Lateinische, französische und englische Handschrift auf Pergament, Rubriken in Rot, mit ei nem Kalender in Blau und Rot, Festtage in Gold, geschrieben in Textura. Paris, 1420er Jahre: Meister der Münchener Legenda Aurea: Conrad von Toul 14 große Miniaturen über vier Zeilen Text mit dreizeiligen Dornblatt-Initialen, alle mit reich geschmückten Vollbordüren, davon sechs mit farbigem Akanthus und Blumen um Mittelachsen geordnet; acht hingegen mit dreiseitigen Dornblatt-Zierleisten, die unter dem Incipit eine mit Dornblatt gefüllte Zeile freilassen; auf diesen acht Bildseiten Dorn blattbordüren mit buntem Akanthus und Blumen in den Ecken und der Mitte außen. Eine vierzeilige, bei Psalmenanfängen zweizeilige Dornblatt-Initialen mit Dornblattbordüren in Höhe des Textspiegels links, aus den Buchstaben ausstrahlend. Einzeilige Initialen zu den am Zeilenbeginn einsetzenden Psalmenversen in Gold auf Flächen von Rot und Blau mit wei ßem Liniendekor, Zeilenfüller in gleicher Art. Versalien nicht farbig behandelt, aber mit Tin te verziert. 259 Blatt Pergament, vorne und hinten jeweils ein fliegendes und ein festes Vorsatz aus altem Pergament. Gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12) so wie die Lage 15 (8-1, 1. Blatt fehlt, ohne Textverlust), und die Endlage 33 (1); stellenweise Re ste angeschnittener horizontaler Reklamanten. Oktav (195 x 140 mm, Textspiegel 97 x 60 mm). Rot regliert zu 16, im Kalender zu 17 Zeilen. Blindgeprägter Kalblederband des 15. Jahrhunderts auf fünf echte Bünde, modern verstärkt. Provenienz: Das in Frankreich entstandene Buch war schon wegen des liturgischen Gebrauchs für Engländer bestimmt, und ist wegen der Hinzufügungen ab fol. 235 früh nach England ge langt. Bis auf die Betonung des heiligen Christophorus im bebilderten Suffragium am Ende des Marienoffiziums und die Betonung desselben Heiligen in den englischen Gebeten, fol 238, keine Hinweise auf frühere Besitzer: Das Wappen, das in der Initiale zur Marien-Matutin vorgesehen war, blieb leer. Ein Besitzwechsel sorgte dafür, daß Formeln im Maskulinum auf fol. 80v durch solche im Fe mininum ergänzt wurden. Auf fol. 259 in einer Schrift des 17. Jahrhunderts: „John Burgwin“. Auf fol. 82v: „Iacobus O’moydon“; auf der gegenüberliegenden Seite, fol. 83: „N.Milward“. H. Y. Thompson Sale (?), Sotheby’s, 1.6.1905, lot 803: £500,-. Quaritch, Catalogue of Works of Standard English Literature, London 1907, Appendix Nr. 112. Henri Vever (1854-1942), der große Juwelier und bedeutende Sammler.
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Der Text: fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, mit Hauptheiligen aus Rouen und England, Gol dene Zahl in Rot, Sonntagsbuchstabe A in Gold auf rot-blauen Flächen, Sonntagsbuch staben b-g in Schwarz, Heiligennamen in Braun, Feste in Rot. Oktav des Thomas von Canterbury (5.1.), Baltildis regine (30.1.), Oswaldi regis (29.2.), Eduuardi regis (19.3.), Cuthberti (21.3.) Ricardi epi, als Fest (3.4)., Audibilis (in kleinerer Schrift; vielleicht ist Translatio Audoeni in Rouen gemeint: 5.3.), Dunstani epi als Fest (19.5.), Translatio des Thomas von Canterbury (7.7.), Romani (9.8.), Taurini (11.8.), Commemoratio Audoeni (Ouen: 25.8.), Commemoratio Ludovici (26.8.), Translatio Cuthberti (4.9.), Evodi, Erz bischof von Rouen (8.10.), Romani, Erzbischof von Rouen als Fest (23.10.) mit Oktav (30.10.), Edmund, Erzbischof von Canterbury, als Fest (16.11.), Edmundi regis (20.11.), Thomas von Canterbury als Fest (29.12.), Ursini am 30.12. Peter und Paul sowie die Co mmemoratio Pauli Ende Juni um Assumptio Marie (15.8.) erst später in Kursive nach getragen. fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 16) und Markus (fol. 17v), Passion Christi nach Johannes: Apprehendit pylatus… (fol. 18v). fol. 20v: nachgetragenes Suffragium der Trinität, die Zierbuchstaben blieben leer. fol. 21: Marienof fizium für den Gebrauch von Sarum: Matutin (fol. 21), Laudes (fol. 30v); hier sind wie in vielen normannischen Stundenbüchern Suffragien eingeschaltet: Heilig Geist (fol. 40), Trinität (fol. 40v), Heilig Kreuz (fol. 41), Michael (41v), Johannes der Täu fer (fol. 41v), Petrus und Paulus (fol. 42), Andreas (fol. 42v), Stephanus (fol. 43), Laurentius (fol. 43), Thomas von Canterbury (fol. 43v), Nikolaus (fol.44) Magdalena (fol. 44), Katha rina (fol. 44v), Margareta (fol. 45), Allerheiligen (fol. 45v), Memoria pro pace: Da pacem domine in diebus nostris quia non est alius qui pugnet pro nobis nisi tu deus noster… (fol. 46), Heilig Kreuz (fol. 46), Marien-Prim (fol. 47), Terz (fol. 53), Sext (fol. 58), Non (fol. 62), Ves per (fol. 66v), Komplet (fol. 73); Suffragium des heiligen Christophorus (fol. 80); fol. 8284v leer. fol. 85: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 99), die Heiligenauswahl geht von einem Pariser Formular aus (mit Gervasius und Prothasius, Genevefa usw.), nimmt dazu Rouennaiser Heilige wie Audoenus (fälschlich andoene) sowie solche aus dem franko-flämischen und burgundischen Raum wie Bavo, Lambertus, Adrianus, Vedast us, Philibertus, Columb anus (irrig columbe) und Waldebertus von Luxeuil, Aldegundis und Walburgis und dazu dann englische Heilige wie Thomas von Canterbury, Oswald, Dunstan, Botulf, Milburga von Wenlock. Einige Nennungen sind kaum verständlich, vielleicht dem Schreiber nicht geläufig und deshalb irrig. fol. 110: Mariengebet: Salve virgo virginum stella matutina…, fol. 116v: O intemerata, fol. 122v: Ave mundi spes maria…, weitere Mariengebete. fol. 129v: Gebete der Wunden Christi: Ad imaginem domini nostri: Omnibus consideratis paradisus voluptatis es ihesu…
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fol. 140v: To ten of fi zi um, für den Gebrauch von Sarum/Rouen: Vesper (fol. 140v), Matutin (fol. 147v, mit einer Rubrik hervorgehoben), Laudes (fol. 170v, mit einer Rubrik her vorgehoben). fol. 214: Psalter des heiligen Hieronymus: Verba mea auribus percipe. fol. 233v: Verse des heiligen Bernhard: Illumina oculos meos… Von einer englischen Hand hinzugefügte Textfolge: fol. 235:Gebete in Latein und Französisch: Gaude virgo mater christi que per aurem concep isti…, Saint christofle mon trescher sire… (fol. 238), Dulce dame de misericorde…(fol. 239), französische Übersetzung des Obsecro te: Je te pri dame sainte misericorde mere de dieu tresplaine… (fol. 243v), Gebet des Thomas von Canterbury: Deus qui solus habes sapienciam… (fol. 247), weitere Mariengebete. fol. 251v: Adventsoffizium, eingeleitet von einer englischen Rubik zur Berechnung von Ostern: Missus est gabriel. Schrift und Schriftdekor: In vorzüglicher Textura ist dieses Manuskript geschrieben. Zwar verzichtet der Schrift dekor auf die gelbe Lavierung von Versalien, verziert diese Buchstaben jedoch durchweg mit Tinte. Die Zuordnung von Flächen- und Dornblattdekor entspricht dem Pariser Brauch. Daß die auf die Dornblatt-Initialen bezogenen Bordürenstreifen in voller Höhe des Textspiegels links eingerichtet sind, ist in Pariser Stundenbüchern ungewohnt. In den reinen Dornblattranken kommen für einzelne Blüten wie auch für Akanthusblätter ne ben dem Kolorit, über das die enlumineurs verfügten, auch die Farben der historieurs vor. Der Anfang des Johannes-Evangeliums ist durch eine besonders prächtige vierzeilige In itiale bei gleichem Randschmuck hervorgehoben. Gut zu unterscheiden sind die von englischer Hand hinzugefügten Partien: Sie arbeiten zwar mit demselben Dekorationssystem, wechseln jedoch im Flächendekor unter dem goldenen Buchstaben Rot und Blau in der Mitte der Grundfläche, legen die DornblattInitialen plastischer an und gliedern die Bordüren mit locker geschwungenen Voluten, die jeweils in einem rosafarbenen oder hellgrünen Blatt und schließlich einem Maßlieb chen enden. Auf den Bildseiten stehen zwei Systeme aus unterschiedlichen Entwicklungsp hasen der Pariser Buchmalerei einander gegenüber, hierarchisch gestaffelt: Randschmuck ohne Zierleisten aus Akanthus und Blumen eröffnet neben des Haupttexten, Marien-Matutin und Bußpsalmen, im Marienof fizium auch die Marien-Prim und -Vesp er, dazu das To tenof fizium und gibt auch dem ungewohnten Passionsgebet besonderen Rang. In dieser ganz von den Buchmalerfarben bestimmten Dekorationsstufe wird der reiche Schmuck außen und innen um vertikale Mittelachsen geordnet, die sich aus der Spiegelung der Blattformen ergeben.
