Paris mon Amour Vol. I | 25 Books of Hours from Paris 1380 - 1460 | Cat. 80

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LXXX Heribert Tenschert 2017



LXXX Dis Manibus Paul Durrieu • Millard Meiss Expiandis


Nr. 6


I 25 Stundenbücher aus Paris 1380 – 1460 Von Perrin Remiet, Jean de Nizières, Jacquemart de Hesdin, Pseudo-Jacquemart, Paul von Limburg, Mazarine-Meister, Boucicaut-Meister, Bedford-Meister (Haincelin de Haguenau), Dunois-Meister (Jean Haincelin), Laval-Meister, Meister des Royal Alexander, Conrad von Toul (Meister der Münchener Legenda Aurea), Meister von Popincourt, Meister des Harley-Froissart (Philippe de Mazerolles), Coëtivy-Meister, Meister des Etienne Sauderat, Meister des Jean Rolin, François le Barbier Père (Maître François), Meister des FoucaultBoccace

Katalog lxxx Heribert Tenschert 2017


Antiquariat Bibermühle AG Heribert Tenschert Bibermühle 1–2 · 8262 Ramsen · Schweiz Telefon: +41 (52) 742 05 75 · Telefax: +41 (52) 742 05 79 E-Mail: tenschert@antiquariat-bibermuehle.ch www.antiquariat-bibermuehle.com

Wichtiger Hinweis: Viele der abgebildeten Miniaturen sind leicht vergrößert wiedergegeben, zur besseren Identifikation der Sujets und der beteiligten Buchmaler. Die exakten Größen finden sich in der dinglichen Beschreibung, die man jeweils heranziehen möge.

English summaries of the descriptions available on application.

Autor: Prof. Dr. Eberhard König (mit Dr. Christine Seidel) Gestaltung, Redaktion, Lektorat: Heribert Tenschert Fotos: Martin & Heribert Tenschert Satz und PrePress: LUDWIG:media gmbh, Zell am See Druck und Bindung: Passavia GmbH & Co. KG, Passau ISBN: 978-3-906069-22-7


Vorbemerkung Bald weiß man nicht mehr, wohin uns die sammlerische Entrückung noch treiben wird, selbst wenn, wie hier, der Blick auf die Gattung dem Entfaltungsdrang eine letzte, ernste Beschränkung bietet. Unterdessen wären wir also bei einem Schock ausschließlich geschriebener Stundenbücher aus Paris angelangt (die Drucke der Metropole haben bereits in den Katalogen 50 und 75 ihren ozeanischen Niederschlag gefunden) – soll heißen, deren erstem Teil, mit 25 vibrierenden Akkorden aus der Anfangsblüte des Genres, die nur wenig mehr als fünf Jahrzehnte dauerte. Aber in dieser Periode schoß die Kunstübung der Miniatoren zum Kristall, wie sie ihn reiner nie mehr, ebenso klar allenfalls in den seraphischen Gebilden der Gerard David, Bening, Horenbout im Flandrischen nach 1500 hervortrieb! Dieses Viertelhundert – ein Regenbogenschleiertanz von Güssen aller Farben und Formen – in seiner Epochenhaftung wie seiner stolzen Einsamkeit darzustellen, war Eberhard König (energisch sacht unterstützt von Christine Seidel) nur in der Erstreckung auf 640 Seiten und zwei Teilbände möglich, was ihm den Dank all jener Leser bescheren wird, denen die Goldeinwaage liebender Durchdringung mehr gilt als das – ach, nicht länger „mehrheitsfähige“ – Idiom (unser geliebtes Deutsch). Wenige Kodizes (3, 4, 11) sind schon in Monographien oder Büchern der letzten Zeit behandelt, fügen sich aber hier mit dem Schmelz nur ihnen eigentümlicher Exzellenz in die ‚Goldene Kette‘, während andere (1, 5, 6, 10, 12 bis 14, 16, 19 bis 21) mit einem Aplomb auf die Bühne treten, der dem Begriff der „Erscheinung“ seine Numinosität zurückzugeben vermag. Dieser Wirkung bewusst, werde ich mich hüten, bei einzelnen Beispielen den Herold zu geben, es genügt ein der Diktion zugewandtes Organ, ein zerstreutes, gutmütiges Blättern in den Bänden, um über kurz oder lang dem Bann zu verfallen, den das Schattenheer jener scheinbar heillos vergessenen Künstler immer noch, wie am Tag der Vollendung, zu wirken imstande ist. Es erübrigt noch, darauf hinzuweisen, dass diesem ersten Teil der Pariser Produktion in wenigen Monaten der zweite folgen wird, eine Darstellung von weiteren 35-40 Stundenbüchern der ruhelosen Zeit zwischen 1460 und 1540, die den Gang durch anderthalb Jahrhunderte gesegneter Hervorbringung vollenden wird, den wir in der Anrufung der Manen eines Quartetts von „Unsterblichen“ in der Kunde von den Handschriften angetreten haben.

Bibermühle, sagen wir: am 5. September 2017

H. T.

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Inhaltsverzeichnis Band I Aber­mals ein Buch über Hand­schrif­ten und Bil­der aus Pa­ris? . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Werk­grup­pen und die Hand­schrif­ten in un­se­rem Be­stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Das Stun­den­buch mit dem Wie­hern­den Esel von Per­rin Rem­iet . . . . . . . . . . . 89 2 Jean de Vignays Ep­isto­lar und Ev­an­geli­star mit Mi­nia­tu­ren von Jean de Nizières . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3 Das Stun­den­buch des Pierre Poictevin aus Sel­les-sur-Cher ge­gen 1390 . . . . . . 132 4 Ein Stun­den­buch mit drei­ßig Zeich­nun­gen ei­nes der drei Brü­der Lim­burg als Berrys Ge­schenk für Lou­is d’Orlé­ans und Valen­ti­na Vis­conti ge­plant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5 Ei­nes der frü­he­sten be­kann­ten Stun­den­bü­cher des Maza­rine-Mei­sters . . . . . . 171 6 Ein Pa­ri­ser Stun­den­buch des Boucicaut-Mei­sters mit den Wap­pen von Co­rlieu und Lusi­gnan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 7 Ein Pa­ri­ser Stun­den­buch des Mei­sters des Guy de Laval . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 8 Ein Stun­den­buch aus der un­mit­tel­ba­ren Boucicaut-Nach­fol­ge . . . . . . . . . . . . . 229 9 Der Mei­ster des Lon­do­ner Alex­an­der aus Pa­ris in ei­nem Stun­den­buch für Rouen aus der Werk­statt des Tal­bot-Mei­sters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 10 Ein Stun­den­buch vom Mei­ster der Mün­che­ner Legenda Aurea, Con­rad von Toul, für den Ge­brauch von Sarum, im al­ten Ein­band . . . . . . . . . 266 11 Das Stun­den­buch für Jean Trous­sier: ein rei­fes Haupt­werk des Mei­sters der Münch­ner Legenda Aurea (Con­rad von Toul ) mit ei­ner er­grei­fen­den Mi­nia­tur des Du­nois-Mei­sters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

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Aber­mals ein Buch über Hand­schrif­ten und Bil­der aus Pa­ris? Art in a Time of War heißt das jüng­ste Buch zur Buch­ma­le­rei in Pa­ris; dar­in wid­met sich Gre­gory Clark auf 380 Sei­ten den sech­zehn Jah­ren von 1419 bis 1435, in de­nen Frank­ reichs Haupt­stadt von den Eng­län­dern (und Bur­gun­dern) be­setzt war.1 Kunst und Krieg, eng­li­sche Sol­da­ten und fran­zö­si­sche Il­lu­mi­na­to­ren müß­ten ein­an­der in ei­nem sol­chen Buch be­geg­nen. Doch im we­sent­li­chen geht es Clark nur um ei­nen ein­zel­nen Mei­ster, den Mei­ster von Mor­gan 453, der nur fünf Hand­schrif­ten ge­stal­tet hat und des­sen Kunst Mill­ard Meiss 1968 und John Plum­mer 1982 für nie­der­län­disch hiel­ten und nicht un­be­ dingt in Pa­ris ent­stan­den sa­hen.2 Für Eng­län­der war kein ein­zi­ges sei­ner Wer­ke be­stimmt; und selbst wenn Ar­gu­men­te für ei­nen län­ge­ren Auf­ent­halt in Pa­ris nicht von der Hand zu wei­sen sind, bleibt der Mei­ster der Haupt­stadt so fremd, als sei er dort und nicht im pik­ardischen Ami­ens, wo er wohl auch ge­ar­bei­tet hat, nur Gast ge­we­sen. Das wird um so deut­li­cher, weil sich Clark Mühe gibt, in grö­ße­rem Zeit­rah­men und mit neu­en Be­ob­ ach­tun­gen das Um­feld sei­nes Mei­sters zu cha­rak­te­ri­sie­ren und ein Pan­ora­ma der zeit­ge­ nös­si­schen Stilla­gen zu um­rei­ßen, und des­halb vie­le Hand­schrif­ten er­faßt, die we­nig oder gar nichts mit sei­nem Hel­den zu tun ha­ben. Kunst­ge­schichts­schrei­bung in ei­ner Kriegs­zeit ist un­ser neu­er Ka­ta­log, selbst wenn er in Re­gio­nen ent­stan­den ist, die von den ge­gen­wär­ti­gen Krie­gen nur ge­le­gent­lich oder gar nicht be­rührt sind. Schö­ner wäre es, man könn­te in Frie­dens­zei­ten über Wer­ke aus Frie­ dens­zei­ten schrei­ben. Dann aber müß­te man sich ganz in die Schweiz zu­rück­zie­hen und dürf­te sich auch nicht mit dem Spät­mit­tel­al­ter be­fas­sen. Kunst­hi­sto­ri­sche Ar­beit kann die Zeit­läufte nicht ganz aus­blen­den, de­nen die Kunst­ wer­ke ent­stam­men; sie soll­te sich aber nicht in hi­sto­ri­scher Nach­er­zäh­lung ver­lie­ren. Mit dem nun vor­ge­leg­ten Band wol­len wir nach dem Ver­such von 2011, das Pa­ri­ser Stun­ den­buch um 1400 von sei­ner Text­ge­stalt her zu cha­rak­te­ri­sie­ren, den Bo­gen bis zu dem Zeit­punkt span­nen, als Pa­ris zu ei­ner Me­tro­po­le des frü­hen Buch­drucks wur­de. Zwar könn­ten die Le­se­rin­nen und Le­ser ge­ra­de für die­se be­weg­ten Jahr­zehn­te eine Dar­stel­ lung all der Kämp­fe ver­lan­gen, die der Hun­dert­jäh­ri­ge Krieg auch im In­ne­ren mit sich brach­te: Dann gin­ge es um den Bür­ger­krieg zwi­schen Bur­gun­dern und Arm­agnaken, um die Auf­stän­de der Ca­bochiens und die Zu­wan­de­rung aus al­len Him­mels­rich­tun­gen, weil Frem­de vor al­lem in Kriegs­wir­ren un­ge­ord­net in gro­ße Städ­te und ge­schütz­te Räu­ me drän­gen. Doch da­für sei auf Bü­cher wie die von Jean Fa­vier ver­wie­sen.3 Ein Exo­dus von Buch­ma­lern hat of­fen­bar nicht in dem Maße statt­ge­fun­den, von dem ich in mei­nem Buch Fran­zö­si­sche Buch­ma­le­rei um 1450 aus dem Jahr 1982 aus­ging; denn 1

Clark 2016; bi­blio­g ra­phi­sche An­ga­ben sind hier am Ende des Ban­des zu­sam­men­ge­faßt.

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Meiss 1968, S. 104 und pas­sim, Abb. 308-313; Plum­mer in Aus­st.-Kat. New York 1982, Nr. 1: zu Mor­gan 1000, ei­nem Stun­ den­buch, das 1968 noch in New Yor­ker Pri­vat­be­sitz war; zu­letzt Clark 2016, S. 12-54.

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Fa­vier 1974; hier wur­de die zwei­te, ver­bes­ser­te Auf­la­ge von 1997 be­nutzt.

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Einleitung

Geld war ge­nü­gend vor­han­den: So hat­te Jean de Gin­gins, Sei­gneur de Divonne und Le Châ­tel­ard, in eng­li­schen Dien­sten so­viel ver­dient, daß er in ei­nem füh­ren­den Pa­ri­ser Ate­lier ein be­mer­kens­wer­tes Stun­den­buch kau­fen konn­te.4 Für die Buch­ma­ler galt si­ cher, daß sie, wenn sie mit Gold und Far­ben ihre Ge­stal­ten und Sze­nen aus lang ver­gan­ ge­nen Zei­ten in Ge­bet­bü­cher mal­ten, zu­wei­len Mühe hat­ten, ei­ni­ger­ma­ßen si­cher ih­rer Kunst in an Endu­ring Time of War nach­ge­hen zu kön­nen. Doch ge­ra­de des­halb muß­te die her­be Rea­li­tät weit­ge­hend au­ßen vor blei­ben. Daß sich Künst­ler und Auf­trag­ge­ber of­fen­bar dar­über ei­nig wa­ren, hat­te auch mit dem Ge­bet, weil das Be­ten, für das die Bil­ der die­nen soll­ten, be­wußt auf Welt­flucht ziel­te. So war die Bit­te, von plötz­li­chem Tod ver­schont zu wer­den, nicht auf die Ge­gen­wart, son­dern auf ’s Jen­seits aus­ge­rich­tet, in das nie­mand ohne letz­te Beich­te und geist­li­che Be­glei­tung ge­hen woll­te. Ge­schichts­schrei­bung fragt nach der Ge­sell­schaft und be­son­ders gern nach na­ment­lich be­nenn­ba­ren ho­hen Da­men und Her­ren, die Din­ge be­wegt und da­bei auch Kunst­wer­ke be­stellt ha­ben. Kunst­ge­schichts­schrei­bung hin­ge­gen geht von de­nen aus, die sol­che Wer­ ke ge­stal­tet ha­ben, und schafft in na­men­lo­sen Be­rei­chen, in de­nen die Quel­len schwei­ gen, ihre ei­ge­nen Cha­rak­te­re. Mei­ster mit Not­na­men grup­piert man in Werk­stät­ten, nach Ge­ne­ra­ti­ons­fol­gen. In­dem die Ken­ner­schaft das Zeit­ge­rüst zur Be­stim­mung vie­ ler Wer­ke über we­ni­ge Pfo­sten aus fest da­tier­ten Stücken spannt, über­trägt sie je­doch ihre spär­li­chen Da­ten auch auf jene Künst­ler, von de­nen kei­ne ein­zi­ge Ar­beit da­tiert ist. Die rea­len Na­men ent­neh­men auch die Kunst­hi­sto­ri­ker den ver­streu­ten Quel­len; doch über sie ver­fü­gen Hi­sto­ri­ker bes­ser. Ge­gen­sei­ti­ge An­er­ken­nung herrscht, führt aber nur sel­ten zu ein­hel­li­gen Er­geb­nis­sen, und nicht alle ha­ben die Kennt­nis und Be­ga­bung der Char­ti­sten aus Frank­reich, de­nen wie­der­um man­che kunst­hi­sto­ri­sche Me­tho­dik fremd bleibt. Hi­sto­ri­ker ver­las­sen sich schon des­halb nicht auf das, was die Kunst­hi­sto­ri­ker zu bie­ten ha­ben, weil sie den Kern des Ur­teils, der auf Ken­ner­schaft be­ruht, nicht nach­voll­ zie­hen kön­nen oder wol­len; des­halb über­wiegt Zwei­fel jede Über­ein­kunft. Häu­fi­ger noch rei­ßen sie die Kon­strukte gleich wie­der ein, die Ken­ner mit kri­mi­na­li­sti­schem Sinn er­ rich­tet ha­ben. Dar­in wer­den sie so­gar seit Ge­ne­ra­tio­nen von der Skep­sis ei­ner deu­ten­den Kunst- und Bild­wis­sen­schaft un­ter­stützt, die nur gro­ße Zu­sam­men­hän­ge in­ter­es­sie­ren. Nir­gend­wo tritt die­ses Di­lem­ma ent­schie­de­ner zu Tage als in den von al­len be­wun­der­ ten Bän­den, wor­in Mary und Ri­chard Rouse im Jah­re 2000 die Ar­beits­be­din­gun­gen pro­fes­sio­nel­ler Buch­künst­ler in Pa­ris bis um 1500 aus oft nur ih­nen ge­läu­fi­gen Quel­len be­schrei­ben.5 Kei­nem Kunst­hi­sto­ri­ker ist es seit­her ge­lun­gen, auch nur ei­nem ein­zel­nen un­ter den vie­len Na­men, die dort neu ge­nannt und er­neut er­ör­tert wer­den, schlüs­sig Wer­

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Lau­sanne, Ar­chi­ves can­to­na­les vaudoises, Châ­teau de La Sarraz H 50, mit ei­nem aus­f ühr­li­chen Ein­trag auf fol. 193, der be­ rich­tet, das Buch sei 1421 bei Ja­quet Lescuier in Pa­ris er­wor­ben wor­den: Hahn­lo­ser 1972; Rouse und Rouse 2000, II , S. 57; Clark 2016, S. 260, und pas­sim; Bartz 2017, S. 124-131; 242-4 mit wei­te­rer Lit.

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Fast noch kras­ser sieht es bei ei­nem kunst­hi­sto­risch ge­ra­de­zu er­geb­nis­lo­sen und dann doch preis­ge­krön­ten Buch zum 15. Jahr­ hun­dert in Flo­renz aus: Wer­ner Ja­cob­sen, Die Ma­ler von Flo­renz zu Be­ginn der Re­nais­sance (Ita­lie­ni­sche For­schun­gen des Kunst­ hi­sto­ri­schen In­sti­tu­tes in Flo­renz, IV/1), Ber­lin/Mün­chen 2001.

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Einleitung

ke zu­zu­ord­nen. Wo wir uns aber vor­ge­wagt hat­ten, Na­men zu nen­nen, ha­ben die Rouses kei­men­de Hoff­nung wie­der ge­dämpft, wenn nicht so­gar zer­stört.6 Da Na­men im Spät­mit­tel­al­ter oft auch Hin­wei­se auf die Her­kunft des ein­zel­nen Künst­ lers oder doch we­nig­stens sei­ner Fa­mi­lie bie­ten kön­nen, ver­bin­det sich mit ih­nen die Fra­ ge nach den Quel­len der Kunst. Tat­säch­lich ge­hört zum Ruhm von Pa­ris, daß die Stadt bis in die Hoch­blü­te der Mo­der­ne zur Hei­mat von Künst­lern aus al­len Him­mels­rich­tun­ gen wur­de. Im­mer wie­der er­stau­nen neue Er­kennt­nis­se, wer dort wel­che Spra­che sprach: So ha­ben Stel­la Pan­ayotova und ihr Team in Cam­bridge ge­ra­de her­aus­ge­fun­den, daß der Maza­rine-Mei­ster, der eine der schön­sten Rich­tun­gen Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei ver­tritt, Far­ ben wie rot oder root auf Deutsch oder in ei­nem nicht ge­nau­er ge­or­te­ten nie­der­län­di­schen Dia­lekt no­tier­te und hi­mel schrieb, wo er blau­en Grund ma­len woll­te.7 Mit die­ser Er­kennt­nis könn­te die schon eine Wei­le ver­ges­se­ne Fra­ge nach Ja­cques Co­ene aus Brügge in Pa­ris und Mai­land wie­der neu­en Reiz und eine un­er­war­te­te Wen­dung er­ hal­ten; denn der Maza­rine-Mei­ster ge­hört zum Boucicaut-Stil, den man frü­her mit dem do­ku­men­tier­ten Na­men ver­band.8 Doch nicht nur sprach­ge­schicht­li­che Un­si­cher­heit und die seit lan­gem er­kann­ten chro­no­lo­gi­schen Pro­ble­me stel­len sich da­ge­gen; ent­mu­tigt wer­ den sol­che Be­mü­hun­gen vor al­lem, wenn man ver­sucht, in den Her­kunfts­or­ten dem nach­ zu­spü­ren, was ein sol­cher Künst­ler nach Pa­ris mit­ge­bracht ha­ben mag.9 In Brügge sucht man eben­so ver­ge­bens, was der hi­sto­risch do­ku­men­tier­te Ja­cques Co­ene in sein Ge­päck für Pa­ris mit­neh­men konn­te, wie im el­säs­si­schen Hage­nau oder in Hagnau am Bo­den­ see, wenn man nach Hain­celin oder Je­han Hain­celain de Haguenau fragt.

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So küm­mern sie sich nicht wei­ter um die Ver­su­che, Hain­celin de Haguenau und Je­han Hain­celin zu iden­ti­fi­zie­ren; die in der Kunst­ge­schich­te in­z wi­schen ge­wohn­te Un­ter­schei­dung der bei­den Na­mens­for­men he­ben sie so­gar auf: Rouse und Rouse 2000, II , S. 73-74. Wäh­rend sie die­sem Pro­blem um den ei­nen oder die zwei Na­men noch ei­nen recht um­fang­rei­chen Bei­trag wid­men, er­hal­ten die von Ster­ling II , 1990, S. 76-131, und von Avril und Reynaud in Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, Nrn. 18-21, S. 53 und 265, ins Spiel ge­brach­ten Na­men An­dré d’Ypres und Co­lin d’Ami­ens (bei ih­nen Nico­las d’Ami­ens), auf S. 17 und S. 98-99 in Bd. II nur ins­ge­samt 18 Zei­len. Ge­ra­de­zu sym­pto­ma­tisch ist da­bei ein Druck­feh­ler, wie man ihn bei den Rouses sonst fast nie fin­det, wenn sie im Ab­schnitt über Nico­las d’Ami­ens (Bd. II , S. 99) auf „An­rdé d’Ypres“ hin­wei­sen. Die Sprach­ lo­sig­keit der Hi­sto­ri­ker trifft auf die Zer­strit­ten­heit der Ken­ner: Ster­ling gibt die in Pa­ris nur kurz er­wähn­ten Na­men zwei ganz an­de­ren Ma­lern, dem Jou­ve­nel-Mei­ster und Mei­ster des Gen­fer Boccaccio; die aber ha­ben gar nicht in Pa­ris, son­dern an der Loire ge­ar­bei­tet ha­ben. Für Avril und Reynaud hin­ge­gen ver­ber­gen sich hin­ter An­dré d’Ypres und Co­lin d’Ami­ens die Mei­ster von Dreux Budé und Co­ëtivy.

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Ein­deu­tig be­stimm­ba­re Wor­te sind auf­ge­taucht bei der Un­ter­su­chung von Un­ter­zeich­nun­gen in den Mi­nia­tu­ren von Ms. Foun­ders 251 des Fit­z william Mu­se­ums (Jean Co­rb­echon, Livre des pro­prétés des choses); sie­he den Bei­trag von Pan­ayotova mit Paola Ricci­ardi, „Ma­ster’s Sec­rets“ im Aus­st.-Kat. Cam­bridge 2016, S. 127-129; das Ma­nu­skript selbst fi­g u­riert dort als Nr. 1 auf S. 24-25.

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Zwi­schen 1398 und 1407 ist ein Ja­cques Co­ene aus Brügge nach­ge­wie­sen, der in Ita­li­en als in Pa­ris wohn­haft be­zeich­net wur­ de und in Pa­ris Mal­re­zep­te für Buch­ma­le­rei an Al­cherius wei­ter­gab, die von Jean Lebègue über­lie­fert sind (Rouse und Rouse 2000, II , S. 56-57). Joris Co­rin Hey­der irrt, wenn er meint, der Boucicaut-Mei­ster wer­de „nowadays al­most al­ways identified as the Bru­ges ar­tist Ja­cques Co­ene“ (Aus­st.-Kat. Rot­ter­dam 2012, S. 62).

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Dar­in lag auch das Pro­blem der Aus­st. Nim­we­gen 2005; sie­he mei­nen Bei­trag: Die Bel­les Heu­res des Her­zogs von Berry, Pro­ble­me und Kon­tro­ver­sen. Aus An­laß der Aus­stel­lung De Gebro­eders Van Lim­burg. Nijmeegse Meesters aan de Fran­se Hof (1400-1416), Nijme­gen: Mu­se­um het Valk­hof 2005. Ka­ta­log (Lud­ion) hrsg. von Rob Dückers und Pi­eter Roelofs, in: Kunst­chro­nik 2006, S. 225-237.

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Einleitung

Ge­schich­te aus dem Zu­fall des Vor­han­de­nen zu schrei­ben, ist die Auf­ga­be ei­nes Ka­ta­logs, wie wir ihn hier vor­le­gen. Sei­ne Sub­stanz er­hält er aus dem, was im An­ti­qua­ri­at auf­ge­ taucht ist; und in­dem er das er­ör­tert, be­zieht er Po­si­ti­on zum wech­seln­den Stand frem­ der und ei­ge­ner Er­kennt­nis zu den im­mer noch blin­den Flecken der For­schung. Er­mu­tigt kann die Ar­beit von den drei Bän­den aus­ge­hen, die Mill­ard Meiss 1967 bis 1974 vor­ge­ legt hat. Die dar­in aus­ge­brei­te­te Fül­le ist un­er­reicht und bleibt noch lan­ge die wich­tig­ste Grund­la­ge al­ler Be­schäf­ti­gung mit dem Stoff, zu­mal Meiss sein Ma­te­ri­al selbst un­er­müd­ lich an­se­hen konn­te, was den Jün­ge­ren in Zei­ten zu­neh­men­der Re­strik­ti­on nicht mehr ge­gönnt ist. Durch sei­ne mo­nu­men­ta­le Lei­stung, die sich auch für be­deu­ten­de Er­gän­zun­ gen und teil­wei­se Re­vi­sio­nen als frucht­bar er­wies10, wur­den aber nur die zwei Jahr­zehn­te nach 1400 er­schlos­sen. Für die Zeit da­vor bie­tet Meiss durch Berry-Hand­schrif­ten wie die Pe­tit­es Heu­res und den Beau­neveu-Psal­ter nur ei­ni­ge gro­ße Glanz­lich­ter.11 Die un­ge­ mein viel rei­che­re Pro­duk­ti­on im zwei­ten Vier­tel des 15. Jahr­hun­derts aber ver­langt eine sehr viel grö­ße­re An­stren­gung,12 zu­mal Avril und Reynaud 1993 ihre mo­nu­men­ta­le Aus­ stel­lung erst mit der Zeit um 1440 be­gin­nen lie­ßen. An­ge­sichts die­ser nicht ganz ho­mo­ge­nen For­schungs­la­ge und der Tat­sa­che, daß wir wie ge­wohnt un­se­re Hand­schrif­ten mit ih­rer Be­bil­de­rung aus sich selbst spre­chen las­sen wol­ len, soll hier ein Bild da­von ge­zeich­net wer­den, was Pa­ris an Bild­wel­ten für Stun­den­bü­ cher zu bie­ten hat­te und in wel­cher Dy­na­mik sich die­se Bild­wel­ten par­al­lel zur re­vo­lu­tio­ nä­ren Ver­än­de­rung in der Ta­fel­ma­le­rei ver­än­der­ten. Da­bei er­weist sich die Me­tro­po­le als ein Schmelz­tie­gel, in dem künst­le­ri­sche Ten­den­zen nicht nur aus Nord und Süd, son­dern auch aus dem deutsch­spra­chi­gen Raum zu­sam­men wirk­ten. Statt nur da­nach zu fra­gen, wel­chen frem­den Re­gio­nen die Pa­ri­ser Buch­kunst was im Ein­zel­nen ver­dankt, geht es hier um den un­er­hör­ten Rang der Me­tro­po­le, die selbst in Kriegs­zei­ten Künst­ler an­zog. Dort ran­gen sie mit­ein­an­der um die Gunst ei­ner Kli­en­tel, die eben­so wie die Künst­ler kei­nes­wegs nur aus der Stadt an der Sei­ne stamm­te.13

10 ­Vor al­lem durch die Ar­bei­ten von Ga­brie­le Bartz, die 1999 den Maza­rine-Mei­ster ne­ben dem Boucicaut-Mei­ster eta­blier­te so­wie von Inès Villela-Pe­tit 2003, die dem Bed­ford-Mei­ster sei­nen Platz schon im er­sten Jahr­zehnt nach 1400 gab. Hin­zu ge­hört auch der von der Li­te­ra­tur noch nicht aus­rei­chend be­g rif­fe­ne Zu­ge­winn durch un­ser im letz­ten Jahr ver­öf­fent­lich­tes Lim­burg-Stun­den­buch für Lou­is d’Orlé­ans und Valen­ti­na Vis­conti. 11

Pa­ris, BnF, latin 18014 und fr. 13091; schon der Be­g inn mit den Très Bel­les Heu­res de No­tre Dame, NAL 3093, die eher um 1404 ent­stan­den sind, ist heu­te nicht mehr un­be­strit­ten (Fran­çois Boes­pflug und Eber­hard Kö­nig, Les Très Bel­les Heu­res de Jean de France duc de Berry, Pa­ris 1998) und die Stel­lung des Brüs­se­ler Stun­den­buch, KBR , ms. 11060-1, vor 1402 wur­de von Ger­hard Schmidt gründ­lich er­schüt­tert (im von Bern­ard Bous­man­ne her­aus­ge­ge­be­nen Band Heu­res de Brux­el­les. Kom­men­ tar zu Ms. 11060-61 der Bibliothèque Roya­le Al­bert Ier, Lu­zern 1996.

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Das meint auch Clark 2016, wenn er schreibt: „only a co­mprehensive hi­sto­ry of Pa­ris­ian il­lu­mi­na­ti­on at mid-cent­ury will enable de­fi­ni­ti­ve identificat­ion of the hands at work…“ (S. 267).

13

Be­son­ders krass ver­tritt Ar­thur Weese eine sol­che Sicht in sei­nem Band für das Hand­buch zur Kunst­wis­sen­schaft: Skulp­tur und Ma­le­rei in Frank­reich im XV. und XVI. Jahr­hun­dert, Wild­park-Pots­dam 1927.

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Werk­grup­pen und die Hand­schrif­ten in un­se­rem Be­stand Per­rin Rem­iet und Jean de Nizières Der Wan­del der Kunst von den frü­he­sten Stun­den­bü­chern, die wir hier vor­stel­len, bis zu den ein­drucks­vol­len Blü­te­zei­ten um 1415 und um 1450/60 ist un­er­hört. Wie Zeit­ ge­nos­sen die Ver­än­de­run­gen ge­se­hen ha­ben mö­gen, bleibt un­klar. Für Wert­schät­zung und pfleg­li­che Er­hal­tung sorg­te si­cher die Ach­tung für das Äl­te­re; und das gilt zwei­fel­ los auch für die­je­ni­gen, die an den re­vo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lun­gen ih­rer ei­ge­nen Zeit le­ ben­dig teil­ge­nom­men ha­ben. Das Maß der Ent­wick­lung wird für uns Heu­ti­ge von den Al­ten Nie­der­län­dern, von Jan van Eyck und Rogier van der Wey­den, be­stimmt. Mit ih­ rer Kunst ver­traut war Nico­las Rolin (1376-1462). Die­ser Kanz­ler des Bur­gun­der­her­ zogs Phil­ipps des Küh­nen hat sich aber ein Stun­den­buch (Yates Thompson Ms. 45 in der Bri­tish Lib­rary) zu ei­gen ge­macht, das be­reits zu Leb­zei­ten sei­ner El­tern in der­sel­ben Pa­ri­ser Werk­statt wie un­se­re Nr. 1 ent­stan­den ist. Des­sen schlich­te Trif­tig­keit konn­te sich also bei ei­nem so ho­hen und ehr­gei­zi­gen Herrn wie dem Be­sit­zer von Jan van Eycks Rolin-Ma­don­na und Grün­der des Hospice de Beau­ne ge­gen­über ei­ner ganz der Na­ tur zu­ge­wand­ten Ars nova be­haup­ten. Von zu­tref­fen­der Ein­fach­heit ge­spei­ste Qua­li­tät mag auch der Samm­ler Hen­ry Yates Thompson ge­spürt ha­ben, der so man­che herr­li­che Hand­schrift er­warb und dann wie­der bei­sei­te schob (sie­he in die­sem Ka­ta­log die Num­ mern 10 und 16), Rol­ins Ge­bet­buch aber bis zum Le­bens­en­de be­hielt. Dem für die mei­sten Mi­nia­tu­ren ver­ant­wort­li­chen Buch­ma­ler fehl­te um 1900 noch der Name. In ei­ner An­wand­lung, die letzt­lich die Pra­xis der Ken­ner mit ih­ren Not­na­men iro­ni­siert, hat Mi­cha­el Ca­mil­le den Buch­ma­ler Per­rin Rem­iet 1996 in der ihm ge­wid­me­ ten Mo­no­gra­phie als Ma­ster of Death vor­ge­stellt.14 Aus­gangs­p unkt für die Be­stim­mung des Na­mens ist fr. 823 der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek, ein Ex­em­plar von Guillaume Digullevilles Pèleri­na­ge, von dem aus man Rem­iet be­stim­men soll­te, trotz be­son­ne­ner Ein­ wän­de von Rouse und Rouse 2000. Der mit Rem­iet zu be­nen­nen­de Ma­ler fin­det sich nur im er­sten und drit­ten Text die­ ses Ban­des. Den zwei­ten scheint Jean de Nizières il­lu­mi­niert zu ha­ben, des­sen Si­gna­tur in ei­nem Livre des pro­priétés des choses, Sainte Ge­ne­viève, ms. 1028, zu fin­den ist;15 sei­ ne Hand wird man im Front­ispiz zwei Blatt spä­ter er­ken­nen dür­fen. Die Ma­ler sind un­ ter­ein­an­der ver­wandt, ihr Stil grün­det in der Zeit des Über­gangs von Karl V. zu des­sen Sohn Karl VI ., der 1380 als Kind das Erbe an­trat, das er mehr schlecht als recht bis zu sei­nem Tod 1422 ver­wal­te­te. Stil­be­zü­ge be­ste­hen zum Bild der Krö­nung Karls VI . in den Gran­des Chroniques, fr. 2813, fol. 3v, der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek.16

14

Ca­mil­le 1996; Rouse und Rouse 2000, Bd. II , S. 115.

15

Pa­ris, Bibliothèque Sainte Ge­ne­viève, ms. 1028, fol. 12; das Front­ispiz folgt auf fol. 14: Hen­ry Mar­tin, La mi­nia­ture française du XIIIe siècle au XVe siècle, 2. Aufl. Pa­ris 1924, S. 99 und Abb. XCIX auf Taf. 74.

16

Avril 1978, Nr. 35, S. 108 f.