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Bei den acht anderen Incipits dominiert noch Dornblatt mit dreiseitigen Zierleisten, in die bei Marien-Non und Komplet auch Buchmalerfarben für Blätter und Früchte die nen. Aus den Zierleisten sprießen kraftvolle, plastisch markante Akanthuszweige, jedoch kaum Blumen; Tiere, Vögel oder Insekten finden keinen Platz. Beim Akanthus herrscht bereits eine gewisse Bevorzugung der Kombination von Blau und Gold, auch wenn an ders als um 1450 noch Freiheit bei der Farbwahl herrscht. Die optische Dominanz des später geradezu kanonischen Farbenpaars verdankt sich dem Umstand, daß die Ecken der Randstreifen in beiden Arten von Bordüren mit Blau-Gold besetzt sind. Die Bilder: Zum Marienof fizium wartet dieses Stundenbuch zwar mit denselben Themen auf wie die bisher beschriebenen Handschriften; doch sind die Szenen figurenreicher und des halb die Miniaturen komplexer und raf finierter angelegt. Die Marienverkündigung (fol. 21) spielt in einem engen Kapellenraum; der Blick wird durch eine rahmende Architektur gewährt, die dem Rahmen folgt, der nur in dieser Mi niatur einen Einzug beim Bogenabschluß vorsieht. Gegen jede Logik berührt diese Ar chitektur als Diaphragma die Bildränder, ist aber von einem dünnen Säulchen so geteilt, daß zugleich ein größeres Feld für die Jungfrau links von einem kleineren für den Erzen gel Gabriel geschieden wird. Die schiefe Perspektive erhält durch die nach rechts aufra gende Gestalt der Jungfrau emphatische Kraft. Sie läßt die flankierende Wand mit drei silbernen Fenstern nach rechts zu einem Altar mit gestuftem Retabel ansteigen. Darüber öffnet sich in der Stirnwand ein Bogen zum Himmel. In ihm erscheint Gottvater als Bü ste vor bestirntem Blau und sendet auf goldenen Strahlen die Taube des Heiligen Geistes zu Maria. Sie hat sich von ihrem Thronsitz unter einem Baldachin erhoben, kniet vor ih rem Betpult und richtet sich mit gekreuzten Armen auf zur Taube, die bereits durch die Zweige der auf dem Altartisch abgestellten Lilie zu ihr gedrungen ist. Wie schon beim Bedford-Meister ist der Erzengel von rechts eingetreten und niedergekniet, um seinen Gruß an die Jungfrau zu richten. Die in goldener Textura geschriebenen Worte aue ma ria… sind schwer zu entziffern; denn offenbar stehen sie auf dem Kopf, um von Gabri els Mund ausgehen zu können. Damit folgt diese farblich brillante Miniatur demselben Prinzip, das Jan van Eyck im 1432 vollendeten Genter Altar sehr viel besser lesbar ange wandt hat. Auf den Kopf stellte der berühmte Tafelmaler jedoch von Marias Mund aus die von rechts kommende Antwort Ecce ancilla. Interpreten sahen darin gern einen Hin weis, daß Jan van Eyck als Leser damit an Gott von oben dachte; unser Beispiel zeigt, daß es darum geht, vom Mund aus sinnvoll zu schreiben. Ähnlich dicht gedrängt sind die Figuren der Heimsuchung (fol. 30v), obwohl die Sze ne wie gewohnt in der Landschaft spielt: Vor die ferne Kulisse einer Stadt in den Ber gen unter einer goldenen Sonnenscheibe, deren Strahlen der Begegnung von Maria und Elisabeth göttliches Licht geben sollen, schieben sich schollenartige Berge mit kleinen Bäumchen und einer Blume. Von links ist Maria herangetreten, von einer frommen Magd und dem Ziehvater Joseph begleitet. Die Magd hält ein Gebetbuch und eine dicke Pater
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nosterschnur, während Joseph seine rote Mütze zum Gruß anhebt. Ihnen ist Elisabeth von rechts entgegengekommen, um vor Marias gesegnetem Leib in die Knie zu sinken. Recht gedrängt sind auch die Hauptfiguren der Geburt Christi (fol. 47) im schadhaften Stall von Bethlehem, in dem ein Baldachin aus rotem Brokat wie in der Kapelle der Ver kündigung als Zeichen von Marias Würde aufgespannt ist: Maria und Joseph knien beim lebhaft und fast aufrecht sitzenden nackten Jesuskind, um es anzubeten, während zwei Hirten bereits über den Zaun schauen, obwohl die Hirtenverkündigung wie in Stun denbüchern gewohnt erst zur Terz folgt. Ein Hirte hält seine Sackpfeife über den Zaun, als wolle er sie herschenken. Zwei weitere Motive erstaunen in diesem Weihnachtsbild: Vorn ist reifes Korn verteilt, als solle wie später bei Hugo van der Goes in Florenz und Berlin im Sinne der Eucharistie an das Brot erinnert werden, das den Leib des Erlösers im Sakrament verkörpert. Zudem schweben drei durch Oxidation geschwärzte Tauben oder Engel vor dem bunten Baldachin Marias. Zur Terz folgt die Hirtenverkündigung (fol. 53); mit Varianten zu diesem Themas ver mag der verantwortliche Maler immer wieder zu bezaubern; das zeigt sich auch hier: Er neut wird die Miniatur von einer kräftig von links nach rechts aufsteigenden Bewegung bestimmt, obwohl die Landschaft mit ihren Hügelkulissen und der fernen Stadt ebenso wie der Engel mit seinem gloria in excelsis im Bogenabschluß die Mitte betonen. Doch schaut einer der beiden Hirten ebenso wie der an seinen Gürtel angeleinte Hirtenhund von links unten steil in die Höhe; der zweite hingegen kniet an einem Bach, um – of fenbar mit seinem schwarzen Hut – Wasser zu schöpfen. Mit Blick nach links bückt er sich so, daß hinter ihm ein auch in Berrys Belles Heures und ihrer Nachfolge zu finden des Motiv sichtbar wird, das aus der Spätantike stammt: ein Böckchen, das – hier nach rechts oben – zu den Kronen kleiner Bäumchen aufspringt. Die Dichte des Figurenreliefs nimmt bei der Anbetung der Könige (fol. 58) noch zu; denn die Weisen aus dem Morgenland sind mit weiteren vornehmen Leuten durch die – sonst im Stall von Bethlehem kaum zu findende – Tür eingetreten; ein blaues Brokattuch ist vor der schadhaften Rückwand aufgespannt. Durch ein Loch im Dach dringen goldene Strahlen des Sterns von Bethlehem ein. Auf ihrem nun rot ausgeschlagenen Bett unter einem diesmal grünen Baldachin sitzt Maria, die eine in ihren Nimbus einbeschriebene Krone trägt. Joseph, rechts neben ihr, greift grüßend zum Hut. Der älteste König ist be reits in die Knie gesunken, reicht Jesus ein goldenes Gefäß und blickt dem Knaben ge radezu eindringlich in die Augen – und das in einer Zeit, in der an europäischen Höfen diskutiert wurde, wem ein solcher Blick überhaupt gestattet sei. Die beiden jüngeren, wie gewohnt modischer gekleidet, der eine in roten Brokat mit Puffärmeln, der andere in Schwarz, sprechen miteinander. Alle drei haben ihre unterschiedlichen Kronen auf dem Haupt; nur einer greift danach, unschlüssig, ob er seinen mit Hermelin besetzten Kronhut nun ablegen müßte. Fünf würdige Herren des Gefolges verfolgen das Gesche hen, drei von ihnen bilden rechts eine Gesprächsgruppe, wie sie in vielfigurigen Darstel lungen des Themas in der altniederländischen Tafelmalerei der folgenden Jahrzehnte häufiger zu finden sind.