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Einleitung

Im An­ti­qua­ri­at Bi­ber­müh­le lie­gen zur Zeit Wer­ke bei­der en­ger hi­sto­risch als sti­li­stisch ver­bun­de­nen Buch­ma­ler: Mit Nr. 1 ein Stun­den­buch und mit Nr. 2 ein Lek­ti­on­ar, das aus Bi­bel­stel­len im Pa­ri­ser Miss­ale be­steht, die Jean de Vignay 1336 für die fran­zö­si­sche Kö­ni­gin Je­an­ne de Bourgogne über­setzt hat. Selbst wenn das bis auf den Ka­len­der voll­ stän­dig er­hal­te­ne Stun­den­buch dem Ge­brauch von Rom folgt und we­gen hin­zu­ge­füg­ter Ge­be­te früh in eng­li­sche Hän­de kam, ver­tritt das Ma­nu­skript die we­ni­gen Pa­ri­ser Stun­ den­bü­cher der Zeit um 1390 vor­züg­lich. Hin­ge­gen gibt Nr. 2 Ein­blick in ei­nen Buch­typ zwi­schen den gro­ßen pro­fa­nen Wer­ken ei­ner­seits und den li­tur­gi­schen Hand­schrif­ten so­wie den Stun­den­bü­chern, den man all­zu gern ver­gißt: Es gab eben auch et­was be­schei­ de­ner il­lu­mi­nier­te Kom­pen­di­en klei­ne­ren For­mats, die Pas­sa­gen aus dem Got­tes­dienst in der Volks­spra­che bo­ten. Zu­gleich wirft das Stun­den­buch Nr. 1 die Fra­ge auf, ob die buch­ge­schicht­li­che Nei­gung, sol­che Hand­schrif­ten nach den be­tei­lig­ten Ma­lern zu sor­tie­ren und da­bei so zu tun, als sei­en die­se „Mei­ster“ für das gan­ze Werk ver­ant­wort­lich, hi­sto­risch an­ge­mes­sen ist. Nach gän­gi­ger ken­ners­chaftlic­her Pra­xis müß­te man bei der Be­stim­mung vom wich­tig­ sten und am auf­wen­dig­sten ge­schmück­ten In­cipit, der Mari­en-Matutin, aus­ge­hen; doch hat man für die­se Auf­ga­be nicht Rem­iet, son­dern ei­nen frem­den Ma­ler ein­ge­setzt. Daß der in Pa­ris alt­ein­ge­ses­se­ne Il­lu­mi­na­tor ei­nem Ma­ler, der ver­mut­lich aus den nörd­li­chen Nie­der­lan­den stamm­te, den wich­tig­sten Platz in ei­nem sol­chen Werk über­ließ, wird der libra­ire ent­schie­den ha­ben. Für zehn der üb­ri­gen elf Mi­nia­tu­ren hat er sich auf die be­ währ­te Werk­statt von Per­rin Rem­iet ver­las­sen, weil sie über ein kla­res Kon­zept für ein über­zeu­gen­des Lay­out ver­füg­te. Rem­iets Bil­der in Vier­päs­sen drücken al­les We­sent­li­ che in knap­per und kla­rer Zeich­nung mit we­ni­gen leuch­ten­den Far­ben vor kost­ba­ren Ka­ro­grün­den und Gold­ran­ken aus. Wäh­rend den Pa­ri­ser Ma­ler Ar­chi­tek­tur nicht in­ ter­es­sier­te, birgt ein Ku­lis­sen­haus vor Him­mels­grund die Ver­kün­di­gung. Der Schöp­fer ge­hört zu je­nen, die um 1415 in Gel­dern das Stun­den­buch der Ma­rie d’Har­court oder der Ma­ria von Gel­dern ge­stal­te­ten.17 Wenn man das Bild­ver­ständ­nis des wohl nur für eine Wei­le in Pa­ris tä­ti­gen Ma­lers aus Gel­dern mit den Fe­der­zeich­nun­gen im Lek­ti­on­ar der Épîtres et Évangiles ver­gleicht, wird ein Grund­cha­rak­ter der fran­zö­si­schen Tra­di­ti­on des 14. Jahr­hun­derts deut­lich: Jean de Nizières setzt Ko­lo­rie­rung nur ein, um ein­zel­ne für das Ver­ständ­nis der Bil­der wich­ti­ge Ele­men­te zu ver­deut­li­chen. Sein si­che­rer Strich zielt auf sze­ni­sche Ver­ge­gen­wär­ti­gung der im Kir­chen­jahr wich­ti­gen Ge­scheh­nis­se aus der Heils­ge­schich­te; auf Gold ver­zich­tet er weit­ge­hend. Auch sein auf den er­sten Blick al­ter­tüm­li­ches Ma­nu­skript blieb be­gehrt, un­ge­ach­tet der re­vo­lu­tio­nä­ren Um­wäl­zung der Buch­ma­le­rei im 15. Jahr­hun­dert: Jean Budé hat sich 1486 in dem Buch ver­ewigt, und Fran­çoise d’Ale­nçon hat die­ses Lek­ti­on­ ar noch im frü­hen 16. Jahr­hun­dert be­nutzt. Den blei­ben­den Wert be­legt auch in die­sem Fall mo­der­ne Auf­merk­sam­keit bis 1974, als man den his­t ori­sier­en­den Ein­band schuf. 17

Ber­lin, Staats­bi­blio­thek, Cod. germ. qu. 42, und Wien, ÖNB , Cod. 1908: Aus­st.-Kat. Ber­lin 1987, Nr. 45; Aus­st.-Kat. Ut­ recht und New York 1989, Nr. 17; zu­letzt Sei­del in Aus­st.-Kat. Kon­stanz 2014, Nr. 68. Am über­zeu­gend­sten sind Ver­glei­ che mit den Suff­ragien­bil­dern im Ber­li­ner Ma­nu­skript.

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Un­fer­ti­ge Mei­ster­wer­ke zwei­er Schütz­lin­ge des Her­zogs Jean de Berry Seit wir mit Hand­schrif­ten in der Bi­ber­müh­le ver­su­chen, gan­ze Be­rei­che aus der Ge­ schich­te der Buch­ma­le­rei zu um­rei­ßen, er­lau­ben wir uns Rück­blicke auf wich­ti­ge Wer­ke aus äl­te­ren Ka­ta­lo­gen; durch sie er­hält die über Jahr­zehn­te ge­pfleg­te Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen An­ti­quar und Ken­ner be­son­de­ren Sinn, weil sie zu­gleich Ge­le­gen­heit bie­tet, die Din­ge noch ein­mal neu zu be­trach­ten. Die Épîtres et Évangiles ha­ben wir be­reits im Jahr 2000 aus­führ­li­cher be­schrie­ben, als Nr. 3 im 3. Band der Neu­en Fol­ge Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter. Den nun fol­gen­den Nrn. 3 und 4 wa­ren zwei rez­en­te Bü­cher ge­wid­met: 2015, in un­se­rem Ka­ta­log 76, dien­te Nr. 3 in ei­ner Ge­gen­über­stel­lung von Psal­ter und Stun­ den­buch im 14. Jahr­hun­dert als End­punkt; 2016 er­wies sich die hier als Nr. 4 ge­führ­ te Hand­schrift als eine der größ­ten Sen­sa­tio­nen in der neue­ren Ge­schich­te der Hand­ schrif­ten­kun­de.18 Bei­de Stun­den­bü­cher zeu­gen von ei­ner Pha­se in der Ent­wick­lung des Hand­schrif­ten­ typs und viel­leicht auch der Künst­ler, in der ikono­gra­phi­sche Zu­ord­nun­gen noch nicht schlüs­sig zu al­len ge­läu­fi­gen Stun­den­buch-In­cipits fest­ge­legt wa­ren. Bei­de sind auf un­ter­ schied­li­che Wei­se mit Pa­ris und Bour­ges ver­bun­den. Bei­de zei­gen in ver­schie­den star­ker Wei­se Züge des Un­fer­ti­gen. Die bei­den ver­ant­wort­li­chen Buch­ma­ler fan­den erst durch den Her­zog von Berry zu ih­rer er­staun­li­chen Grö­ße; bei­den stand Jean de Berry in ge­ ra­de­zu skan­da­lö­ser Wei­se bei.19 Daß die Mi­nia­tu­ren so er­hal­ten ge­blie­ben sind, wie sie von ih­ren Schöp­fern lie­gen ge­las­sen wur­den, ver­dan­ken sie zwei Grün­den: Bü­cher warf man nicht weg, nur weil ihre Be­bil­de­rung un­fer­tig war, zu­gleich ließ der un­voll­en­de­te Zu­ stand den schöp­fe­ri­schen Pro­zeß noch le­ben­dig spü­ren, wo­von in un­er­hör­ter Wei­se un­ se­re Nr. 4 zeugt. In Nr. 3 sind alle Mi­nia­tu­ren gut les­bar, in den Hin­ter­grün­den sind sie im­mer, meist auch in den Ge­wän­dern voll­en­det. Selbst für die Rah­mung gilt das, ob­wohl sie ei­gent­lich als letz­tes aus­ge­führt wur­de. Doch fehlt man­chen Ge­sich­tern und Hän­den, sel­te­ner auch den Dra­pe­ri­en die letz­te Aus­ma­lung. Die­ser Zu­stand bie­tet wun­der­ba­re Ein­blicke in die Art, wie ge­zeich­net wur­de, bei­spiels­wei­se bei den Köp­fen von Ma­ria und dem Kind der Flucht nach Ägyp­ten. Die Zu­schrei­bung wird durch die­sen Um­stand je­doch er­schwert, zu­mal in ein­zel­nen Fäl­len zwi­schen der An­la­ge der Bil­der und der Fer­tig­stel­lung der Ge­ sich­ter Zeit ver­stri­chen ist. So deu­tet der stark ins 15. Jahr­hun­dert wei­sen­de Cha­rak­ter

18

Scott Reyburn in: In­ter­na­tio­nal New York Times 14. März 2016, S. 15; An­dre­as Platt­haus, Das Buch­wun­der der Brü­der Lim­ burg, in: Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung, 15. Au­g ust 2016, S. 9; Al­bert Châtelet, Une nouv­el­le œuvre des frères Limbourg, in: art de l’enlumi­nure 57, 2016, S. 59-60. Dar­auf be­zo­ge­ne Bei­trä­ge u. a. von Chri­sti­ne Sei­del, Inès Villela-Pe­tit, Die­ter Röschel und mir er­schei­nen in Nim­we­gen im Herbst 2017.

19

Ja­cquem­art war 1398 in Poi­tiers mit zwei sei­ner Mit­ar­bei­ter in ei­nen Mord­fall ver­wickelt; Berry schlug die po­li­zei­li­chen Er­ mitt­lun­gen nie­der; Paul von Lim­burg be­gehr­te die min­der­jäh­ri­ge Giliette la Mer­ci­ère, die er spä­ter auch hei­ra­te­te, ge­gen den Wil­len ih­rer Mut­ter; Berry ent­zog der Fa­mi­lie das Mäd­chen. Zu die­sen Er­eig­nis­sen Meiss 1967, 226-227, und Meiss 1974, S. 74-75; zu den Ge­scheh­nis­sen des Jah­res 1398 sie­he auch un­se­ren Band Vom Psal­ter zum Stun­den­buch (Il­lu­mi­na­tio­nen 22), 2015, S. 316-318, mit Hin­wei­sen zu rez­en­ter Li­te­ra­tur bis hin zu Châtelet 2000, S. 74-75.

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Einleitung

von Jo­han­nes auf Patmos dar­auf hin, daß die Aus­ma­lung wohl erst nach der Wen­de zum 15. Jahr­hun­dert ab­ge­schlos­sen wur­de. Daß Hän­de­schei­dung in Nr. 3 nö­tig ist, ver­ra­ten die bei­den zu Ende ge­mal­ten Ver­kün­di­ gungs­bil­der, fol. 15 und 21: Eine der bei­den Mi­nia­tu­ren folgt Jean le Noirs Haupt­mi­nia­tur in Berrys Pe­tit­es Heu­res aus der Zeit um 1375, die aber erst ein Jahr­zehnt spä­ter voll­en­ det wur­de; die zwei­te, mit knien­dem Ga­bri­el, ent­spricht dem zwei­ten Bild des The­mas dort (fol. 141v), das nach ei­ner äl­te­ren Vor­la­ge von jün­ge­rer Hand aus­ge­führt wur­de.20 An ita­lie­ni­scher Mo­del­lie­rung ori­en­tiert und sti­li­stisch fort­schritt­li­cher ist un­ser zwei­tes Ver­kün­di­gungs­bild, das als Er­öff­nung der Mari­en-Matutin auch in der Hier­ar­chie des Bu­ches hö­he­ren Rang be­an­sprucht. Sti­li­stisch ge­hört es zu Ja­cquem­art de Hes­din, den der Her­zog von Berry 1384 nach Bour­ges hol­te. Als er­ster hat­te Ro­bert de La­ste­yrie 1896 – na­tür­lich ohne un­ser Buch zu ken­nen – ver­sucht, das Œuvre die­ses Künst­lers zu be­stim­men. Nach­dem Pan­ofsky 1953 des­sen Über­le­gun­gen auf­ge­nom­men hat­te und ihm fol­gend Mill­ard Meiss 1956 und 1974 die Iden­ti­fi­zie­rung des Künst­lers im glei­chen Sin­ne neu be­grün­det hat­te, schien die Fra­ge end­gül­tig ge­klärt. So sa­hen das auch Carl Nor­denf­alk und Otto Pächt 1956 so­wie spä­ ter Fran­çois Avril 1975 und 1989. Da­mit schien Paul Dur­rieu wi­der­legt, der sei­ner­seits von den für Ja­cquem­art ver­bürg­ten Gran­des Heu­res des Her­zogs von Berry aus­ge­gan­gen war. De­ren Haupt­stil im er­hal­te­nen Buch­block hat­te Dur­rieu mit Ja­cquem­art ver­bun­ den; die­sen Ge­dan­ken nahm Al­bert Châtelet im Jahr 2000 mit ver­än­der­ter Ar­gu­men­ ta­ti­on wie­der auf.21 Eine Haupt­rol­le in der neue­ren Dis­kus­si­on spiel­te eine text­lo­se Kreuzt­ragung in Fo­lio­ for­mat, die erst 1930 auf­ge­taucht und als ita­lie­ni­sche Ar­beit in den Lou­vre ge­langt ist. Zu­min­dest seit Nor­denf­alk 1956 gilt vie­len die­ses Blatt als Rest­be­stand aus den Gran­des Heu­res. Ob­wohl Meiss die Her­kunft aus dem Ma­nu­skript ab­lehn­te, stell­te er sich die ver­ lo­re­nen Voll­bil­der ähn­lich vor. Den die Gran­des Heu­res do­mi­nie­ren­den al­ter­tüm­li­che­ren Mi­nia­tur­isten – also Dur­rieus und Châtelets Ja­cquem­art – aber tauf­te Meiss Pseu­do-Ja­ cquem­art. Ja­cquem­art selbst ver­tritt für Meiss und die mei­sten an­de­ren mit sei­ner Pla­ sti­zi­tät und dem ge­dämpft far­ben­fro­hen Ko­lo­rit Ei­gen­schaf­ten, die ins 15. Jahr­hun­dert vor­aus­wei­sen; das wie­der­um er­klär­te Meiss mit fri­scher Er­fah­rung des aus dem Art­ois stam­men­den Ma­lers in Avi­gnon. Bei­de „Ja­cquem­arts“ wa­ren an un­se­rer Nr. 3 be­tei­ligt: Der mo­der­ne­re hat die Ver­kün­di­ gung zur Mari­en-Matutin ge­schaf­fen; sein „Pseu­do“ hin­ge­gen be­zau­bert mit dem Bild der Ma­don­na im Gar­ten, der der Je­sus­kna­be beim Garn­wickeln hilft, fol. 210. Von hier aus sind die­sem al­ter­tüm­li­che­ren Ma­ler nicht nur die Bil­der zu Sext und Non im Ma­ rien­of ­fi­zi­um, son­dern auch das Jüng­ste Ge­richt zu den Buß­psal­men zu­zu­schrei­ben. Doch

20 Avril 1989, S. 323-4. 21

Pa­ris, BnF, latin 919: Mar­cel Tho­mas, Les Gran­des Heu­res de Jean de France, duc de Berry, Pa­ris 1971; Meiss 1967, S. 256-286 und pas­sim; Châtelet 2000, S. 76-84; Avril 2004; Aus­st.-Kat. Pa­ris 2004, Nr. 43 A und B.

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Einleitung

steht Pseu­do-Ja­cquem­art hin­ter dem fort­schritt­li­che­ren, also Ja­cquem­art, wie Meiss ihn sieht, zu­rück, weil der in die­sem Ma­nu­skript den wich­tig­sten Text­an­fang über­nimmt. Chro­no­lo­gi­sche Pro­ble­me, wie sie die ent­schie­den fort­schritt­li­che Fi­gu­ren­bil­dung der Haupt­mi­nia­tur stel­len könn­te, wer­den durch die enge Ver­wandt­schaft un­se­res Erz­en­gels Ga­bri­el auf fol. 21 mit den knien­den Wap­pen-En­geln auf dem Front­ispiz zum zwei­ten Band der Bi­bel Vat. lat. 50/51 aus dem Weg ge­räumt; denn die He­ral­dik dort hat Jean de Berry zwi­schen 1389 und 1394 für Papst Cle­mens VII . ein­ma­len las­sen. Mit die­sem Hin­weis ge­rät man zu­gleich in Grau­zo­nen, weil Mill­ard Meiss um die we­ni­gen Wer­ke sei­ner Mei­ster, die er für ei­gen­hän­dig hielt, Scha­ren von Mit­ar­bei­tern und Nach­fol­gern ver­sam­mel­te. Er hät­te un­ser Ma­nu­skript ver­mut­lich eben­so wie die am be­sten ver­gleich­ ba­re Par­al­lel-Hand­schrift, Ms. 159 in Par­ma, die ihm selbst­ver­ständ­lich be­kannt war, eher der Ja­cquem­art-Nach­fol­ge oder viel­leicht dem von ihm nur un­ge­nau de­fi­nier­ten Drei­fal­tig­keits-Mei­ster zu­ge­spro­chen. Da­mit er­gibt sich, un­ab­hän­gig da­von, wes­sen Ja­cquem­art denn nun der ech­te war, die Zu­schrei­bung un­se­res Stun­den­buchs an das Ate­lier des seit 1384 in Berrys Dien­sten nach­ge­wie­se­nen Ja­cquem­art de Hes­din. Mit die­sem in Bour­ges an­säs­si­gen Künst­ler er­ gibt sich aber zu­gleich das Pro­blem, daß un­se­re Nr. 3 in der Haupt­stadt des Berry ent­ stan­den sein könn­te, ob­wohl die­se bis 2015 un­be­kann­te Hand­schrift in Text, De­kor und Be­bil­de­rung mu­ster­gül­tig den Ty­pus des Pa­ri­ser Stun­den­buchs ver­tritt. Hin­rei­ßend sind ei­ni­ge der als Zeich­nung ste­hen ge­blie­be­nen Pas­sa­gen; be­mer­kens­wert ist der von kei­ nem Il­lu­mi­na­tor an­schau­li­cher als von Ja­cquem­art ver­tre­te­ne Wech­sel von der Ma­le­rei des Kur­zen 14. Jahr­hun­derts22 zum Gol­de­nen Zeit­al­ter un­ter dem Mä­zen­at des Her­ zogs Jean de Berry. Fast zwan­zig Jah­re spä­ter hat je­ner Lim­burg-Bru­der, der den Hie­ro­ny­mus im Geh­äus als Front­ispiz zur Bible mo­ral­isée für Phil­ipp den Küh­nen von Bur­gund vor April 1404 und um 1408 Rand­bil­der in Douce 144 ge­zeich­net hat, un­se­re Nr. 4 mit drei­ßig hin­rei­ßen­ den Zeich­nun­gen ver­se­hen. Etwa gleich­zei­tig hat er in den Bel­les Heu­res als „the ele­gant hand“23 mit­ge­wirkt und dann in den Très Riches Heu­res mit dem Fe­bru­ar und an­de­ren be­ rühm­ten Mi­nia­tu­ren eine un­er­hör­te Höhe er­reicht. Da die­ser Lim­burg die Mi­nia­tur der Bel­les Heu­res ge­schaf­fen hat, die mit win­zi­gem „P“ si­gniert ist, kommt er als Paul in Fra­ge. In man­chen Bil­dern die­ses bis­her ganz und gar un­be­kann­ten Stun­den­buchs zeigt er sich so ins Zeich­nen ver­liebt, als habe er ganz ver­ges­sen, daß ei­gent­lich noch ge­malt wer­den soll­te. Nicht von der Tech­nik, wohl aber von der Wir­kung her nä­hert man sich den im 14. Jahr­hun­dert be­lieb­ten Grisaillen. In die­ser Hin­sicht, eben­so wie beim stark re­du­ zier­ten For­mat und dem Ka­len­der, der die Mo­na­te auf Ver­so und Recto aus­brei­tet, so­ wie der An­la­ge von be­bil­der­ten Dop­pel­sei­ten mag man sich an Pucel­les Stun­den­buch der 22 ­Da­mit ist der Zeit­raum ge­meint, der im Kon­zept des Survey von Harvey Mil­ler auf die Bän­de von Alis­on Sto­nes folgt, die vor dem Auf­tre­ten Jean Pucel­les en­det, und vor dem Band von Inès Villela-Pe­tit en­det, die sich mit der 1380 ein­set­zen­den Berry-Zeit be­schäf­ti­gen soll; es ist in etwa die Pe­ri­ode, die Avril 1978 er­faßt. 23

Lawson 2005, 2008, 2009 und 2012.

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Paris, BnF. Fr. 166, fol. 1v: Hieronymus im Gehäus

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Einleitung

Je­an­ne d’Ev­reux in den New Yor­ker Cloi­sters ori­en­tiert ha­ben.24 Die Ar­beit brach der Lim­burg-Bru­der ab, ehe er dazu ge­kom­men ist, alle vor­ge­se­he­nen Bild­fel­der zu ge­stal­ ten. Mit Stun­den­bü­chern war der Künst­ler eben­so un­ge­nü­gend ver­traut wie sei­ne Brü­ der. Ge­ra­de in die­sem Man­gel lag die Chan­ce eben­so für un­ser Ma­nu­skript wie spä­ter für die Très Riches Heu­res; und das klei­ne For­mat för­der­te die Vir­tuo­si­tät. Die schöp­fe­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Auf­ga­be läßt sich in den Zeich­nun­gen ab­le­sen. Nicht in Frank­reich auf­ge­wach­sen, zu­nächst wohl nicht ein­mal als Buch­ma­ler aus­ge­bil­ det, geht der un­ge­mein be­gab­te Zeich­ner dar­an, ein Pa­ri­ser Stun­den­buch zu ge­stal­ten, von des­sen Zu­sam­men­set­zung er noch nicht viel weiß. Ge­gen den Brauch, bei der Be­ bil­de­rung mit dem Rand­schmuck zu be­gin­nen, in­ter­es­sie­ren ihn zu­nächst nur die Bil­ der; selbst die zwei hi­sto­risch und äs­t he­tisch un­ge­mein auf­schluß­rei­chen Bor­dü­ren hat er erst an­ge­legt, als die auf zwei Bild­sei­ten aus­ge­brei­te­te Ver­kün­di­gung schon ein schlüs­ si­ges Sta­di­um er­reicht hat­te. Wie spä­ter in den Très Riches Heu­res rei­chen dem Künst­ler die Vor­ga­ben des Schrei­ bers für sei­ne Mi­nia­tu­ren nicht aus; er läßt Dop­pel­blät­ter ein­fü­gen, füllt leer ge­blie­be­ne Sei­ten mit Bil­dern und er­reicht schließ­lich, daß sich der Schrei­ber in ei­ni­gen Suff­ragien auf sonst nur in den Bel­les Heu­res und in den Très Riches Heu­res zu find­en­de Bil­der­paa­re ­fi­zi­um ge­rät das Kon­zept dann in eine Apo­rie, bei der man ein­stellt. Doch im Ma­rien­of gern wüß­te, mit wel­chen Bild­the­men der Künst­ler heu­te feh­len­de In­cipits zu ei­ni­gen Ma­ rien­stun­den be­set­zen woll­te. Die Zeich­nun­gen über­tref­fen un­voll­en­det ge­blie­be­ne Mi­nia­tu­ren an­de­rer Künst­ler aus dem frü­hen 15. Jahr­hun­dert durch ihre ent­schie­de­ne Ten­denz zu voll­en­det bild­haf­ ter Wir­kung und ver­än­dern durch au­ßer­or­dent­li­che, ge­ra­de­zu un­er­hör­te Qua­li­tät der Zeich­nung und ein­zig­ar­ti­ge Bild­phan­ta­sie un­se­ren Blick auf die Brü­der Lim­burg nach­ hal­tig. Un­ab­hän­gig von al­lem, was wir ver­mu­ten mö­gen über den Künst­ler, den Auf­trag­ ge­ber und jene, für die das Ma­nu­skript be­stimmt war, ist schon die rei­ne Exi­stenz die­ ses groß­ar­ti­gen Stun­den­buchs ein Tri­umph des Genies der Zeich­nung; denn es grenzt an Wun­der, daß die Hand­schrift ver­bor­gen über­lebt hat bis in eine Zeit, die meint, al­les über die Ver­gan­gen­heit zu wis­sen. Stun­den­bü­cher für das Haus Orlé­ans? Wer Hand­schrif­ten per­sön­lich zu­ord­nen will, hät­te am lieb­sten ein ein­deu­ti­ges schrift­ li­ches Zeug­nis; doch auch wenn sol­che Ein­trä­ge feh­len, bie­ten Bü­cher un­ter­schied­lich­ ste In­di­zi­en. Schon der ge­stal­te­ri­sche Ge­samt­cha­rak­ter kann Hin­wei­se ge­ben, weil ein ken­ner­schaftl­ich ge­schul­ter Blick so­fort be­greift, wie ein lo­ka­ler Grund­be­stand durch Ei­gen­hei­ten, die sich an­ders­wo or­ten las­sen, be­rei­chert oder ver­frem­det wird: Über Pa­ ri­ser Grund­zü­ge und die in­di­vi­du­el­le Form­spra­che des Künst­lers aus dem geld­rischen Nim­we­gen hin­aus ver­fügt un­se­re Nr. 4 noch über ein wei­te­res Spek­trum von ho­hem Rang. Ober­ita­li­en spielt mas­siv in die Buch­ge­stal­tung und in die Bil­der hin­ein. In der Tat 24 New York, The Cloi­sters, Acc. No. 54.1.2: Avril 1978, S. 44-59; Boehm 2000.

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Einleitung

die Zeich­nun­gen in ih­rer ita­lie­ni­schen An­mut­ung weit über das hin­aus, was man bei Ja­ cquem­art de Hes­din und an­de­ren Zeit­ge­nos­sen in Pa­ris oder Bour­ges mit ita­lie­ni­schem Ein­fluß er­klärt.25 Das zei­gen die The­men man­cher Mi­nia­tu­ren eben­so wie ein­zel­ne De­ tails – so die Dat­tel­pal­me bei der Flucht nach Ägyp­ten – eben­so wie die An­la­ge der Bil­ der – dar­un­ter die auf zwei Sei­ten ver­teil­te Ver­kün­di­gung – und die hy­bri­den Ar­chi­tek­ tu­ren. Gan­ze Kom­po­si­tio­nen wie die Ver­leug­nung Petri, die Du­ccios Sie­neser Maestà ver­pflich­tet ist, schei­nen krea­tiv ver­ar­bei­tet zu sein. Man wird sich im Fal­le der Brü­der Lim­burg nicht Her­man Co­lenbr­an­der an­schlie­ßen, der seit Jahr­zehn­ten ge­gen de­ren heu­te gül­ti­ge Be­stim­mung kämpft, weil er in den Très Riches Heu­res und al­lem Stil­ver­wand­ten Buch­ma­ler aus Ita­li­en am Werk sieht.26 Man könn­te die ita­lie­ni­schen Kom­po­nen­ten auch mit Meiss aus künst­le­ri­schen Nei­gun­gen der Brü­der Lim­burg er­klä­ren. Es emp­fiehlt sich aber, sie auch bei der Su­che nach den Per­ sön­lich­kei­ten zu nut­zen, für die das Ma­nu­skript be­stimmt war. He­ral­di­sche Hin­wei­se be­schrän­ken sich auf lee­re Wap­pen, die von Harpyien ge­hal­ten wer­den. Doch die Schil­de – ge­schwun­ge­ne Tartschen, wie sie in der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei der Zeit so gut wie gar nicht vor­kom­men27 – füh­ren zu Lou­is d’Orlé­ans und des­sen Ge­ mah­lin Valen­ti­na Vis­conti. De­ren spe­zi­fi­sche Form war bei den Vis­conti in Mai­land ge­ ra­de­zu Stan­dard, und auf die Be­zie­hun­gen zur Lom­bar­dei hat die­ser Sohn Karls V. sein fürst­li­ches Ge­ha­be ein­ge­stellt. Aus­t ausch mit Ita­li­en war si­cher nicht auf das Haus Orlé­ans be­schränkt; doch kei­ne der gro­ßen Für­sten­fa­mi­li­en war so eng mit der Lom­bar­dei ver­bun­den. Des­halb sei hier noch kurz dar­auf ver­wie­sen, daß wir an ganz an­de­rer Stel­le auf ein ita­lie­ni­sches Stun­den­buch ge­sto­ßen sind, das so­gar als Ver­mitt­ler zwi­schen den bei­den Kul­tu­ren an­ge­spro­chen wer­ den kann und gute Chan­cen hat, für Valen­ti­na Vis­conti be­zeugt zu sein: Wie schon im Buch von 2016 be­tont, ge­hört Nr. 9 in un­se­rem Ka­ta­log Un­ter­wegs zur Re­nais­sance von 2011 zu den mar­kan­ten ober­ita­lie­ni­schen Vor­läu­fern der dop­pel­sei­tig an­ge­leg­ten Ver­ kün­di­gungs­mi­nia­tur im Lim­burg-Stun­den­buch. Um die Wen­de zum 15. Jahr­hun­dert wur­ de die mit 95 x 80 mm sehr klei­ne Hand­schrift wohl in Mai­land oder Man­tua von Ramo de Ramedellis aus­ge­malt. Sie be­ginnt mit der dop­pel­sei­ti­gen Ver­kün­di­gung und ist ganz in Blau und Gold ge­schrie­ben, was ei­ner Be­schrei­bung in Valen­ti­na Vis­contis In­ven­tar ent­spricht: „Unes Heu­res de N. D. im­aginez la pre­mie­re ymaige de l’An­no­nciat­ion de N. D. es­cripte d’or et d’azur.“28 Der Be­zug un­se­rer Nr. 4 zu Lou­is und Valen­ti­na blie­be je­doch nur eine luf­ti­ge Hy­po­the­ se, käme nicht der Zu­stand des Ma­nu­skripts als we­sent­li­ches Ar­gu­ment hin­zu: In ei­ner 25

Ita­lie­ni­scher Ein­fluß auf die fran­zö­si­sche Ma­le­rei der Berry-Zeit ist ein Haupt­the­ma in den Bän­den von Meiss 1967-1974, der von der Exi­stenz un­se­res Ma­nu­skripts nichts ah­nen konn­te.

26 Her­man Theo­door Co­lenbr­an­der, „The Limbourg Brot­hers, the Mi­nia­tur­ists of the Très Riches Heu­res du duc de Berry?,“ in Masters and Mi­nia­tur­es, hrsg. Koert van der Horst, Doornspijk 1991, S. 109-116; ders., Op Zoek naar de Gebro­eders Lim­burg, Aka­de­misch Pro­ef­schrift, Am­ster­dam 2006. 27 ­Sie­he mei­ne Aus­f üh­run­gen in Kö­nig 2016, S. 40-48. 28 Cham­pi­on 1910, S. 50 f.

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Einleitung

er­sten Kam­pa­gne, die we­gen krea­ti­ver Ver­än­de­run­gen in sich noch ein­mal dif­fe­ren­ziert wer­den muß, hat die­ser Lim­burg drei­ßig Bild­fel­der mit sei­nen Zeich­nun­gen ge­füllt und das Bor­dü­ren­paar mit Tartschen und Harpyien an­ge­legt; da­nach ist er nicht mehr für die­ ses Pro­jekt tä­tig ge­wor­den. Erst als in ver­än­der­tem Lay­out ein Qua­ter­nio nach­ge­tra­gen wur­de, der auch ei­nen Text ent­hält, den man auf den Tod von Lou­is d’Orlé­ans be­zie­hen muß, hat ein den Brü­dern Lim­burg frem­der Il­lu­mi­na­tor an vie­len Stel­len im Buch den Bor­dü­ren­schmuck ge­malt. Da die­ser Rand­schmuck mit bun­tem Akanthus recht ge­nau in die Zeit­brü­che paßt, die das Haus Orlé­ans er­schüt­tert ha­ben, bie­tet es sich an, die er­ ste Kam­pa­gne mit der Er­mor­dung des Her­zogs am 23. No­vem­ber 1407 en­den zu las­sen und die Bor­dü­ren mit der hin­zu­ge­füg­ten Text­la­ge ins Jahr 1408 zu da­tie­ren, ehe die Ar­ beit an dem Buch nach Valen­ti­nas Tod am 4. De­zem­ber 1408 auf­ge­ge­ben wur­de. Si­cher steht Lou­is d’Orlé­ans mit sei­ner Ge­mah­lin, die mit Bü­chern aus der Lom­bar­dei nach Frank­reich ge­kom­men war, als Bi­blio­phi­ler heu­te im Schat­ten sei­nes Oheims Jean de Berry. In­ven­ta­re des er­heb­li­chen Bü­cher­be­sit­zes des Für­sten­paars feh­len, doch läßt sich der Be­stand aus be­glei­ten­den Quel­len, vor al­lem aber dem In­ven­tar ih­res Sohns Charles von 1417 eine Bi­blio­thek er­schlie­ßen, die er­staun­lich reich mit pro­fa­nen Tex­ten und nicht so sehr mit pracht­voll be­bil­der­ten Ge­bet­bü­chern be­stückt war.29 Lou­is ver­füg­te mit Leu­ten wie dem libra­ire Étienne l’An­gevin30 über Mit­tels­män­ner, die mit dem Pa­ri­ser Buch­we­sen ver­traut wa­ren; an­ders als Jean de Berry scheint er kein di­rek­tes Ver­hält­nis zu be­stimm­ten Buch­ma­lern auf­ge­baut zu ha­ben. Da die Brü­der Lim­burg in je­nen Jah­ren, so­weit wir wis­sen, nur für Berry ge­ar­bei­tet ha­ben, dürf­te die­ser Her­zog bei dem Pro­jekt eine ent­schei­den­de Rol­le ge­spielt ha­ben, zu­mal er im Bür­ger­krieg auf der Sei­te von Orlé­ ans und den Arm­agnaken stand. Nicht im­mer las­sen sich die Hand­schrif­ten schlüs­sig ein­zel­nen Per­so­nen zu­ord­nen, weil die Wap­pen­far­ben ei­nes fürst­li­chen Hau­ses un­ver­än­dert blie­ben. Selbst auf­fäl­li­ge Zei­ chen, die man an­ge­sichts der im­mer et­was frag­men­ta­ri­schen Über­lie­fe­rung ei­ner ein­zel­ nen Per­sön­lich­keit zu­wei­sen möch­te, müßen nicht zwin­gend für sie al­lein gel­ten, wenn sie zu Fa­mi­li­en­tra­di­tio­nen wur­den. Das gilt bei­spiels­wei­se für das Sta­chel­schwein: Als Lou­is d’Orlé­ans zur Tau­fe sei­nes er­sten Sohns Charles 1394 für 25 Rit­ter den Ordre du Ca­mail grün­de­te, war das exo­ti­sche Tier des­sen Ab­zei­chen, wes­halb der Rit­ter­or­den auch Ordre du porc épic hieß. Lou­is’ Toch­ter Marguerite d’Orlé­ans, die im we­sent­li­chen in Cli­sson leb­te, ließ noch um 1430 ein Sta­chel­schwein wie ein Na­mens­zei­chen in die am stärk­sten per­so­na­li­sier­te Bor­dü­re zum Bild ih­rer Na­mens­hei­li­gen ein­ma­len.31 Zwar hob Lud­wig XII ., der En­kel des Grün­ders, den Rit­ter­or­den auf; selbst aber trug er als Kö­nig das Sta­ chel­schwein als be­vor­zug­tes Zei­chen, das er auch auf Me­dail­len prä­gen ließ.32 29

Delisle, Le Ca­binet des Man­uscrits, I, Pa­ris 1868, S. 98-121; man be­ach­te be­son­ders das In­ven­tar der Bi­blio­thek ih­res Sohns Charles in Blois von Mai 1417, op. cit. S. 105-108 mit 91 zum gro­ßen Teil ge­wich­ti­gen Bän­den; zu­letzt sie­he Aus­st.-Kat. Pa­ ris 2004, S. 126-135.

30 Delisle I, 1868, S. 99-100; der Name taucht dann lei­der bei Rouse und Rouse 2000 nicht mehr auf. 31

Pa­ris, BnF, lat. 1156B, fol. 176: Kö­nig 1991; Kö­nig (mit Sei­del) 2013, S. 118-120.

32

So wech­seln Sta­chel­schwei­ne mit der In­itia­le L, die durch eine Kro­ne ge­bun­den ist, auf dem mit ei­nem ma­je­stä­ti­schen Por­trät Lud­wigs XII . ge­schmück­ten Front­ispiz zur Chro­nik des Eng­uer­rand Monstrelet ab, die Fran­çois de Roch­echou­art 1510 mit

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Louis d’Orléans und die hl. Agnes, Ölberg, Madrid, Prado

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 66, Nr. 4: Stundenbuch für Orléans, fol. 23 (Bedford-Meister)

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Einleitung

Un­ter die­ser Vor­aus­set­zung ist eine wert­vol­le Be­ob­ach­tung von Lau­rent Hab­lot zu se­hen: Da er Harpyien, wie sie in un­se­rem Bor­dü­ren­paar als Wap­pen­hal­ter ein­ge­setzt sind, in ei­ nem 1412 ge­schnit­te­nen Sie­gel von Charles d’Orlé­ans ge­fun­den hat, schlägt er vor, die­ser Rand­schmuck sei erst für den Sohn von Lou­is und Valen­ti­na etwa zu je­ner Zeit ge­schaf­ fen wor­den.33 Doch des­halb muß die ge­ra­de erst von uns kon­zi­pier­te Ge­schich­te des Buchs nicht gleich wie­der um­ge­schrie­ben wer­den. He­ral­dik teilt mit den an­de­ren Ge­schichts­ wis­sen­schaf­ten das Pro­blem, daß ihre Be­weis­ket­ten von sol­chen Zu­falls­fun­den ab­hän­gig sind. In er­ster Li­nie stützt Hab­lot den Be­zug zu den Orlé­ans; Charles hat viel­leicht nur eine Tra­di­ti­on sei­ner El­tern wei­ter­ge­führt, für die uns bis­her äl­te­re Bei­spie­le feh­len. Das Weit­er­le­ben ei­nes sol­chen Mo­tivs gilt auch für an­de­re Zei­chen: Marguerite d’Orlé­ans ließ das Jo­han­nes­bild am An­fang ih­res be­rühm­ten Stun­den­buchs vom Kno­ten­stock, dem bâton noueux, rah­men, ge­gen den der Mör­der ih­res Va­ters, Jo­hann Ohne­furcht, den Ho­ bel ge­setzt hat­te. Ähn­lich wie die­se bei­den ag­gres­si­ven Sym­bo­le ver­ste­hen sich Brennes­ seln: Mit Blät­tern der Brennes­sel – und der hei­li­gen Agnes, die er als Pa­tro­nin von den Vis­conti über­nom­men hat­te – gibt sich Lou­is d’Orlé­ans in ei­nem jüngst auf­ge­tauch­ten Ge­mäl­de des Ma­dri­der Pra­dos zu er­ken­nen; Brennes­sel­blät­ter sind dort so an den wei­ ten Är­meln sei­nes Ge­wan­des be­fe­stigt, daß sie ei­nen schar­fen schwar­zen Schat­ten wer­ fen, was den fal­schen Ein­druck er­weckt, es han­de­le sich um klei­ne Paa­re aus Weiß und Schwarz.34 „lxv feuilles d’or en fa­çon d’ort­ies“ be­stell­te Lou­is d’Orlé­ans 1403,35 nach­dem er schon 1402 für „certaine orf­aivrerie à la de­vi­se… nostre, laquel­le est de feuilles… d’ort­ ies“ ge­zahlt hat­te.36 Als Zei­chen der Ver­bun­den­heit ver­wen­de­te Charles d’Orlé­ans (1394-1465), der un­ glück­li­che Dich­ter, der nach der Ge­fan­gen­nah­me in der fran­zö­si­schen Nie­der­la­ge bei Azin­court im Jah­re 1415 bis 1440 in Eng­land fest­ge­hal­ten wur­de, auch lan­ge nach der Er­mor­dung des Va­ters Brennes­seln, wie aus ei­ner Rech­nung vom 10. Ok­to­ber 1414 her­ vor­geht: Un­ter an­de­rem ließ er Är­mel ei­nes sei­ner Ge­wän­der mit ab­reseaulx ou tiges d’ort­ ye, also Pflan­zen oder Zwei­gen der Brennes­sel, und ei­nem sei­ner Ge­dich­te Ma­dame je suis plus joyeulx be­stickt wa­ren.37

vor­züg­li­chen Zeich­nun­gen hat ver­se­hen las­sen: Pa­ris, BnF, fr. 20361: Aus­st,-Kat. Pa­ris 2010/11, Nr. 163, mit Abb. S. 317; sie­he auch die gol­de­ne Me­dail­le mit ei­nem Bild­nis Lud­wigs und dem Sta­chel­schwein, über des­sen Sta­cheln die fran­zö­si­sche Kro­ne schwebt (Pa­ris, BnF, Ca­binet des Médailles, Série roya­le, Nr. 49: Aus­st.-Kat. Tours 2012, Nr. 10). 33

Das wur­de in ei­ner Sit­zung der So­ciété des An­ti­qua­ires de France vom 15. März 2017 be­rich­tet, in der ich selbst das Stun­ den­buch mit den Lim­burg-Zeich­nun­gen er­läu­tert habe; die Ver­öf­fent­li­chung ist im eben schon zi­tier­ten Band für Herbst 2017 vor­ge­se­hen.

34 Sie­he Maroto 2013, be­son­ders Abb. S. 8 und Text S. 9. 35

Sie­he Champ­oll­ion-Fi­geac 1844, Anm. 3, S. 251.

36

Lon­don, BL , Add. Ch. 1103; hier zi­tiert nach Maroto 2013, S. 9.

37

Rouen, Bibl. mun, Le­ber Nr. 5865, mit Si­g na­tur des Pierre Sau­va­ge, Se­kre­tär von Lou­is d’Orlé­ans: Cat. Co­ur­cel­les, Pa­ris: Leblanc 1835, S. 129, Nr. 6241; sie­he auch Du Ro­bec, À pro­pos d’une robe de Charles d’Orlé­ans, in: Le Mercure Mu­si­cal (La Re­vue Mu­si­cale S. I. M.), 3, 15.10.1907, S. 1028-1039, bes. S. 1030.

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Einleitung

Charles d’Orlé­ans hat uns schon 2011 in Il­lu­mi­na­tio­nen 15 (Das Pa­ri­ser Stun­den­buch an der Schwel­le zum 15. Jahr­hun­dert) in­ten­siv be­schäf­tigt. Alle vier Rand­strei­fen von Textund Bild­sei­ten der dor­ti­gen Nr. 4 sind nach lom­bar­di­schem Vor­bild – ähn­lich den Dop­ pel­sei­ten mit Bil­dern im Ge­bet­buch des Mi­chel­ino da Besozzo in der New Yor­ker Pier­ pont Mor­gan Lib­rary, M. 94438 – mit rah­men­den Lei­sten ver­se­hen, die vom In­iti­al­de­kor un­ab­hän­gig sind und sich nicht mit­ein­an­der ver­bin­den. Zwei Zwei­ge, je­weils ein glat­ter mit ei­nem stach­li­gen Blatt, das wir sei­ner­zeit als Stech­pal­me miß­ver­stan­den ha­ben und ein dor­ni­ger mit glat­tem Blatt, sind so ge­floch­ten, daß Zwi­schen­räu­me ab­wech­selnd mit Blau und Gold ge­füllt wer­den. An zwei Stel­len fin­den sich in je­nem Stun­den­buch Ein­trä­ge des frü­hen 15. Jahr­hun­derts in ei­ner Bast­arda, die auf­fäl­lig der au­to­gra­phen Ab­dan­kungs­ur­kun­de von Charles d’Orlé­ ans glei­chen, zu der er im Jah­re 1417 ge­zwun­gen wur­de. Sie er­gän­zen Psal­men und zei­gen ei­nen Geist, der ei­ner­seits dem bi­bli­schen Text treu blei­ben will und an­de­rer­seits die tie­ fe Be­trof­fen­heit der Text­stel­len aus Ps. 42,2-3 (fol. 76v) und Ps. 101,3 (fol. 69v) er­fas­sen. Von der Zeit­stel­lung hängt ab, ob der Va­ter Lou­is oder der Sohn Charles als Auf­trag­ ge­ber in Fra­ge kom­men; denn un­ser Stun­den­buch ist so un­ge­wöhn­lich, daß sei­ne ge­ra­ de­zu ein­zig­ar­ti­ge Ge­stalt von sich aus kei­ne schlüs­si­ge Da­tie­rung er­laubt. Kunst­hi­sto­ri­ sche Be­stim­mung mag aber dem Buch viel­leicht so­gar ei­nen Platz in den Quel­len ge­ben. An­fän­ge des Bed­ford-Mei­sters in frü­her von uns be­schrie­be­nen Stun­den­bü­chern Die duf­ti­gen Far­ben, der wei­che Duk­tus und die un­ver­wech­sel­ba­ren Ge­sichts­t y­pen, ins­ be­son­de­re der äl­te­ren Män­ner, las­sen in un­se­rem Stun­den­buch mit den Brennes­seln (Nr. 4 des Ka­ta­logs von 2011), das eng­stens mit den Orlé­ans ver­bun­den ist, auf An­hieb an den Bed­ford-Mei­ster den­ken. Mill­ard Meiss, der un­se­ren Ko­dex nicht kann­te, hat den spe­zi­ fi­schen Stil noch vom Mei­ster selbst ge­trennt und nur ei­nen Bed­ford Trend an­ge­nom­men; der gip­felt sei­ner Mei­nung nach im Haupt­stil des hier be­reits ge­nann­ten Ox­for­der Stun­ den­buchs Douce 144. In­zwi­schen gel­ten die 1974 zu­sam­men­ge­stell­ten Ko­di­zes weit­ge­ hend als Ar­bei­ten des Bed­ford-Mei­sters selbst. Die Mi­nia­tu­ren in un­se­rem italiani­sier­en­ den Stun­den­buch be­we­gen sich als ei­nes sei­ner frü­he­sten Wer­ke auf der­sel­ben Stil­stu­fe wie das Front­ispiz ei­nes Ca­ti­li­na von Sal­lust, den Lou­is d’Orlé­ans für sei­ne Kin­der er­ warb und der mit Re­sten der Bi­blio­thek von Charles d’Orlé­ans über Lud­wig XII . in die Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek ge­lang­te.39 Heu­te in­ten­si­ver denn je wird der Bed­ford-Mei­ster mit dem in den Quel­len als Hain­ celin de Haguenau ge­nann­ten Pa­ri­ser Buch­ma­ler gleich­ge­setzt, der von 1409 an in der Rue Quincampoix leb­te und seit die­sem Jahr auch Valet de cham­bre des da­mals ge­ra­de ge­schäfts­fä­hig ge­wor­de­nen, aber schon 1415 ver­stor­be­nen Da­uph­ins Lou­is de Guyenne,

38

Co­lin Eis­ler und Patricia Cor­bett, Das Ge­bet­buch des Mi­chel­ino da Besozzo, Mün­chen 1981.

39

Pa­ris, BnF, latin 9684: Aus­st.-Kat. Pa­ris 2004, Nr. 117 A.

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Einleitung

war.40 Für die­sen Sohn Karls VI . und der Isa­bel­la von Bay­ern, der auch den Térence des Ducs be­ses­sen hat, war das Bre­vier von Châ­teau­roux be­stimmt.41 Die­sem Da­up­hin wei­ te­re Hand­schrif­ten zu­zu­schrei­ben, ist ge­ra­de Mode.42 Die vom Bre­vier be­stimm­te Ver­ bin­dung des Ma­lers zum Da­up­hin ist eben­so wert­voll wie die Tat­sa­che, daß Bed­ford-Stil und Na­mens­va­ri­an­ten von Hain­celin und Haguenau min­de­stens bis in die 1440er Jah­re zu fin­den sind, wie wir auch mit den Nrn. 14-15 zei­gen wer­den. Im Vor­na­men Hain­celin er­kennt man heu­te ein Di­mi­nu­tiv von Hans, den Orts­na­men liest man als Hage­nau im El­saß; doch statt von Häns­chen aus Hage­nau wäre ge­nau­so­gut von Heinzl­ein aus Hagnau zu spre­chen. Ku­rio­ser­wei­se fin­det sich in den Quel­len auch der Name Je­han Hain­celin, der zu der An­nah­me ver­führt, man habe es viel­leicht mit ei­ nem jün­ge­ren Mit­glied der Werk­statt, am lieb­sten ei­nem Sohn von Hain­celin zu tun. Doch schon die frü­he­ste Quel­le, 1403, ver­wen­det die­se For­mel; und da sich bis um die Jahr­hun­dert­mit­te kei­ne schlüs­si­ge Un­ter­schei­dung er­gibt, plä­die­ren die Rouses da­für, es han­de­le sich um ein und die­sel­be Per­son.43 Des­halb wäre nur zu be­den­ken, ob man dann nicht Hans Hänsl­ein durch Hans Heinzl­ein er­set­zen müß­te. Zu­dem ver­gißt die in­ter­na­ tio­na­le Li­te­ra­tur im­mer wie­der, daß ne­ben der be­deu­ten­den frei­en Reich­stadt, die heu­te Haguenau heißt, ein klei­ner Ort bei Meers­burg in der deut­schen Kunst­ge­schich­te wich­tig ist: Von dort, aus Hagnau, kam Ste­phan Loch­ner in Köln, des­sen ober­rhei­nisch ge­präg­te Kunst ähn­lich zar­te Sen­si­bi­li­tät wie die be­sten Ar­bei­ten des Bed­ford-Mei­sters be­weist. Die Quel­len be­zeich­nen den Ma­ler be­reits 1403 als in Pa­ris wohn­haft; aus­ge­rech­net die Kö­ni­gin Isa­beau de Bavière, eine Wit­tels­ba­cher­in, be­zahl­te ihn für die Be­ma­lung von Buch­kä­sten. Als Hains­selin de Hague­not war er an der Bi­bel für Phil­ipp den Küh­nen von Bur­gund be­tei­ligt, die man im­mer wie­der mit je­ner Bible mo­ral­isée iden­ti­fi­ziert, die, un­ab­ hän­gig von al­len De­tails, als er­ste Ar­beit der Lim­burgs gilt und den be­rühm­ten Hie­ro­ ny­mus im Geh­äus als Front­ispiz er­hielt. Da un­ser Stun­den­buch mit den Brennes­seln in die frü­he­ste Zeit des Bed­ford-Mei­sters ge­hört, geht es wohl auf ei­nen Auf­trag von Lou­ is d’Orlé­ans zu­rück. Des­halb mag so­gar eine Quel­le mit die­ser Hand­schrift ver­bun­den wer­den: Im Jah­re 1404 er­warb der Her­zog von ei­nem Je­han de Tour­nes, wohn­haft nicht in Pa­ris, son­dern in Brie Co­mte-Ro­bert bei Melun, das zu den Be­sitz­tü­mern des Her­ zogs ge­hör­te, für die Sum­me von et­was mehr als 83 Pa­ri­ser livres ein fer­ti­ges Stun­den­ buch mit Gold­schlie­ßen. 44 Das könn­te un­ser Ex­em­plar ge­we­sen sein.

40 Sie­he zu­letzt Villela-Pe­tit 2003, mit ei­ner Zu­sam­men­stel­lung der Quel­len, so­wie mei­ne Sicht: Kö­nig 2007, S. 31-38. 41

Châ­teau­roux, Bibl. mun., ms. 2: Châtelet 2000, S. 164-169; Villela-Pe­tit 2003; Aus­st.-Kat. Pa­ris 2004, Nr. 69.

42

So gilt der Térence des Ducs (Pa­ris, Ar­se­nal Ms. 664) als ein Auf­trag für Lou­is de Guyenne (zu­letzt Aus­st.-Kat. Pa­ris 2004, Nr. 145). Villela-Pe­tit will in Douce 144 ein Stun­den­buch für Lou­is de Guyenne se­hen; Stirne­mann und Rabel 2005 spie­ len mit dem Ge­dan­ken, das erst 1423 für Bed­ford und Anne de Bourgogne um­ge­wid­me­te Lon­do­ner Stun­den­buch Add. Ms. 18850 für ihn in An­spruch zu neh­men.

43

Rouse und Rouse 2000, II , S. 73 f.

44 Lou­is de Labor­de, Les ducs de Bourgogne, III , Pa­ris 1852, Nr. 6025, S. 213 f.: „A Je­han de Tour­nes de­mo­urant à Braie Co­nt­ er­obert … iiij xx et iij liv. j s. vi d. p. pour unes heu­res, toutes acomp­lies, gar­nies de fer­moers d’or…“; auch zi­tiert bei Delisle I, 1868, S. 103.

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 66, Nr. 4: Stundenbuch für Orléans, fol. 52 (Bedford-Meister)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 66, Nr. 2: Joffroy-Stundenbuch, fol. 66 (Bedford-Meister)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 66, Nr. 2: Joffroy-Stundenbuch, fol. 73 (Meister des Breviers für Johann Ohnefurcht)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 66, Nr. 5, fol. 65v (Mazarine-Meister)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 66, Nr. 3, fol. 66 (Bedford-Meister)

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Einleitung

Zwar hat man sich dar­an ge­wöhnt, den Bed­ford-Mei­ster an sei­nen auf­wen­dig ge­stal­te­ ten Bild­sei­ten zu er­ken­nen, die von vie­len Me­dail­lons ge­säumt sind und mit kom­ple­xen Staf­fe­lun­gen in Ar­chi­tek­tur und Land­schafts­ku­lis­se ar­bei­ten; da­von war der Künst­ler um 1404 noch weit ent­fernt. Daß der Ma­ler aus fremd­spra­chi­ger Welt nach Pa­ris ge­langt sein dürf­te, be­zeugt ein ei­gen­ar­ti­ger Feh­ler, den er in sei­nen auf­wen­di­gen Haupt­wer­ken aus den fol­gen­den Jahr­zehn­ten wie­der­ho­len soll­te: in der Hir­ten­ver­kün­di­gung (fol. 52) ver­kün­det der En­gel, der ei­gent­lich das Glo­ria an­stim­men müß­te, aber das In­cipit der Weih­nachts­mes­se vor­weist, statt puer na­tus est in ei­ner Or­tho­gra­phie, die Fran­zö­sisch als Mut­ter­spra­che aus­schließt, peur na­tus est, als sei die Furcht statt des Kna­ben ge­bo­ren!45 Wer die Ge­schich­te des Pa­ri­ser Stun­den­buchs kurz nach 1400 fas­sen und da­bei zu­ gleich auch die Sicht von Mill­ard Meiss mit ge­büh­ren­dem Re­spekt zu­recht rücken will, kommt ohne den frü­hen Bed­ford-Mei­ster nicht aus. Er war, wie un­ser Stun­den­buch mit den Brennes­seln be­weist, schon in den er­sten Jah­ren des neu­en Jahr­hun­derts krea­tiv tä­tig und ar­bei­te­te zeit­gleich mit dem Boucicaut-Stil. Den Un­wäg­bar­keit­en des An­ti­qua­ri­ats ist ge­schul­det, daß wir in die­sem Ka­ta­log erst aus dem spä­ten Jah­ren des Künst­lers und sei­nes Stils ein­drucks­vol­le Stun­den­bü­cher vor­le­gen kön­nen, was uns zwin­gen wird, bei Nr. 12, 14 und 15 auf den Fra­gen­kreis zu­rück­zu­kom­men. Um dem Künst­ler in die­sem kur­zen Über­blick über die Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei ei­nen ge­ büh­ren­den Platz zu ge­ben, sei an zwei Stun­den­bü­cher er­in­nert, die er im er­sten Jahr­ zehnt des 15. Jahr­hun­dert aus­ge­malt hat und die wir 2011 im Ka­ta­log zum Pa­ri­ser Stun­ den­buch um 1400 be­spro­chen ha­ben. Sie be­hal­ten das Recht­eck als Bild­form bei und sind mit Rand­schmuck aus dich­tem al­ter­tüm­li­chen Dorn­blatt ver­se­hen, des­sen Spi­ ral­ran­ken vor­wie­gend noch mit Far­be ge­füllt sind; erst spä­ter ge­nü­gen ein­fa­che Tin­ ten­li­ni­en. Von un­er­hör­tem Reich­tum ist das so­ge­nann­te Joffroy-Stun­den­buch (Nr. 2 von 2011), das vom frü­hen Bed­ford-Mei­ster be­gon­nen wur­de. Noch wird Ar­chi­tek­tur nur aus­nahms­wei­se – für die Ver­kün­di­gung und den Tem­pel der Dar­brin­gung so­wie den Stall von Beth­le­hem – ein­ge­setzt. Mu­ster­grund mit sehr zier­li­chen Ka­ros auf Gold­grund be­herrscht die Wir­kung der fa­rb­star­ken Bil­der, die von den Evan­ge­li­sten­por­träts bis zum Pfingst­bild die Wir­kung des Bu­ches prä­gen. Die Dar­stel­lung Jesu beim Jüng­sten Ge­richt zu den VII Requ­estes zeugt von der Be­geg­nung mit dem Eger­ton-Mei­ster. Wäh­rend für die hoch­in­ter­es­san­te spä­te­re Ge­schich­te des Ma­nu­skripts, das in die Cham­ pa­gne ge­lang­te und noch wei­te­re Bil­der er­hielt, auf den Ka­ta­log von 2011 ver­wie­sen wer­ den muß, sei hier noch auf das ganz an­de­re Tem­pe­ra­ment je­nes zwei­ten Pa­ri­ser Ma­lers ver­wie­sen, der Heim­su­chung, Hir­ten­ver­kün­di­gung und Ma­rien­krö­nung in ab­wei­chen­ der Mal­tech­nik ge­stal­tet hat: In­ka­rn­ate bau­en zum Teil auf Terrav­er­de auf; die Pin­sel­ 45

Der Feh­ler wie­der­holt sich un­ter an­de­rem in der na­men­ge­ben­den Lon­do­ner Hand­schrift Add. 18850, fol. 79v, so­wie in den Stun­den­bü­chern Wien, ÖNB , cod. 1855, fol. 65v, und Lis­sa­bon, Mu­se­um Ca­louste Gulbenkian, Ms. LA 237, fol. 66v (sie­he Kö­nig 2007, S. 10-11). Hin­zu kommt das Co­ëtivy-Stun­den­buch in Du­blin, Che­ster Beat­t y Lib­rary, W. 82, fol. 48v, sie­he: A Des­criptive Ca­talogue of the Se­cond Series of Fi­fty Man­uscripts; Nos. 51 to 100, in the Co­llect­ion of Hen­ry Yates Thompson, Cam­ bridge 1902, S. 249, mit Hin­weis auf die Fehl­schrei­bung.

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Einleitung

füh­rung wirkt spon­tan, der Fa­rb­auf­trag pas­t os, die Ge­samt­wir­kung über­trifft noch die ma­le­ri­schen Qua­li­tä­ten des Bed­ford-Mei­sters. Von den gra­zi­len Ge­stal­ten der Heim­su­ chung aus ist die Werk­statt zu er­schlie­ßen, die für Jo­hann Ohne­furcht die bei­den Bän­de ei­nes Bre­viers in der Lon­do­ner Bri­tish Lib­rary il­lu­mi­niert hat. Von ei­nem ein­zel­nen Mei­ ster zu spre­chen, scheint schwie­rig an­ge­sichts gra­vie­ren­der Un­ter­schie­de in den Ar­bei­ten für den Bur­gun­der­her­zog. Ver­wandt sind Mi­nia­tu­ren in ei­nem Stun­den­buch-Frag­ment in Pri­vat­be­sitz und im Ma­dri­der Mu­seo Lázaro Galdiáno.46 Auch Nr. 3 je­nes Ka­ta­logs von 2011, ein Stun­den­buch für Chartres, be­rei­cher­te un­se­re Kennt­nis des jun­gen Bed­ford-Mei­sters ganz er­heb­lich: Sei­ne Bild­kom­po­si­tio­nen kon­zen­ triert er in be­mer­kens­wer­ter Wei­se auf ei­nen Kern, bei dem die we­ni­gen Ge­gen­stän­de vom Rand zur Mit­te wei­sen; er geht nahe an die Fi­gu­ren her­an, die gern ein we­nig vom Bild­rand ab­ge­schnit­ten sind. In den Far­ben spielt der Him­mel eine be­mer­kens­wer­te Rol­ le, auch wenn da­ne­ben auch Mi­nia­tu­ren vor ka­rier­tem Mu­ster­grund ste­hen. Stär­ker als in den an­de­ren bei­den Ar­bei­ten des Bed­ford-Mei­sters, Nrn. 2 und 4 des Ka­ ta­logs von 2011, spürt man in ein­zel­nen Bil­dern Ten­den­zen, die zu den rei­fen Ar­bei­ten hin­füh­ren. Beim Weih­nachts­bild zeig­te der Bed­ford-Mei­ster noch in un­se­rem JoffroyStun­den­buch die Jung­frau wie ge­wohnt im Bett und par­al­lel zu ihr das Wickel­kind in der Krip­pe. Nun ka­men neue Ten­den­zen auf; so ha­ben die Brü­der Lim­burg mit der An­be­ tung des Kin­des in der Bible mo­ral­isée vor 1404 und in den Bel­les Heu­res ge­gen 1408 ei­nen neu­en Ty­pus in Frank­reich ein­ge­führt, bei dem Ma­ria vor dem Kind kniet, das sie auf den Bo­den ge­legt hat. 47 So­weit geht der jun­ge Bed­ford-Mei­ster nicht; er läßt aber Ma­ria auf dem Bett­sack vor dem le­ben­dig ihr zu­ge­wen­de­ten Kna­ben knien, wäh­rend der Maza­ rine-Mei­ster in ei­nem etwa gleich­zei­ti­gen Stun­den­buch, das wir eben­falls 2011 vor­ge­ stellt ha­ben, die Mut­ter­got­tes auf dem Bett­sack auf­rich­tet und ihr Je­sus als Wickel­kind in die Arme legt. Bei­de Ma­ler brauch­ten noch et­was Zeit, ehe sie ih­rer Rol­le als Pio­nie­re der Buch­ma­le­rei ganz ge­recht wer­den konn­ten. Der Boucicaut- und der Maza­rine-Mei­ster Nicht nur im Fall des Bed­ford-Mei­sters, des­sen Stil Mill­ard Meiss der Zeit nach dem Tod des Her­zogs von Berry und der Lim­burgs im Jah­re 1416 zu­rech­ne­te, weil man da­ mals das na­men­ge­ben­de Haupt­werk noch in die Jah­re um 1423 da­tier­te, hat sich die Li­te­ra­tur neu ori­en­tiert. Auch der Ma­ler, den man seit dem Gra­fen Paul Dur­rieu vom Stun­den­buch des Mar­schalls Boucicaut, Ms. 2 des Pa­ri­ser Mus­ée Ja­cquem­art-An­dré, aus be­stimmt und dem Mill­ard Meiss 1968 im Rah­men sei­ner Buch­se­rie zur fran­zö­si­schen Ma­le­rei der Zeit des Jean de Berry eine ei­ge­ne Mo­no­gra­phie ge­wid­met hat, wird in der neue­ren Li­te­ra­tur an­ders ge­se­hen. 46 Aus­st.-Kat. Pa­ris 1400, Nr. 167; bei sei­nem un­er­war­te­ten Auf­tau­chen wur­de das Ma­nu­skript so­gar für den Her­zog von Berry in An­spruch ge­nom­men wur­de, von Chri­sto­pher de Hamel im Aukt.-Kat. Book of Hours Illu­min­ated by the Ma­ster of Jean sans Peur, Sot­heby’s, Lon­don, 7. De­zem­ber 1999. 47

Pa­ris, BnF, fr. 166, fol. 17: Meiss 1974, S. 86-88 und Abb. 327.

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 30, Nr. 12, fol. 63v (Boucicaut-Meister)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 42, fol. 51v (Boucicaut-Meister)

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In ih­rer weg­wei­sen­den Stu­die, die 1999 als er­ster Band un­se­rer Rei­he Il­lu­mi­na­tio­nen er­ schie­nen ist, hat Ga­brie­le Bartz eine heu­te all­ge­mein an­er­kann­te Schei­dung voll­zo­gen: Wäh­rend Meiss dem Haupt­mei­ster nur das na­men­ge­ben­de Ma­nu­skript so­wie ein spä­ter im Be­sitz des Étienne Che­va­lier be­find­li­ches Stun­den­buch, Add. 16996 der Bri­tish Lib­ rary, sonst aber nur ein­zel­ne an­de­re Mi­nia­tu­ren als ei­gen­hän­di­ge Bei­trä­ge zu­wies, läßt sich der in­zwi­schen auch durch Neu­fun­de ge­wach­se­ne Ge­samt­be­stand schlüs­sig in zwei Stil­va­ri­an­ten schei­den: Ne­ben dem Boucicaut-Mei­ster steht ein Künst­ler, den Bartz von ei­nem viel­leicht für den Da­up­hin Lou­is de Guyenne oder so­gar Karl VI . be­stimm­ten Stun­den­buch der Pa­ri­ser Bibliothèque Maza­rine, Ms. 469, aus de­fi­niert.48 In un­se­rem Be­stand war der Boucicaut-Mei­ster selbst häu­fi­ger an­zu­tref­fen: Ein Mei­ster­ werk des Künst­lers konn­ten wir 1993 mit dem ein­drucks­vol­len Werk, das mit Be­stän­ den der Samm­lung Scud­amore Jahr­zehn­te lang im Bri­ti­schen Mu­se­um de­po­niert war, in dem be­reits ganz dem fran­zö­si­schen Ge­bet­buch ge­wid­me­ten Band V von Leuch­ten­ des Mit­tel­al­ter als Nr. 12 vor­le­gen. Im drit­ten Band der Neu­en Fol­ge schloß sich dann mit Nr. 5 ein Stun­den­buch an, das, wie man am Weih­nachts­bild se­hen kann, den per­sön­li­ chen Stil des Boucicaut-Mei­sters noch viel kla­rer prä­sen­tiert: An­ders als im Scud­amoreStun­den­buch, wo der Ma­ler den Stall ähn­lich, wie ihn der Maza­rine-Mei­ster und auch der frü­he Bed­ford-Mei­ster zei­gen, schräg stellt, herrscht nun der rech­te Win­kel, und mit dem son­der­ba­ren Ein­fall, die Jung­frau Ma­ria nach der Ge­burt un­ter ei­nen Bal­da­chin zu set­zen und ihr ein Buch in die Hand zu ge­ben, er­reicht der Künst­ler eine wei­te­re Stu­fe in der Ent­wick­lung der Ikon­ographie. LM NF III, 4: Boucicaut- und Maza­rine-Mei­ster? Die Li­sten, in de­nen Ga­brie­le Bartz die Ma­ler schied, sind nicht wei­ter in Zwei­fel zu zie­hen; denn in der Re­gel las­sen sich die bei­den Hän­de klar un­ter­schei­den; zu­dem gibt es kaum Hand­schrif­ten, in de­nen bei­de Ma­ler zu­sam­men­ge­ar­bei­tet ha­ben. Doch stieß sie selbst bei der Be­ar­bei­tung von Nr. 4 im drit­ten Band der Neu­en Fol­ge von Leuch­ten­ des Mit­tel­al­ter auf ein Bei­spiel, bei dem die bei­den Grund­re­geln nicht gal­ten: Of­fen­bar fin­det man in je­nem Stun­den­buch die bei­den Ma­ler ne­ben­ein­an­der; und die Tren­nung will nicht so ein­fach ge­lin­gen, zu­mal die bei­den Sze­nen mit dem Stall von Beth­le­hem ge­stal­te­risch dem Boucicaut-Mei­ster selbst ge­hö­ren, des­sen per­sön­li­cher Stil aber nur im Weih­nachts­bild zu Tage tritt, wäh­rend die Kö­nigs­an­be­tung Ko­lo­rit und Mal­wei­se des Maza­rine-Mei­sters ver­rät. Ei­nen aus­führ­li­che­ren Rück­blick bie­tet un­ser Ka­ta­log zum Pa­ri­ser Stun­den­buch um 1400 von 2011. Dort fehl­te der Boucicaut-Mei­ster selbst; der Maza­rine-Mei­ster war hin­ge­gen mit Nr. 5, die hier be­reits mit ih­rem Weih­nachts­bild zi­tiert wur­de, vor­züg­lich ver­tre­ten. Der Witz un­se­res heu­te vor­ge­leg­ten Ka­ta­logs be­steht nun dar­in, daß wir von bei­den Ma­ 48 Pa­ris, Bibl. Maza­rine, ms. 469: Meiss 1968, S. 113-4 und pas­sim; Bartz 1999, S. 67-69;Châtelet 2000, S. 178; Aus­st.-Kat. Pa­ris 2004, Nr. 175. Die von Ga­brie­le Bartz ent­wickel­te Zu­schrei­bung hat Fran­çois Avril be­reits avant la lettre ge­kannt und ak­zep­tiert: Avril 1996, S. 45-49.

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lern ein je­weils recht frü­hes Werk vor­le­gen kön­nen und dazu noch zwei Hand­schrif­ten aus ih­rer en­ge­ren Um­ge­bung, das eine von dem eben­falls von Ga­brie­le Bartz de­fi­nier­ten Mei­ster des Guy de Laval und das an­de­re von ei­nem nicht ge­nau­er faß­ba­ren Nach­fol­ger. Das er­laubt, die Zeit­stel­lung der bei­den zu­recht zu rücken: Wenn es auch auf Dau­er da­ bei blei­ben wird, daß man zu­sam­men­fas­send eher von Boucicaut-Stil spricht, so kommt dem Maza­rine-Mei­ster doch zeit­li­che Prio­ri­tät zu. Zeit­gleich tritt er kurz nach 1400 mit dem frü­hen Bed­ford-Mei­ster auf; bei­de ha­ben dann bei­spiels­wei­se um 1408 in der hier schon häu­fi­ger ge­nann­ten Ox­for­der Hand­schrift Douce 144 zu­sam­men­ge­ar­bei­tet. Aus die­ser Zeit liegt aber vom Boucicaut-Mei­ster selbst noch nicht viel vor, weil – an­ ders als das Meiss ge­se­hen hat – des­sen Haupt­werk kei­nes­wegs aus den Jah­ren bis 1407 stammt, in de­nen der Mar­schall Boucicaut Gou­ver­neur von Ge­nua war.49 Ge­stal­te­risch ge­bührt dem Maza­rine-Mei­ster auch ge­gen­über dem Bed­ford-Mei­ster Prio­ri­tät; denn im Stun­den­buch Maza­rine 469 hat er wohl vor 1415 das im Lon­do­ner Bed­ford-Stun­den­buch frucht­bar ge­wor­de­ne Kon­zept für bil­der­rei­che Bor­dü­ren ent­wickelt, von dem dann noch spä­te Wer­ke des Bed­ford-Stils wie un­se­re Nrn. 14 und 15 pro­fi­tie­ren soll­ten. Daß es sich bei un­se­rer Nr. 5 um eine recht frü­he Ar­beit des Maza­rine-Mei­sters han­ delt, zei­gen der Zu­schnitt der fast qua­dra­ti­schen Mi­nia­tu­ren und der Buch­de­kor aus der Zeit, ehe Akanthus um 1408 mit Douce 144 do­ku­men­tiert ist. In der schlich­ten und über­zeu­gen­den Bild­spra­che der Mi­nia­tu­ren, die noch weit­ge­hend auf Ar­chi­tek­tur und Land­schaft ver­zich­ten, da­für aber mit kost­ba­ren Must­er­grün­den auf­war­ten, kün­di­gen sich die gro­ßen Neue­run­gen an, die das zwei­te Jahr­zehnt brin­gen soll­te. Die kost­ba­re Far­big­keit und ein­drucks­vol­le Mo­del­lie­rung deu­ten be­reits auf den tech­ni­schen Wan­ del vor­aus, der nicht, wie noch Mill­ard Meiss mein­te, al­lein auf den Boucicaut-Mei­ster, son­dern vor al­lem auf Maza­rine- und Bed­ford-Mei­ster zu­rück­geht. In sei­nen frü­hen Wer­ken be­vor­zugt der Maza­rine-Mei­ster für die Mo­del­lie­rung von In­ka­rn­aten Terrav­er­de. Bei sei­nen Kom­po­si­tio­nen kommt es ihm nicht auf Räum­lich­ keit an; denn ihm fehlt der Sinn für den rech­ten Win­kel, den der Boucicaut-Ma­ler dann ent­wickeln soll­te. Sein Sinn für ele­gan­te­re Li­ni­en­füh­rung bin­det den Maza­rine-Mei­ster stär­ker als den bis­her be­rühm­te­ren Stil­ge­nos­sen in den Wei­chen Stil ein. Von der be­ mer­kens­wer­ten neu­en Er­kennt­nis, die Stel­la Pan­ayotova mit­ge­teilt hat, war hier schon die Rede. Wenn er Far­ben in Deutsch oder Nie­der­län­disch no­tier­te, war Pa­ris auch für den Maza­rine-Mei­ster der Schmelz­tie­gel, in dem sich Leu­te wie er aus der gan­zen la­ tei­ni­schen Welt zu­sam­men­fan­den und eine neue, dann für die fran­zö­si­sche Haupt­stadt cha­rak­te­ri­sti­sche Kunst ent­wickel­ten. In Pa­ris fremd blieb hin­ge­gen je­ner Ma­ler, der mit der Ma­don­na am Schluß un­se­rer Nr. 5 die ele­gan­te Pro­por­ti­on­ierung eben­so wie den Li­ni­en­fluß ver­mis­sen läßt, die alle an­de­ren Bil­der aus­zeich­net. Wo der Maza­rine-Mei­ster die fa­rb­star­ken Ge­wän­der ganz aus der 49

Meiss 1968, pas­sim; Châtelet 2000, S. 221-2, hat zu Recht dar­auf hin­ge­wie­sen, daß die Dar­stel­lung des Mar­schalls als Ge­ fan­ge­ner, der um Hil­fe des hei­li­gen Le­on­hard bit­tet, auf ei­nem ein­ge­f üg­ten Dop­pel­blatt wohl erst nach der Ge­fan­gen­nah­me des Mar­schalls in der Schlacht von Azin­court 1415 ent­stan­den ist.