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Zentralkomposition und von links kommende Bewegung prägen die Darbringung im Tempel (fol. 62), in der die Diaphragma-Architektur aus dem Bild der Verkündigung mit ihren zwei unterschiedlich breiten Bögen wiederholt wird. Als dominierende Gestalt steht der Priester Simeon hinter dem runden Altartisch, mit einer weißen Mitra, aber ohne Heiligenschein, und greift mit unbedeckten Händen zum Jesusknaben, der seiner seits den linken Arm geradezu neugierig ausstreckt. Maria trägt ihn, von Joseph und ei ner Magd begleitet, die vor dem Altar niedergekniet ist und die brennende Kerze sowie drei silberne Tauben in einem kleinen runden Korb trägt. Wie sie im verlorenen Profil mit offenem blonden Haar gezeigt wird und ihr Haupt von der schweren Goldscheibe eines Nimbus geschmückt ist, wirkt sie eher wie Magdalena unter dem Kreuz. Ein wohl habender Bärtiger mit einer goldenen Aumonière am Gürtel nimmt den schmalen Raum des Bogens rechts ein, in dem noch die Häupter zweier Gesprächsp artner auftauchen. Schwarz spielt auch in dieser Miniatur als Kleiderfarbe eine bemerkenswerte Rolle: Simeon trägt es als Untergewand; einer der Zuschauer rechts hat dichtes schwarzes Haar und Bart, der andere ein schwarzes Gewand. Landschaft ist eine der Stärken unseres Malers; das zeigt auch die Flucht nach Ägypten (fol. 66v), selbst wenn das Figurenrelief kraftvoll herausgearbeitet ist: Unter einer rotgol denen Lichterscheinung im Bogenscheitel, die eher Gottes Segen als die Sonne meint, schreitet Joseph nach rechts und faßt den Esel an einem Seil: Im Damensitz reitet Ma ria in ihrem innen golden ausgeschlagenen blauen Mantel; sie hält das in Weiß gehüllte Wickelkind. Daß der Weg beschwerlich ist, deuten die zwei Klippen vorn und ein von links hinter Maria aufragender Felsen an. Das Gelände, das man durchzieht, wird als ein Rund gekennzeichnet, hinter dem recht detailreich eine Stadt ausgebreitet ist. Drei Hügel, der mittlere mit einer Windmühle, der rechte mit einer Burg, erheben sich vor dem wolkigen und dann doch mit goldenen Sternen besetzten Himmel. Ohne eigenes Zutun bringt die Heilige Familie heidnische Götzenbilder zum Einsturz; eine nackte Figur des Mars stürzt neben Joseph von ihrer Säule. Das der Marienkrönung (fol. 73) zugrunde liegende Raumschema ist denkbar schlicht: eine halbhohe Mauer begrenzt eine Art Terrasse vor blauem Himmel, auf die rechts ein Thronbaldachin gestellt ist. Noch deutlicher prangt die mit goldenen und roten Flam men belebte Sonne im Bogenscheitel; diesmal gehen von ihr Strahlenbündel aus, die den ganzen blauen Himmel erfassen. Die Lichterscheinung wie auch die Bespannung des ro ten Baldachins über Christus mit goldenen Sternen läßt auf verblüffende Weise an den Thronbehang Karls VII . denken, der vor wenigen Jahren vom Louvre erworben wurde. Damit wird Marias Krönung von der höfischen Realität aus gesehen: Ein rotgekleideter Engel schwebt wie in der Tapisserie mit der Krone herab, während vier Engel in Weiß die Stangen für ein mattgoldenes Tuch halten, das über der knienden Muttergottes als ein eigener Baldachin eingesetzt ist. Der Gottessohn, mit der Tiara gekrönt, sitzt hinge gen auf einem festen Thron, die Sphaira in der Linken, die Rechte zum Segen erhoben. Die eindrucksvolle Qualität dieser Buchmalerei tritt besonders beim Suffragium des hei ligen Christophorus (fol. 80) zu Tage, das auf das Marien-Of fizium folgt und als einzi
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ger Text dieser Art hier illuminiert ist. Statt den Vorgang zu schildern, wie der Heilige einen Fluß durchquert, läßt der Maler den Riesen im Gewässer innehalten und sich zu dem Christuskind auf seiner Schulter umdrehen. Dahinter taucht der Einsiedler, der ei gentlich mit der Laterne den Weg zeigen müßte, vor seiner Kapelle auf. Sein Menschen licht erweist sich als schwacher Abglanz göttlichen Glanzes, den auch hier eine rot und golden leuchtende Sonne im Bogenscheitel verkörpert. Amüsante Zugabe ist eine grüne Echse links unten, die gerade mit erhobenem Kopf den Bereich des Heiligen fliehen will. Gelegenheit für Landschaftsmalerei bietet auch Davids Buße zu den Bußpsalmen (fol. 85): Der Raum ist weiter gefaßt, mit einem silbernen Bach und einer Wassermühle im Mit telgrund erschlossen. Die Flachlandschaft zwischen den Baumgruppen und hinter ei nem nach rechts ansteigenden Felsen endet etwa auf Augenhöhe des knienden Königs; dahinter erheben sich die aufragenden Silhouetten von vier Hügeln. Der Himmel setzt mit sehr viel hellerem Blau an, ist unten von silbernen Wölkchen durchzogen und läßt dann im tiefen Blau oben in Gold eine Gotteserscheinung sehen. Zu ihr richtet sich Da vid auf, größer als die Figuren in den bisher betrachteten Miniaturen und im Gegensatz zu ihnen nicht der Leserichtung von links nach rechts folgend: Links vorn hat er seine Harfe abgelegt. Sein Krummschwert und den mit Hermelin besetzten Kronhut trägt er jedoch noch, wie er sich stolz aufrichtet und mit gekreuzten Armen über der Brust zu Gott aufschaut. Von besonderer Anmut in diesem Stundenbuch sind die Madonnenbilder zu den Ma riengebeten; sie werden auch auf ungewohnte Weise dem Textblock gerecht, der sich an die Litanei und ihre Folgegebete anschließt: Das äußerst seltene Gebet Salve virgo virginum stella matutina wird mit einer längeren ge reimten Rubrik eröffnet, die zugleich Anleitung für die Betrachtung des Bildes sein will; und dieses Bild erstaunt in der Tat: Vor blauem Himmel erscheint die Mondsichelma donna (fol. 110), von zwei Engeln gekrönt, während drei Engel unter ihr mit Harfenspiel, Gesang und ausgerechnet Sackpfeifenmusik beitragen. Wie die mulier