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Einleitung

Dich­te des Pig­ments ent­wickelt, be­nutzt die­ser Ma­ler dunk­le Kon­tu­ren, um klein­tei­li­ge Stoff­kas­ka­den des blau­en Ma­rien­man­tels vor­zu­be­rei­ten und dann mit vie­len fei­nen Pin­ sel­stri­chen in ei­nem hel­le­ren Blau zu hö­hen. Selbst den Hei­li­gen­schein ge­stal­tet die­ser Ma­ler an­ders: Mut­ter und Kind er­hal­ten auf dem Blatt­gold der Nimben ei­nen wun­der­ ba­ren Strah­len­kranz. Stär­ker als beim in die Pa­ri­ser Kunst in­te­grier­ten Maza­rine-Mei­ ster tre­ten Ei­gen­ar­ten zu Tage, die aus dem Rhein­ge­biet stam­men könn­ten. Durch das Ne­ben­ein­an­der bei­der Ma­ler ge­hört un­se­re Nr. 5 eben­falls zu den er­staun­li­chen Neu­ fun­den von Buch­ma­le­rei aus dem Jahr­zehnt nach 1400. Auch vom Boucicaut-Mei­ster selbst bie­tet un­ser neu­er Ka­ta­log ein ein­drucks­vol­les, bis­ her un­be­kann­tes Stun­den­buch: In­ner­halb ei­ner ge­mein­sa­men künst­le­ri­schen Kul­tur er­ kennt man den Ma­ler an den Phy­sio­gno­mi­en, was durch die hel­le­ren In­ka­rn­ate in Nr. 6 ge­gen­über dem Ein­satz von Terrav­er­de in Nr. 5 un­ter­stri­chen wird. Zu­gleich wird deut­ lich, daß die bei­den Hand­schrif­ten nicht gleich­zei­tig ent­stan­den sind: Hohe Rund­bö­gen ge­ben den Bild­fel­dern nun eine ein­drucks­vol­le Höhe. Das lädt bei der Ver­kün­di­gung zu ei­ner küh­nen Ar­chi­tek­tur ein, an die in Nr. 5 noch nicht zu den­ken war. In Nr. 6 ste­hen äl­te­re Bild­for­men mit Must­er­grün­den ne­ben Sze­nen im Frei­en un­ter blau­em Him­mel; denn der Boucicaut-Mei­ster bleibt zwar äl­te­ren Tra­di­tio­nen ver­pflich­tet, brilliert aber mit sei­nem Sinn für ein neu­es, kraft­vol­les Ko­lo­rit und mit wun­der­ba­ren Va­ria­tio­nen zu den wich­tig­sten Bild­the­men. Der kost­ba­re Rand­de­kor nutzt Zeit­sprün­ge aus der Ent­wick­lung der Pa­ri­ser Buch­ma­ le­rei am Be­ginn des 15. Jahr­hun­derts zu hier­ar­chi­scher Glie­de­rung: Die wich­tig­sten In­ cipits schmückt be­reits voll ent­wickel­ter Akanthus­de­kor, wie er um 1415 auch vom Bed­ ford-Mei­ster ge­pflegt wird, der spä­ter der­ar­ti­ge hier­ar­chi­sche Un­ter­schei­dung ni­vel­lie­ren wird. Von be­son­de­rer Be­deu­tung ist schließ­lich das Bild zum To­ten­of ­fi­zi­um, in dem der Boucicaut-Mei­ster von Eger­ton-Mei­ster das pracht­vol­le Blatt­werk für den Fond über­ nom­men hat. Auch in die­sem Stun­den­buch wird man ei­nen Mit­ar­bei­ter aus­ma­chen kön­ nen: Tei­le des Ka­len­ders und drei der vier Evan­ge­li­sten set­zen sich vom Boucicaut-Mei­ ster ab. Die zeich­ne­ri­sche Ge­stal­tung läßt an Künst­ler den­ken, die ihm wie der Mei­ster des Guy de Laval (Nr. 7) ver­pflich­tet wa­ren. Mit all die­sen Be­zü­gen er­weist sich Nr. 6 als ein be­son­ders cha­rak­te­ri­sti­sches und über­ aus qua­li­tät­vol­les Bei­spiel für den gro­ßen Hö­he­punkt, den die Buch­kunst in Pa­ris um 1415 er­reich­te. Zu­gleich wird durch die Pro­ve­ni­enz des Werks ein neu­es Ka­pi­tel in der Ge­schich­te Frank­reichs ak­tu­ell: Mit dem eng­li­schen Her­zog von Clarence war Tho­mas de Co­rlieu (oder Curlew), 1414 nach Frank­reich ge­kom­men, hat­te die Burg von Gourville bei An­goulême er­obert; dann aber hei­ra­te­te er de­ren Er­bin Ren­otte oder Perot­te du Fresne. Der Sohn die­ses Paa­res, Jean de Co­rlieu, dürf­te die Wap­pen hin­zu­ge­fügt ha­ben. In be­ster Tra­di­ti­on des Boucicaut-Stils, dem die wich­tig­sten Vor­la­gen ver­dankt wer­den, steht Nr. 7. Am ein­drucks­voll­sten wird das bei Da­vids Buße deut­lich, wo sich die Art, wie sich die Haupt­fi­gur in die Land­schaft ein­bet­tet und im Bo­gen­ab­schluß eine gro­ße Got­tes­er­schei­nung Platz fin­det, mit ein­schlä­gig be­rühm­ten Fas­sun­gen des BoucicautMei­sters selbst (so im na­men­ge­ben­den Stun­den­buch) aus­ein­an­der­setzt. Doch zeugt un­

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Einleitung

se­re Nr. 7 von ei­nem Ma­ler ei­ge­ner Sta­tur, den man am ein­fach­sten an sei­ner Nei­gung zu Fi­gu­ren im Pro­fil und am prä­gnan­te­sten an bär­ti­gen Grei­sen er­ken­nen kann. In der Zeich­nung prä­zi­se, im Ko­lo­rit auf gro­ße kla­re Fa­rb­flä­chen aus­ge­rich­tet, er­reicht die­ser Künst­ler vor al­lem in der Land­schaft un­ter mit Wol­ken durch­zo­ge­nem Him­mel über­ zeu­gen­de Wir­kun­gen. Mill­ard Meiss hat­te ihn von ei­nem pracht­vol­len Stun­den­buch in Chan­tilly, Ms. 64, aus be­stimmt, des­sen präch­ti­ger Ein­band für den Her­zog von Guise (1550-1588) ge­schaf­ fen wur­de, wäh­rend die Haupt­mi­nia­tur, eine bril­lan­te Ver­kün­di­gungs­sze­ne, aber vom Boucicaut-Mei­ster stammt. Schon aus die­sem Grund war die Be­zeich­nung un­glück­lich. Ga­brie­le Bartz hat sich des­halb zu Recht um ei­nen hi­sto­risch an­ge­mes­se­nen Not­na­men be­müht: Fast ganz ei­gen­hän­dig hat der Künst­ler ein Stun­den­buch für Guy XIV de Laval aus­ge­malt, das von uns in die Samm­lung Re­na­te Kö­nig ge­langt ist.50 Des­halb spre­chen wir nun vom Mei­ster des Guy de Laval.51 Die­ser Buch­ma­ler ge­hört zu den ent­schei­den­ den Kräf­ten, die in Pa­ris aus­ge­bil­det wur­den und dann of­fen­bar in Zei­ten der po­li­ti­schen Wir­ren die Haupt­stadt ver­lie­ßen, um ent­we­der in der Um­ge­bung des Da­uph­ins Karl, der bis zu sei­ner Krö­nung im Jahr 1429 als „Kö­nig von Bour­ges“ ver­spot­tet war, oder in West­frank­reich neue Auf­trag­ge­ber zu su­chen. Zu de­nen ge­hör­te der dem Da­up­hin die­ nen­de Guy de Laval, des­sen wich­tig­ste Be­sitz­tü­mer im Grenz­ge­biet zur Bre­ta­gne la­gen. Un­ser Stun­den­buch wird noch in Pa­ris ent­stan­den sein, auch wenn sich der Weg nach We­sten in der Li­ta­nei an­deu­tet. Un­se­re Nr. 7 ge­hört als ein be­mer­kens­wer­tes und voll­ stän­dig er­hal­te­ne Stun­den­buch zu den frü­he­sten Wer­ken, in des­sen Kom­po­si­tio­nen, die noch eng den Pa­ri­ser Wur­zeln ver­pflich­tet sind, sich der per­sön­li­che Stil des Künst­lers be­reits klar zeigt. Von den Kom­po­si­tio­nen, dem Ko­lo­rit und dem Buch­de­kor her steht Nr. 8 dem BoucicautMei­ster nä­her als dem Maza­rine-Mei­ster; der Schrift­de­kor und, der Mu­ster­grund, vor dem nur ein­zel­ne Mö­bel­stücke In­te­rieurs an­deu­ten, wäh­rend die Land­schaft hin­ge­gen selbst bei der Hir­ten­ver­kün­di­gung und der Flucht nach Ägyp­ten auf ein­fa­che Wie­sen­ strei­fen be­schränkt ist, folgt äl­te­ren Ge­wohn­hei­ten. Des­halb wird die­ser Ma­ler um 1410 im Boucicaut-Kreis ge­lernt ha­ben. Doch wann Nr. 8 ent­stan­den ist, läßt sich nur schwer be­stim­men. Ein ver­wand­ter Stil taucht in ei­nem da­tier­ten Ma­nu­skript auf, dem Stun­den­ buch des Jean de Gin­gins.52 Dort liest man auf fol. 193: „Ces heu­res sont à Je­han de Gin­gins sei­gneur Divonne et ca­pitaine sur gens d’ar­mes pour le roy nostre sire et furent fa­ites a la rue neu­ffve de nostre dame par ja­quet lescuyer l’an mil CCCCXXI “. Wie schon Hahn­lo­ser ge­zeigt hat, stammt der Buch­schmuck dort im we­sent­li­chen aus der Bed­ford-Werk­statt.

50 Mül­heim an der Ruhr, de­po­niert im Erz­bi­schöf­li­chen Mu­se­um Kolumba, Köln: sie­he den Bei­trag von Ga­brie­le Bartz in un­ se­rem Ka­ta­log Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge III, 2000, Nr. 6 und kurz ih­ren spä­ter auch als Mo­no­g ra­phie er­schie­ne­nen Ka­ta­log­ab­schnitt zu Nr. 8 der Köl­ner Aus­stel­lung von 2001. 51

Sie­he die ge­ra­de er­schie­ne­ne Dis­ser­ta­ti­on von Bartz 2017.

52

Sie­he Anm. 4.

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Kat. 45, Nr. 6, fol. 77v (Laval-Meister)

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Kat. 45, Nr. 6, fol. 98v (Laval-Meister)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 30, Nr. 13, fol. 239 (Meister des Londoner Alexander)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 30, Nr. 13, fol. 225 (Meister des Londoner Alexander)

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Einleitung

Ei­ni­ge Mi­nia­tu­ren wie die Dar­stel­lung des Wel­ten­rich­ters zu Doulz Dieu set­zen sich vom Bed­ford-Stil ab und sind ent­spre­chen­den Bil­dern in Nr. 8 mo­tiv­isch nicht ganz fremd.53 Viel­leicht deu­tet sich hier eine Wei­ter­ent­wick­lung un­se­res Ma­lers an, der sich dann ent­ schie­de­ner vom Boucicaut-Stil ent­fernt und ei­ner stär­ker zeich­ne­ri­schen Ar­beits­wei­se ver­schrie­ben hät­te. Un­ser Ma­nu­skript wäre dann spä­te­stens um 1420 ent­stan­den. An die­ses voll­stän­dig er­hal­te­ne Ma­nu­skript aus dem zwei­ten Jahr­zehnt des 15. Jahr­hun­ derts, das mu­ster­gül­tig für Pa­ri­ser Stun­den­bü­cher um 1415 ste­hen kann, wie sie für eine Käu­fer­schaft vor­ge­hal­ten wur­de, der es auf no­ble Schlicht­heit und die Kost­bar­keit des Gol­des an­kam, folgt in un­se­rem Ka­ta­log ein Buch aus frem­dem Zu­sam­men­hang: Nr. 9 ­fi­zi­en für den Brauch von Rouen eben­so wie in der Hei­li­gen­aus­wahl von ver­tritt mit Of Ka­len­der, Suff­ragien und Li­ta­nei kei­nes­wegs Pa­ri­ser Brauch; auch die nach den Mari­enLau­des ge­schal­te­ten Suff­ragien ver­ra­ten ei­nen Stun­den­buch­typ, den wir 2013 in Wie­der­ se­hen mit Rouen cha­rak­te­ri­siert ha­ben. Die Aus­ma­lung wird im we­sent­li­chen dem Ma­ ler ver­dankt, der für John Tal­bot, Graf von Shrewsbury, zwei so­ge­nann­te Hol­ster Books, Stun­den­bü­cher, die in das Half­ter ei­nes Rei­ters paß­ten, so­wie das 1444/45 in Rouen ge­ schaf­fe­ne Shrewsbury Book für Ma­rie d’An­jou, die Ge­mah­lin des eng­li­schen Kö­nigs Hen­ ry VI , aus­ge­malt hat.54 Un­ter der Be­sat­zung hat er bis 1449 für eng­li­sche Auf­trag­ge­ber ge­ar­bei­tet, nach der Be­frei­ung von Rouen aber das er­ste mo­nu­men­ta­le Ma­nu­skript für die Bi­blio­thek der Schöf­fen il­lu­mi­niert.55 Ei­nen Platz in un­se­rem Ka­ta­log er­hält die­se Hand­schrift, weil ihre wich­tig­ste Bild­sei­te ganz von der Hoch­blü­te der Buch­ma­le­rei in Pa­ris und Bour­ges un­ter Jean de Berry be­ stimmt ist: Ge­stal­tet hat die Pracht­sei­te mit der Ver­kün­di­gung ein über­ra­gen­der Künst­ ler, viel­leicht auf der Durch­rei­se in Rouen, wo sonst kaum et­was von ihm zeugt, oder in Pa­ris selbst: Nach­dem auch wir 1993 bei der Be­ar­bei­tung ei­nes ganz pa­ri­se­ri­schen Stun­ den­buchs, Nr. 13 un­se­res Ka­ta­logs Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter V, Meiss ge­folgt sind, den Ma­ ler nach der Krö­nung Han­ni­bals in ei­nem Ma­nu­skript bei Har­vard zu nen­nen, schlie­ ßen wir uns nun Ca­therine Reynolds an, die ihn vom Lon­do­ner Alex­an­der­ro­man aus be­stimmt hat.56 Der Mei­ster des Lon­do­ner Alex­an­der ge­hört wie der Mei­ster der Marguerite d’Orlé­ans zu den Buch­ma­lern, die im Ge­gen­satz zu ma­le­ri­schen Ten­den­zen des Bed­ford-Mei­sters 53

Lau­sanne, Ar­chi­ves Can­to­na­les, Gin­gins-Stun­den­buch, fol. 374v: Kö­nig 2007, Abb. S. 66; der Ma­ler fi­g u­riert bei Clark 2016, S. 305-6, als „Pa­ris Pain­ter of the Gin­g ins Last Judgment“.

54 Die Stun­den­bü­cher sind Cam­bridge, Fit­z william Mu­se­um, 40-1950 und 41-1950. Zums Shrewsbury Book (Roy­al 15 E VI der Bri­tish Lib­rary): zu­letzt Aus­st-Kat. Lon­don 2011, Front­ispiz und Nr. 143. 55

Sam­mel­hand­schrift mit Tex­ten von Gilles de Rome, Ci­ce­ro und Al­ain Char­tier, fr. 126 der Pa­ri­ser BnF: Avril und Reynaud 1993, Nr. 88.

56

Meiss 1974, S. 390-2 und pas­sim; Reynolds 1989 und 1994; zu­letzt Chri­sti­ne Sei­del im All­ge­mei­nen Künst­ler-Le­xi­kon, Bd. 88, 2015, S. 395-396. Meiss nann­te ihn nach ei­ner Dar­stel­lung der Krö­nung Han­ni­bals im Teil­band ei­nes Tite-Live in der Hough­ ton Lib­rary (Cam­bridge, Mass., Ms. Ri­chards­on 32, fol. 1: zu­letzt Aus­st.-Kat. Bo­ston 2016, Nr. 189). Von ihm schied Ca­ therine Reynolds 1994 ei­nen Künst­ler, den sie nach dem Alex­an­der­ro­man Roy­al 20 B. XX der Bri­tish Lib­rary als Mei­ster des Lon­do­ner Alex­an­der be­zeich­ne­te (Fak­si­mi­le-Aus­ga­be Lu­zern 2014 mit Bei­trä­gen von Joan­na Fron­ska u. a.; ohne In­ter­es­se für Kunst­ge­schich­te).

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Einleitung

eher pla­sti­sche Ef­fek­te an­stre­ben; da­durch er­hal­ten Ge­sich­ter in sei­nen Mi­nia­tu­ren, selbst bei Frau­en und Kin­dern un­ver­kenn­ba­res Ge­prä­ge. Im Pa­ri­ser Boucicaut-Kreis hat er be­ gon­nen, da­nach aber auch von den Brü­dern Lim­burg, wohl in Bour­ges, ge­lernt und Vor­ la­gen über­nom­men. Zur Mari­en-Matutin zeigt er die Ver­kün­di­gung kei­nes­wegs in ei­nem ech­ten In­te­rieur, wie er sie mei­ster­haft zu ge­stal­ten wuß­te, son­dern vor Ka­ro­mu­ster. Ei­ gen­wil­lig setzt er in die Ecken der Zier­lei­ste Halb­fi­gu­ren von vier Pro­phe­ten auf blau­en Wol­ken, die leb­haft auf die Haupt­sze­ne rea­gie­ren; ei­ner hält sich so­gar er­staunt die Hand vor den Mund. Die leer ge­blie­be­nen Schrift­bän­der über­spie­len den Dorn­blatt­de­kor und zei­gen, daß Il­lu­mi­na­ti­on und Bild­ge­stal­tung Hand in Hand gin­gen. In den üb­ri­gen Mi­ nia­tu­ren führt un­se­re Nr. 9 als ein vor­züg­li­ches Werk aus der Zeit um 1425 die fas­zi­nie­ ren­de Wir­kung der Pa­ri­ser Kunst auf die Buch­ma­le­rei in Rouen vor Au­gen. Zu lan­ge im Schat­ten des Bed­ford-Mei­sters: der Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea Ge­schichts­schrei­bung kommt nicht ohne Per­iodisierung aus; des­halb ist es gut und sinn­ voll, in der fran­zö­si­schen Buch­ma­le­rei die Zeit des 1416 ver­stor­be­nen Her­zogs von Berry und die Fouquet-Zeit nach 1450 zu schei­den. Doch kön­nen sich des­halb Künst­ler, de­ ren Œuvre die auf sol­che Wei­se ent­stan­de­nen fik­ti­ven Zeit­gren­zen über­schrei­tet, in der mo­der­nen Hi­sto­rio­graph­ie nur schwer be­haup­ten, schon weil eine auf Fort­schritt aus­ ge­rich­te­te Sicht­wei­se ihre Kunst nur als Nach­hall der frü­he­ren Pe­ri­ode be­grei­fen kann. Das Pro­blem er­schwer­te frü­her die Ein­schät­zung des Bed­ford-Stils und heu­te noch viel ent­schie­de­ner die Wür­di­gung ei­nes Ma­lers, der wohl der ei­gent­li­che Held des hier vor­ ge­leg­ten Ka­ta­logs ist. An ei­ni­gen der be­deu­tend­sten Pa­ri­ser Stun­den­bü­cher aus der er­sten Hälf­te des 15. Jahr­ hun­derts wie am Luxemburg-Stun­den­buch, un­se­rer Nr. 12, ar­bei­te­te die­ser Künst­ler ge­ mein­sam mit dem Bed­ford-Mei­ster, muß­te je­nem aber in der Re­gel die in der Text­hier­ ar­chie wich­tig­sten In­cipits über­las­sen. Für ein brei­te­res Pu­bli­kum je­doch ver­drän­gen Mi­nia­tu­ren sei­ner Hand im Lon­do­ner Bed­ford-Stun­den­buch, das ge­gen 1420 für ei­nen un­be­kann­ten Auf­trag­ge­ber ge­schaf­fen wur­de und erst um 1423 Wap­pen und Bild­nis­se des eng­li­schen Gou­ver­neurs in Frank­reich er­hielt, den kon­kur­rie­ren­den Stil des ei­gent­ li­chen Bed­ford-Mei­sters, weil die schlich­te Wucht, mit der er auf­tritt, fas­zi­niert.57 Da­bei ver­dankt man ihm dort nur Hin­zu­fü­gun­gen, mit de­nen die Hand­schrift zum Ge­schenk für Hein­rich VI . von Eng­land her­ge­rich­tet wur­de, wohl im Blick auf des­sen Krö­nung zum fran­zö­si­schen Kö­nig am 16. De­zem­ber 1431 in der Pa­ri­ser No­tre Dame. Doch auch dort hat der Bed­ford-Ma­ler selbst mit dem Pa­ra­dies das er­ste der hin­zu­ge­füg­ten Bil­der ge­schaf­fen. 58 57

So re­prä­sen­tiert eine der ein­ge­f üg­ten Mi­nia­tu­ren in Wikipe­dia den Bed­ford-Mei­ster; und selbst auf dem Um­schlag mei­nes Buchs über die Lon­do­ner Bed­ford Hours hat man ein sol­ches Bild ge­setzt.

58

Es han­delt sich um ganz­sei­ti­ge Mi­nia­tu­ren mit Dar­stel­lun­gen aus dem Al­ten Te­sta­ment zwi­schen Ka­len­der und Text­block, dar­un­ter eine der be­rühm­te­sten Dar­stel­lun­gen des Turm­baus von Ba­bel, und die in­halt­lich hoch be­deu­ten­de Schil­de­rung, wie das Wap­pen mit den drei Li­lien als Zei­chen der Tri­ni­tät von Gott über ei­nen Ein­sied­ler an die Kö­ni­g in Clot­hil­de ge­ lang­te, da­mit schließ­lich Chlodwig da­mit ein­ge­k lei­det wer­den konn­te. Noch der ei­gent­lich scharf­sich­ti­ge Charles Ster­ling

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 80, Nr. 12, fol. 90: David (Bedford-Meister)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 80, Nr. 12, fol. 112: Trinität (Conrad von Toul)

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Einleitung

Im etwa gleich­zei­tig, also um 1430, ent­stan­de­nen So­bie­ski-Stun­den­buch in Winds­or Ca­ stle ar­bei­te­te er ne­ben Bed­ford- und Fast­olf-Mei­ster. Auch dort be­haup­te­te der Bed­fordMei­ster eine füh­ren­de Stel­lung, über­nahm er doch mit dem Ma­rien­zy­klus die wich­ti­ge­ re Auf­ga­be, wäh­rend der Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea die Horen von Hei­lig Kreuz be­bil­der­te. Den von die­ser Mit­ar­beit ab­ge­lei­te­ten Spitz­na­men „So­bie­ski III “ er­ setz­te Eleanor Spencer in ih­rem Buch von 1977 durch Mei­ster der Mün­che­ner Legenda Aurea, das ge­schah je­doch mit al­ler Vor­sicht, weil sie die na­men­ge­ben­de Hand­schrift nicht in dem von ihr ge­wünsch­ten Maße selbst stu­diert hat­te.59 Die Tat­sa­che, daß bei­de Ma­ler ne­ben­ein­an­der auf­tra­ten, läßt noch kei­ne Ab­hän­gig­keit un­ter­ein­an­der er­ken­nen; denn vom Per­so­nal­stil her ha­ben sie nicht viel ge­mein­sam. Ihr Vor­la­gen­ma­te­ri­al ha­ben sie kaum aus­ge­tauscht; es sorgt für un­ter­schied­li­che Op­tik, die auch Pin­sel­füh­rung und Ko­lo­rit prägt. Am klar­sten tre­ten ihre Ei­gen­ar­ten dort zu Tage, wo von ih­nen ge­mal­te Köp­fe der­sel­ben Grund­idee ver­pflich­tet sind: So sind Da­vid zu den Buß­psal­men und Gott­va­ter zu den Tri­ni­tät­sho­ren in di­rekt auf­ein­an­der fol­gen­den Mi­nia­tu­ren un­se­rer Nr. 12 als wür­di­ge Grei­se be­grif­fen. Wei­ches Zer­flie­ßen der Form, das für den Da­vid des Bed­ford-Mei­sters cha­rak­te­ri­stisch ist, läßt der Mei­ster der Münch­ ner Legenda Aurea nicht zu; des­halb mag er ein we­nig jün­ger sein. Got­tes­er­schei­nun­ gen, die er ding­lich greif­bar ge­stal­tet, zei­gen, wie ent­schie­den bei ihm die Wirk­lich­keit das Vi­sio­nä­re ver­drängt. Er­staun­lich tref­fend er­schließt der Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea bei Sze­nen im Frei­en wie der Tau­fe Chri­sti den Raum bis zu Ar­chi­tek­tu­ren in der Tie­fe. Ge­stal­ten und Ge­gen­stän­de rückt er in den Vor­der­grund; spie­le­risch fügt er Stille­ben in In­te­rieurs, die er kaum mit bild­rah­men­den Bö­gen kom­bi­niert. Mit kost­ba­rem Blau und Flä­chen ver­ schie­de­ner Rot­tö­ne er­zielt er er­staun­li­che Wir­kung. Die kom­pak­ten Kör­per­for­men, vor al­lem bei schon be­tag­ten Män­nern, de­nen der Ma­ler gern breit­krem­pi­ge Hüte auf­setzt, die aus­drucks­vol­len Ge­sten, gern mit Wen­dun­gen ins Pro­fil ha­ben kei­ner­lei Vor­bild in frü­hen Ar­bei­ten des Bed­ford-Mei­sters, son­dern las­sen am ehe­sten an den Vergil-Mei­ster den­ken, wenn man sie nicht ganz und gar auf Aus­bil­dung ir­gend­wo im öst­li­chen Frank­ reich zu­rück­führt. 60

be­g nügt sich mit der Zu­schrei­bung an den „Maître de Bed­ford et un col­la­bo­ra­teur“ und be­zeich­net da­mit un­ter­schieds­los das er­ste text­lo­se Bild mit der Ge­schich­te Adams und Evas (fol. 14) eben­so wie die an­schlie­ßen­den und die Chlodwig-Mi­nia­tur (fol. 288v): Ster­ling I, 1987, Abb. 307-309. 59

Mün­chen, BSB , cod. gall 3: Die Hand­schrift liegt of­fen­bar zu weit au­ßer­halb des Be­reichs je­ner, die über fran­zö­si­sche Buch­ ma­le­rei schrei­ben, als daß es auch nur eine ein­zi­ge ver­nünf­ti­ge Be­schrei­bung da­von in der Li­te­ra­tur gäbe; den Not­na­men hat Spencer 1977, S. 54-55, ge­prägt. Avril hält ihn für „un des nombreux sa­tel­lit­es du Maître de Bed­ford…entre Pa­ris et la Pi­car­ die“ (zu der Por­träts der Fa­mi­lie de Neville in latin 1158: Aus­st.-Kat. Pa­ris 2004, Nr. 223, S. 356). In kei­ner gro­ßen Pa­ri­ser Aus­stel­lung spielt der Künst­ler eine Rol­le.

60 Von Meiss de­fi­niert nach dem Vergil der Laur­en­zi­ana in Flo­renz (Med.Pal. 69): Meiss 1974, S. 408-412 und pas­sim; sie­ he mei­nen Ver­such, die­sen Künst­ler mit ei­nem der Mal­ouels zu ver­bin­den: La quest­ion des emprunts aux Bel­les Heu­res, in: Aus­st.-Kat. Pa­ris 2012, S. 406-413.

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Einleitung

Beim Bed­ford-Mei­ster hin­ge­gen, der die hier­ar­chisch wich­ti­ge­ren Mi­nia­tu­ren in un­se­rer Nr. 12 ge­stal­tet hat,61 ragt die Land­schaft wie eine Ta­pis­se­rie bis zum An­satz des bekrö­ nen­den Ab­schluß­bo­gens der Mi­nia­tu­ren auf, wäh­rend gol­de­nes Licht im Bo­gen­schei­ tel nach un­ten strahlt. Far­be trägt der Bed­ford-Mei­ster ma­le­risch auf; Licht brei­tet sich bei ihm weich über die Ob­jek­te. Schat­ten sor­gen in der Land­schaft für le­ben­di­ge Ef­fek­ te; aber die Fi­gu­ren er­hal­ten kaum pla­sti­sche Kraft. Den Got­tes­er­schei­nun­gen im Krei­ se der En­gel bei den Buß­psal­men und der To­ten-Ves­p er kommt das so­gar zu­gu­te; denn Über­wirk­li­ches kann der Bed­ford-Mei­ster über­zeu­gend ver­an­schau­li­chen. Das gilt be­ son­ders, weil die Mi­nia­tur zum To­ten­of ­fi­zi­um aus dem ver­trau­ten Gen­re der To­ten­bil­ der aus­bricht, in­dem sie zeigt, wie En­gel und Teu­fel um die See­le des Ver­stor­be­nen auf dem Fried­hof kämp­fen. Für das von Mill­ard Meiss ab­ge­steck­te Feld der fran­zö­si­schen Ma­le­rei zu Berrys Zei­ten war der Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea zu jung; und in der epo­cha­len Aus­stel­ lung von Avril und Reynaud 1993 fand er kei­nen Platz, weil sein Werk nach 1440 nicht mehr viel zur Ent­wick­lung der Buch­ma­le­rei bei­tra­gen konn­te. Die un­pu­bli­zier­te Dis­ser­ ta­ti­on von Lau­rent Un­ge­heu­er über un­se­ren Künst­ler, die in Pa­ris ab­ge­schlos­sen wur­de, hat zwar Ver­öf­fent­li­chun­gen in der Zeit­schrift art de l’enlumi­nure, aber kei­ne tief­schür­ fen­den Er­kennt­nis­se er­bracht. 62

Familie Jouvenel des Ursins (Musée de Cluny) 61

Jo­han­nes auf Patmos, die er­sten bei­den Bil­der zum Mari­en-Of ­fi­zi­um, und die Er­öff­nung von Buß­psal­men und To­ten-Ves­p er.

62

Lau­rent Un­ge­heu­er, Le Maître de la Lég­en­de dorée de Mun­ich, un enlumi­neur pa­ri­sien du mi­lieu du XVe siècle, for­ma­ti­on, pro­ duct­ion, in­fluences et colla­bo­rat­ions (un­ver­öf­fent­lich­te Dis­ser­ta­ti­on, die uns auch nicht in Aus­zü­gen vor­lag; un­ter Lei­tung von Mi­chel Pas­t oureau), Pa­ris 2015; Un­ge­heu­er 2009 über die Son­ges d’Enfer fr. 1051 und 2016 über das Roth­schild-Stun­den­buch, der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek. Im Roth­schild-Stun­den­buch der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek über­sieht der Au­tor den Um­stand, daß bei ei­ni­gen Haupt­fi­g u­ren of­fen­bar die Ge­sich­ter we­gen Spu­ren from­men Ge­brauchs im 19. Jahr­hun­dert über­malt wur­ den. Schon aus die­sem Grund ist Un­ge­heu­ers An­sät­zen zu Hän­de­schei­dung (2016, S. 6) nicht zu trau­en; so bil­det er auf S. 7 ei­nen Ma­rien­kopf aus dem 19. Jahr­hun­dert ab; kei­ne wei­te­re Klä­rung bringt der auch re­dak­tio­nell un­ge­nü­gend be­treu­te Bei­ trag in der Re­vue de l’Art 2017.

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Jüngstes Gericht (Musée des Arts Décoratifs)

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Einleitung

Ein be­mer­kens­wer­ter Um­stand, der den spä­ten Bed­ford-Stil und den Mei­ster der Münch­ ner Legenda Aurea ver­bin­det, ist in der neue­ren Li­te­ra­tur ver­nach­läs­sigt wor­den: Mit bei­den ver­bin­det sich je ein schlecht er­hal­te­nes Ge­mäl­de in al­tem Pa­ri­ser Be­stand: Ein Jüng­stes Ge­richt, heu­te im Mus­ée des Arts Décoratifs, das man zu­wei­len dem Du­noisMei­ster zu­schreibt, 63 und das ein­drucks­vol­le Bild der Fa­mi­lie Jou­ve­nel des Urs­ins aus No­ tre Dame im Mus­ée de Cluny aus der Mit­te des 15. Jahr­hun­derts.64 Am eng­sten ver­wandt sind zwei Mi­nia­tu­ren, die für die eng­li­sche Fa­mi­lie Neville zwi­schen 1427 und 1432 in ein äl­te­res Pa­ri­ser Stun­den­buch ein­ge­fügt wur­den.65 Spencer hat alle drei Grup­pen­bil­der dem Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea ge­ge­ben; den text­lo­sen Bil­dern im Bed­ford-Stun­ den­buch ste­hen sie so nahe, daß zu über­le­gen wäre, ob nicht auch die­se Lon­do­ner Mi­nia­ tu­ren aus dem Œuvre des Mei­sters der Münch­ner Legenda Aurea aus­schei­den müß­ten, wenn man die Jouvenels und die Nevilles von ihm trennt. Was hier wirk­lich vor­liegt, sei da­hin­ge­stellt; doch tritt der Ge­gen­satz zwi­schen den bei­den Stilla­gen, für die der Her­ zog von Bed­ford und die Münch­ner Legenda Aurea Na­men lie­hen, nir­gend­wo so deut­ lich zu Tage wie bei den bei­den Pa­ri­ser Ta­fel­bil­dern. Wie in un­se­rer Nr. 12 be­haup­tet der Bed­ford-Mei­ster meist sei­nen Vor­rang, wenn die bei­den Ma­ler ne­ben­ein­an­der auf­tre­ten. In un­se­rer Nr. 11 aber, dem Gaptière- oder Ga­ be­tière-Stun­den­buch, hin­ge­gen sorgt zeit­li­che Di­stanz da­für, das Ver­hält­nis zwi­schen den bei­den Sti­len um­zu­keh­ren: Erst bei ei­ner zwei­ten Er­gän­zung wur­de zwar nicht der Bed­ ford-Mei­ster selbst, aber im­mer­hin des­sen Nach­fol­ger, der Du­nois-Mei­ster, mit ei­nem Bild be­traut. Seit ge­rau­mer Zeit ha­ben wir uns be­müht, dem Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea ei­nen Na­men zu ge­ben: Con­rad von Toul. Aus­gangs­p unkt für die Stil­be­stim­mung wie für un­se­re Be­nen­nung war das schon von Eleanor Spencer be­nann­te Ex­em­plar der fran­ zö­si­schen Über­set­zung der Legenda Aurea von Ja­co­bus de Vora­gine in der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek in Mün­chen. Dort no­tiert der Evan­ge­list Mar­kus ei­nen mög­li­chen Hin­ weis auf den Ma­ler: Zu­min­dest die bei­den letz­ten Wor­te sind zwei­fels­frei les­bar und schlie­ßen aus, daß ein Wort aus dem Evan­ge­li­um ge­meint ist: toli­ens(is) fecit. Strit­tig ist die er­ste Zei­le, die Otto Pächt und Dag­mar Thoss als Do­ra­ce Loma la­sen, ohne dar­aus ir­gend­ei­nen Nut­zen zie­hen zu kön­nen. 66 Die 2011 von uns vor­ge­schla­ge­ne Tran­skrip­ti­

63

Mus­ée des Arts Décoratifs, Inv. Pe. 1: 110 x 65 cm: Ster­ling I, 1987, S. 457-460, in ei­ner Ge­gen­über­stel­lung mit dem Jüng­ sten Ge­richt im So­bie­ski-Stun­den­buch von Winds­or Ca­stle, fol. 109, das eher dem grei­sen Bed­ford-Mei­ster als dem Du­noisMei­ster ver­dankt wird.

64 Vom Lou­vre im Pa­ri­ser Cluny-Mu­se­um de­po­niert: 165 x 350,5 cm: Ster­ling II , 1990, S. 28-35; sie­he Perls 1935 und Ring 1949, Nr. 112. 65

Gute Abb. bei Ster­ling II , 1990 Abb. 7-8; sie­he auch Aus­st.-Kat. Pa­ris 2004, Nr. 223 mit Kom­men­tar von Fran­çois Avril, der die Zu­schrei­bung der Mi­nia­tu­ren an den Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea stützt, aber vom Ge­mäl­de aus No­tre Dame trennt.

66 Pächt und Thoss Die il­lu­mi­nier­ten Hand­schrif­ten und In­ku­na­beln der öster­rei­chi­schen Na­tio­nal­bi­blio­thek, Fran­zö­si­sche Schu­le I, Wien 1974, S. 140.

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Einleitung

München, BSB, cod. gall. 3, fol. 75v: Markus

on führ­te zu ei­nem Topo­nym, das durch­aus zu sti­li­sti­schen Ei­gen­ar­ten paßt: Domi(nu)s conr(adu)s – oder co­nra(dus) – toli­ens(is) fecit. Er­klä­rungs­be­dürf­tig ist zu­nächst Domi­nus.67. Dem­nach hät­te ein Kle­ri­ker, also ein mit kirch­li­chen Wei­hen ver­se­he­ner Con­rad, eine ver­steck­te Si­gna­tur in sein Werk ein­ge­ schrie­ben. Ein Geist­li­cher im Buch­we­sen wäre im Spät­mit­tel­al­ter kei­ne Sel­ten­heit;68 Per­sön­lich­kei­ten, die zwi­schen geist­li­chem Stand und Stadt­bür­ger­tum un­ent­schie­den wa­ren, ken­nen die Quel­len zur Ge­nü­ge; so war Pe­ter Schöf­fer aus Gerns­heim zu­nächst als Schrei­ber an der Sor­bonne ein­ge­schwo­ren, wozu si­cher nie­de­re Wei­hen nö­tig wa­ren, spä­ter aber ver­kauf­te er sei­ne Bü­cher als Bür­ger von Frank­furt, saß aber im erz­bi­schöf­li­ chen Ge­richt in Mainz.69 Manch ein an­de­rer, der sei­nem geist­li­chen Stand un­treu ge­wor­ den war, soll­te im frü­hen Buch­druck ei­nen Platz fin­den.70

67

Meh­re­re mit­tel­al­ter­li­che Bis­t ü­mer sind na­mens­ähn­lich: so Dolia auf Sar­di­ni­en; Dol, das seit 1924 Dol-en-Bre­ta­g ne heißt und Dole in der Franche-Co­mté.