amicta in sole der Apokalypse erscheint Maria, mit weißem Mantel über blauem Kleid, das nackte Kind in den Händen; sie steht auf der silbernen Mondsichel, vor 14 kräftigen Goldstrahlen der Sonne, zwischen denen dünnere Goldstrahlen erscheinen. Ganz in häusliche Sphären hingegen ist das Madonnenbild zum O intemerata gerückt; denn es zeigt die Heilige Familie (fol. 116v), freilich unter einem mit Brokat ausgeschla genen Baldachin, von einem Diaphragma-Bogen umgeben, der einen kleinen zweiten Bo gen links zuläßt, für einem Engel, der dort kniend die Harfe spielt und zur Muttergottes aufschaut. Maria gibt dem Christuskind gerade die Brust, während Joseph von rechts zuschaut, mit einer goldenen Kugel, wohl einer Rassel, in der Rechten. Lilien blühen im Blumentopf vorn rechts. Einen besonderen Höhepunkt erreicht die Malerei zum ebenso seltenen Gebet Ave mundi spes maria: Eine Zinnenmauer schließt den Hortus conclusus (fol. 122v) nach hinten ab; davor ist eine Rasenbank eingerichtet. Dort hat Maria vor einem silbrigen Baldachin
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am Boden Platz genommen, also im Sinne der Madonna der Demut. Der Knabe hält ein Körbchen mit roten und weißen Rosen, die ein Engel für ihn pflückt, während ein zwei ter Engel Harfe spielt. Weiße und rote Nelken blühen im Blumentopf vorn; auf die bei Nelken naheliegende Assoziation zu den Nägeln des Kreuzes ist hier verzichtet. Das höchst ungewöhnliche Kreuzgebet Omnibus consideratis paradisus voluptatis, das Leroquais nur in einem Stundenbuch für Rouen und einem italienischen Gebetbuch auflistet (lat. 1410 und lat. 10527: Leroquais 1927, I, S. 247 und 321) eröffnet mit einem Kreuzigungsbild (fol. 129v), wie es sonst für die Horen des Heiligen Kreuzes eingesetzt wird. Nach Prinzipien, die sich zu jener Zeit gerade in den Bildkünsten ankündigen, sind Figuren und Landschaft so aufeinander abgestimmt, daß der zwar nicht konkret an gegebene, aber gut ahnbare Horizont ungefähr auf Augenhöhe der Stehenden verläuft. Um Christus, der in etwas kleineren Proportionen vor den Himmel mit goldenen Ster nen und silbernen Wölkchen erscheint, drängen sich links Maria mit Johannes und zwei weiteren heiligen Frauen, während rechts der römische Centurio, fast dieselbe bärtige Gestalt wie der Zuschauer in der Darbringung im Tempel, über ein großes Spruchband zwei Soldaten verkündet, der Gekreuzigte sei wahrhaft Gottes Sohn. Einem vielleicht vom Mazarine-Meister begründeten Bildschema, das auch der BoucicautMeister verbreitet hat, folgt das Bild des To ten of fi zi ums (fol. 140v): In einer gotischen Chorkapelle, die in eigentümlicher Weise polygonal eingerichtet ist, steht der mit blauem Tuch bedeckte Katafalk, von Kerzen umgeben vor dem Altar, dessen Retabel den Ge kreuzigten zwischen Heiligen zeigt. Links sitzen zwei Pleurants in einem Gestühl, für das rechts kein Platz ist, weil dort das große Pult steht für drei Geistliche, die das Toten of fizium singen. Schwarz wird wiederum stärker als sonst üblich eingesetzt; denn nicht nur die Pleurants tragen diese Farbe, sondern auch einer der Sänger; rote und blaue Tü cher als Bespannung der Wände gehört zu den Kennzeichen unseres Malers. Zuschreibung, Lokalisierung und Datierung: Mit seinem funkelnden Kolorit, der unerhörten Strahlkraft vor allem des tiefen Blaus erstaunt dieses Buch. Es gehört zu den früheren Werken des Meisters der Münchner Legenda Aurea, dessen namengebendes Werk, cod. gall. 3 der Bayerischen Staatsbiblio thek noch ganz in der Tradition der einfach aufgebauten Szenen auf einem Wiesenstück vor Mustergrund oder bestirntem Himmel steht. Der altertümliche Charakter der mag selbstverständlich auch durch die Bildtradition des Texts ebenso mitbedingt sein wie durch die Tatsache, daß man dabei auf spaltenbreite Bildfelder setzte, die in den Ko lumnen verstreut und deshalb meist rechteckig waren. Von dieser nicht genau datierba ren frühen Phase, die noch vor 1420 liegen mag, geht der Maler aus und behält zunächst das eindrucksvolle dunkle Blau bei. Noch in unserem Manuskript ist es gern mit golde nen Sternen gemustert oder dann auch mit einer strahlenden Sonne im Bogenscheitel der Miniatur besetzt. Landschaft wird mit kraftvoll dunklen Tönen gemalt und erhält dadurch eine stark reliefhafte Qualität. Genau das zeigt sich in unserem Manuskript.
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Noch fehlt die Beweglichkeit, die derselbe Künstler in seinen einzigen einigermaßen si cher datierbaren Miniaturen bietet, auf den textlosen Bildseiten aus dem Alten Testa ment und König Chlodwigs Einkleidung, die dem sogenannten Bedford-Stundenbuch, Add. Ms. 18850 der British Library hinzugefügt wurden, als man die Handschrift als ein Geschenk für Heinrich VI . von England anläßlich seiner Krönung in Paris 1430 ein richtete. Damit steht unser Stundenbuch zwischen den Miniaturen in Walters 288 in Baltimore, die Roger Wieck in seinem Katalog Time Sanctified von 1988 geradezu als Inbegriff eines Stundenbuchs allen Erörterungen vorangestellt hat, und dem bemerkenswerten Manu skript Rothschild 2535, das Laurent Ungeheuer in Heft 56 von l’art de l’enluminure be schrieben hat. Indizien für eine genauere Datierung fehlen. Historisch wird man unser Buch mit der Besetzung von Paris durch die Engländer in den 1420er Jahren verbinden. Noch hatten sich die Besatzer nicht ängstlich nach Rouen zurückgezogen; deshalb mag unser Manuskript durchaus in der französischen Hauptstadt entstanden sein. Ein eindrucksvolles Meisterwerk eines der wichtigsten Pariser Buchmaler der Zeit von 1420 bis nach 1460, den die Kunstgeschichtsschreibung als den Meister der Münchner Legenda Aurea kennt und in dem wir angesichts einer Notiz im namen gebenden Werk einen sonst nicht dokumentierten Conrad von Toul sehen. Mit feu rigem Kolorit, lebendiger Darstellung, kostbarer Wirkung und einem hinreißenden Buchdekor erweist sich dieses Stundenbuch für den Gebrauch von Sarum als ein Hauptwerk des Malers, der zu spät für das große Überblickswerk von Millard Meiss gelebt hat und dessen Kunst von Avril und Reynaud in der Pariser Ausstellung von 1993 nicht mehr berücksichtigt wurde. LIT ER AT UR:
Die Handschrift ist unveröffentlicht.