68 Man den­ke an Hein­rich Alb­ch, ge­nannt Cremer, Vi­kar von Sankt Alb­an in Mainz, der eine der bei­den Gu­ten­berg­bi­beln in der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek ru­bri­ziert, il­lu­mi­niert und ge­bun­den hat, wie er im Kolo­phon be­zeugt, zu­letzt mein Bei­trag: Far­be für die Schwar­ze Kunst, in: Je­ffrey F. Ham­bur­ger, Ro­bert Suck­ale und Gude Suck­ale-Red­lef­sen, Un­ter Druck. Mit­tel­ eu­ro­päi­sche Buch­ma­le­rei im Zeit­al­ter Gu­ten­bergs, Lu­zern 2015, S. 182-196, bes. S. 183. 69

Zu Schöf­fer sie­he die knap­pe Zu­sam­men­fas­sung von Rouse und Rouse 2000, II , S. 117.

70

Dazu ge­hör­te of­fen­bar schon Pe­ter Schöf­fer, der in Pa­ris ver­mut­lich zum nie­de­ren Kle­rus ge­hör­te, in Mainz am Erz­bi­schöf­ li­chen Ge­richt ei­nen Sitz hat­te, aber Bür­ger in Frank­f urt war. Ge­hei­ra­tet hat er, und das ist ge­wiß auch cha­rak­te­ri­stisch, erst als der Be­sit­zer der Drucke­rei Jo­han­nes Fust ge­stor­ben war und es sich an­bot, durch eine Ehe mit des­sen Toch­ter die Fir­ma un­be­hel­ligt wei­ter füh­ren zu kön­nen.

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Einleitung

Das Topo­nym „von Toul“, das wir sei­ner­zeit vor­ge­schla­gen ha­ben, ist mehr als wahr­ schein­lich; denn die Stadt wird in mit­tel­al­ter­li­chem La­tein mal mit „o“, mal mit „u“ ge­ schrie­ben, wo­her sich die bei Gra­es­se, Benedict, Plechl, Or­bis latinus (III , S. 525) zi­tier­ ten Ad­jek­ti­ve tol­len­sis bzw. tu­llinsis ab­lei­ten. Zwar sind meh­re­re mit­tel­al­ter­li­che Bis­t ü­mer na­mens­ähn­lich: so Dolia auf Sar­di­ni­en und Dol, das seit 1924 Dol-en-Bre­ta­gne heißt, die bei­de nicht in Fra­ge kom­men. Im fran­zö­si­schen Ar­ti­kel von Wikipe­dia – wie dort ge­wohnt an­onym – wird Dole in der Franche-Co­mté (Dola Sequano­rum) als Topo­nym vor­ge­schla­gen; zwar wäre dann eher dol­anus zu er­war­ten; doli­nus ad Sequanam kommt aber auch vor;71 und von dort aus wäre toli­nus zu le­sen. Doch selbst wenn wir nun Toul durch Dole in der Frei­graf­schaft Bur­gund er­setz­ten, blie­be die of­fen­sicht­li­che sti­li­sti­sche Ver­wandt­schaft zu Buch­ma­le­rei aus Be­san­çon und auch den Län­dern deut­scher Zun­ ge gül­tig. Un­ser äl­te­rer Vor­schlag hat kaum Nach­hall ge­fun­den: Un­ge­heu­er, der kaum Deutsch liest, hat sich nicht wei­ter da­mit aus­ein­an­der ge­setzt; und Gre­gory Clark, der die jüng­ ste Werk­li­ste für Ma­ler und Stil lie­fer­te, hat nur dar­auf hin­ge­wie­sen, daß Mary und Ri­ chard Rouse auf kei­nen im Buch­we­sen tä­ti­gen Kle­ri­ker sol­chen Na­mens ge­sto­ßen sind.72 Auch dem als Er­satz in Er­wä­gung ge­zo­ge­nen Na­men fehlt der Se­gen der bei­den Rouses; in­halt­lich wäre der Un­ter­schied ge­ring; weil Dole eben­so wie Toul eine Nähe zum deutsch­spra­chi­gen Raum ver­rie­te. Das Gaptière-Stun­den­buch für den Bre­to­nen Jean Trous­sier, Sei­gneur de la Ga­be­tière, Sénéchal de Lamb­alle, hier un­se­re Nr. 11, mit sei­nen zwan­zig gro­ßen Mi­nia­tu­ren von un­ se­rem Con­rad von Toul und ei­ner hin­zu­ge­füg­ten Höl­len­dar­stel­lung vom Du­nois-Mei­ ster liegt seit 1993 im An­ti­qua­ri­at Bi­ber­müh­le.73 Von Text und Ge­stal­tung her ist es ein groß­for­ma­ti­ges, voll­stän­dig er­hal­te­nes Pa­ri­ser Ma­nu­skript, das erst in dem Mo­ment, da es in bre­to­ni­sche Hän­de ge­riet, vom Haupt­ma­ler die be­ste Mi­nia­tur er­hielt. Die­se Buch­ ma­le­rei nimmt Grund­zü­ge auf, die man aus der Gold­schmie­de­kunst kennt, weil der Be­ter mit Wap­pen auf ähn­li­che Wei­se wie beim Gol­de­nen Rössl in Alt­ötting von ei­nem un­te­ ren Re­gi­ster aus zu Ma­ria auf­schaut, dies­mal nicht zur lieb­li­chen Jung­fer im Grün, son­ dern zur Schmer­zens­mut­ter in ei­ner er­grei­fen­den Er­schei­nung der Pi­età. Zwei be­mer­kens­wer­te Ge­gen­sät­ze, ein sti­li­sti­scher und ein in­halt­li­cher, tren­nen das präch­ ti­ge Bild­nis des Jean Trous­sier, Herrn von La Ga­be­tière, das ein von ihm im Mas­ku­li­ num zu spre­chen­des Ge­bet er­öff­net und si­cher in des­sen Leb­zei­ten, viel­leicht zu Be­ginn sei­ner lang­jäh­ri­gen Tä­tig­keit für die bre­to­ni­schen Her­zö­ge ent­stand, von dem eben­falls dem Buch­block hin­zu­ge­füg­ten Bild am Ende des Ma­nu­skripts. Dort wird in dif­fu­sem Bed­ford-Stil ein­drucks­voll die Höl­le ge­schil­dert; Höl­len­qua­len soll ein Ge­bet ab­wen­den, das im Fe­mi­ni­num for­mu­liert ist; des­halb wird die Wit­we da­für den Auf­trag ge­ge­ben ha­ 71

So bei Abbé Dan­et, Grand Dictionna­ire fran­çois et latin, Neu­auf­la­ge Am­ster­dam 1710, S. 433.

72

Clark 2016, S. 298-304; die Re­a k­ti­on auf un­se­ren Vor­schlag auf S. 299.

73

Wir be­hal­ten den Be­g riff Gaptière-Stun­den­buch bei, den wir durch frü­he­re Ka­ta­lo­ge in der Li­te­ra­tur eta­bliert ha­ben, so selbst bei Jean-Luc Deuffic, der uns auf La Ga­be­tière hin­ge­wie­sen hat (Deuffic 2010, S. 221-228).

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Einleitung

ben, nach dem Tod des Gat­ten, der viel­leicht schon 1444, si­cher aber 1450 ver­stor­ben ist. Da­mit wird die Mi­nia­tur ei­ni­ger­ma­ßen da­tier­bar; sie ent­spricht ei­ner Höl­len­dar­stel­lung im Stun­den­buch für Jean de Du­nois, Ba­stard von Orlé­ans und Halb­bru­der des Charles d’Orlé­ans, von dem man bei der Be­stim­mung des Ma­lers aus­geht.74 – hier fin­det sie sich nur in der Bor­dü­re. Dem Gaptière-Stun­den­buch geht un­se­re Nr. 10 vor­aus: Mit fun­keln­dem Ko­lo­rit, der un­er­ hör­ten Strahl­kraft vor al­lem des tie­fen Blaus er­staunt die­ses Buch. Es ge­hört zu den frü­ he­ren Wer­ken des Mei­sters der Münch­ner Legenda Aurea. Im na­men­ge­ben­den Werk, cod. gall 3 der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­thek, mö­gen die noch ganz al­ter­tüm­li­chen Sze­ nen auf ei­nem Wie­sen­stück vor Mu­ster­grund oder best­irntem Him­mel eben­so durch die Tra­di­ti­on des Texts mit­be­dingt sein wie durch die Tat­sa­che, daß man da­bei auf spal­ ten­brei­te Bild­fel­der setz­te, die in den Ko­lum­nen ver­streut und des­halb meist recht­eckig wa­ren. Von die­ser nicht ge­nau da­tier­ba­ren frü­hen Pha­se geht der Ma­ler aus und be­hält zu­nächst das ein­drucks­vol­le dunk­le Blau bei. Noch in un­se­rer Nr. 10 ist es gern mit gol­ de­nen Ster­nen ge­mu­stert oder dann auch mit ei­ner strah­len­den Son­ne im Bo­gen­schei­tel über stark re­li­efh­af­ter Land­schaft mit kraft­voll dunk­len Tö­nen be­setzt ist. Doch fehlt die Be­weg­lich­keit der ein­zi­gen recht si­cher (vor dem 16. De­zem­ber 1431) da­tier­ba­ren Mi­nia­tu­ren im Lon­do­ner Bed­ford-Stun­den­buch. Da­mit steht un­ser äl­te­stes Stun­den­buch von sei­ner Hand zwi­schen den Mi­nia­tu­ren in Wal­ters 288 in Bal­ti­more, die Ro­ger Wie­ck in sei­nem Ka­ta­log Time Sanctified von 1988 ge­ra­de­zu als In­be­griff ei­nes Stun­den­buchs vor­an­ge­stellt hat, und Roth­schild 2535 der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek.75 Da un­se­re Nr. 10 für den eng­li­schen Ge­brauch von Sarum ein­ge­rich­tet ist, stammt die­ses Stun­den­buch aus der Zeit, in der die Eng­län­der in den 1420er Jah­ren Pa­ris be­setzt hat­ten. Sti­li­stisch schließt sich un­ser Hachette-Stun­den­buch an, des­sen Ge­schich­te, wie gleich ge­zeigt wer­den soll, mit dem Ab­zug der Eng­län­der 1435 ver­bun­den ist und zu Di­men­sio­nen führt, die weit über die Vita des ei­nen Ma­lers hin­aus­ge­hen. Deut­lich spä­ter noch ist un­se­re Nr. 13 ent­stan­den, ein wie Nr. 11 noch im ori­gi­na­len Ein­band er­hal­te­nes, aber nun – im Ge­gen­satz zum eng­li­schen Auf­trag – von Text und Kon­zep­ti­on her ge­ra­de­zu mu­ster­gül­ti­ges Pa­ri­ser Stun­den­buch, in dem alle Mi­nia­tu­ ren im rei­fen Stil des Mei­sters der Münch­ner Legenda Aurea aus­ge­führt sind. Schon der Rand­schmuck ver­rät die recht spä­te Ent­ste­hungs­zeit, die sich auch in der auf­ge­hell­ ten Pa­let­te, der le­ben­di­gen Be­we­gung, vor al­lem aber der auf­fäl­li­gen Licht­haltigkeit der Him­mel aus­drückt. Noch ist der Ma­ler ganz kon­zen­triert; sei­ne Prä­zi­si­on wird in spä­ te­ren Wer­ken nach­las­sen. Da­mit zeigt er sich hier ganz auf der Höhe sei­nes Kön­nens.

74

Lon­don, Bri­tish Lib­rary, Ms. H. Y. Thompson 3: zu­letzt Châtelet 2008.

75

Zu­letzt Un­ge­heu­er 2016.

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Pa­ris und das Loire­ge­biet oder das spä­te­re Schick­sal des Luxemburg-Stun­den­buchs Das in der Li­te­ra­tur zu­wei­len als Hachette-Stun­den­buch be­zeich­ne­te Ma­nu­skript, hier Nr. 12, mit dem un­se­re Er­ör­te­rung des Mei­sters der Münch­ner Legenda Aurea be­gann, ist als er­staun­li­ches und be­ein­drucken­des Bei­spiel Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei der frü­hen 1430er Jah­re nicht nur nu­me­risch das zen­tra­le Werk die­ses Ka­ta­logs. Die Mi­nia­tu­ren zu den wich­tig­sten In­cipits ge­hö­ren in die Zeit des Über­gangs vom äl­te­ren Bed­ford-Mei­ster zum Du­nois-Mei­ster. Da die cha­rak­te­ri­sti­schen rund­köpfi­gen und kurz­wüchsi­gen Ge­stal­ten des jün­ge­ren Ma­lers feh­len, war der al­tern­de Bed­ford-Mei­ster selbst für die An­la­ge un­ se­res Buchs ver­ant­wort­lich. Da­von he­ben sich, wie schon er­ör­tert, die An­tei­le des Mei­ sters der Münch­ner Legenda Aurea ent­schie­den ab. Nur die Flucht nach Ägyp­ten wirkt, als habe der Bed­ford-Mei­ster die tep­pich­hafte Land­schaft un­ter himm­li­schen Strah­len kon­zi­piert, der Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea das Bild aber erst aus­ge­malt. Eine drit­te Hand kommt wohl ins Spiel: Wäh­rend Ma­ria in der Flucht nach Ägyp­ten wie ge­ wohnt den blau­en Man­tel mit gol­de­nem Fut­ter über ei­nem eben­so blau­en Kleid trägt, ist ihr Kleid bei der An­be­tung des Kin­des und der Ma­rien­krö­nung mit Gold ge­mu­stert. Bei­de Mi­nia­tu­ren sind in ei­ner Wei­se zen­tral kom­po­niert, die we­der zum Bed­ford-Mei­ ster, noch zum Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea paßt. Die ver­ant­wort­li­che Hand mag bei den er­sten Ar­bei­ten im Stun­den­buch der Marguerite de Foix mit­ge­wirkt ha­ben.76 Von ei­ner vier­ten Hand hin­ge­gen stam­men alle Mari­en- so­wie die mei­sten Kin­der- und En­gels­köp­fe, das gilt so­gar für das Ver­kün­di­gungs­bild vom Bed­ford-Mei­ster und die Mond­si­chel-Ma­don­na vom Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea. De­ren Chri­stus­kind läßt er­ken­nen, daß der Mei­ster des Jou­ve­nel des Urs­ins hier ein­ge­grif­fen hat.77 Ich hat­ te den im Loire­ge­biet tä­ti­gen Ma­ler viel­leicht et­was zu ent­schie­den von Pa­ri­ser Trends sei­ner Zeit ab­ge­setzt; Avril sah ihn hin­ge­gen vage im Fahr­was­ser des Du­nois-Mei­sters.78 Ster­ling wie­der­um hat­te 1990 im zwei­ten Band sei­ner Pa­ri­ser Ma­le­rei 1300-1500 die von mir an der Loire an­ge­sie­del­te Stil­fol­ge von Jou­ve­nel-Mei­ster und Mei­ster des Gen­fer Boccaccio ganz nach Pa­ris ver­setzt und mit den dort do­ku­men­ta­risch be­leg­ten Ma­ler­na­ men An­dré d’Ypres und Co­lin d’Ami­ens ver­bun­den.79

76

Lon­don, Victo­ria & Al­bert Mu­se­um, Sal­ti­ng Ms. 1222: Watson I, Nr. 53

77 Des­sen re­la­tiv kur­zes Auf­tre­ten von den 1430er bis in die 1450er Jah­re be­han­delt mein Buch von 1982; Avril und Reynaud ha­ben im Pa­ri­ser Aus­st.-Kat. 1993 das dort um­ris­se­ne Bild von der Lo­ka­li­sie­rung her un­ter dem Ti­tel L’An­jou, le Maine et le Poitou (S.105-127) mo­di­fi­ziert; mit ent­schie­de­ner Ten­denz zu re­la­tiv spä­ten Da­tie­run­gen; de­nen wi­der­spricht je­doch das in­z wi­schen zu­gäng­li­che Stun­den­buch der Je­an­ne de France (NAL 3244 der BnF), das in die 1440er Jah­re ge­hört: Kö­nig 1982, S. 245-249; Fran­çois Avril, Le Livre d’heu­res de Je­an­ne de France,in: art de l’enlumi­nure 47, 2013; Phil­ippe Co­nt­ami­ne und Ma­rie-Hélène Tesnière, Je­an­ne de France, du­chesse de Bour­bon, et son livre d’heu­res, in: Mo­nu­ments Piot 92, 2013, S. 1-65; zu­letzt Ma­rie-Hélène Tesnière, Le Livre d’heu­res de Je­an­ne de France, Pa­ris 2015. 78

So schreibt Avril über den Jou­ve­nel-Mei­ster in sei­nem Aus­st:-Kat: Fouquet 2003, S. 169: „C’est un art­iste de tran­sit­ion qui, tout en s’ins­cri­vant dans le sil­la­ge du Maître de Bed­ford et de ses émules pa­ris­iens, s’est néanmo­ins mis à l’éco­ute du nouveau style na­tu­ra­li­ste developpé dans les Flan­dres….“ und auf S. 416: „…encore prof­ondément im­prégné des co­ncept­ions plast­iques très gothiques des enlu­mi­ne­urs pa­ris­iens de la mouvance Bed­ford…“

79

Ster­ling II , 1990, S. 76-175.

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Rosenberg Ms. 4, Totenbild (Meister des Bartholomäus Anglicus)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 80, Nr. 12, fol. 178: Totenbild (Conrad von Toul)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 80, Nr. 12, fol. 129v (Conrad von Toul)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Rosenberg Ms. 4: Pfingsten (Meister des Bartholomäus Anglicus)

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Einleitung

So nahe wie hier kommt der Jou­ve­nel-Mei­ster Pa­ri­ser Buch­ma­lern sonst nie. Sein Ein­ satz in die­sem Buch könn­te zu den Fäl­len ge­hö­ren, in de­nen wie in un­se­rem Prov­ost-Stun­ den­buch bis hin zu Jean Co­lombes Stun­den­buch des Lou­is de Laval wich­ti­ge Ge­sich­ter be­ wußt leer­ge­las­sen wur­den, weil eine an­de­re Hand sie voll­en­den soll­te. 80 Da­ge­gen spricht aber das Al­ter der Be­tei­lig­ten; denn ein in sol­cher Wei­se be­vor­zug­ter Ma­ler wird kaum der jüng­ste von al­len ge­we­sen sein. Des­halb hat man die Ar­beit wohl zu­nächst un­voll­en­ det ab­ge­bro­chen. Der Ge­gen­satz von Buch­ma­le­rei aus Pa­ris und dem Loire­tal wird dann mit ei­nem Wech­ sel der Auf­trag­ge­ber ein­her­ge­gan­gen sein. Die Zu­sam­men­ar­beit der bei­den Haupt­ma­ler deu­tet auf den en­ge­ren Um­kreis des Her­zogs von Bed­ford, der bei­de 1431 mit den ganz­ sei­ti­gen Mi­nia­tu­ren in dem nach ihm ge­nann­ten Lon­do­ner Stun­den­buch be­traut hat­te. Als eng­li­scher Gou­ver­neur re­si­dier­te er zu­nächst in Pa­ris und zog sich dann nach Rouen zu­rück, wo er 1435 starb. We­gen der Pro­mi­nenz des se­li­gen Pe­ter von Lu­xem­burg und auf­grund ei­nes ein­deu­ti­gen Wap­pens im Mat­thä­us­bild kom­men am ehe­sten Mit­glie­der der Fa­mi­lie Lu­xem­burg, ent­we­der Jo­hann, Ba­stard von Lu­xem­burg, oder Ja­cquette von Lu­xem­burg, die zwei­te Frau des Her­zogs von Bed­ford und spä­te­re Lady Rivers, in Fra­ ge. Bei der Rück­er­obe­rung von Pa­ris 1435 dürf­te das Buch in die Hän­de ei­nes kö­nigs­ treu­en Fran­zo­sen ge­langt sein, der sich we­gen der Kö­nigs­kro­ne im für ihn er­gänz­tem Rand­schmuck zu Karl VII . und zu­gleich we­gen der an meh­re­ren Stel­len auf­tau­chen­den Sta­chel­schwei­ne zum Haus Orlé­ans be­kannt hät­te. Da­mit be­gann eine letz­te Pha­se der Aus­ma­lung, die die­ses Stun­den­buch zu ei­nem der in­ter­es­san­te­sten Ma­nu­skrip­te aus dem zwei­ten Vier­tel des 15. Jahr­hun­derts mach­te. Die Er­gän­zun­gen der Bor­dü­ren stam­men näm­lich nicht aus dem en­ge­ren Jou­ve­nel-Kreis, son­dern vom Mei­ster des Bar­tho­lo­mä­us An­glicus, fr. 135-136 der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­ thek. Die­ser Künst­ler ge­hört eben­so wie der Jou­ve­nel-Mei­ster in die Nach­fol­ge des Mei­ sters der Marguerite d’Orlé­ans und da­mit ins Loire­tal oder, wie Ni­cole Reynaud mein­te, nicht weit da­von nach Le Mans. Sein ein­zi­ges Stun­den­buch81 stimmt in pa­ra­do­xer Wei­ se mit un­se­rer Hand­schrift über­ein; denn alle Text­sei­ten sind dort mit senk­rech­ten Bor­ dü­ren­strei­fen zu bei­den Sei­ten des Text­felds aus­ge­stat­tet, se­hen also heu­te noch so aus wie un­se­re Text­sei­ten, be­vor der Mei­ster des Bar­tho­lo­mä­us An­glicus die waa­ge­rech­ten Bor­dü­ren­strei­fen er­gänz­te. Wie stark den Mei­ster des Bar­tho­lo­mä­us An­glicus un­se­re Nr. 12 be­ein­druckt hat, be­ wei­sen zwei ent­schie­de­ne Rück­grif­fe auf ein­zel­ne Bil­der: Ex­akt wie­der­holt er die Ma­ria des Pfingst­wun­ders; noch sehr viel ent­schie­de­ner aber das gan­ze Bild zur To­ten-Ves­ per bis in die Dis­p o­si­ti­on der Grab­deckel. Dort er­setzt er je­doch die Got­tes­er­schei­nung 80 Sie­he un­ser Buch Das Prov­ost-Stun­den­buch. Der Mei­ster der Marguerite d’Orlé­ans und die Buch­ma­le­rei in An­gers (Il­lu­mi­na­tio­ nen. Stu­di­en und Mo­no­g ra­phi­en, hrsg. von Heri­bert Ten­schert, IV ), Ram­sen und Rot­thal­mün­ster 2002; Kö­nig und, ge­ra­de er­schie­nen, Sei­del 2017, S. 53-61. 81 ­Ms. 4 der New Yor­ker Samm­lung Alex­an­dre P. Ro­sen­berg: Aus­st.-Kat. New York 1982, Nr. 35; Frau Ro­sen­berg sei herz­lich ge­dankt, daß sie uns noch aus­g ie­big Ein­blick in das Man­usk­ript ge­währ­te.

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durch eine Va­ri­an­te, die er eben­falls aus un­se­rem Stun­den­buch kennt – Gott­va­ter im Krei­se der Se­ra­phim aus der Tau­fe Chri­sti. Da er sich so­mit auf Mi­nia­tu­ren be­zieht, die von zwei ver­schie­de­nen Ma­lern aus­ge­führt wur­den, dien­te ihm un­ser Ma­nu­skript selbst als Quel­le! Ein­drucks­vol­le Stun­den­bü­cher im spä­ten Bed­ford-Stil Ob­wohl der zu­nächst ver­ant­wort­li­che Künst­ler im Luxemburg-Stun­den­buch der Bed­fordMei­ster war, ge­ben die in der Text­hier­ar­chie nach­ge­ord­ne­ten Mi­nia­tu­ren die­ser pracht­ vol­len Hand­schrift ihr ei­gent­li­ches Ge­prä­ge; des­halb ha­ben wir die­ses Ma­nu­skript als Nr. 12 ins Zen­trum der hier prä­sen­tier­ten Wer­ke vom Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea ge­stellt. Doch ist nun noch ein­mal auf den Bed­ford-Stil zu­rück­zu­kom­men, des­ sen hi­sto­ri­sche Pro­ble­ma­tik schon zu Be­ginn un­se­rer Tour durch das frü­he 15. Jahr­hun­ dert an­ge­spro­chen wur­de. Im zwei­ten Vier­tel des Jahr­hun­derts stei­gen die Land­schaf­ten zwar noch im­mer tep­ pich­haft an; aber die Räu­me wir­ken wei­ter, vor al­lem weil sich fla­ches Land um ein­zel­ne hoch auf­ra­gen­de Fel­sen brei­tet. Wie beim Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea hat sich auch im Bed­ford-Kreis die neue Licht­fül­le durch­ge­setzt. Der Him­mel wird nun mit viel Weiß auf­ge­hellt; Sze­nen aus der Heils­ge­schich­te wer­den wei­ter­hin mit gol­de­nen Strah­ len aus dem Bo­gen­schei­tel gleich­sam un­ter Got­tes Leuch­ten ge­stellt; doch ver­schwin­det Me­tall: Sil­ber, das beim hier kurz ein­be­zo­ge­nen Mei­ster des Bar­tho­lo­mä­us An­glicus und bei Bart­hélemy d’Eyck eine spä­te Fas­zi­na­ti­on im Herr­schafts­be­reich der An­jou be­hält, wird in der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei nicht mehr ein­ge­setzt. Gold, wo es nicht Nimben oder auch grö­ße­re Flä­chen um die Gott­heit bil­det, be­schränkt sich auf Ge­wand­säu­me; nur sel­ten wird mit Pin­sel­gold geh­öht. Über den lan­gen Zeit­raum, in dem die Bed­ford-Werk­statt ar­bei­te­te, ver­wi­schen sich sti­ li­sti­sche Gren­zen, so daß per­sön­li­che For­men­spra­che nicht im­mer leicht zu er­ken­nen ist. Doch soll­te man sich nicht mit all­ge­mei­nen Flos­keln zu­frie­den ge­ben, die den Bed­fordStil als Pro­dukt ei­ner nicht ge­nau­er um­ris­se­nen Werk­statt be­zeich­nen. 82 Die Na­mens­ for­men um Hain­celin hel­fen nicht wei­ter, zu­mal sich nicht nur die Rouses, son­dern auch bei­spiels­wei­se Gre­gory Clark vor­stel­len kön­nen, daß Hain­celin de Haguenau und Je­han Hain­celin ein und der­sel­be Ma­ler war, der über ein hal­bes Jahr­hun­dert lang tä­tig war.83 Wer an­ge­sichts der un­über­sicht­li­chen Quel­len­la­ge mit er­hal­te­nen Wer­ken ar­gu­men­tiert, kann zwei Sti­le durch die Ge­gen­über­stel­lung der na­men­ge­ben­den Wer­ke in der Bri­tish Lib­rary, Add. Ms. 18850 und Yates Thompson Ms. 3 schei­den. Doch lie­gen fast zwei Jahr­zehn­te zwi­schen dem äl­te­ren, das ein paar Jah­re vor 1423 ent­stan­den ist und dann bis 1431 dem Her­zog von Bed­ford ge­hör­te, und dem jün­ge­ren. Die­ses sehr viel klei­ne­re, aber eben­falls un­ge­mein kost­ba­re Stun­den­buch war von An­fang an für Jean de Du­nois 82

Auf Dif­fe­ren­zie­rung ver­zich­tet bei­spiels­wei­se Je­nny Strat­ford in ih­rem an­son­sten sehr ver­dienst­vol­len Kom­men­tar des So­ bie­ski-Stun­den­buchs, Lu­zern 2017.

83

Rouse und Rouse 2000, II , S. 73-74; Clark 2016, S. 257-8.

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be­stimmt. Als Ba­stard von Orlé­ans ge­hör­te er zu den Geg­nern Bur­gunds, als Ge­folgs­ mann des Da­uph­ins hat­te er mit Je­an­ne d’Arc des­sen Krö­nung in Reims über­haupt mög­ lich ge­macht. In Pa­ris hat Du­nois ein sol­ches Buch erst nach der Wie­der­ein­nah­me der Stadt, also nach 1435 be­stel­len kön­nen. Wenn wir recht ha­ben und un­ser Lux­emburg-Stun­den­buch (Nr. 12) di­rekt mit den Er­eig­ nis­sen von 1435 zu tun hat, weil es von ei­nem Mit­glied des Hau­ses Lu­xem­burg aus der Entou­ra­ge des Her­zogs von Bed­ford be­stellt und dann un­voll­en­det lie­gen ge­blie­ben war, dann ge­ben die wun­der­ba­re Mi­nia­tu­ren zur Mari­en-Matutin und zu den Buß­psal­men, mit de­nen der Bed­ford-Mei­ster sei­nen Vor­rang be­haup­tet, ei­nen Ein­druck vom Stand sei­ner künst­le­ri­schen Ent­wick­lung in der Mit­te der 30er Jah­re. In un­se­rer Nr. 14, dem Na­nterre-Neu­fville-Stun­den­buch, hat nicht nur der Bed­ford-Stil die­ses Sta­di­um über­wun­ den. Of­fen­bar gilt das auch für den an die­sem Ma­nu­skript be­tei­lig­ten Du­nois-Mei­ster; da bei­der Zu­sam­men­ar­beit in die­sem Ma­nu­skript so eng ver­bun­den ist, daß es schwer fällt, jede Mi­nia­tur mit Ge­wiß­heit ei­nem der bei­den zu­zu­wei­sen, wird da­mit zu­gleich eine Da­tie­rung des na­men­ge­ben­den Du­nois-Stun­den­buchs, die in der Li­te­ra­tur zu­wei­ len bis um 1440 aus­ge­dehnt wird, ex­akt in die Zeit um 1435 be­stä­tigt; denn die Fest­le­ gung auf um 1440 trifft eher auf un­ser Na­nterre-Neu­fville-Stun­den­buch zu! Da­mit ist die­se Nr. 14 ein mu­ster­gül­ti­ges Bei­spiel ei­nes präch­ti­gen Pa­ri­ser Stun­den­ buchs aus dem zwei­ten Vier­tel des 15. Jahr­hun­derts, das für eine vor­neh­me Dame der Zeit (Ge­ne­viève de Na­nterre?) ge­schaf­fen wur­de, sei­nen bis­he­ri­gen Na­men aber ei­nem bi­blio­phi­len Kar­di­nal aus der Zeit Lud­wigs XIV. ver­dankt. Ob der Bed­ford- oder der Du­nois-Mei­ster die Haupt­ver­ant­wor­tung trug, läßt sich in die­sem Fall nicht mehr sa­ gen; denn mit der Ver­kün­di­gung und dem Da­vid­bild feh­len lei­der die bei­den Mi­nia­tu­ ren, die uns das ver­ra­ten könn­ten. Für die all­ge­mei­ne Kunst­ge­schich­te ent­hält die­ses Na­nterre-Neu­fville -Stun­den­buch zwei her­aus­ra­gen­de Bil­der mit weib­li­chen Hei­li­gen am Ende der Hand­schrift; sie wer­den ei­nem si­cher et­was jün­ge­ren Künst­ler ver­dankt, des­ sen Ver­traut­heit mit flä­mi­scher Kunst er­staunt, des­sen Iti­ne­rar aber im Dun­keln liegt. 84 Ein zwei­tes Stun­den­buch im spä­ten Bed­ford-Stil ist Nr. 15, des­sen Be­bil­de­rung durch­weg ein und die­sel­be Hand ver­rät. Die Pin­sel­füh­rung läßt ah­nen, daß es sich um ei­nen al­ten, ge­ra­de­zu grei­sen Ma­ler han­deln muß, des­sen Mo­to­rik nicht mehr sei­ner rei­fen Schaf­fens­ zeit ent­spricht. Da­bei be­ein­druckt aber wie bei an­de­ren Wer­ken hoch be­tag­ter Künst­ler zu­gleich, wie sou­ve­rän er ge­gen Nor­men ver­stößt. Ich bin nach reif­li­cher Über­le­gung zu der Über­zeu­gung ge­langt, daß es sich um den Bed­ford-Mei­ster selbst han­delt. Wäh­rend der Du­nois-Mei­ster oh­ne­hin kurz­wüchsige Fi­gu­ren mit run­den Köp­fen be­vor­zug­te, sich vor al­lem in sei­nem na­men­ge­ben­den Werk stär­ker dem Ein­fluß der alt­nie­der­län­di­schen Ta­fel­ma­le­rei öff­ne­te und dort so­gar Bild­mo­ti­ve Jan van Eycks in sei­ne Ar­bei­ten in­te­grier­ te,85 um in sei­nen spä­ten Wer­ken zu­neh­mend be­ru­hig­te Flä­chen zu ge­stal­ten, wird man 84 Sie las­sen an so her­vor­ra­gen­de und schon län­ger in der Li­te­ra­tur be­kann­te Mi­nia­tu­ren den­ken wie die Ma­don­na nach Jan van Eycks Ant­wer­pen­er Brun­nen­ma­don­na in San Ma­rino, Ms. HM 1100, fol. 182; sie­he Van Bu­ren 1999. 85

Faul­heit wird auf fol. 162 durch ei­nen Mann ver­kör­pert, der auf ei­nem Esel rei­tet und ein­ge­schla­fen ist; raf ­fi­niert wird da­bei das Män­ner­paar va­ri­iert, das auf Jan van Eycks Pa­ri­ser so­ge­nann­ter Rolin-Ma­don­na durch Zin­nen ei­ner Burg­mau­er auf eine

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es hier mit dem spä­ten Bed­ford-Mei­ster selbst zu tun ha­ben. Der hät­te dann aber fast ge­ nau­so­lan­ge ge­lebt wie sein Nach­fol­ger. So­mit kom­men wir zu dem Schluß: In ei­ner Zeit, da man auch in sei­ner Pa­ri­ser Werk­statt die neue Kunst der Al­ten Nie­der­län­der wahr­nahm, setz­te sich der grei­se Bed­ford-Mei­ ster be­harr­lich über neu­mo­di­sche Be­mü­hun­gen, Raum lo­gisch zu ge­stal­ten, hin­weg. Ihn in­ter­es­sier­te die Flä­che, die er mit er­staun­li­chen Schrä­gen glie­der­te. So hob er bei­spiels­ wei­se im Bild des Fried­hofs die Er­schlie­ßung der Bild­tie­fe auf und ließ den bü­ßen­den Da­vid in sei­ner Reue ge­ra­de­zu form­los wer­den, in­dem er alle An­for­de­run­gen an fein­ma­ le­ri­sche Tech­nik und säu­ber­li­che Or­ga­ni­sa­ti­on auf­gab, so daß ei­ni­ge ge­ra­de­zu er­grei­fen­ de Al­ters­wer­ke ent­stan­den. Aus dem Bed­ford- und Du­nois-Stil her­vor­ge­gan­ge­ne Buch­ma­ler Die Not­na­men, die man Künst­lern gibt, schrei­ben ih­nen in be­weg­ten Zei­ten wie der Time of War, mit der wir in die­sem Buch zu tun ha­ben, un­will­kür­lich Rol­len zu, die we­ der ih­rer Kunst noch ih­rem gan­zen Le­bens­weg ge­recht wer­den. Durch die­sen gan­zen Ka­ta­log be­schäf­tigt uns der Bed­ford-Mei­ster, des­sen voll­en­de­tes Haupt­werk nur drei Bild­sei­ten ent­hält, die der Ma­ler tat­säch­lich für den eng­li­schen Gou­ver­neur ge­schaf­fen hat. Al­les Üb­ri­ge war schon für ein Mit­glied des fran­zö­si­schen Kö­nigs­hofs fer­tig, ehe Pa­ ris in die Hän­de des Fein­des fiel; und den­noch bleibt der Not­na­me be­rech­tigt, weil der Pa­ri­ser Mei­ster tat­säch­lich den ehr­gei­zig­sten Auf­trag des Her­zogs über­nom­men hat­te: das Salis­bu­ry-Bre­vier, das bei Bed­fords Tod noch nicht sehr weit ge­die­hen war und un­ se­re Über­le­gun­gen zum Stil des Künst­lers um 1435 be­stä­tigt. 86 Das gan­ze Pro­blem wird durch die Iden­ti­fi­zie­rung mit Hain­celin de Haguenau auf den Punkt ge­bracht; denn sie be­ruht auf dem Bre­vier für den Da­up­hin Lou­is de Guyenne in Châ­teau­roux. Im Um­feld des Bed­ford-Mei­sters wer­den Buch­ma­ler faß­bar, de­ren Œuvre noch nicht aus­rei­chend er­forscht ist und die des­halb von ver­schie­de­nen Au­to­ren un­ter­schied­lich ge­ tauft wur­den. Das gilt für un­se­re Nr. 16: Mit Aus­nah­me des Da­vid­bil­des sind alle Bil­ der, die Me­dail­lons im Ka­len­der, die Bild-In­itia­le am Schluß und die gro­ßen Mi­nia­tu­ren zwei­fels­frei von ein und der­sel­ben Hand aus­ge­führt, die in vie­ler Hin­sicht der Bed­fordWerk­statt ver­pflich­tet ist und zur Ge­ne­ra­ti­on des Du­nois-Mei­sters ge­hört. Wer bei der Be­nen­nung des Ma­lers von un­se­rem Stun­den­buch aus­geht, or­tet es in ei­nem Stadt­vier­tel im XI . Pa­ri­ser Ar­ron­dis­se­ment, das noch in der Mo­der­ne nach der Fa­mi­lie Pop­in­court hieß. 87 Wer aber das schon frü­her im eng­li­schen Raum be­kannt ge­mach­te Stun­den­buch des Tho­mas Lord Hoo von 1444 zum Aus­gangs­p unkt nimmt, be­zieht sich nicht nur auf ein et­was grö­ße­res und mit 28 Mi­nia­tu­ren aus­ge­stat­te­tes Ma­nu­skript, das noch in Tex­ tura ge­schrie­ben ist, son­dern auf ei­nen ganz an­de­ren po­li­ti­schen und to­po­gra­phi­schen Brücke schaut; der grö­ße­re Mann im Ge­mäl­de ist je­ner, der in der Mi­nia­tur auf dem Esel ein­ge­schla­fen ist: Châtelet 2008, Abb. S. 22-23. 86 Pa­ris, BnF, latin 17294: Spencer 1977; Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, Nr. 3; Ster­ling I, 1987, S. 435-449. 87

In der Zeit, in der das Ma­nu­skript noch zur Samm­lung Beck ge­hör­te, wur­de es von Plo­tzek 1987, Nr 21, aus­ge­stellt und ge­ wür­digt.