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11 Das Stundenbuch für Jean Troussier: ein reifes Hauptwerk des Meisters der Münchner Legenda Aurea mit einer ergreifenden Miniatur des Dunois-Meisters
11 • Stundenbuch. Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris. Lateinische Handschrift auf Pergament mit Kalender und Gebeten in Französisch, auf Perga ment, in brauner und roter Textura. Paris, um 1425: Meister der Münchner Legenda Aurea (Conrad von Toul) und um 1450, vielleicht schon 1444: Dunois-Meister (Jean Haincelin) 20 große Miniaturen mit dreizeiligen Dornblattinitialen, Zierleisten und vierseitigen Dornblattbordüren; alle Textseiten mit dreiseitigen Bordüren und Zierleiste außen; ei nige Gebete mit drei- bis vierzeiligen Initialen in Blattgold auf Rosa und Blau mit aus strahlendem Rankenwerk links. Alle Psalmenanfänge und ähnliche Texte mit zweizeiligen Initialen derselben Art, Psalmenverse mit einzeiligen Initialen derselben Art. 168 Blatt Pergament, davon zwei aus späterer Zeit; je drei Blatt Papier des 18. Jahrhunderts als fliegende Vorsätze; festes Vorsatz und äußeres fliegendes Vorsatz mit Marmorierung. Ge bunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend das spätere Doppelblatt vor ne und das schon kurz nach der Entstehungszeit hinzugefügte fol. 3, dann die Kalenderlage 1 (12) sowie vor Zäsuren die Lagen 11 (4) und 21 (4). Rot regliert zu 15, im Kalender zu 17 Zeilen. Großoktav (216 x 160 mm, Textspiegel 110 x 72 mm). Vollständig und blendend erhalten. Gebunden in schwarzes französisches Maroquin des 17. Jahrhunderts mit Goldprägung des Rückens und der Deckel sowie der Steh- und Innenkanten. Provenienz: Die Handschrift eröffnet auf fol. 3 mit einem der eindrucksvollsten Bilder vom Gebet eines Besitzers zur Gottheit: Die zweistufige Komposition ist dem oberen Teil des Gol denen Rössels von Altötting verwandt; denn die Miniatur zeigt einen vornehmen Herrn in Rüstung vor seinem Betpult kniend, neben dem sein Wappen mit einem Wappenweibchen als Helmzier prangt; deren Schriftband trägt eine auch von Deuffic nicht voll gelesene Devise „… pour Ly g(…)“. Die Wappen aus bretonischem Hermelin auf Silber mit einem roten Löwen mit goldener Kro ne (d’hermines au lion de gueules couronné d’or) sind schon früh richtig identifiziert worden; sie finden sich in Stein gehauen am Manoir von Gaptière oder besser La Gabetière bei SaintBrieuc, der heute als Feriendomizil dient. Wie Jean-Luc Deuffic ermitteln konnte, wird vor Ostern 1427 (Neuen Stils) ein Guillaume Troussier in La Gabetière erwähnt; von ihm weiß man sonst nichts; deshalb kommt eher Jean Troussier (oder Trouxier), vielleicht Guillaumes Sohn und selbst wohl Vater eines zweiten Guillaume, als jener Herr in Frage, den die große Miniatur zeigt. Jean war Procureur général der Bretagne Gallo, also der französisch-sprachigen Bretagne, und Seneschall von Lamballe. Deuffic zufolge ist er zwischen 1420 und 1450 nachgewiesen; doch beziehen sich die von Deuffic 2014 dokumentierten Erwähnungen präziser auf die Zeit von 1412 bis 1444. Die früheste Quelle spricht nur von einem J. Jean Troussier. 1423 geht es um polizeiliche Maßnahmen, danach bis 1444 im wesentlichen um die Zählung der Haushalte für Steuererhebungen.
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Das Bild steht auf einem nachträglich eingefügten Blatt mit einer für einen Mann bestimmten Version von Salve regina. Ebenfalls nachträglich hinzugekommen ist auf fol. 167 eine Darstel lung der Hölle von anderer Hand, die ein ebenfalls nicht zum Grundbestand gehörendes la teinisches Bußgebet eröffnet, das nun aber für eine Frau konzipiert wurde. Es liegt nahe, diese Ergänzung erst nach dem Ableben von Jean Troussier, also wohl kurz nach 1444 anzusetzen. Im 17. Jahrhundert wurde das Buch mit neuem Wappen und Monogramm, vielleicht der Ro sainville oder der Cursay, auf dem damals angefügten Doppelblatt vorn versehen (zwei gol dene Herzen, entflammt, durch einen Pfeil durchbohrt, über silberner Mondsichel auf Blau; zunächst nur dieses Wappen, das zweite als Allianzwappen dreigeteilt: oben zwei Fliegen auf Rot, eine rote Rose auf Gold und darunter ein goldenes Rad auf Blau). Besitzeintrag eines Au bert de Rosainville auf dem ersten hinzugefügten Blatt. Im Vorderdeckel Exlibris von Helmut N. Friedlaender (Auktion Christie’s, London, 28.11.1990, lot 9). Der Text fol. 1-2v. textlose heraldische Malerei. fol. 3: Nachträglich auf ein eingefügtes Einzelblatt geschriebenes Mariengebet: Salve re gina misericordie, vita, dulcedo et spes nostra, für einen Mann redigiert: famulo tuo pecca tori (fol. 3v). fol. 4: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, goldene Zahl und Feste in Rot, einfache Sonntagsbuchstaben und Heiligeneinträge in Braun, die römische Tages zählung rot und blau, die Sonntagsbuchstaben A golden auf rosafarbenen und blauen Flächen. Die Heiligenauswahl folgt Pariser Brauch, die Orthographie ist dialektgefärbt: mahieu und morisce (21. und 22.9). fol. 16: Perikopen: Johannes (fol. 16), Lukas (fol. 17v), Matthäus (fol. 19), Markus (fol. 20v) – die ausführlichen Rubriken jeweils in Schwarz, mit einzeiliger Flächenin itiale. fol. 21v: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro (fol. 21v) O intemerata (fol. 25). fol. 29: Marien-Of fizium für den Gebrauch von Paris: Matutin mit drei Nokturnen (fol. 29), Laudes (fol. 51), Prim (fol. 62), Terz (fol. 68), Sext (fol. 72v), Non (fol. 76v), Ves per (fol. 80v), Komplet (fol. 87). fol. 92: Bußpsalmen und Litanei (fol. 103v), die Heiligenauswahl wieder pariserisch mit Gervasius, Prothasius, Dionysius, Germanus, Genovefa und Opportuna. fol. 109v: Horen: des Heiligen Kreuzes (fol. 109v), des Heiligen Geistes (fol. 113). fol. 116: To ten-Of fi zi um für den Gebrauch von Paris. fol. 159: XV Joyes. fol. 164: VII Requestes.
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fol. 167: wohl nach 1444 oder um 1450 hinzugefügtes Gebet zur Vermeidung ewiger Höl lenstrafen (Oracio ad evitandum eterna supplicia): Deus qui non vis mortem peccatorum, für eine Frau redigiert: indigne famule tue (fol. 167). fol. 167v: Textende. Schrift und Schriftdekor Der Codex ist durchweg in Textura geschrieben mit wechselnder Tintenstärke. Auffällig erweise ist die Schrift auf Bildseiten oft sorgfältiger und mit dunklerer Tinte geschrieben. Der Schriftdekor verwendet bevorzugt goldene Zierbuchstaben auf Flächen in Rosa und Blau, die mit kräftigen weißen Linien geschmückt sind. Von hohem Anspruch zeugt die Ausstattung aller Textseiten mit dreiseitigen Rankenklammern außen, die von senkrech ten Doppelstäben ausgehen. Die waagerechten Ranken entspringen diesem Stab. Der Randschmuck außen entsprießt in der Regel einem Blattgoldpunkt, der mittig an den Doppelstab angefügt ist; deshalb entfaltet sich die Ranke meist symmetrisch von der Sei tenmitte aus. Das schwarze Tintenwerk ist unregelmäßig, in einzelnen Arbeitsetappen: Von fol. 16 und fol. 116 an wirkt es besonders dicht, sehr übersichtlich hingegen in der Partie von fol. 80 bis 115. Die beiden vorn und hinten angefügten Texte sind in recht ähnlicher Art wie der Text block, jedoch 18zeilig geschrieben. Auf fol. 3v werden die Versalien rot markiert, auf fol. 167v gar nicht behandelt. Sonst bleibt der Dekor im gleichen Rahmen, wirkt aber etwas lebendiger und sorgfältiger. Die Bilder fol. 1-2v: Hinzugefügte Wappenmalereien jeweils in breitem Leistenrahmen aus von zwei glänzenden Blattgoldleisten gerahmten Mattgoldstäben: fol. 1: Auf blauem Grund ein silberner Halbmond, der zwei goldene, rot entflammte Herzen umfängt, die von einem Pfeil durchbohrt sind; der Schild von Akanthuslaub mit Ohrmuschelornamentik, in den vier Farben des Wappens, also silbern und golden, blau und rot, umgeben. fol. 1v: Verschlungenes goldenes Monogramm, vielleicht zusammengesetzt aus M und A; umrahmt von Palmenzweig links und Lorbeerzweig rechts, die durch Bänder oben und unten zusammengehalten werden, das obere in Lila, das untere in Rosa. fol. 2: In entsprechender Rahmung Allianz aus dem Wappen von fol. 1 mit einem drei geteilten Wappen: oben zwei Fliegen auf Rot, in der Mitte rote Rose auf Gold, unten goldenes Rad auf Blau. fol. 2v: Der breite Goldrahmen wie bei den anderen Blättern ausgeführt, Blau bereits vorbereitet, unfertig belassen; von der Gegenseite zeichnen sich die Zweige ab.
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fol. 3: Zum hinzugefügten Gebet eine Miniatur des Malers, der auch die meisten ande ren Bilder in dieser Handschrift geschaffen hat, die jedoch größer und aufwendiger ge staltet wurde: Als Hauptmotiv die Pietà mit dem toten Christus auf Marias Schoß, des sen Körper Johannes von links hält, während von rechts zwei Frauen Hand und Fuß des Toten küssen; eine von ihnen ist Magdalena. Dahinter stehen zwei weitere heilige Frauen im Gespräch. Drastische Gefühle beherrschen das Bild: Marias Gesicht ist vom Mantel weitgehend verdeckt, Magdalena kauert auf dem Boden. In erstaunlicher Analogie zum Aufbau des sogenannten Goldenen Rössls von Altötting, einer Goldschmiedearbeit, die König Karl VI . im Gebet zur Madonna darstellt, ist dem Hauptmotiv ein Beter vorgeschaltet: Auf der Wiese unterhalb der Pietà wird Jean Trous sier, Herr von La Gabetière im Harnisch mit seinem Wappenrock (roter Löwe steigend nach links auf dem Hermelin der Bretagne) gezeigt, wie er auf blauem Kissen kniet, vor einer Bank mit offenem Gebetbuch (die zwei Seiten mit vierzeiligem Text zwar mit ech ten Buchstaben, aber offenbar doch nicht lesbar gemeint). Dem Beter steht das Wappen mit Helm und Helmzier gegenüber; als Helmzier dient ein rot gekleidetes Wappenweib chen, das ein Spruchband mit den Worten pour Ly g. hält und auf den ersten Blick so wirkt, als sei hier die Ehefrau des Stifters ins Bild hineingemalt. fol. 16: Den Perikopen sind Bilder der vier Evangelisten vorausgeschickt, die jeweils auf monumentale Wirkung der mächtigen gedrungenen Figuren setzen. Raumangaben wer den kunstvoll knapp gehalten; sie bewegen sich zwischen älteren Mustern und dem für die späte Buchmalerei vor allem in Rouen üblichen Schema, das auf Fliesenboden den thronähnlichen Sitz des Evangelisten an die eine Seite des Bildes gerückt zeigt und ge gen gemusterten Hintergrund den Raum durch eine Mauer oder ein Tuch abgrenzt (vgl. Leuchtendes Mittelalter I, Nr. 76, Abb. S. 543; und II , Nr. 46, Abb. S. 535). Attributstiere und die als Autoren schreibenden Evangelisten sind einander gegenübergestellt. Das Johannesbild (fol. 16) weicht als Zentralkomposition ab; der Evangelist sitzt en face, auf Patmos, einer winzigen Insel, vor weiter Landschaftskulisse. Lukas mit dem Stier folgt dem üblichen Schema (fol. 17v). Matthäus liest in einem Buch, sein Engel betet (fol. 19). Markus wird mit dem Löwen, der ihm das Schreibzeug hält, dargestellt, kühn im verlorenen Profil (fol. 20v). fol. 29: Das Marien-Of fizium illustriert der übliche Zyklus aus der Kindheitsgeschichte Christi mit abschließender Marienkrönung; wieder sind die Figuren monumental her ausgearbeitet und beherrschen die gesamte Szenerie: Bei der Marienverkündigung zur Matutin (fol. 29) kommt Gabriel, wie schon oft beim Bedford-Meister (Nrn. 3 und 4) von rechts. Die Szene spielt in einem Kirchenraum mit rundbogigen Fenstern und einem Baldachin links über Maria und ist nach hinten von einem Brokattuch abgeschlossen. Die Jungfrau unterbricht ihr Gebet und wendet sich sacht nach rechts, dem Erzengel zu, dessen Spruchband lautet: aue gracia plena, dominus tecum, benedicta…