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Raum. 88 Tho­mas Hoo war als Kanz­ler der Nor­man­die ein ho­her eng­li­scher Funk­tio­när; und sein Auf­trag an den Mei­ster läßt ver­mu­ten, daß der in Pa­ris ver­wur­zel­te Ma­ler so eng mit den Eng­län­dern ver­bun­den war, daß er ih­nen viel­leicht bis nach Rouen ge­folgt ist. Erst nach­dem auch Rouen und die Nor­man­die wie­der an die fran­zö­si­sche Kro­ne ge­fal­ len wa­ren, wird er nach Pa­ris zu­rück­ge­kehrt und für die dort pro­mi­nen­ten Pop­in­courts ge­ar­bei­tet ha­ben. Am be­sten er­kennt man den Pop­in­court- oder Hoo-Mei­ster an sei­nen zar­ten, zu­wei­len rüh­ren­den Frau­en­ge­sich­tern. Er ist ein be­gab­ter Land­schaf­ter und kann bril­lant mit Far­ ben um­ge­hen. Dem Bed­ford-Mei­ster ver­dankt er die Wir­kung von Blau und Gold bei Ma­ri­as Ge­wan­dung eben­so wie die schö­nen brei­ten mit Per­len be­setz­ten gol­de­nen Bor­ten von Chor­män­teln. Die Ver­kün­di­gung von rechts, die fei­nen sil­ber­nen Fen­ster, die Dich­te des Fi­gu­ren­re­li­efs – all das hat er bei dem äl­te­ren Pa­ri­ser Ma­ler ken­nen­ge­lernt. Auf ei­gen­tüm­li­che Wei­se blei­ben in der Kunst die­ses Ma­lers wie auch im Rand­de­kor sei­ ner Hand­schrif­ten al­ter­tüm­li­che Züge er­hal­ten: So greift er in den bei­den Bil­dern der Kreu­zi­gung im Pop­in­court-Stun­den­buch zwei ver­schie­de­ne Stil­stu­fen auf: In der „Klei­ nen Kreu­zi­gung“ zur Matutin der Horen kom­bi­niert er das be­reits um 1410 be­lieb­te Ka­ro­mu­ster mit best­irntem Blau; daß sei­ne Mi­nia­tur erst um die Jahr­hun­dert­mit­te ent­ stan­den sein kann, merkt man nur an der man­gel­haf­ten Ab­gren­zung bei­der Sphä­ren, die so in der äl­te­ren Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei un­mög­lich ge­we­sen wäre. Hin­ge­gen ver­mag er den volk­rei­chen Kalv­ari­en­berg vor ei­nen hel­len Him­mel zu stel­len, der sich über ei­ner fer­nen Stadt­land­schaft er­hebt. In sei­nen Land­schaf­ten setzt der Ma­ler zur Raum­ord­nung Wege und Flüs­se, vor al­lem aber Baum­rei­hen ein. Der stei­le An­stieg sei­ner Mi­nia­tu­ren zu er­staun­lich ho­hem Ho­ri­ zont ist si­cher noch ganz dem Bed­ford-Mei­ster selbst ver­pflich­tet. Doch ist des­sen gern ein we­nig ma­le­ri­sche Mal­wei­se nun ab­ge­löst durch ei­nen zu­wei­len ge­ra­de­zu pas­t o­sen Fa­ rb­auf­trag, ins­be­son­de­re bei dem gern dick auf­ge­tra­ge­nen Gold, das zu Höhung und Be­ le­bung dient. Wie zu­wei­len in der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei zu be­ob­ach­ten ist, hat die­ser Mei­ster ei­nem Kol­ le­gen ein wich­ti­ges Bild über­las­sen: Der Be­ginn der Buß­psal­men wur­de von ei­nem Ma­ler ge­stal­tet, den wir schon in ei­nem Pa­ri­ser Heils­spie­gel ken­nen ge­lernt ha­ben:89 Sein durch­ weg mit Pa­ris ver­bun­de­nes Œuvre un­ter­streicht noch ein­mal die auch von der Pro­ve­ni­ enz un­se­res Stun­den­buchs her na­he­lie­gen­de Lo­ka­li­sie­rung in die Haupt­stadt.90

88 Seit 1874 der Roy­al Irish Aca­demy in Du­blin, RIA MS 12 R 31: Wil­li­ams 1975; Yates Thompson I, Nr. 35; Plo­tzek 1983, Nr. 21. Wir ha­ben den Be­g riff Hoo-Mei­ster bis­her im­mer vor­ge­zo­gen, so im Fall des Stun­den­buchs des Gil­bert de Lafayette in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter I, 1989, Nr. 56, und für zwei Hand­schrif­ten in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter Neue Fol­ge IV, 2007, Nrn. 1213; Clark 2016, S. 291-295, nennt ihn eben­falls Hoo Ma­ster, mit Hin­weis auf Pop­in­court. 89

Samm­lung Re­na­te Kö­nig (De­pot im erz­bi­schöf­li­chen Mu­se­um Kolumba, Köln), Ms. 33. Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge III , Nr. 8; zu­letzt van Euw in Aus­st.-Kat. Köln 2001, Nr. 33

90 Er hat das am 4. Mai 1441 von Bertran de Beau­vau, ei­nem kö­nig­li­chen Kam­mer­her­ren in Pa­ris er­wor­be­ne fr. 541 der BnF aus­ge­malt.

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Kei­ne ent­spre­chen­den Di­men­sio­nen er­öff­nen sich an­ge­sichts un­se­rer Nr. 17, weil sich kei­ ne kon­kre­ten Hin­wei­se zu den Auf­trag­ge­bern er­ken­nen las­sen: Die Mi­nia­tu­ren ste­hen zwi­schen dem Bed­ford-Ate­lier und je­nen neu­en Stil­rich­tun­gen, die sich um 1440 in Pa­ ris durch­setz­ten, um dann schließ­lich in der Ge­stalt des Mei­sters des Harley-Froiss­arts so­gar ent­schei­dend auf flä­mi­sche Buch­ma­le­rei zu wir­ken. Die ein­zel­nen Per­sön­lich­kei­ten sind nicht leicht zu fas­sen. So fin­det man un­se­ren Ma­ler un­ter je­nen, die mit dem Bed­ ford-Mei­ster und dem Du­nois-Mei­ster für den Her­zog von Bed­ford am Salis­bu­ry-Bre­vier latin 17294 der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek mit­ge­ar­bei­tet ha­ben. Ca­therine Reynolds hat ei­nen Steph­anus-Ma­ler de­fi­niert und ist da­bei von ei­ner dor­ti­gen Mi­nia­tur zu den Re­li­ qui­en des Erz­mär­ty­rers (fol. 529v) aus­ge­gan­gen. Die Be­zeich­nung ei­nes an­ony­men Mei­sters nach ei­nem sol­chen im Rie­sen­ma­nu­skript ver­steck­ten ein­zel­nen Bild ist un­glück­lich, weil sie aus­for­mu­liert schon viel zu kom­pli­ ziert ist, müß­te man doch vom Mei­ster der Mi­nia­tur zu den Steph­anus-Re­li­qui­en im Salis­ bu­ry-Bre­vier für den Her­zog von Bed­ford spre­chen. Bes­ser scheint es uns, ei­nen Auf­trag zur Grund­la­ge zu neh­men, der selb­stän­dig von dem Künst­ler er­le­digt wur­de: Die be­ste Ar­beit sei­ner Hand, in der man sie schlüs­sig er­ken­nen kann, ist ein Pa­ri­ser Bre­vier, das mit der Samm­lung Brot­her­ton in die Uni­ver­si­täts­bi­blio­thek Lee­ds ge­langt ist: In die­ser zwei­spal­tig ge­schrie­be­nen Hand­schrift recht statt­li­chen For­mats aus der Zeit um 1450 ist der Künst­ler auf sich ge­stellt und ver­mag in den wei­ten Räu­men sei­ne an­mu­ti­gen Fi­ gu­ren auf eine für die Zeit fort­schritt­li­che Wei­se in schlich­ten von Licht durch­flu­te­ten Land­schaf­ten un­ter­zu­brin­gen. Da­bei schwin­gen im­mer noch ge­ra­de­zu ana­chro­ni­stisch Er­in­ne­run­gen an die Pa­ri­ser Ma­le­rei des frü­hen 15. Jahr­hun­derts mit, wenn bei­spiels­ wei­se klei­ne Bäum­chen im Vor­der­grund beim Ein­stieg ins Bild für eine ge­wis­se Di­stanz sor­gen sol­len.91 Das Tem­pe­ra­ment die­ses Ma­lers ist ver­hal­ten. Mit rüh­ren­der Un­schuld blicken Ge­stal­ ten wie Ga­bri­el und die Jung­frau in der Ver­kün­di­gung. Die Sze­ne spielt in ei­nem knapp be­mes­se­nen Raum, der wie bei den Nach­fol­gern des Bed­ford-Mei­sters üb­lich durch ein bild­par­al­lel ge­spann­tes Tuch mit bun­tem Mu­ster nach hin­ten ab­ge­schlos­sen wird. Hier prangt dar­über noch der tra­di­tio­nel­le Mu­ster­grund aus Gold, Blau und Rot, si­cher ein Zei­chen für die recht frü­he Ent­ste­hung des Bu­ches, etwa zu je­ner Zeit, als die am schließ­ lich un­voll­en­de­ten Salis­bu­ry-Bre­vier be­tei­lig­ten Künst­ler durch den Tod des Her­zogs von Bed­ford 1435 ih­ren Auf­trag­ge­ber ver­lo­ren hat­ten. Der Kreis der Künst­ler, die auf ei­nem ähn­li­chen Ni­veau wie der Du­nois-Mei­ster aus dem Bed­ford-Stil her­vor­ge­gan­gen sind, schließt sich mit ei­nem Buch­ma­ler, der Pa­ris eine Wei­le nach dem Ab­zug der Eng­län­der in eine ganz an­de­re Rich­tung ver­las­sen soll­te, um 91

Die­ser Brot­her­ton-Mei­ster ist nicht iden­tisch mit dem „Pa­ris Pain­ter of the Lee­ds Brot­her­ton 1 Evan­ge­lists“, den Clark 2016, S. 306 aus der Tau­fe ge­ho­ben hat. Uns geht es um das Miss­ale, sie­he: John Alex­an­der Syming­ton, The Brot­her­ton Lib­rary. A Ca­talogue of An­cient Man­uscripts and Early Prin­ted Books, Co­llected by Ed­ward Al­len, Ba­ron Brot­her­ton of Wake­field, Lee­ds 1931, S. 16-19. Von der Hand un­se­res Mei­sters ist auch Ms. Lud­wig IX 6, heu­te im Getty Mu­se­um, Los An­ge­les, vgl. Plo­ tzek 1982, S. 103-114, mit Abb. 91-110, hier noch dem Bed­ford-Mei­ster selbst ge­ge­ben, so­wie Fit­z william Mu­se­um, Ms. 81, mit fünf Mi­nia­tu­ren von sei­ner Hand (vgl. Aus­st.-Kat. Cam­bridge Il­lu­mi­nat­ions, 2006, Nr. 90, mit Fa­rb­ab­bil­dung). Kö­nig 1991 (für den Mei­ster des Étienne Sau­de­rat).

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Einleitung

in die süd­li­chen Nie­der­lan­de, wohl nach Brügge zu ge­hen, wo er für den Bur­gun­der­her­ zog, für Gruuthuse und schließ­lich den dort im Exil le­ben­den eng­li­schen Kö­nig Ed­ward IV. aus dem Hau­se York mo­nu­men­ta­le Hand­schrif­ten be­bil­dern soll­te. Noch in Pa­ris ent­stand Num­mer 18, ein sel­te­nes Bei­spiel für ein Pa­ri­ser Stun­den­buch, das von ei­nem Il­lu­mi­na­tor aus­ge­malt wur­de, den man haupt­säch­lich aus pro­fa­nen Brüg­ger Hand­schrif­ ten kennt. Be­kannt wur­de er durch ein po­pu­lä­res Bil­der­buch mit Mi­nia­tu­ren aus dem Froiss­art für Phil­ippe de Co­mmynes, Harley 4380 der Bri­tish Lib­rary.92 Als Mei­ster des Harley-Froiss­art93 ver­tritt er eine gern über­se­he­ne Ten­denz: Wäh­rend man im­mer wie­ der dar­auf hin­weist, wie stark die Pa­ri­ser Kunst von frem­den Ein­flüs­sen be­stimmt ist, ver­ gißt man gern, daß Künst­ler eben­so­gut aus der Me­tro­po­le in den Nor­den ge­hen moch­ten. Ana­log zum 1481/82 ver­stor­be­nen Wil­lem Vrelant, des­sen Brüg­ger Buch­ma­le­rei sich, wie Fa­rquhar 1974 dar­ge­legt hat, aus Pa­ris und Rouen her­lei­ten läßt, stammt der HarleyFroiss­art-Stil aus dem Um­feld des Du­nois-Mei­sters, also der Pa­ri­ser Bed­ford-Tra­di­ti­on. Das Auf­tau­chen die­ses wun­der­ba­ren klein­for­ma­ti­gen Stun­den­buchs in ei­nem un­se­rer Ka­ta­lo­ge bringt uns in ei­nen ge­wis­sen Kon­flikt; denn es ver­langt die Aus­ein­an­der­set­zung mit ei­ner er­staun­li­chen Ent­deckung zu die­sem Stil, die Pas­cal Schan­del 2011 ge­lun­gen ist: Al­les, was die Quel­len über Phil­ippe de Mazer­ol­les, den 1479 in Brügge ver­stor­be­ nen Hof­ma­ler Karls des Küh­nen von Bur­gund, er­ken­nen las­sen, deu­tet dar­auf hin, daß nie­mand an­ders als die­ser 1454 in Pa­ris und dann 1467 als Valet de cham­bre in Charolais do­ku­men­tier­te Ma­ler und Buch­ma­ler den Froiss­art für Co­mmynes und die ent­schei­ den­den Wer­ke für Karl den Küh­nen und Ed­ward IV. von Eng­land ge­schaf­fen hat. Nun hat­ten Mara Hof­mann und Ina Net­te­koven im vor­züg­li­chen 4. Band un­se­rer Se­rie Il­lu­ mi­na­tio­nen 2004 über­zeu­gend dar­ge­legt, daß sich hin­ter dem Na­men Mazer­ol­les94 ein künst­le­risch stär­ke­rer Cha­rak­ter ver­ber­gen könn­te: der Mei­ster von Fit­zwilliam 26895, von dem wir sei­ner­zeit ein un­er­hört schö­nes Stun­den­buch als un­be­kann­tes Haupt­werk prä­sen­tie­ren konn­ten.96 Nun spre­chen Quel­len von 1466 bis 1468 von ei­nem in Gold und Sil­ber gemalten Schwar­ zen Stun­den­buch, das der Brüg­ger Freie, eine be­deu­ten­de städ­ti­sche In­sti­tu­ti­on,97 beim Gold­schmied Marc le Bon­geteur 1466 er­wor­ben hat­te, um es Karl dem Küh­nen zu­zu­eig­ nen.98 Der aber hat­te dann selbst für die Il­lu­mi­nie­rung zu sor­gen, die 1467 bei „Phil­ippe de Ma­se­re­ulle“ be­stellt und am 11. Sep­tem­ber 1467 be­zahlt wur­de. Statt die­ses Werk mit 92

Aus­st.-Kat. Lon­don 2003, Nr. 68; ein vor­züg­li­ches Bil­der­buch mit Mi­nia­tu­ren dar­aus: Ge­orge Gor­don Co­ul­ton, The Chronicler of European Chivalry (Froiss­art and his Chronicles), Lon­don 1930.

93 ­Ei­nen aus­ge­zeich­ne­ten Aus­gangs­p unkt gibt Scot McKendrick im Aus­st.-Kat. Los An­ge­les und Lon­don 2003, S. 261-2, mit ei­nem wich­ti­gen Hin­weis auf Phil­ippe de Mazer­ol­les in Anm. 4 Aauf S. 262. 94 ­Den be­sten Über­blick zu den Quel­len ge­ben Hof­mann und Net­te­koven 2004, S. 94-100; grnd­le­gend war An­toine de Schryver, L’œuvre au­thentique de Phil­ippe de Mazer­ol­les, enlumi­neur de Charles le Téméra­ire, in: Cinq-cent­ième an­ni­versa­ire de la batail­le de Nan­cy 1477, Actes du co­lloque, Nan­cy 1979, S. 135-144. 95

Aus­st.-Kat. Los An­ge­les und Lon­don 2003, Nr. 53.

96 Hof­mann und Net­te­koven 2004. 97 Der Sitz die­ser In­sti­tu­ti­on ist mit ei­nem be­mer­kens­wer­ten Ge­bäu­de auf dem Brüg­ger Burg­platz er­hal­ten. 98 Die wich­tig­sten Quel­len zu­letzt in Aus­st.-Kat. Pa­ris 2011, S. 295.

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Einleitung

dem er­hal­te­nen Schwar­zen Ge­bet­buch in Wien, cod. 1856, zu iden­ti­fi­zie­ren, emp­fiehlt sich ein Dop­pel­blatt im Lou­vre als die wich­tig­ste Spur: Dort stam­men die Bild­inti­ale zur To­ten­ves­p er und die Rand­me­dail­lons vom Mei­ster des Harley-Froiss­art.99 Bei­de Stil­grup­pen tref­fen auf­ein­an­der bei den Aus­ga­ben der Mi­li­tär-Or­don­nanz Karls des Küh­nen von 1473, für die Phil­ippe de Mazer­ol­les 1475 ent­lohnt wur­de. Von her­aus­ra­ gen­der Qua­li­tät ist das Lon­do­ner Ex­em­plar Add. Ms. 36619, das wohl für den Her­zog selbst be­stimmt war;100 des­sen Front­ispiz mal­te der Mei­ster von Fit­zwilliam 268, also so­zu­sa­gen un­ser Mazer­ol­les, wäh­rend alle an­de­ren von Schan­dels Mazer­ol­les aus­ge­führt wur­den. Die gro­ße Dis­kre­panz zu den schlich­ten Bild-In­itia­len im üb­ri­gen Be­stand101 er­klärt Schan­del so: Aus­ge­rech­net als Hof­ma­ler des Her­zogs habe Mazer­ol­les für das auf­wen­di­ge Front­ispiz im wich­tig­sten Ex­em­plar der Or­don­nanz ei­nen bril­lan­te­ren Kol­ le­gen ein­ge­setzt. Daß die­ser Ge­dan­ke nicht ab­we­gig ist, be­weist eine letz­te Quel­le: Kurz vor sei­nem Tod er­hielt Mazer­ol­les 1479 eine gro­ße Zah­lung von Ed­ward IV . bei des­sen zwei­tem Exil in den Nie­der­lan­den für Fo­lio-Bän­de, die den ei­gent­li­chen Kern­be­stand an flä­mi­schen Hand­schrif­ten in eng­li­schem Kö­nigs­be­sitz bil­den.102 Vom Mei­ster des Harley Froiss­art be­bil­dert wur­de nur Roy­al 16 G ix; doch sind sie ein­heit­lich im Stil des Harley Froiss­art il­lu­mi­niert, er­hiel­ten ihre gro­ßen Mi­nia­tu­ren aber von un­ter­schied­li­chen jün­ge­ren Hän­ den. An­ge­sichts die­ser un­er­war­tet schlüs­si­gen Ar­gu­men­ta­ti­on fällt der Mei­ster von Fit­ zwilliam 268 in die An­ony­mi­tät zu­rück, der Ma­ler un­se­res Stun­den­buchs aber er­hiel­te mit Phil­ippe de Mazer­ol­les den Na­men ei­nes we­nig­stens 1454 in Pa­ris do­ku­men­tier­ten Künst­lers, der sei­ne Ver­si­on des spä­ten Bed­ford-Stils in den Nie­der­lan­den zu ei­ner un­ ge­mein de­ko­ra­ti­ven Buch­ma­le­rei fort ent­wickeln soll­te. Was hier vor­liegt, ist ein voll­stän­dig er­hal­te­nes Pa­ri­ser Stun­den­buch von ele­gan­tem klei­ nen For­mat; die Bil­der zeu­gen von ei­nem der be­mer­kens­wer­te­sten Künst­ler, die in ei­ner Zeit, da die Haupt­stadt all­zu gern Ten­den­zen aus dem Nor­den auf­nahm, sei­ner­seits Pa­ ri­ser Kunst in die Nie­der­lan­de brach­te: vom Mei­ster des Harley-Froiss­art. Un­ab­hän­gig von der viel­leicht dann doch strit­ti­gen Na­mens­fra­ge las­sen Text und Ge­stal­tung kei­nen Zwei­fel an der Tat­sa­che, daß die hier be­schrie­be­ne Hand­schrift das Pa­ri­ser Stun­den­ buch um 1450 bril­lant re­prä­sen­tiert.

99 Pa­ris, Lou­vre, Département des Arts graphiques, MI 1091: Ilo­na Hans-Col­las und Pas­cal Schan­del, Man­uscrits enluminés des an­ciens Pays-Bas méridionaux. I. Man­uscrits de Lou­is de Bru­ges, Pa­ris 2009, S. 174-6; Schan­del in Aus­st.-Kat. Pa­ris 2011, Nr. 156, mit voll­stän­di­ger Abb. der er­hal­te­nen Dop­pel­sei­te auf S. 296-7. 100 Aus­st.-Kat. Los An­ge­les und Lon­don 2003, Nr. 64. 101 ­Fünf der zwan­zig sind er­hal­ten in Den Haag, Ko­pen­ha­gen, Mün­chen, Pa­ris und Wien, dar­un­ter der Münch­ner cod. gall. 18 und das Pa­ri­ser ms. fr. 23963. 102 Roy­al 14 E i-ii, 14 E iv-vi, 15 E i, 16 G ix, 17 F ii-iii, 18 D ix-x, 18 E iii-viv, 19 E i und 19 E v: Aus­st.-Kat. Lon­don 2011, in dem Scot Mc Kendrick je­doch nicht noch ein­mal auf Mazer­ol­les zu­rück­kommt.

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 80, Nr. 19, fol. 174v (Coëtivy-Meister)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 68, Nr. 20, fol. 107 (Coëtivy-Meister)

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Ein alt­an­säs­si­ger Ma­ler gibt ei­nem Frem­den eine Chan­ce: An­fän­ge des Co­ëtivy-Mei­sters Künst­le­ri­scher Wan­del voll­zog sich im Pa­ris der Spät­go­tik nicht so ab­rupt, daß äl­te­re Sti­le voll­stän­dig ver­drängt wor­den wä­ren. Zu­wei­len ste­hen un­ver­söhn­lich kon­kur­rie­ren­ de Kon­zep­te von Buch­ma­le­rei in ei­ner Hand­schrift wie un­se­rer Nr. 19 ne­ben­ein­an­der, ohne daß ir­gend­ei­ne sti­li­sti­sche Ver­bin­dung zu er­ken­nen ist: Den Ma­ler, der hier un­er­ hör­te Bril­lanz be­weist, nennt man Co­ëtivy-Mei­ster nach dem Stun­den­buch des Olivier de Co­ëtivy und der Marguerite de Valo­is in Wien, das zwi­schen 1438 und 1473 ent­stan­den ist.103 Die Vor­lie­be für Her­me­li­ne in den Bild­bor­dü­ren un­se­rer Nr. 19 deu­tet ei­nen bre­ to­ni­schen Be­zug an; es könn­te sich also ne­ben Olivier de Co­ëtivy um ei­nen zwei­ten Bre­ to­nen un­ter den Auf­trag­ge­bern han­deln. Der künst­le­ri­schen Wucht bei­spiels­wei­se der Bil­der im Mari­en-Of ­fi­zi­um kann der an­ de­re Ma­ler nur sei­ne Tra­di­ti­on ent­ge­gen­set­zen, ver­tre­ten sei­ne Mi­nia­tu­ren doch noch im­mer eine um die Mit­te des 15. Jahr­hun­derts für die Pa­ri­ser Kunst cha­rak­te­ri­sti­sche Ma­nier. Ähn­lich blei­che In­ka­rn­ate kennt man vom Du­nois-Mei­ster und vom Mei­ster des Harley-Froiss­art. Der da­für Ver­ant­wort­li­che wur­de erst 1991 im Stun­den­buch der Marguerite d’Orlé­ans iden­ti­fi­ziert, wo er die letz­ten Er­gän­zun­gen ge­malt hat.104 Als Mei­ster des Étienne Sau­de­rat habe ich ihn nach ei­nem Livre des Pro­priétés des choses be­nannt, das 1447 Étienne Sau­de­rat, ein Schrei­ber aus Au­xerre, an­ge­legt hat.105 Auf­ trag­ge­ber war ein Jean de Chalon aus je­ner Fa­mi­lie, die 1370 die Graf­schaft Au­xerre an die fran­zö­si­sche Kro­ne ver­kauft hat­te. Daß Schrei­ber und Ma­ler in Pa­ris an­säs­sig wa­ren, be­legt das Werk, von dem aus sie be­stimmt wer­den. Die et­was trocke­ne Ar­beits­wei­se des Sau­de­rat-Mei­sters er­kennt man so­fort auf der er­sten Sei­te des Text­blocks; dort sind Sze­nen aus der Jo­han­nes-Le­gen­de in die Bor­dü­re ein­ge­malt. An an­de­ren Stel­len fin­den sich ein­zel­ne Hei­li­ge im Rand­schmuck; auch sie sind von die­sem noch nicht all­zu klar um­ris­se­nen Künst­ler. Wäh­rend man des­halb zu­nächst den Ein­druck ge­win­nen könn­te, die­se eher schlich­te Hand habe sich ne­ben dem ge­nia­len Mi­nia­tu­ren­ma­ler nur als Il­lu­mi­na­tor be­haup­ten kön­nen, so zeigt das Da­vid­bild, daß der Sau­de­rat-Mei­ster hier wohl von Vor­rech­ten Ge­ brauch mach­te, die ihm den Zu­griff auf die wich­tig­sten Mi­nia­tu­ren si­cher­ten. Doch fehlt heu­te lei­der die Ver­kün­di­gung, die viel­leicht be­stä­tigt hät­te, daß der Mei­ster des Étienne Sau­de­rat in tra­di­tio­nel­ler Wei­se den Auf­trag do­mi­nier­te, da­für aber ei­nem jün­ge­ren und sehr viel ge­nia­le­ren Buch­ma­ler er­mög­lich­te, frem­de Qua­li­tä­ten in hin­rei­ßen­den Mi­nia­tu­ ren zu ent­fal­ten. Daß der in Pa­ri­ser Tra­di­tio­nen ver­haf­te­te Buch­ma­ler ge­gen­über den Auf­ trag­ge­bern die Ver­ant­wor­tung trug, be­weist das Bild der Be­te­rin ne­ben der hei­li­gen Mar­

103 Wien, ÖNB , Cod. 1929: Dur­rieu 1921; Pächt und Thoss I, 1974, S. 29-32, mit Abb. 32-41; Net­te­koven 2004, pas­sim; Net­ te­koven in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge IV, 2007, S. 239-244. 104 Pa­ris, BnF, latin 1156B: Kö­nig 1991, S. 49-53. 105 Ami­ens, Bibl. mun., ms. 399: Kö­nig 1991, Abb. 1.

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Einleitung

ga­re­te im Ker­ker: Ihre Ge­stalt war kom­po­si­ti­onell von vorn­her­ein ge­plant und ist in die sonst vom Co­ëtivy-Mei­ster ge­stal­te­te Mi­nia­tur vom Sau­de­rat-Mei­ster ein­ge­fügt wor­den. In der Ge­schich­te der Buch­ma­le­rei re­prä­sen­tiert Nr. 19 ei­nen hi­sto­risch ent­schei­den­den Mo­ment: Als ein cha­rak­te­ri­sti­sches Pa­ri­ser Stun­den­buch vom Mei­ster des Étienne Sau­ de­rat an­ge­legt, brilliert das Ma­nu­skript durch un­er­hört schö­ne und le­ben­di­ge Mi­nia­tu­ ren ei­nes Künst­lers aus dem Nor­den. Da kei­ne sti­li­sti­sche Ver­wandt­schaft zwi­schen den bei­den Be­tei­lig­ten be­steht, wirkt es, als habe ein Frem­der in ei­ner alt­ein­ge­ses­se­nen Pa­ri­ ser Werk­statt mit­ge­wirkt; das hie­ße, der Co­ëtivy-Mei­ster sei in Pa­ris ge­nau in der Zeit an­ge­kom­men, als un­se­re Nr. 19 ge­schaf­fen wur­de. Kon­tak­te zur Kunst des Nor­dens be­ schränk­ten sich nicht auf das, was Pa­ris alt­nie­der­län­di­schen Ma­le­ren ver­dank­te, son­dern sorg­ten auch da­für, daß Ein­fluß aus der fran­zö­si­schen Haupt­stadt dort spür­bar wur­de. So ver­blüfft in die­sem Stun­den­buch, daß der Co­ëtivy-Mei­ster in Frank­reich Bild­ge­dan­ ken for­mu­liert, wie sie erst ein we­nig spä­ter in Brügge und Gent auf­ge­grif­fen wur­den und bis ins 16. Jahr­hun­dert le­ben­dig blie­ben. Neu­es vom Co­ëtivy-Mei­ster Die An­nah­me, der Co­ëtivy-Mei­ster habe als ein Orts­frem­der in Pa­ris be­gon­nen und habe des­halb erst ein­mal bei ei­nem dort schon an­säs­si­gen Ma­ler un­ter­kom­men müßen, wi­der­spricht der seit der Pa­ri­ser Aus­stel­lung von 1993 weit­hin gän­gi­gen Sicht des Ma­ lers. Ni­cole Reynaud zu­fol­ge ver­tritt der Ma­ler näm­lich be­reits eine zwei­te Ge­ne­ra­ti­on von Künst­lern in Pa­ris, die zwar aus dem pik­ardischen Ami­ens und letz­ten En­des noch wei­ter im Nor­den aus dem heu­te zu Bel­gi­en ge­hö­ren­den Ypern stamm­ten, aber be­reits in der fran­zö­si­schen Haupt­stadt an­ge­sie­delt wa­ren. Reynaud zu­fol­ge be­gann die­se Fa­mi­lie in Pa­ris mit ei­nem Ma­ler, den Ster­ling 1990 als Mei­ster des Dreux Budé für ein ein­zel­nes Werk de­fi­niert hat­te; denn Dreux Budé (1396/99-1476), Se­kre­tär der Kö­ni­ge Karl VII . und Lud­wig XI . und Schwie­ger­va­ter je­nes Étienne Che­va­lier, für den Jean Fouquet ge­ar­ bei­tet hat, war der Auf­trag­ge­ber ei­nes in alle Welt ver­streu­ten Kreu­zi­gungs­t ri­pty­chons.106 Die Grenz­zie­hung zwi­schen den ein­zel­nen Werk­kom­ple­xen bleibt strit­tig; so wa­ren sich Ster­ling und Reynaud nicht ei­nig, wem das spek­ta­ku­lär­ste Pa­ri­ser Werk, das Ret­abel des Pa­ri­ser Par­la­ments aus den frü­hen 1450er Jah­ren, zu­zu­schrei­ben ist.107 Im Lou­vre bie­tet das Ne­ben­ein­an­der die­ser Ta­fel und der Auf­er­weckung des La­za­rus108 ei­nen Ge­gen­ 106 Ster­ling II , 1990, S. 50-71: Die Haupt­ta­fel im Getty-Mu­se­um, Los An­ge­les, der lin­ke Flü­gel vor kur­zem aus der Ber­li­ner Samm­lung Bi­schof vom Lou­vre er­wor­ben, der rech­te im Mus­ée Fa­bre. 107 Phil­ippe Lo­ren­tz und Mi­chel­ine Co­mblen-So­nkens, Mus­ée du Lou­vre, Pa­ris (Cor­pus des pein­tures des an­ciens Pays-Bas méridionaux et de la principauté de Liège au XVe siècle 19), Brüs­sel 2001, S. 81-132; Phil­ippe Lo­ren­tz, La Cruci­fix­ion du Par­lement de Pa­ris (Solo 29), Pa­ris 2004. Für Ster­ling II , 1990, S. 36-49, ist es ein Werk aus Tour­nai (viel­leicht Lou­is le Duc); für Reynaud stammt es vom Dreux-Budé-Mei­ster. Aus­st.-Kat. Primitifs français. Découvertes et redécouvertes, Pa­ris 2004, S. 92-102. Sie­he auch Scot McKendrick, The Ear­liest Repro­duct­ion of the Cruci­fix­ion of the Par­lement de Pa­ris?, in: Ca­ro­li­ne Zöhl und Mara Hof­mann, Von Kunst und Tem­pe­ra­ment, Fest­schrift Eber­hard Kö­nig, Tu­rnh­out 2007, S. 176-182. 108 ­Lou­vre: Das Ge­mäl­de war lan­ge Zeit ver­stüm­melt, ehe Ni­cole Reynaud als Kon­ser­va­to­rin das rech­te Ende mit Apo­steln und ei­ner knien­den Stif­te­rin er­wer­ben und wie­der mit der Ta­fel ver­ei­nen konn­te; bei Ster­ling II , 1990, Abb. 59, S. 74, wird das wie­der in­te­g rier­te Bild noch als „Lou­vre et co­llect­ion part­iculière“ be­zeich­net.

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Kat. 68, Nr. 20, fol. 92v (Coëtivy-Meister)

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Kat. 68, Nr. 20, fol. 195 (Coëtivy-Meister)

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Einleitung

satz, der tat­säch­lich er­laubt, zwei Künst­ler zu be­stim­men, die man am be­sten mit ih­ren Not­na­men be­läßt und als Mei­ster des Dreux Budé und der Co­ëtivy-Mei­ster an­spricht.109 Zur Nach­fol­ge des Co­ëtivy-Mei­sters ge­hört ein spek­ta­ku­lär win­zi­ges Stun­den­buch der Kö­ni­gin Anne de Bre­ta­gne; des­sen Ma­ler heißt in der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur der Maître des Très Pe­tit­es Heu­res d’Anne de Bre­ta­gne.110 Wer ihn hin­ge­gen nach sei­nem ge­wal­tig­sten Werk als Mei­ster der Apo­ka­lyp­sen­ro­se der Sainte-Cha­pel­le nennt, öff­net mit Ina Net­te­ koven den Blick über die Buch­ma­le­rei hin­aus; denn die­ser jün­ge­re Ma­ler hat ne­ben dem Co­ëtivy-Mei­ster die wich­tig­sten Glas­fen­ster in Saint-Séverin ge­stal­tet und dort auch ein schlecht er­hal­te­nes Wand­bild ge­malt. Selbst die Ein­horn­tep­pi­che im Pa­ri­ser ClunyMu­se­um und im New Yor­ker Me­tro­po­lit­an Mu­se­um wer­den ihm zu­ge­schrie­ben; sein wich­tig­stes Ar­beits­feld aber fand er im Pa­ri­ser Buch­druck ge­gen 1500.111 Da­mit über­ schrei­tet sei­ne Le­bens­zeit und sein Werk den Rah­men die­ses (er­sten) Ka­ta­logs von Pa­ ri­ser Stun­den­bü­chern. Für Ni­cole Reynaud und ihr fol­gend wei­te Krei­se der Li­te­ra­tur liegt heu­te eine kla­re Ab­ fol­ge drei­er In­divi­du­al­sti­le in drei Ge­ne­ra­tio­nen der­sel­ben Fa­mi­lie vor. Zu­nächst hat­te sie je­doch in der Re­vue de l’Art 1973 nur für die bei­den äl­te­ren Ma­ler ei­nen Na­men ge­sucht und da­bei, wie schon Dur­rieu 1927 ge­meint, zwei Brü­der aus der Fa­mi­lie Vulcop er­ken­ nen zu kön­nen, de­ren Tä­tig­keit nicht auf Pa­ris be­schränkt war. Mit der wach­sen­den Ein­ sicht, daß man es mit Künst­lern aus der Haupt­stadt zu tun hat, wuchs die Be­reit­schaft, eine dort an­ge­sie­del­te Fa­mi­lie zu su­chen, die in drei Ge­ne­ra­tio­nen nach­weis­bar ist. So setz­te Ni­cole Reynaud vor al­lem durch den Aus­stel­lungs­ka­ta­log von 1993 die Auf­fas­ sung durch, man habe es mit An­dré d’Ypres, Co­lin d’Ami­ens und Jean d’Ypres zu tun.112 Der Co­ëtivy-Mei­ster wäre Co­lin d’Ami­ens; doch die­sem Vor­schlag moch­te Ina Net­te­ koven, die sich mit der gan­zen Stil­tra­di­ti­on in ih­rer Dis­ser­ta­ti­on er­hel­lend aus­ein­an­der ge­setzt hat, nicht fol­gen; sie schlug statt des­sen eine Rück­kehr zu Dur­rieu vor und gab da­mit der Ver­bin­dung zu den Vulcops wie­der neu­es Ge­wicht. Be­rech­tig­te Zwei­fel an Reynauds Ab­fol­ge drei­er Ge­ne­ra­tio­nen hat neu­er­dings auch Car­men Decu Theo­dor­ escu in un­ver­öf­fent­lich­ten Vor­trä­gen un­ter­stützt.113 An die­ser Stel­le kann un­ser Be­fund zu Nr. 19 Klä­rung brin­gen: Wenn der Ma­ler schon die zwei­te in Pa­ris an­säs­si­gen Ge­ne­ ra­ti­on sei­ner Fa­mi­lie re­prä­sen­tiert hät­te, hät­te er nicht beim Sau­de­rat-Mei­ster an­heu­ern müßen, weil ihm ein Platz im Ate­lier des stil­ver­wand­ten Dreux Budé-Mei­sters si­cher ge­ we­sen wäre. Wenn man je­doch die bei­den an­ony­men Stil­grup­pen mit den bei­den Brü­ dern Vulcop, Hen­ry und Con­rad, ver­bin­det, wä­ren bei­de in Pa­ris etwa zur glei­chen Zeit fremd ge­we­sen. 109 Sie­he die Bei­trä­ge von Reynaud in Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, S. 53-69. 110 Pa­ris, BnF, NAL 3120 (Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, Nr. 143; sie­he dort auch S. 265-270). 111 Net­te­koven 2004 und in un­se­rem Ka­ta­log HORAE B. M. V. vor al­lem die Zu­sam­men­stel­lung der Bil­der­se­ri­en in Band IX , 2015: 11, S. 3938-50; 15, S. 3964-71; 16, S. 3972-74; 17, S. 3975-78, so­wie stil­ver­wand­te Zy­k len. 112 Sie­he auch oben Anm. 6. 113 So an­läß­lich ei­nes von Anne-Ma­rie Legaré und Phil­ippe Lo­ren­tz ge­lei­te­ten Kol­lo­qui­ums im Pa­ri­ser In­sti­tut na­tio­nal d’Histo­ ire de l’Art (INHA), das 2013 die For­schung der zwei Jahr­zehn­te seit der Aus­stel­lung von 1993 dis­ku­tier­te.

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Einleitung

Wir hat­ten schon frü­her die gro­ße Freu­de, Hand­schrif­ten mit Mi­nia­tu­ren des Co­ëtivyMei­sters prä­sen­tie­ren zu dür­fen. Im Ka­ta­log Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter Neue Fol­ge IV, 2007, lie­fer­te Ina Net­te­koven so­gar eine kur­ze Dar­stel­lung der Pro­ble­ma­tik und Be­schrei­bun­ gen zu drei Stun­den­bü­chern die­ser Hand.114 Dort wie in den nun hier be­schrie­be­nen Stun­den­bü­chern er­weist sich der Ma­ler als ein Mei­ster glei­cher­ma­ßen des In­te­rieurs wie der Land­schaft. In Nr. 20 hat ihn die Be­schrän­kung auf nur we­ni­ge Mi­nia­tu­ren viel­leicht dazu in­spi­riert, den De­tails grö­ße­re Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Die un­ge­mein fei­ne stri­cheln­de, oft punk­tie­ren­de Mal­wei­se zeich­net sei­ne Kunst hier eben­so aus wie das sehr zu­rück­hal­ten­ de und vor­neh­me Ko­lo­rit. Be­son­ders fällt der Sinn für sacht aus­ge­führ­te Schlag­schat­ ten auf. Das kommt die­sem Stun­den­buch zu­gu­te, des­sen Bild­aus­stat­tung auf ein in Pa­ ris sel­te­nes Min­dest­maß be­schränkt ist. Die Mi­nia­tu­ren va­ri­ie­ren in in­tel­li­gen­ter Wei­se Bild­vor­stel­lun­gen, die auch im nur frag­men­ta­risch er­hal­te­nen, etwa zur glei­chen Zeit ge­ schaf­fe­nen Wie­ner Ma­nu­skript zu fin­den sind. Da­bei er­staunt der Sinn für Licht und Raum­dar­stel­lung trotz der Schwä­chen in der per­spek­ti­vi­schen Kon­struk­ti­on. Ver­wandt­ schaft zu alt­nie­der­län­di­scher Ma­le­rei höch­ster Qua­li­tät prägt die Kom­po­si­tio­nen bis in De­tails; doch setzt sich das zar­te Ko­lo­rit un­se­res in Pa­ris tä­ti­gen Buch­ma­lers ent­schie­ den von der Bunt­heit der gro­ßen flä­mi­schen Ta­fel­ma­le­rei von Rogier van der Wey­den bis zu Hans Memling ab. Un­se­re Aus­wahl stei­gert sich bis zu Nr. 21, ei­nem Stun­den­buch für den in Pa­ris höchst un­ge­wöhn­li­chen Ge­brauch von Ren­nes; um den Ka­len­der und die Li­ta­nei hat man sich da­bei kaum ge­küm­mert; nur in den Suff­ragien tre­ten mit Her­vé und Méen zwei in der Haupt­stadt kaum be­kann­te Hei­li­ge auf. Das Ma­nu­skript ge­hört zu den schön­sten Wer­ ken des Co­ëtivy-Mei­sters, der sich dar­in un­be­strit­ten als ei­ner der be­sten Ma­ler und Buch­ma­ler des 15. Jahr­hun­derts in Pa­ris be­haup­tet; es ist voll­stän­dig und bril­lant er­hal­ ten. Zu­gleich ist das Buch wie­der ein Bei­spiel da­für, daß nicht nur der aus der Bre­ta­gne stam­men­de Olivier de Co­ëtivy, son­dern auch an­de­re Bre­to­nen in Pa­ris solch herr­li­che Bü­cher ha­ben aus­ma­len las­sen; um so be­dau­er­li­cher ist der Um­stand, daß ihre Wap­pen ge­tilgt wur­den. Fran­çois le Bar­bier Père und eine zwei­te Ge­ne­ra­tio­nen­fol­ge von Buch­ma­lern in Pa­ris Wäh­rend der Co­ëtivy-Mei­ster und die Stil­grup­pe, die ihn um­gibt, in der äl­te­ren Li­te­ ra­tur kaum eine ih­nen ge­büh­ren­de Rol­le ge­spielt ha­ben, hat Paul Dur­rieu schon 1892 cha­rak­te­ri­sti­sche Pa­ri­ser Wer­ke aus dem spä­te­ren 15. Jahr­hun­dert un­ter dem Na­men Ja­cques de Be­san­çon ver­sam­melt. Doch vor al­lem durch Ar­bei­ten von Eleanor Spencer wur­de klar, daß auch in die­sem Fal­le eine Werk­statt er­faßt war, in der meh­re­re, dies­mal wirk­lich drei Ge­ne­ra­tio­nen auf­ein­an­der folg­ten. 114 Die Dis­ser­ta­ti­on ist er­schie­nen als Net­te­koven 2004; Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge IV, 2007, S. 239-244 und dann S. 245-294.

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Einleitung

Ver­wirr­spie­le um Na­men tra­ten auch in die­sem Fall ein; denn schon der Aus­gangs­p unkt er­wies sich als zwei­schnei­dig: Im Jah­re 1485 hat­te ein Il­lu­mi­na­tor die­sen Na­mens für die Bru­der­schaft Jo­han­nes des Evan­ge­li­sten an der Kir­che Saint-An­dré-des-Arts im Pa­ri­ser ­fi­zi­um ge­stif­tet, das in der Pa­ Uni­ver­si­täts­vier­tel ein dem Evan­ge­li­sten ge­wid­me­tes Of 115 ri­ser Maza­rine-Bi­blio­thek er­hal­ten ist. In die­sem Ma­nu­skript fin­den sich zwei Jo­han­ nes­bil­der, und die stam­men är­ger­lich­er­wei­se nicht nur von zwei ver­schie­de­nen Hän­den, son­dern ver­tre­ten ge­ra­de­zu zwei ge­gen­sätz­li­che Mal­wei­sen: Ne­ben ei­ner sehr sorg­fäl­tig aus­ge­führ­ten Stand­fi­gur des Hei­li­gen fin­det sich eine klei­ne­re Mi­nia­tur, die ihn sit­zend beim Schrei­ben zeigt; sie wirkt rasch ge­malt und löst sich von äl­te­ren Kon­ven­tio­nen, weil sie schein­bar Sorg­falt ver­mis­sen läßt. Ken­ner­schaft steht also vor der Wahl, in wel­cher der bei­den epo­chal ge­gen­sätz­li­chen Rol­len sie den Stif­ter des Buchs, der selbst Il­lu­mi­na­ tor war, se­hen soll­te. Heu­te ist man sich ei­nig, daß Ja­cques de Be­san­çon nicht der kon­ ven­tio­nel­lere Mi­nia­tor war.116 An­ge­sichts der spä­ten Ent­ste­hung des Jo­han­nes-Of­fi­zi­ums von 1485, die über den Zeit­ rah­men des hier vor­ge­leg­ten Ka­ta­logs deut­lich hin­aus­geht, müssen wir für die­sen Künst­ ler auf den di­rekt an­schlie­ßen­den Band ver­wei­sen. Doch sei hier die da­von aus­ge­hen­ de For­schungs­si­tua­ti­on kurz skiz­ziert: Dem jün­ge­ren Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon gin­gen zwei stil­ver­wand­te Buch­ma­ler vor­aus. Im Mit­tel­punkt des In­ter­es­ses stand lan­ge Zeit je­ner, den man all­ge­mein als Maître Fran­çois kennt. Als eg­regius ma­gi­ster Franc­iscus wird er in ei­nem Brief ge­nannt, in dem Ro­bert Gag­uin, selbst bei­spiels­wei­se als Über­ set­zer Cä­sars für das Pa­ri­ser Buch­we­sen sehr be­deu­tend,117 über eine 1473 da­tier­te Cité de Dieu des Kir­chen­va­ters Au­gu­stin­us spricht,118 dem sich zwei stil­ver­wand­te Ex­em­pla­ re an­schlie­ßen.119 Doch da­mit nicht ge­nug: dem Stil, den man in­zwi­schen si­cher mit dem franz­ösisierten Na­men Maître Fran­çois ver­bin­det, ging eine eng ver­wand­te Buch­ma­le­rei vor­aus, de­ren frü­he­ste Bei­spie­le in Bü­chern zu fin­den sind, die vom spä­ten Bed­ford-Stil, wohl vom Du­ nois-Mei­ster do­mi­niert sind. In ih­rer Ar­beit über das qua­li­tät­voll­ste Ex­em­plar von Hein­ rich Susos Hor­lo­ge de Sapience, das zu den rez­en­te­ren Er­wer­bun­gen der Kö­nig­li­chen Bi­ blio­thek in Brüs­sel ge­hört, hat Eleanor Spencer die Hand in ih­rer Ei­gen­art er­kannt und den Mo­ment be­schrie­ben, da die­se un­ge­mein prä­zi­se und neu­ar­ti­ge Kunst mit dem spä­

115 Maza­rine Ms. 461: Dur­rieu 1892; Ster­ling II , 1990, S. 216-7, mit Abb. 202-3; Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, S. 256-262 mit Fa­ rbabb. der bes­se­ren Mi­nia­tur aus dem Jo­han­nes-Of ­fi­zi­um auf S. 256. 116 Noch Ster­ling II , 1990, sieht den Un­ter­schied der bei­den von ihm auf S. 216-7 ab­ge­bil­de­ten Mi­nia­tu­ren aus Maza­rine 461 nicht. 117 Nach dem Wid­mungs­ex­em­plar, das wir in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter VI, 1993/94 als Nr. 35 vor­ge­stellt ha­ben, nennt man ei­nen be­mer­kens­wer­ten Ma­ler ei­ge­nen Ge­prä­ges, der uns eben­falls im Fol­ge­band die­ses Ka­ta­logs be­schäf­ti­gen wird. 118 Gag­uin schreibt an Charles de Gau­court, Lieutenant-général von Pa­ris, und be­zieht sich auf Pa­ris, BnF, fr. 18-19: Aus­st.Kat. 1993, Nr. 16. 119 Ste.-Ge­ne­viève Ms. 246 (Aus­st.-Kat. Pa­ris 1993, Nr. 17) und das heu­te auf zwei Bi­blio­the­ken ver­teil­te Ex­em­plar, das für Ja­ cques d’Ar­ma­g nac be­gon­nen und für Phil­ippe de Co­mmynes fer­tig­ge­stellt wur­de; Den Haag, Mu­se­um Meerm­an­no-West­ reenianum, 10 A 11, und Nan­tes, Bibliothèque municip­ale, Ms. 181.

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ten Bed­ford-Stil zu­sam­men­trifft.120 Klar­heit über den Rang des Künst­lers schaf­fen Auf­ trä­ge für Jean Rolin (1408-1483), den Sohn des bur­gun­di­schen Kanz­ler Nico­las Rolin, der 1448 zum Kar­di­nal er­ho­ben wur­de und für sein Bis­tum Au­tun (im Amt ab 1436) eine gan­ze An­zahl von ähn­lich ge­stal­te­ten Meß­bü­chern an­le­gen ließ.121 Für Spencer stand fest, daß der Mei­ster des Jean Rolin aus den Nie­der­lan­den nach Pa­ris ge­kom­men ist, Charles Ster­ling hin­ge­gen hat ver­sucht, ihn aus ei­ner nicht aus­rei­chend do­ku­men­tier­ten Buch­kunst des fran­zö­si­schen Bur­gunds her­zu­lei­ten.122 For­schun­gen von Pe­ter Rolfe Monks, der sich in­ten­si­ver mit Bild­in­hal­ten be­schäf­tigt, sind nicht im er­for­ der­li­chen Um­fang pu­bli­ziert.123 Die hier nö­ti­ge Geschichts­re­kon­struk­ti­on, die schon mit Dur­rieu vom jüng­sten Stil aus­ging, ist in­zwi­schen durch ei­nen Bei­trag von Matt­hieu Deldique aus dem Jah­re 2014 ein gu­tes Stück vor­an­ge­kom­men. 2014 hat Deldique gute Grün­de vor­ge­bracht, im eg­regius ma­gi­ster Franc­iscus und im Mei­ster des Ja­cques de Be­ san­çon zwei vor­züg­lich do­ku­men­tier­te Künst­ler zu er­ken­nen, auf die Dur­rieu und die Rouses be­reits hin­ge­wie­sen hat­ten: Va­ter und Sohn Fran­çois Le Bar­bier. Wäh­rend man vom jün­ge­ren Trä­ger die­ses Na­mens so­gar weiß, daß er 1501 ver­stor­ben war, steht beim äl­te­ren nur fest, daß er zwi­schen 1455/56 ein Haus auf dem Pont Neuf No­tre-Dame ge­ mie­tet hat und 1473 in Pa­ri­ser Do­ku­men­ten ge­nannt wird. Die­se Prä­zi­sie­rung sorgt da­für, ganz im Sin­ne von Eleanor Spencer end­lich die letz­ten Zwei­fel zu be­sei­ti­gen, man habe es mit ei­nem Sohn Fran­çois von Jean Fouquet zu tun; sie sorgt auch für eine will­kom­me­ne Di­stan­zie­rung von der Fa­mi­lie der d’Ypres oder d’Ami­ens. Hi­sto­risch ge­fe­stigt wird durch Deldiques Er­kennt­nis, daß die Buch­ma­le­rei, die man als Stil mit Ja­cques Be­san­çon ver­band, tat­säch­lich von den Per­so­nen her eng mit dem Buch­druck ver­bun­den war; denn man wird nun an­neh­men dür­fen, daß die Drucker Jean Bar­bier und Symphorien Bar­bier mit den Buch­ma­lern ver­wandt wa­ren. Die Über­win­dung des Bed­ford-Stils durch den Mei­ster des Jean Rolin Der Name Le Bar­bier ver­rät je­doch nichts über die Ur­sprün­ge die­ser Kunst in Pa­ris; denn er ist nir­gend­wo mit ei­nem Orts­hin­weis ver­bun­den. Die Be­rufs­be­zeich­nung legt im­mer­hin nahe, daß man es hier mit Ma­lern zu tun hat, die nicht zu­ge­wan­dert sind und de­ren Vor­fah­ren als Bar­bie­re nicht künst­le­risch tä­tig wa­ren. So ist über den ih­nen vor­ aus­ge­hen­den Mei­ster des Jean Rolin auf die­sem Wege nichts zu er­fah­ren. Sei­ne Buch­ ma­le­rei ver­rät ein hö­he­res Al­ter; er ist je­doch nur stil­ge­schicht­lich Va­ter und Groß­va­ter von Fran­çois Bar­bier père et fils. Von die­sem groß­ar­ti­gen Künst­ler kön­nen wir hier zwei Ma­nu­skrip­te prä­sen­tie­ren: Nr. 22 ist ein bis­her un­be­kann­tes, ein­drucks­vol­les Werk des Mei­sters von Jean Rolin in 120 KBR , IV, 111: Spencer in: Sciptorium XVII , 1963, S. 277-299. 121 Lyon, Bibl. mun., Ms. 517; Au­tun, Bibl. mun., Ms. 108A und 114A, so­wie ein Kanon­bild in der Samm­lung Wil­den­stein des Mus­ée Marmottan-Mo­net, Pa­ris. 122 Ster­ling II , 1990, S. 176-190. 123 Monks 1990.

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sehr schö­nem Zu­stand und re­la­tiv früh ent­stan­den. Die spät­go­ti­sche Ele­ganz der vor­ züg­lich ar­ti­ku­lier­ten Fi­gu­ren und die fei­ne stri­cheln­de Ma­le­rei mit ih­rer tref­fen­den Mo­ del­lie­rung hebt die Kunst die­ses Buch­ma­lers ent­schie­den ab ge­gen die spä­ten Va­ri­an­ten des Bed­ford-Stils. Um so er­staun­li­cher ist die enge Ver­bin­dung bei­spiels­wei­se mit un­se­ rem Stun­den­buch vom Mei­ster des Harley-Froiss­art (Nr. 18). So wird in bei­den Hand­ schrif­ten die­sel­be Bild­vor­la­ge zur Ma­rien­ver­kün­di­gung un­ter frei­em Him­mel in ei­nem Geschie­be von Ge­bäu­de­tei­len ver­wen­det. Den Ur­sprung die­ser Kom­po­si­ti­on wird man nicht in Flan­dern fin­den; eher han­delt es sich um eine Wei­ter­ent­wick­lung aus fran­zö­si­ scher Buch­ma­le­rei. Da­mit stellt sich die Fra­ge nach dem Ver­hält­nis von Frank­reich und den Nie­der­lan­ den auf eine viel­leicht doch sub­ti­le­re Wei­se als selbst von Eleanor Spencer durch­dacht: Man wird nicht ein­fach sa­gen dür­fen, der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei sei­en nach zu­neh­men­der Er­schöp­fung ge­gen die Jahr­hun­dert­mit­te neue Kon­zep­te aus dem alt­nie­der­län­di­schen Be­reich auf­ge­pfropft wor­den. Pa­ris hat­te of­fen­bar auch selbst ein Po­ten­ti­al, auf frem­de grund­stür­zen­de Ein­drücke zu rea­gie­ren und zu ei­gen­stän­dig neu­er Ge­stal­tung zu fin­ den. Des­halb mag der Mei­ster des Jean Rolin sei­ne Kunst durch­aus in Pa­ris ge­lernt ha­ ben; eine aus­führ­li­che Wan­der­schaft mag schon ge­reicht ha­ben, das Neue krea­tiv in die ei­ge­ne Kunst zu in­te­grie­ren, zu­mal der Mei­ster si­cher in der fran­zö­si­schen Haupt­stadt im­mer wie­der mit aus dem Nor­den stam­men­der Kunst kon­fron­tiert wur­de. So konn­te er aus Grund­zü­gen der äl­te­ren Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei und we­nig­stens zum Teil mit Bild­ vor­la­gen, die dort ge­läu­fig wa­ren, zu sei­nem ei­ge­nen Stil fin­den, der dann die Grund­la­ge für die bei­den Fran­çois Le Bar­bier schuf. Zur gu­ten fran­zö­si­schen Tra­di­ti­on, die al­ler­dings dann auch in den Nie­der­lan­den, vor al­lem bei Wil­lem Vrelant, des­sen Stil aus Pa­ris und Rouen stam­men dürf­te, frucht­bar wer­den soll­te, ge­hört der Sinn für die Re­duk­ti­on von Far­be. Das gilt be­son­ders für Stun­ den­bü­cher klei­nen For­mats; und dazu ge­hört un­ser zwei­tes Ma­nu­skript mit Mi­nia­tu­ ren vom Mei­ster des Jean Rolin, Nr. 23, das wir nach dem Livre de rai­son der Fa­mi­lie des Fran­çois de Da­gues und sei­ner Frau Kath­erine Ferrault in Le Mans aus der Zeit von 1535-1616 be­nen­nen. Die Zu­schrei­bung an den Mei­ster des Jean Rolin und sei­ne Werk­statt ist evi­dent; doch hat sich der Mei­ster da­mit be­gnügt, alle gro­ßen Mi­nia­tu­ren aus­zu­füh­ren, nicht aber die un­ge­zähl­ten Köp­fe in In­itia­len und die Gro­tes­ken am Rand. Der Ver­zicht auf bunt­far­ bi­ge Ge­wän­der rückt es in en­gen Be­zug zum spä­ter von Jean Fouquet er­gänz­ten Stun­den­ buch des Si­mon de Varie, das in drei Bän­de auf­ge­teilt wur­de, die heu­te in der Kö­nig­li­chen Bi­blio­thek in Den Haag und im Getty-Mu­se­um in Los An­ge­les lie­gen.124

124 Den Haag, KB , 74 G 37 und 37a; Los An­ge­les, J.Paul Getty Mu­se­um, Ms. 7: Marrow 1994; Kö­nig, De­vo­ti­on, 2012, S. 40-44.

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Am Schluß ein Werk von Fran­çois Le Bar­bier père Mit Maître Fran­çois ha­ben wir uns be­reits in un­se­rem Ka­ta­log Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge I, 1997, aus­führ­lich aus­ein­an­der­ge­setzt, weil uns da­mals ein ein­drucks­vol­ler Boccace vor­lag; und es ist nicht das er­ste Mal, daß wir uns mit dem Stun­den­buch be­fas­ sen, das hier als Nr. 24 von sei­ner Be­deu­tung her den ei­gent­li­chen Ab­schluß die­ses Ka­ ta­logs bil­det. Wir ha­ben die­ses Werk von Fran­çois Le Bar­bier dem Äl­te­ren 1993/94, also lan­ge, be­vor man es bes­ser wuß­te, im V. Band der Se­rie Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter als Nr. 21 noch als Maître Fran­çois be­schrie­ben. Es ge­hört zu den Pa­ri­ser Ma­nu­skrip­ten, die für Leu­te von weit­her ge­schaf­fen wur­den; das legt die Aus­rich­tung auf den Ge­brauch von Rom eben­so nahe wie die Ein­schal­tung der Horen von Hei­lig Kreuz und Hei­lig Geist ­fi­zi­um. Ganz fremd war in Pa­ris ein Pas­si­ons­zy­klus für die Ma­rien­stun­den ins Ma­rien­of von Lau­des an; Bre­to­nen hin­ge­gen schätz­ten die­se Art der Be­bil­de­rung seit dem Stun­ den­buch des Guy de Laval. Dazu paßt, daß das Ma­nu­skript zu­min­dest ge­gen Jahr­hun­ dert­en­de der Fa­mi­lie Texor de Ravisi oder bes­ser Rais ge­hört hat, für die nach 1492 zwei ein­drucks­vol­le Bil­der er­gänzt wur­den. Bis zur Kreu­zi­gung bie­tet die­ses Stun­den­buch den wich­tig­sten Pass­ions-Zy­k lus von Fran­çois Le Bar­bier père und dazu ganz vor­züg­li­che Evan­ge­li­sten­por­träts. Der Buch­ block ist ein­heit­lich il­lu­mi­niert. Grau­es Vio­lett, ei­gent­lich die Far­be von Jesu Un­ge­näh­ tem Rock, kommt hier als Klei­der­far­be un­ter­schieds­los Gu­ten wie Bö­sen zu. Es ist ne­ben den klei­nen Par­ti­en von leuch­ten­dem Rot ge­ra­de­zu eine Er­ken­nungs­far­be des Künst­ lers, der dazu Grün und Blau setzt und be­son­ders fein in Rot wie Schwarz üb­er­ge­hen­de Braun­tö­ne dif­fe­ren­ziert. Da bei­de Trä­ger des Na­mens Fran­çois Le Bar­bier mensch­li­che Haut eher grau tö­nen und so­gar Ge­sich­ter kaum mit Rot be­le­ben, schaf­fen sie ein kla­res Re­li­ef, das sie ge­schickt mit Schat­ten glie­dern. Statt Raum zu er­schlie­ßen, mo­del­lie­ren sie ge­schlos­se­ne Fi­gu­ren­grup­pen. Bei den Evan­ge­li­sten und den Hei­li­gen der Suff­ragien könn­te der Ein­druck ent­ste­hen, sie sei­en von an­de­rer Hand; viel­leicht aber ist nur die In­ten­si­tät der Durch­ar­beit an­ge­ sichts der ge­rin­ge­ren Be­deu­tung die­ser Par­ti­en ge­min­dert. Die hin­zu­ge­füg­ten Mi­nia­tu­ren stam­men aus zwei deut­lich un­ter­schie­de­nen Mal­kul­tu­ ren, die nicht ge­nau­er de­fi­niert wer­den kön­nen. Durch ihr dunk­les Ko­lo­rit ver­bin­den sich der Schmer­zens­mann und die Fuß­wa­schung (die für die Rais ge­malt wur­de) ge­gen den na­men­lo­sen Bi­schofs­hei­li­gen. Am ein­drucks­voll­sten ist da­bei der Schmer­zens­mann, zu­mal der Wahl des Su­jets ein klu­ger Ge­dan­ke zu­grun­de liegt: In­dem statt der Dar­ stel­lung der Gre­gors­vi­si­on nur der geist­li­che Kern der Vi­si­on ge­zeigt wird, ver­setzt der Ma­ler die Be­ter in die Rol­le des Kir­chen­va­ters, dem der Schmer­zens­mann beim Meß­ op­fer er­schie­nen ist. Un­ser Ka­ta­log, der sich als ein er­ster Band zum Pa­ri­ser Stun­den­buch ver­steht, schließt mit Nr. 25, ei­nem auf ­wen­dig an­ge­leg­ten Ma­nu­skript aus der be­deu­ten­den Ge­ne­ra­ti­ ons­fol­ge, die vom Mei­ster Jean Rol­ins über Maître Fran­çois zum Mei­ster des Ja­cques

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 45, Nr. 9, fol. 67v (Meister des Jean Rolin)

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Werk­g rup­p en und die Hand­s chrif­t en in un­s e­r em Be­s tand

Kat. 45, Nr. 9, fol. 27 (Meister des Jean Rolin)

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Einleitung

de Be­san­çon führt. Es weist al­ter­tüm­li­che Züge auf und geht bei den Bil­dern zu den Buß­psal­men und zum To­ten­of ­fi­zi­um, auf Bild­vor­la­gen zu­rück, die seit den An­fän­gen des Mei­sters von Jean Rolin in des­sen Pa­ri­ser Stil­kreis ver­wen­det wur­den. Aus des­sen Kunst er­klärt sich auch das küh­le Ko­lo­rit. Man hat es mit ei­nem un­ge­nü­gend de­fi­nier­ ten Ma­ler zu tun, der auf die Kunst des äl­te­ren Fran­çois le Bar­bier zu­rück­geht, aber in sei­nen wich­tig­sten Mi­nia­tu­ren nicht ein­fach nur „Nach­fol­ger“ bleibt, son­dern ei­nen ei­ ge­nen und für auf­merk­sa­me Au­gen auch klar wie­der zu er­ken­nen­den Cha­rak­ter ver­rät. Er war am wich­tig­sten Stun­den­buch der Stil­grup­pe be­tei­ligt, dem ein­zi­gen, des­sen ge­ sam­ter Bild­schmuck ei­nem brei­te­ren Pu­bli­kum ver­traut ist: Mar­ga­ret Man­ion hat die­se Hand­schrift als Wharncliffe Hours pu­bli­ziert; dort stammt mit dem Bild des Jo­han­nes auf Patmos schon die er­ste Mi­nia­tur von die­ser Hand. Doch erst 1997, im I. Band der Neu­en Fol­ge von Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, der den Boccace des Nico­las Foucault be­schreibt, wur­de der Ma­ler ge­nau­er de­fi­niert. Da er dort für das Front­ispiz zu­stän­dig war, nen­nen wir ihn nach die­sem be­deu­ten­den Ma­nu­skript. Doch hat er in Nr. 25 nicht den Jo­han­nes auf Patmos ge­malt; viel­mehr weist die­se Mi­nia­tur mit ei­ni­gen an­de­ren in eine ganz an­de­ re Rich­tung, ver­bin­det sie doch mit der Werk­statt der Schöf­fen von Rouen und schafft so­mit eine Brücke hin­über in die Nor­man­die. Pa­ris – eine Lie­be wert? Wer die Bil­der un­se­res Ka­ta­logs durch­blät­tert, kann atem­los ver­fol­gen, was Pa­ri­ser Buch­ma­ler in den drei Ge­ne­ra­tio­nen ge­lei­stet ha­ben, be­vor der Buch­druck mit der Gu­ ten­berg-Ga­la­xis125 auch an die Sei­ne kam und dort für un­er­hör­ten Bil­der­reich­tum sorg­ te. Selbst wer sich im Blick auf das 15. Jahr­hun­dert nicht von der Vor­stel­lung be­frei­en kann, die Ent­wick­lung der Ma­le­rei sei von Fres­ken aus Ita­li­en und Ta­fel­bil­dern aus den bur­gun­di­schen Nie­der­lan­den her zu be­grei­fen, be­geg­net ei­nem wei­te­ren Me­di­um und ei­nem drit­ten Zen­trum: der Me­tro­po­le Pa­ris, in der noch lan­ge galt, daß die gro­ße Ma­ le­rei in den Bü­chern war.126 Nach ei­nem Jahr­hun­dert ed­ler Zu­rück­hal­tung im Ko­lo­rit bis hin zur Grisaille127 er­ laub­ten neue Far­ben eine un­er­hör­te Pracht, die sich am herr­lich­sten im Zu­sam­men­spiel von kost­ba­rem Ul­tra­ma­rin-Blau mit raf ­fi­niert be­ar­bei­te­ten Me­tall­fo­li­en aus­drückt. Die­ se Buch­ma­le­rei, die um 1410 ihre vol­le Schön­heit ent­fal­te­te, kon­kur­rier­te mit der Gold­ schmie­de­rei, die als Leit­kunst die­ser Zeit gel­ten muß. Im Gol­de­nen Rössl von Alt­ötting, das 1404 als Neu­jahrs­ga­be für den fran­zö­si­schen Kö­nig Karl VI . be­stimmt war, fin­det

125 ­Her­bert Mars­hal McLuhan, The Gu­ten­berg Galaxy, Lon­don 1962, deutsch Die Gu­ten­berg Ga­la­xis, Bonn u. a. 1995; sie­he auch Mi­cha­el Gies­ecke, Der Buch­druck in der frü­hen Neu­zeit. Eine hi­sto­ri­sche Fall­stu­die über die Durch­set­zung neu­er In­for­mat­ionsund Kom­mu­ni­ka­ti­ons­t ech­no­lo­g i­en (stw; 1357). Frank­f urt: Suhr­kamp, 1998. – und für un­se­re Zu­sam­men­hän­ge un­se­re neun Bän­de: HORAE B. M. V. 126 Der Be­g riff spielt auf den Ti­tel an, den die wun­der­ba­re Aus­stel­lung von Avril und Reynaud, Pa­ris 1993 , auf den Pla­ka­ten hat­te und den Mara Hof­mann und Ca­ro­li­ne Zöhl als Her­aus­ge­be­rin­nen für die Fest­schrift von Fran­çois Avril (Tu­rnh­out 2007) wähl­ten. 127 ­Tref­fend der knap­pe Über­blick in Avril 1978.

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Einleitung

die Epo­che, die man im Deut­schen als Wei­chen Stil und welt­weit als In­ter­na­tio­nal Style aro­und 1400 kennt, ih­ren von kei­nem an­de­ren Werk er­reich­ten Hö­he­punkt.128 Von dem Schim­mel in wei­ßem Email, der in Alt­ötting über ei­nem Gold­kern die Nü­ stern bläht, mag der wie­hern­de Esel bei der Flucht nach Ägyp­ten, der un­se­rer Nr. 1 den Spitz­na­men gibt, noch ein Stück ent­fernt sein. Doch weist die Mi­nia­tur die Rich­tung, die Künst­ler schon vor 1400 ein­schla­gen woll­ten. Die kühn ver­kürz­ten Pfer­de in un­se­rer Nr. 4 ver­ra­ten noch an­schau­li­cher, wie die fol­gen­de Ge­ne­ra­ti­on mit neu­en Be­ob­ach­tun­ gen ver­blüf­fen woll­te, selbst wenn die Ma­ler da­für Bild­mu­ster ein­setz­ten, die nicht im­mer aus ih­rer ei­ge­nen Na­tur­er­fah­rung ent­spran­gen. Um et­was ganz Neu­es zu er­rei­chen, muß­te ein un­ge­mein fas­zi­nie­ren­der Schub die Zeich­ nung ver­wan­deln: Wäh­rend ir­gend­wo im böh­misch-öster­rei­chi­schen Raum ein Ma­ler und Buch­ma­ler mit den Ahorn­tä­fel­chen des Mu­ster­buchs im Wie­ner Kunst­hi­sto­ri­schen Mu­se­um sei­ne Kunst an­pries, die ein Pan­op­ti­kum aus Cha­rak­ter­köp­fen von Mensch und Tier bot,129 ent­fal­tet sich in un­se­rer Nr. 4 eine ganz an­de­re Art von Zeich­nung: Hier läßt sich zu­nächst ver­fol­gen, wie ein Künst­ler aus dem Nor­den ge­schickt An­re­gun­gen auf­ greift, die ihm die Kunst aus dem Sü­den bot. Dar­über­hin­aus aber gibt der in Nr. 4 von spä­te­ren Ent­stel­lun­gen ver­schon­te Zu­stand ei­nes bei den Zeich­nun­gen be­las­se­nen Bu­ ches kost­ba­re Ein­blicke in die kom­ple­xe Werk­ge­ne­se, de­ren Spu­ren sonst un­ter den Far­ ben ver­schwan­den. Ein­blicke in die Kunst der Zeich­nung er­lau­ben auch die bei­den hier als Nr. 2 und 3 ge­ führ­ten Ma­nu­skrip­te; denn Jean de Nizières hat in Nr. 2 auf decken­de Far­ben ver­zich­ tet; und in Nr. 3, an der Ja­cquem­art de Hes­din be­tei­ligt war, feh­len in ei­ni­gen Mi­nia­tu­ren ab­schlie­ßen­de Fa­rb­schich­ten. Die dar­an an­schlie­ßen­den Stun­den­bü­cher vom Maza­rineund Boucicaut-Mei­ster bie­ten wie­der­um ganz an­de­re Ein­sich­ten: Na­tur ließ sich nicht an­ge­mes­sen wie­der­ge­ben, wenn man nur wie in der Gold­schmie­de­kunst die Far­ben in all ih­rer Kost­bar­keit wir­ken las­sen woll­te und wie beim Rössl für die Jung­frau Ma­ria eine Lau­be aus gol­de­nem Blatt­werk mit Per­len schuf. Der Um­gang mit dem Fa­rb­ma­te­ri­al muß­te sub­ti­ler wer­den und sich vom Zau­ber des Me­talls lö­sen. Mit dem Durch­bruch zu neu­en Buch­ma­ler­far­ben ging eine Ge­gen­ent­wick­lung ein­her: Der Preis des Ma­te­ri­als und der Wert der künst­le­ri­schen Ar­beit ge­rie­ten in ei­nen Kon­ flikt, der wie un­se­re Aus­wahl aus der er­sten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts zeigt, schon bald zu­gun­sten der künst­le­ri­schen Vir­tuo­si­tät ent­schie­den wur­de. In der Buch­ma­le­rei kam frü­her als bei den we­ni­gen er­hal­te­nen Ta­fel­bil­dern aus Frank­reich die Fra­ge auf, ob nicht Blatt­gold bes­ser durch Him­mel, also teu­res Ma­te­ri­al durch Kunst zu er­set­zen war, die im­mer­hin noch mit der teu­er­sten Mal­far­be ar­bei­te­te. Da­bei mag so­gar eine Rol­le ge­ spielt ha­ben, daß we­nig­stens der eine oder an­de­re Buch­ma­ler wie Ja­cquem­art de Hes­din bis nach Avi­gnon ge­kom­men war und des­halb ita­lie­ni­sche Fres­ken be­wun­dert hat­te, die 128 Rein­hold Baum­stark (Hrsg.), Das Gol­de­ne Rössl. Ein Mei­ster­werk der Pa­ri­ser Hof­kunst um 1400, Mün­chen 1995. 129 Sie­he mei­nen Bei­trag, Ein Re­g i­ster von Gott, Mensch und Tier zwi­schen Werk­statt und Kunst­ka­bi­nett, in: Ma­ria Thei­sen und Eber­hard Kö­nig, Das Wie­ner Mu­ster­buch, Kom­men­tar­band, Sim­bach 2012, S. 66-82.