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Die Heimsuchung zu den Laudes (fol. 51) vereint Maria und Elisabeth in weiter Land schaft, vor einer ummauerten Stadt im Hintergrund; Maria erscheint wie bei der Ver kündigung fast en face, Elisabeth wie Gabriel im Profil. Die von links hell erleuchteten Felsen steigen ähnlich schroff wie in unseren Miniaturen des Bedford-Meisters nach rechts an und enden in Spitzen. Die Baumgruppen haben an Volumen gewonnen. Die Geburt Christi zur Prim (fol. 62) spielt unter dem Stern von Bethlehem im schrägge stellten Stall, der die ganze Bildfläche einnimmt, mit Pfosten, die die senkrechten Bild ränder begleiten und dem Dach im Bogenfeld. Wie in den entsprechenden Miniaturen unserer frühen Pariser Stundenbücher liegt Maria im Bett; doch sind Ochs und Esel ebenso wie die Krippe aus dem Raum verbannt. Das Bett ruht auf Pfosten, wie das bei den fortschrittlicheren Versionen der Fall war; es ist nicht rot ausgeschlagen, sondern mit grüner Decke unter blauem Betthimmel, der an der Seitenwand des Stalls und in der Dachschräge angebracht ist. Die Muttergottes hält das Wickelkind über der Bettdecke und wird von einer neben dem Bett sitzenden Hebamme links vorn beobachtet. Joseph sitzt an der rückwärtigen Längsseite des Bettes. Das Bild ist also offenbar eher nach dem Muster von Marien- und Täufer-Geburt gestaltet; auf den Stall spielt der Flechtzaun hinter Joseph an, der vor ei ner soliden Wand gespannt ist; überdies sind Ähren auf dem Boden verstreut. In Stun denbüchern findet man solche Ikonographie selten. Die Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 68) geht von der Erscheinung eines Engels im Bo genfeld aus, die ganz in blauem Camaïeu mit goldenen Strahlen gestaltet ist. Sie richtet sich an einen aufrecht stehenden Mann, der seine Augen mit der erhobenen Linken vor der himmlischen Vision schützt, während ein anderer unter einer Baumgruppe rechts hockt. In eindrucksvoll plastischer Malerei sind die kurzen Gewänder und die rundli chen Schafe wiedergegeben. Die Anbetung der Könige zur Sext (fol. 72v) findet eigenartigerweise in einem mit Wand spiegeln versehenen Steinhaus statt. Durch dessen rundbogiges Fenster scheint vor dun kelblauem Himmel der Stern von Bethlehem. Maria sitzt links auf einem Thron unter einem grünen Baldachin; hinter ihr erblickt man Josephs Kopf im Profil; vor ihr sammeln sich die drei Könige in der üblichen Alters- und Rangfolge; sie sind durch die rundbogi ge Tür rechts hinten eingetreten. Die Darbringung zur Non (fol. 76v) versteht den Tempel als einen vom Diaphragma-Bo gen gerahmten sakralen Innenraum, der nur fragmentarisch gegeben ist und durch ein Brokattuch nach hinten fast ganz verdeckt wird. Links vor dem Altar kniet Maria, um Simeon das Wickelkind zu reichen, während die zur Heiligen erklärte Magd der Jung frau, die wohl als Hannah mißverstanden ist, mit einer Kerze und dem Taubenkörbchen hinter ihr steht; die beiden Frauen sind mit Blattgold-Nimben ausgezeichnet, Simeon hingegen nur mit Mitra. Bei der Flucht nach Ägypten zur Vesp er (fol. 80v) soll gezeigt werden, wie die Heilige Familie gerade aus einem Wald in die kahle bergige Landschaft tritt. Dazu erhebt sich
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als Repoussoir links vorn ein geschichteter Hügel mit einer Baumgruppe; sie deutet den Waldrand an. Dahinter taucht der Esel auf, mit der auf ihm thronenden Maria, die das Wickelkind hält; nach rechts, hinter Hals und Kopf des Esels sichtbar, schreitet Joseph mit dem Bündel voraus. Eben wendet er sich zu Maria zurück; trotz seiner leuchtend ro ten Mütze wirkt er eher als Gegengewicht zum Landschaftsmotiv links, ist also gleich sam Teil der Rahmung. Bei der Marienkrönung zur Komplet (fol. 87) sitzen Mutter und Sohn gemeinsam auf einem Thron. Der steht in leuchtendem Zinnober vor Karomuster, dessen großformige Gestaltung deutlich macht, wie weit man hier schon von älteren Pariser Konzepten für solche Hintergründe entfernt ist; das Gold liegt flach auf der Malfläche und glitzert des halb weniger. Maria, den Kopf im Gebet zu Christus geneigt, wird von diesem gesegnet, während ein kleiner Engel aus einer Wolke herausfliegt, um ihr die Krone aufs Haupt zu setzen. Zu den Bußpsalmen ist David im Gebet zu Gott dargestellt (fol. 92); das ist ein beson ders machtvolles Bild in der Tradition der beiden Miniaturen des Bedford-Meisters in Nrn. 3 und 4 unseres Katalogs 66 (Das Pariser Stundenbuch um 1400, S. 229 und 249). Wieder setzt die Darstellung mit einem baumbekrönten Hügel links vorn ein; hinter diesem Repoussoir taucht der König auf und richtet sein Gebet an Gott, der als vollfar big gestaltete Büste über einer Stadt erscheint und den tiefblauen Himmel mit goldenen Strahlen erfüllt. Farblich bleibt unsere Miniatur im Rahmen der beiden genannten Mi niaturen des Bedford-Meisters, die ebenfalls ganz aus Erdtönen und Grün gestaltet sind. Die Horen eröffnen die beiden üblichen Darstellungen, jedoch in ungewöhnlicher Emo tion: Bei der Kreuzigung (fol. 109v) hängt Christus zwischen Maria und Johannes. Der Grund ist mit Schädel und Knochen bedeckt und damit als Golgatha bezeichnet, am Himmel zeichnen sich Sonne und Mond als kleine Erscheinungen zwischen Sternen in Pinselgold ab. Marias Augen sind wie schon auf fol. 3 als Geste des Schmerzes von ihrem Mantel fast ganz verdeckt. Johannes schaut mit erhobener rechter Hand zugleich zu ihr und zum toten Christus auf. Der kräftige Einsatz von Rot an den Wunden zeugt von der Bedeu tung des Kults um die Wunden des Erlösers. Seine Haltung mit der sonderbaren bo genförmigen Spannung des Leibes von Maria weg, während sich das Haupt zu ihr wen det, läßt an westfälische Kreuzigungen in der Nachfolge des Konrad von Soest denken. Das Pfingstwunder (fol. 113) spielt vor dunkelblauem Grund und ist dynamisch gestal tet: Die Apostel sitzen in einer Art Halbkreis. Dahinter erscheint, nach links versetzt, Maria, während die Taube rechts, aus der Mitte verschoben, ihre goldenen Strahlen aus sendet. Vorn treffen, kontrastreich gegenübergestellt, die Profilfigur eines graubärtigen Apostels – wohl Petrus – ganz in Weiß links und Johannes rechts en face zur Mitte ge wendet, aufeinander. Der Lieblingsjünger kniet zum Betrachter gewendet, hebt fassungs los die Hände und wagt kaum, sich zu Maria und der Himmelserscheinung umzudre hen, von der er aber ahnungsvoll erfüllt scheint. Die Figuren sind weit vom Vordergrund
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nach hinten geschoben; vor ihnen liegt auf dem Fliesenboden ein mächtiges zinnoberro tes Buch, das man, wie es ausgerichtet ist, auf Johannes beziehen sollte. fizium ist ein Bild vom Begräbnis (fol. 116), also der Einsegnung eines Dem Toten-Of Leichnams während der Bettung in der Erde vorgeschaltet: Vor einer Friedhofsmau er, die den Bildraum strikt auf Kämpferhöhe des Bogens gegen einen Goldgrund mit Akanthuszeichnung abschließt, ist rechts ein Grab ausgehoben. Hinein ist ein vornehm gekleideter Mann gestiegen, der einen in weißes Leinen eingenähten Leichnam hält. Ein Priester, vom Ministranten begleitet, segnet den Verstorbenen ein, während links die Pleurants gedrängt stehen. Zwischen den Priestern und dem Toten vermittelt ein gro ßes Buch, das so aufgeschlagen ist, als solle es eher ihm und uns ein Zeichen sein als den Geistlichen die Liturgie vermitteln. Zu den französischen Gebeten am Schluß folgen zwei vertraute Darstellungen, die erste von außerordentlichem Charme: Auf einer Wiese thront die Madonna zu den XV Freuden (fol. 159) unter einem Bal dachin mit dem Kind auf dem Schoß; neben ihr sitzt im Gras ein Engel mit Harfe; ein Brokattuch grenzt den Schauplatz nach hinten ab; gegen den tiefblauen Hintergrund, der kaum die Wirkung eines Himmels hat, erhebt sich eine Baumgruppe. Man könn te hier an Wirkungen denken, die an ganz anderer Stelle um 1440 bewundert werden konnten: So hat Fra Angelico Bäume hinter einem Vorhang auftauchen lassen, vor dem er die Sacra Conversazione für den Hochaltar von San Marco in Florenz stellte (Museo di San Marco). Den Abschluß bildete zunächst die Auferstehung der Toten beim Jüngsten Gericht zu den VII Klagen des Herrn (fol. 164): Hier ist über einem kahlen Hügel statt des Himmels Blattgold gelegt, auf das wie beim Totenbild und damit gleichsam in einer intelligenten gedanklichen Fortsetzung zu dem dort Gezeigten Akanthusformen mit schwarzer Fe der eingetragen sind. Sie erinnern von fern noch an den Hintergrund der Miniatur des Mazarine-Meisters zu den Bußpsalmen in Nr. 5 von Katalog 66 (S. 269). Maria und Jo hannes der Täufer flehen als Fürbitter zu Christus, der auf dem Regenbogen thront und den zwei blaue Cherubim mit den silbernen Posaunen des Jüngsten Gerichts flankieren. Die nachträglich hinzugefügte Miniatur zeigt die Höllenqualen (fol. 167): Im weit auf gerissenen Höllenrachen ein großer Bottich, in dem Seelen gesotten werden; dahinter sind verschiedene Martern in weicher Malerei angedeutet (wobei die Figur links von der Höllenleiter auffallend an Darstellungen des bösen Schächers erinnert). Die Buchmaler: Ohne Mühe sind zwei unterschiedliche Hände auszumachen: Großformig und mit ent schiedenem Sinn für das Monumentale arbeitet der Meister, der den eigentlichen Buch block und die vorn hinzugefügte Miniatur mit dem Herrn von La Gabetière gestaltet hat. Der Künstler wird nach einem Exemplar der Legenda Aurea des Jacobus de Vora gine in der französischen Übersetzung von Jean de Vignay, Cod. gall. 3 der Bayerischen
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Staatsbibliothek in München als Meister der Münchner Legenda Aurea oder Maître de la Légende dorée de Munich bezeichnet, nachdem er lange im Umfeld des Bedford-Mei sters geortet wurde. Unsere Miniaturen zeigen den Künstler etwa in dem Entwicklungs stand, den er auch im namengebenden Codex einnimmt. Anders als in manchen Stundenbüchern mit Miniaturen seiner Hand sind die Bilder hier kompakt, von großen Figuren bestimmt. Gerade die relativ kurzwüchsigen Evangelisten mit ihren mächtigen Häuptern lassen an jenes Markusbild im Münchner Codex denken, auf dem sich wahrscheinlich die Signatur des Künstlers findet: Dort schreibt der Evan gelist (mit den üblichen Abkürzungen) erstaunlicher Weise: „dominus conradus toliensis fecit“. Deshalb glauben wir, von einem Conrad von Toul sprechen dürfen, dem wir ein Œuvre, aber noch keine nachvollziehbare Biographie und Gestalt geben können. Ver wundern mag die Bezeichnung dominus, die oft auf einen Priester hindeutet. Als zweiter war der Dunois-Meister mit nur einer Miniatur, die am Schluß nachgetra gen wurde, an unserem Manuskript beteiligt. Lange mit dem Bedford-Meister für ein und dieselbe Person gehalten, die man schon seit Perls 1935 mit Haincelin de Haguenau verband, steht dieser Miniator nun eigenständig da. Man bestimmt sein Werk vom Stun denbuch für den Halbbruder des Charles d’Orléans, den Bastard von Orléans, Jean de Dunois, aus, das als Ms. H. Y. Thompson 3 zu den Schätzen der British Library gehört und von Châtelet in einem Heft der Art de l’enluminure 2008 zugänglich gemacht wur de. Unser Bild verabsolutiert einen Teil der Höllendarstellung, die im Londoner Manu skript – nur als Bordüre! – mit einer Miniatur verbunden ist, in der Dunois vor solchen Qualen durch seinen Schutzengel bewahrt wird. Wer den Bedford-Meister für Haincelin de Haguenau hält, muß folglich in dem eng mit dem älteren Künstler verbundenen Dunois-Meister dessen Sohn Jean Haincelin er kennen. Der hätte dann bis zum Erlöschen des Dunois-Stils 1466 gelebt, als der hier als Conrad von Toul angesprochene Meister der Münchner Legenda Aurea nicht mehr verfügbar war. Ein großformatiges, vollständig erhaltenes reifes Werk vom Meister der Münchner Legenda Aurea, den wir hier mit aller Vorsicht als Conrad von Toul ansprechen, mit einer eindrucksvollen Miniatur des Dunois-Meisters, also ein Beispiel für Nebenein ander beider Künstler in Paris, deren Miniaturen die beiden wichtigsten Stiltrends in der Pariser Buchmalerei des zweiten Viertels des 15. Jahrhunderts vertreten. Von Text und Gestaltung her ein Pariser Manuskript, das jedoch in dem Moment, da es in bretonische Hände geriet, vom verantwortlichen Hauptmaler noch seine beste Miniatur erhielt, die zugleich in erstaunlicher Weise personalisiert ist und auf den Besitzer, Jean Troussier aus der Gegend von Saint-Brieuc eingeht. Durch dieses hinzugefügte Blatt mit dem bretonischen Procureur und Seneschall Jean Troussier ist das stattliche Manuskript zugleich ein Beispiel für die weitreichen de Wirkung der Pariser Buchmalerei jener Zeit. Mit großartigen, zum Teil ergrei
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fenden Kompositionen, von denen manches Bild das in Stundenbüchern Gewohnte übertrifft. In ihrer Einfachheit schließen die großfigurigen Szenen an die Bilder der Münchner Legenda Aurea selbst an. Mit eindrucksvollen Arbeiten zweier Buchmaler, die jedoch nicht von einer Zusam menarbeit zwischen den beiden Illuminatoren zeugen, sondern zwischen beiden ei nen zeitlichen Abstand setzen, den die beiden durch die Bilder eröffneten hinzu gefügten Gebete erhellen: Das prächtige Bildnis des Jean Troussier, Herrn von La Gabetière, stammt aus dessen Lebzeiten, vielleicht aus dem ersten Jahrzehnt seiner langjährigen Tätigkeit für die bretonischen Herzöge. Vom Dunois-Meister hinge gen wurde ein Gebet bebildert, das eher für dessen Witwe dienen sollte und deshalb sehr viel später entstanden sein wird; das mag ein Schlaglicht auf die Geschichte der Pariser Malerei im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts werfen. In unserem Katalog bleibt es bei der vielleicht etwas irref ührenden Benennung Gaptière-Stundenbuch; der Name ist durch unsere früheren Kataloge eingeführt und hat sich in der kunsthistorischen Literatur unserer Tage gehalten; selbst Jean-Luc Deuffic, der den eher angemessenen Hinweis auf La Gabetière eingebracht hat, ist davon nicht abgewichen. LIT ER AT UR: Leuchtendes Mittelalter V, 1993, Nr. 15, S. 244-263. Das Pariser Stundenbuch um 1400 (Illuminatio nen 15, Katalog 66), 2011, Nr. 6, S. 281-306. Deuffic 2014, S. 221-228.
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LXXX Heribert Tenschert 2017