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nur aus­nahms­wei­se grö­ße­re Gold­flä­chen ent­hiel­ten. Ge­schlos­se­nen Gold­grund war man oh­ne­hin nicht ge­wohnt, son­dern kost­ba­re Spie­le mit far­bi­gen Ka­ro­mu­stern auf Blatt­gold, wie sie alle Mi­nia­tu­ren in Nr. 5 schmücken. Nicht der ein­zel­ne Ma­ler, son­dern eher der sich wan­deln­de Zeit­ge­schmack führ­te dazu, daß sich wie in Nr. 6 ne­ben sol­chen Must­ er­grün­den Him­mel zu­nächst noch als Al­ter­na­ti­ve zum de­ko­ra­ti­ven Fond und nicht als in­halt­li­ches Mo­tiv durch­setz­te. Dem Gold blieb die Buch­ma­le­rei den­noch treu, schon um die Mi­nia­tu­ren kost­bar zu rah­men. Höhung mit Pin­sel­gold er­leb­te so­gar erst nach der Jahr­hun­dert­mit­te ih­ren wah­ ren Hö­he­punkt. Doch be­grif­fen ei­ni­ge der füh­ren­den Köp­fe schnell, daß das Neue ge­ eig­net war, statt nur ei­nen un­er­hört schö­nen Schein zu er­zeu­gen, ein ver­än­der­tes Bild von der Welt zu ge­ben. Schon um 1405, also eine Ge­ne­ra­ti­on, be­vor Leon Batt­ista Al­ berti (1404–1472) die Vor­stel­lung be­schrieb, Bil­der sei­en wie Fen­ster in die Welt,130 be­ gann man in Pa­ris den Blick im Per­ga­ment­blatt zu öff­nen und auf jene Wir­kung hin­zu­ zie­len, die sich dann in flä­mi­scher Buch­ma­le­rei über zwei Ge­ne­ra­tio­nen spä­ter voll­en­den soll­te.131 In den vom Buch­for­mat be­stimm­ten Bild­fel­dern der Mi­nia­tu­ren lern­te man, die Erde als Land­schaft zu ge­stal­ten und dar­über den Him­mel über hel­lem Ho­ri­zont zu wöl­ ben.132 Dazu muß­te sich auch die Bild­rah­mung ver­än­dern: Schon in den vor­aus­ge­hen­den Ge­ne­ra­tio­nen war man sich in Pa­ris nicht mehr recht ei­nig, ob für das, was man histo­ire nann­te, wie bei Glas­bil­dern und in un­se­rer Nr. 1 ein Vier­paß oder so­gar eine Art go­ti­ sche Ädikula er­for­der­lich war, die wie ein Ta­ber­na­kel oder eine Mon­stranz auf dem Per­ ga­ment­blatt lie­gen soll­te, oder nicht doch ein Recht­eck, von ein­fa­chen Lei­sten ge­rahmt, aus­reich­te. Da­für mag es An­stö­ße aus dem Nor­den ge­ge­ben ha­ben, wie das Ver­kün­di­ gungs­bild in Nr. 1 na­he­legt. Sol­che schlicht ge­faß­ten Bil­der wa­ren in welt­li­chen Hand­schrif­ten schon seit dem 13. Jahr­hun­dert ver­brei­tet, wäh­rend sich in Ge­bet­bü­chern der Sinn für durch ar­chi­tek­ to­ni­sche Zier vor­ge­spiel­te Kost­bar­keit am läng­sten hielt. Wich­ti­ger aber war die Tat­sa­ che, daß die Na­tur in der neu­en Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei ih­ren Raum im Licht be­an­spruch­te. In die­sem Raum ver­lor die Ar­chi­tek­tur ihre Rol­le als zie­ren­der Rah­men und ent­wickel­te sich ent­we­der rasch vom Ku­lis­sen­häus­chen zum ein­drucks­vol­len Ge­bil­de, das nun mit sei­ner Um­ge­bung von au­ßen ge­se­hen wur­de, oder zum In­te­rieur, für das man zu­nächst Wän­de öff­nen muß­te, so daß das In­ne­re noch eine Wei­le ein­her ging mit ei­nem für mo­ der­ne Au­gen ir­ri­tie­ren­den Blick auf eine Au­ßen­wand oder ein Dach.

130 Leon Batt­ista Al­berti: „Principio, dove io debbo dipin­gere scrivo uno quadrangolo di retti an­goli quanto gran­de io voglio, el quale reputo es­sere una fi­ne­stra aperta per don­de io miri quello che quivi sarà dipinto;“, Als Er­stes zeich­ne ich auf der zu be­ ma­len­den Flä­che ein recht­wink­li­ges Vier­eck von be­lie­bi­ger Grö­ße; von die­sem neh­me ich an, es sei ein of­fen­ste­hen­des Fen­ ster, durch das ich be­trach­te, was hier ge­malt weden soll;“ (zi­tiert nach: Alberti 2002, S. 92-93. [Leon Batt­ista Al­berti, Del­la Pi­ttura. Über die Mal­kunst, Os­kar Bätsch­mann und San­dra Gianfreda (hg., ein­gel. übers. und komm.), Darm­stadt 2002] 131 Sie­he dazu vor al­lem Otto Pächt, Kon­flikt Flä­che – Raum, durch­ge­hen­de Ent­wick­lungs­ten­den­zen, in: Pächt 1984, S. 173202. [Otto Pächt, Die Buch­ma­le­rei des Mit­tel­al­ters, Mün­chen 1984] 132 Am schön­sten soll­te das Jean Fouquet um 1455 im Stun­den­buch des Étienne Che­va­lier ge­lin­gen.

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Statt wie in Ita­li­en oder im deut­schen Reich im Buch­sta­ben­kör­per be­engt zu sein, thront das Bild im Buch schon im 14. Jahr­hun­dert in den mei­sten il­lu­mi­nier­ten Hand­schrif­ ten aus Pa­ris als Kopf­mi­nia­tur über den wich­tig­sten In­cipits. Im Stun­den­buch dien­te es nicht als Il­lu­stra­ti­on, son­dern mar­kier­te Text­an­fän­ge als Ge­dächt­nis­stüt­ze, da­mit sich Le­ser und Le­se­rin­nen im Buch zu­recht­fin­den konn­ten. Daß Mi­nia­tu­ren di­rekt aus dem Text her­vor­gin­gen, blieb noch aus ei­nem wei­te­ren Grund eine gro­ße Aus­nah­me; denn Ma­ler wa­ren ih­rer­seits auf ihre Auf­ga­ben pro­fes­sio­nell vor­be­rei­tet; das aber hieß, daß sie für die wich­tig­sten Su­jets, vor al­lem aus dem re­li­giö­sen Be­reich, über Mu­ster­bü­cher und ei­nen Schatz von Grund­mo­ti­ven ver­füg­ten, mit de­nen sie ein un­ge­wohn­tes The­ma aus Bild­for­meln be­wäl­ti­gen konn­ten. Im spä­ten 14. Jahr­hun­dert, das zei­gen un­se­re Nrn. 1-3, ge­nüg­te auch den be­sten Pa­ri­ser Buch­ma­lern ein schma­ler Bo­den­strei­fen als Büh­ne für re­li­ef­haft ne­ben­ein­an­der ge­stell­ te Fi­gu­ren. Ein­zel­ne Mö­bel­stücke ge­nü­gen an­zu­deu­ten, daß eine Sze­ne im In­nen­raum spielt; das hin­der­te aber nicht dar­an, den Bo­den­strei­fen auch in sol­chen Mi­nia­tu­ren mit kar­ger Ve­ge­ta­ti­on zu be­set­zen. Berg und Tal, Weg und Ge­wäs­ser fan­den nur aus­nahms­ wei­se Platz. Sol­che Dis­p o­si­tio­nen wirk­ten noch bis ins zwei­te Jahr­zehnt nach 1400 nach, wo­bei dann der rote Fond als Or­na­ment ab­wech­selnd mit blau­em Him­mel er­scheint. Das für uns in­ ter­es­san­te­ste Bei­spiel ist ein Ex­em­plar des Livre de la Pro­priété des Choses von Bart­homäus An­glicus im Fit­zwilliam Mu­se­um zu Cam­bridge,133 wo je­ner Ma­ler, der un­se­re Nr. 5 ge­ stal­tet hat, die aus­zu­ma­len­den Flä­chen in deut­scher oder nie­der­län­di­scher Spra­che mit ei­nem auf­schluß­rei­chen be­griff­li­chen Un­ter­schied be­schrif­te­te: Mit „rot“ oder „root“ be­ zeich­net er den ro­ten Or­na­ment­grund, Blau, das at­mo­sphä­risch be­lebt wird, aber nennt er gleich „hi­mel“.134 Wie die­ses Bei­spiel zeigt, pro­fi­tier­te Frank­reich um 1400 von der un­wi­der­steh­li­chen An­ zie­hungs­kraft, die Pa­ris auf Künst­ler aus der ge­sam­ten la­tei­ni­schen Welt aus­üb­te. Epo­chal war da­bei die krea­ti­ve Wucht, mit der ober­ita­lie­ni­sches For­men­gut und Ten­den­zen aus dem Nor­den und aus dem Osten auf­ein­an­der tra­fen, um of­fen­bar so­fort – und dar­in er­ wie­sen sich der Kö­nigs­hof und die Me­tro­po­le als in­spi­rie­ren­des Fo­rum – all das zu über­ tref­fen, was die Künst­ler zu Hau­se ge­lernt hat­ten. 2014 stell­te sich bei der Vor­be­rei­tung der Ju­bi­lä­ums­aus­stel­lung in Kon­stanz135 die Fra­ge, was denn die zum Kon­zil an­ge­rei­sten Herr­schaf­ten an Kunst im Ge­päck mit­ge­führt ha­ben moch­ten. Hät­ten die er­for­der­li­chen Mit­tel und der nö­ti­ge Raum zur Ver­fü­gung ge­stan­den, das Er­hal­te­ne aus al­ler Welt an­ge­ mes­sen zu prä­sen­tie­ren, dann hät­te Pa­ris die an­de­ren Orte aus­ge­sto­chen. Wer bei­spiels­ wei­se nach­fragt, was denn in Brügge er­hal­ten ist, um auf den in Pa­ris und Mai­land pro­ mi­nen­ten Ja­cques Co­ene hin­zu­füh­ren, oder in Nim­we­gen im Vor­feld der Maelwael oder 133 Cam­bridge, Fit­z william Mu­se­um, ms. 250: Aus­st.-Kat. Cam­bridge 2016, Nr. 1. 134 Die­se Er­kennt­nis ver­dan­ken wir den neu­en For­schun­gen von Stel­la Pan­ayotova und ih­rem Team am Fit­z william Mu­se­um: Aus­st.-Kat. Cam­bridge 2016, S. 127-129. 135 ­Das Kon­stan­zer Kon­zil. 1414-1418. Welt­er­eig­nis des Mit­tel­al­ters, Aus­st.-Kat. Kon­stanz, Darm­stadt 2014.

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der Brü­der Lim­burg, stößt auf we­nig Sub­stanz.136 Ähn­lich sieht es aus, wenn man äl­te­re Spu­ren für Hain­celin de Haguenau im el­säs­si­schen Hage­nau oder am Bo­den­see sucht, wo es ein Hagnau gibt, aus dem auch Ste­phan Loch­ner in Köln stamm­te.137 Wenn man hi­sto­risch nüch­tern bleibt, ent­spre­chen den hier ins Spiel kom­men­den Na­ men im er­hal­te­nen Be­stand Ma­ler, de­nen man nach ih­ren Haupt­wer­ken Not­na­men ge­ ge­ben hat: Eine stol­ze Rei­he tritt in un­se­rem Ka­ta­log auf: An­ge­führt von ei­nem der drei Brü­der Lim­burg, für den wir so­gar in An­spruch neh­men, es sei der füh­ren­de Kopf, also Paul, sto­ßen wir auf den Maza­rine-Mei­ster, der in Nr. 5 dem stil­ver­wand­ten BoucicautMei­ster (Nr. 6) vor­aus­geht; es fol­gen die Mei­ster des Guy de Laval (Nr. 7) und je­ner, den Meiss nach der Krö­nung Han­ni­bals in ei­nem Tite-Live der Har­vard-Bi­blio­thek be­nannt hat und der hier sinn­vol­ler nach dem Lon­do­ner Alex­an­der­ro­man be­zeich­net wird (Nr. 9). Der Zu­fall, von dem die Be­stän­de ei­nes An­ti­qua­ri­ats im­mer ab­hän­gen, sorgt da­für, daß wir für die Früh­zeit ei­nes wei­te­ren füh­ren­den Mei­sters auf un­se­ren Ka­ta­log 66 zu­rück­ ver­wei­sen müßen, in dem wir 2011 von bril­lan­ten Wer­ken des Bed­ford-Mei­sters aus­ ge­hen konn­ten, um eine Un­ter­su­chung zum Pa­ri­ser Stun­den­buch an der Schwel­le zum 15. Jahr­hun­dert zu lie­fern. In nun vor­ge­leg­ten Ka­ta­log 80 sto­ßen wir er­neut auf die­sen Künst­ler, der wie kein an­de­rer die Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei in der er­sten Jahr­hun­dert­hälf­te ge­prägt hat; doch be­geg­net er uns mit Wer­ken sei­ner Spät­zeit und im Zu­sam­men­spiel mit Künst­lern, die von der kunst­hi­sto­ri­schen Li­te­ra­tur all­zu schnell mit ihm in ei­nen Topf ge­wor­fen wer­den. Ent­schei­den­de Kennt­nis ver­dan­ken wir Eleanor Spencer, die in ih­rem lan­gen Le­ben ver­ sucht hat, die Pa­ri­ser Kunst vom Bed­ford-Mei­ster bis zu je­nem Künst­ler zu be­grei­fen, den die Li­te­ra­tur Maître Fran­çois ge­tauft hat­te. Auch wenn sie nicht zu ei­ner Syn­the­ se ge­kom­men ist, so hat sie doch die ent­schei­den­den Wei­chen ge­stellt und die Künst­ler um­ris­sen, de­nen die wich­tig­sten Wer­ke in die­sem Ka­ta­log ver­dankt wer­den.138 Im ei­gent­li­chen Zen­trum un­se­res Ka­ta­logs ste­hen Wer­ke ei­nes Ma­lers, des­sen Ei­gen­art Eleanor Spencer als er­ste er­kannt hat; all­ge­mein nennt man ihn Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea; wir se­hen in ihm Con­rad von Toul. Sein Werk be­ginnt mit einer feurigen Farbkraft, die ganz den Neuerungen der Jahre um 1410 verdankt wird; da­von zeugt un­se­re Nr. 10. Sein ein­drucks­vol­les Er­öff­nungs­bild zu Nr. 11 ver­bin­det sich so­gar durch die Fa­rb­wucht wie auch in­halt­lich mit dem Gol­de­nen Rössl; doch ist nicht Ma­ri­as Freu­de, son­dern ihr Schmerz über den Tod des Got­tes­sohns Ziel des Ge­bets. In Nr. 12 tri­um­phiert die Kunst die­ses Ma­lers; und das ge­schieht, wie auch in den be­reits der Li­te­ra­tur be­kann­ten Ma­nu­skrip­ten, im Zu­sam­men­spiel mit dem Bed­ford-Mei­ster selbst: Un­ser Stun­den­buch stammt aus den Jah­ren um 1435, in de­nen die eng­li­sche Herr­ schaft über Pa­ris ihr Ende fand und der als Gou­ver­neur von Frank­reich ein­ge­setz­te Her­ 136 The Road to Van Eyck, Rot­ter­dam und Nim­we­gen 2005. 137 Kö­nig 2007, pas­sim. 138 Sie­he die An­ga­ben in der Bi­blio­g ra­phie.

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zog von Bed­ford starb. Die Haupt­mi­nia­tu­ren wa­ren dem Bed­ford-Mei­ster an­ver­traut, der je­doch Con­rad von Toul die mei­sten Bil­der über­ließ. Als ein­drucks­vol­le Ge­gen­sät­ ze er­wei­sen sich die Ar­bei­ten der bei­den Ma­ler, so daß kei­ne Rede da­von sein kann, der we­ni­ger be­kann­te Künst­ler sei ein­fach nur ein Nach­fol­ger des Bed­ford-Mei­sters ge­we­ sen. Wie im Lon­do­ner Bed­ford-Stun­den­buch selbst, in dem die für De­zem­ber 1431 nach­ ge­tra­ge­nen Mi­nia­tu­ren bis auf eine von der Hand un­se­res Künst­lers stam­men, und wie im So­bie­ski-Stun­den­buch in Winds­or Ca­stle muß Con­rad von Toul zwar dem Bed­fordMei­ster, also wohl Hain­celin de Haguenau, die füh­ren­de Rol­le las­sen; er über­trifft ihn aber durch das Feu­er und die Kraft sei­ner Far­ben, die kör­per­li­che Prä­senz der Fi­gu­ren und Ge­schlos­sen­heit der Form. Da­mit er­weist der hier vor­ge­leg­te Ka­ta­log in sei­nem Kern ei­nem bis­her stief­müt­ter­lich be­han­del­ten Künst­ler end­lich die ihm zu­kom­men­de Ehre. Wir be­ste­hen auf der Ei­gen­ stän­dig­keit sei­ner Kunst, de­ren Wur­zeln eher in Ar­bei­ten des Vergil-Mei­sters aus den 1410er Jah­ren als in der Mal­kul­tur des Bed­ford-Mei­sters zu su­chen sind. Zu­gleich er­ laubt die er­staun­li­che Dich­te von Wer­ken sei­ner Hand, in die­sem Ka­ta­log zu ver­fol­gen, welch ein ent­schei­den­der Wan­del sich in sei­nem Œuvre voll­zieht; denn in Nr. 13 ist be­ reits die Auf­hel­lung der Far­ben, vor al­lem in Land­schaft und Him­mel er­reicht, die dann für die Jahr­hun­dert­mit­te in Pa­ris cha­rak­te­ri­stisch wird. Dem schlie­ßen sich zwei spä­te Ar­bei­ten im Bed­ford-Stil an, Nr. 14 und 15; und wir ge­ ste­hen, daß es uns an­ge­sichts der Mei­nungs­viel­falt in der Li­te­ra­tur schwer­fällt, in sol­ chen Wer­ken die bei­den von Spencer aus­ge­mach­ten „Hän­de“ oder Ten­den­zen die­ses Stils ge­nau zu tren­nen, die in der Li­te­ra­tur ge­mein­hin als Bed­ford- und Du­nois-Mei­ster ge­führt und gern mit Hain­celin und Jean Hain­celin de Haguenau iden­ti­fi­ziert wer­den. Wer könn­te sa­gen, wie lang ein Ma­ler je­ner Zeit le­ben und ar­bei­ten konn­te? Des­halb wa­gen wir hier, für Nr. 15 zu be­haup­ten, daß der Bed­ford-Mei­ster selbst in ei­nem schon be­trächt­li­chen Le­bens­al­ter dar­in ge­wirkt hat, mit gro­ßem Re­spekt für sei­nen frei­en Um­ gang mit der Form. Statt sol­che epo­cha­len Künst­ler wie Con­rad von Toul und Hain­celin de Haguenau mit ei­ner in­dif­fe­ren­ten Grup­pe von Ma­lern zu um­ge­ben, die man als Um­kreis oder Nach­ fol­ge be­zeich­net, füh­len wir uns durch die dar­an an­schlie­ßen­den Nrn. 16, 17 und 18 er­ mun­tert, die aus Pa­ri­ser Mal­tra­di­ti­on ge­spei­sten Ei­gen­ar­ten zu be­nen­nen: Nach Tho­ mas Hoo, der zur eng­li­schen Be­sat­zung ge­hör­te, oder nach dem Pa­ri­ser Ju­ri­sten Jean de Pop­in­court be­nennt man den für Nr. 16 ver­ant­wort­li­chen Mei­ster, der stär­ker dem Du­ nois- als dem Bed­ford-Stil ver­pflich­tet ist. Da wir es hier mit dem Pop­in­court-Stun­den­ buch selbst zu tun ha­ben, wird nie­mand be­strei­ten kön­nen, daß sein Ma­ler zu Recht als Pop­in­court-Mei­ster be­zeich­net wer­den kann. Da­ne­ben steht der Künst­ler von Nr. 17, den man nach ei­nem kom­pli­zier­ten Bild zu den Re­li­qui­en des hei­li­gen Steph­anus im Salis­bu­ry-Bre­vier des Her­zogs von Berry nennt; wir nen­nen ihn lie­ber nach dem Brot­her­ ton-Miss­ale, für das er al­lein die Ver­ant­wor­tung trug. Am An­fang des Ka­ta­logs stand schon das Wech­sel­spiel von Pa­ris und den Nie­der­lan­den. Es ent­wickelt mit Nr. 18 ei­nen ganz be­son­de­ren Reiz; denn des­sen Künst­ler, un­ab­hän­

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gig da­von, wie man ihn nennt, hat Mo­ti­ve und Stil aus Pa­ris wohl nach Brügge ge­bracht. Da wir im­mer be­reit sind, auch von den Kol­le­gen in al­ler Welt zu ler­nen, schlie­ßen wir uns Pas­cal Schan­del an, der in ihm je­nen Phil­ippe de Mazer­ol­les sieht, den wir in Il­lu­ mi­na­tio­nen V, 2004, noch ganz an­ders de­fi­niert ha­ben. So wie die­ser Künst­ler aus der fran­zö­si­schen Me­tro­po­le nach Nor­den ge­wirkt hat, so zeigt sich in Nr. 19 eine er­staun­li­che Ge­gen­be­we­gung. In die­sem ganz aus Pa­ri­ser Brauch zu er­klä­ren­den Stun­den­buch, das der zu der­sel­ben Stil­grup­pe wie der Pop­in­court-Mei­ ster und Mazer­ol­les ge­hö­ren­de Sau­de­rat-Mei­ster an­ge­legt hat, taucht plötz­lich ein über­ wäl­ti­gen­der Stil aus dem Nor­den auf. Es ist die Kunst des Co­ëtivy-Mei­sters, des­sen wohl frü­he­ste Pa­ri­ser Ar­beit hier vor­liegt. Das Werk schärft den Sinn für die Be­nen­nung des Ma­lers: Wenn er, wie sich hier zeigt, in der fran­zö­si­schen Haupt­stadt noch als Frem­der bei ei­nem Alt­ein­ge­ses­se­nen sei­nen Platz sucht, ist er nicht in Pa­ris auf­ge­wach­sen; des­ halb ver­ab­schie­den wir uns um so ent­schie­de­ner von der für vie­le gül­ti­gen An­nah­me, er sei Co­lin d’Ami­ens und da­mit be­reits Sohn ei­nes an die Sei­ne ge­kom­me­nen Künst­lers. Wie schon in Band IV der Neu­en Fol­ge Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter se­hen wir ihn als ei­nen der Brü­der Vulcop! Bei ihm sind die Far­ben auf­ge­hellt; die Na­tur zeigt sich in ei­nem an­de­ren Licht; doch kost­bar tie­fes Blau ver­blüfft in den Him­meln. Neue Le­ben­dig­keit er­faßt die Ge­stal­ten, ihre Mi­mik und ihre Ge­stik. Noch ein­mal ist also eine neue Zeit an­ge­bro­chen. Die­sen Wan­del soll­te man nicht ein­fach nur auf den über­wäl­ti­gen­den Ein­fluß der Ta­fel­ma­le­rei der Al­ten Nie­der­län­der zu­rück­füh­ren. Zwar sind ge­wis­se Ähn­lich­kei­ten mit Rogier van der Wey­den un­ver­kenn­bar; aber die Mi­nia­tu­ren in un­se­ren Nrn. 19, 20 und 21 schlie­ßen sich nicht nur durch in­di­vi­du­el­le Ei­gen­ar­ten als Werk des ei­nen be­deu­ten­den Künst­lers zu­sam­men, son­dern set­zen sich ab von der Ta­fel­ma­le­rei in Brüs­sel, Brügge oder Lö­wen. Viel prä­gen­der ist ihre Nähe zur letz­ten gro­ßen Stil­grup­pe in un­se­rem Ka­ta­log: Was der Graf Dur­rieu einst un­ter dem Na­men von Ja­cques de Be­san­çon zu­sam­men­ge­faßt hat­te, er­wies sich schon für die äl­te­re Li­te­ra­tur, ins­be­son­de­re im Pa­ri­ser Aus­stel­lungs­ka­ta­log von 1993 als eine Ge­ne­ra­tio­nen­fol­ge aus drei gro­ßen Pa­ri­ser Buch­ma­lern, de­ren jüng­ ster erst im näch­sten Ka­ta­log dis­ku­tiert wer­den kann. Denn dort wird zu dis­ku­tie­ren sein, wie die Buch­ma­ler auf den Buch­druck rea­gier­ten. So set­zen wir hier an mit dem von Eleanor Spencer de­fi­nier­ten Mei­ster des Jean Rolin, der noch un­ter dem grei­sen Bed­ford-Mei­ster oder dem Du­nois-Mei­ster be­gon­nen hat­te. Von sei­nen Mi­nia­tu­ren in Nrn. 22 und 23 spannt sich ein über­zeu­gen­der Bo­gen hin zu Maître Fran­çois, den wir nun end­lich na­ment­lich fas­sen kön­nen: als Fran­çois le Bar­bier den Äl­te­ren, des­sen Sohn glei­chen Na­mens wohl der Mei­ster des Ja­cques de Be­san­çon war. In Nr. 24 tritt uns Fran­çois le Bar­bier der Äl­te­re mit ei­nem wür­di­gen Werk ent­ge­gen, das vor Au­gen führt, wie weit die Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei, die zwar im­mer für frem­de Ein­flüs­se of­fen war, aber dann doch ei­ge­nen Tra­di­tio­nen treu blieb, in je­nen Jahr­zehn­ten ge­kom­ men war, in de­nen der Main­zer Buch­druck auf­kam. Als die neue, zu­nächst bil­der­freie Kunst an die Sei­ne ge­lang­te, muß­te sie sich der von Pa­ri­ser Buch­ma­lern ge­för­der­ten Bil­ der­lust stel­len; da­von wird dann in un­se­rem näch­sten Ka­ta­log in al­ler Aus­führ­lich­keit

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die Rede sein. Hier en­den wir mit Hand­schrif­ten, die in der Rück­schau auf die An­fän­ge vor 1400 an­schau­lich ma­chen, wel­che un­er­hör­ten neu­en Mög­lich­kei­ten sich die Pa­ri­ser Künst­ler er­öff­net hat­ten, Licht und Raum, Be­we­gung und Ak­ti­on zu ge­stal­ten. Lie­be zu Pa­ris? Da­für ge­nügt es, zu­nächst ein­mal zu ver­fol­gen, welch ein Zau­ber von den noch stark sti­li­sier­ten An­fän­gen vor 1400 über die Zeich­nun­gen der Brü­der Lim­burg zu den fa­rb­star­ken Mi­nia­tu­ren der nach Maza­rine, Boucicaut und Bed­ford be­nann­ten Mei­ster führt, und dann wahr­zu­neh­men, wie sich im Werk un­se­res Con­rad von Toul in be­ster Tra­di­ti­on eine dem Neu­en of­fe­ne Kunst ent­wickelt, um schließ­lich zu den luf­tig kla­ren Bil­dern je­ner Künst­ler zu ge­lan­gen, die um 1450 im Um­feld des spä­ten Bed­fordStils be­gon­nen ha­ben. Welt­of­fen­heit schenk­te der Me­tro­po­le an der Sei­ne ei­nen un­er­hör­ ten Reich­tum an Ide­en; die gro­ße Dis­zi­plin und die Kon­kur­renz zwi­schen Buch­ma­lern un­ter­schied­li­chen Al­ters ga­ran­tier­te eine künst­le­ri­sche Qua­li­tät, die zum Kenn­zei­chen wur­de. Ver­traut­heit und Treue ge­hö­ren zur Lie­be; Ver­traut­heit gibt Buch­ma­le­rei­en aus Pa­ris ihre wie­der­er­kenn­ba­re Ei­gen­art, die viel­leicht dazu ge­führt hat, daß sich die Buchund Kunst­ge­schich­te der letz­ten Jahr­zehn­te statt mit der Haupt­stadt lie­ber mit den Re­ gio­nen Frank­reichs be­schäf­tigt hat. Ge­gen de­ren Kunst aber war man in Pa­ris ge­ra­de­zu im­mun; das zeigt sich in un­se­rer Nr. 12, wo plötz­lich Ge­sich­ter des Jou­ve­nel-Mei­sters und Bor­dü­ren des Mei­sters des Bar­tho­lo­mä­us An­glicus auf­tre­ten, die man an der Sei­ne ver­geb­lich sucht. Doch in­dem die­ses Ma­nu­skript so über­wäl­ti­gend auch von die­sen bei­ den Ma­lern zeugt, wird die weit über Pa­ris hin­aus wir­ken­de Kraft der dort ver­sam­mel­ ten Kunst nur im­mer deut­li­cher. Kein Schluß­wort Wis­sen­schaft, An­ti­qua­ri­at und Kunst­markt ha­ben vie­les ge­mein­sam, grün­den sie doch auf Alt­be­kann­tem, le­ben aber von den jüng­sten Neu­ig­kei­ten und strei­ten er­bit­tert, wer wel­che Wahr­heit für sich ge­pach­tet hat. Im­mer wie­der bil­den sich neue Ver­bün­de, frü­ her war von Cli­quen die Rede, heu­te spricht man in ei­ner der sel­te­nen Ver­deut­schun­gen aus dem Ame­ri­ka­ni­schen von Netz­wer­ken. In­ner­halb die­ser Clubs ar­bei­tet man ein­an­ der zu, auch in­dem man die an­de­ren en­er­gisch ne­giert, wenn man nicht gar nur noch an sich selbst glaubt und von dem We­ni­gen zehrt, das man selbst ge­schrie­ben hat. Als Aus­ gangs- und End­punkt dient die Bi­blio­gra­phie, bei der es um Zi­tie­ren und Zi­tiert­wer­den geht. Zur schein­bar na­tür­li­chen Be­gren­zung ist die Sprach­kom­pe­tenz ge­wor­den, die im Zei­chen der Glo­bal­isierung nur noch ein geo­gra­phisch ei­gen­wüch­sig ent­stan­de­nes Idi­ om kennt, das des­sen Mut­ter­land nicht ein­mal schätzt, und das, wie vie­le da­mit auf­ge­ wach­se­nen Au­to­rin­nen und Au­to­ren mei­nen, der Mühe ent­hebt, noch an­de­re Zun­gen zu ver­ste­hen. Der Ent­wick­lung von Er­kennt­nis tut die Ab­kap­se­lung in­di­vi­du­ell und in Grup­pen nicht gut; ge­schwol­len ge­sagt ist sie eine epistemo­lo­gi­sche Ka­ta­stro­phe. Er­geb­nis­se, die den ei­ nen seit Jahr­zehn­ten ge­läu­fig sind, blei­ben den an­de­ren fremd, zu­mal oft zwi­schen der ei­ge­nen pro­duk­ti­ven Ar­beit und der Pu­bli­ka­ti­on vie­le Jah­re lie­gen, in de­nen sich auch ein paar Grund­la­gen ver­än­dert ha­ben. So kom­men wir zum Aus­gangs­p unkt zu­rück: Mit

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Art in a Time of War gibt Gre­gory Clark auch ein Mu­ster­bei­spiel da­für, was es heißt, sich all­ge­mei­nen Ent­wick­lun­gen der Kennt­nis zu ver­schlie­ßen, weil sie nicht der ein­mal ein­ ge­üb­ten Sicht­wei­se ent­spre­chen, die auf dem be­ruht, was bis 1974 ko­di­fi­ziert und 1982 mit der ein­drucks­vol­len New Yor­ker Aus­stel­lung The Last Flowe­ring schon fast ab­ge­ schlos­sen war.139 Mit die­sem Ka­ta­log zei­gen wir uns selbst neu­en An­re­gun­gen ge­gen­über of­fen. Er will in die­ser Zeit dem ge­gen­wär­ti­gen Kennt­nis­stand ge­recht wer­den. Wie schön wäre es, er trä­ fe auch bei dem ei­nen oder der an­de­ren, die sich gern un­se­ren Ar­gu­men­ten ver­schlie­ßen, auf of­fe­ne Oh­ren oder bes­ser Au­gen.

139 An die­sem lan­ge Zeit prä­gen­den Ev­ent war Gre­gory Clark als Mit­ar­bei­ter von John Plum­mer we­sent­lich be­tei­ligt.

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1 Das Stun­den­buch mit dem wie­hern­den Esel von Per­rin Rem­iet


1 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Rom. La­tei­ni­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, la­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Ru­bri­ken in hel­lem Rot, ge­schrie­ben in schwar­zer Tex­tura. Pa­ris, um 1385-95: Per­rin Rem­iet und zwei in der Stadt frem­de Ma­ler: ei­ner aus dem Um­feld des Mei­sters der Ma­ria von Gel­dern und ein Eng­län­der? Zwölf Bild­sei­ten mit gro­ßen Mi­nia­tu­ren in recht­ecki­gen Fel­dern über vier Zei­len In­ cipit mit ei­ner vierz­ei­li­gen, sonst dreiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len: eine Mi­nia­tur, die das gan­ze Bild­feld nutzt, eine wei­te­re in ei­nem ge­schwun­ge­nen Vier­paß, die üb­ri­gen zehn in Vier­paß­rah­men mit leuch­ten­dem rot-weiß-blau­em Rand, mit drei­sei­ti­gen Zier­lei­sten und Dorn­blat­tran­ken in Gold, Blau und Rot mit Drolerien in Grisaille im Bas-de-page so­wie Gro­tes­ken, Vö­geln und In­sek­ten in den Rand­strei­fen; alle Text­sei­ten in­nen und au­ßen mit senk­rech­ten Dop­pel­stä­ben, aus de­nen ent­spre­chen­de Dorn­blat­tran­ken sprie­ßen, um Voll­bor­dü­ren zu bil­den. Die Ma­rien­ge­be­te mit dreiz­ei­li­gen, Psal­men­an­fän­ge und ähn­li­che In­ cipits mit zweiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len, die oft mit der Zier­lei­ste or­ga­nisch ver­bun­den sind; Psal­men­ver­se mit ein­zei­li­gen Gold­buch­sta­ben auf pur­pur­nen und blau­en Flä­chen mit wei­ßem Li­ni­en­de­kor; Zei­len­fül­ler in glei­cher Art. Ver­sa­li­en rot an­ge­stri­chen. 169 Blatt Per­ga­ment, dazu je­weils ein fe­stes und zwei flie­gen­de Vor­sät­ze aus Per­ga­ment zu Be­ginn und am Ende des Ban­des. Ge­bun­den vor­wie­gend in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­ wei­chend die End­la­ge des Ma­rien­of­fi­zi­ums 10 (6) so­wie die End­la­ge 22 (2+1, 3. Blatt hin­zu­ ge­fügt). Mo­der­ne Fo­lie­rung mit Blei­stift rechts un­ten. Ok­tav (168 x 120 mm; Text­spie­gel: 90 x 58 mm). Rot reg­liert zu 14 Zei­len; ho­ri­zon­ta­le Reklam­an­ten. In Sä­misch-Le­der ge­bun­den, mit wei­ßem Sei­den­über­zug, zwei ver­gol­de­te Schlie­ßen, si­gniert auf dem zwei­ten flie­gen­den Vor­satz hin­ten: „James Brock­man 1989“. Als ein­zi­ger Hin­weis auf frü­he Be­sit­zer ist das schon um 1400 hin­zu­ge­füg­te Ge­bet des hei­li­ gen Tho­mas von Can­ter­bu­ry zu wer­ten; Schrift und De­kor sind Pa­ris fremd; of­fen­bar ge­riet das Buch früh in eng­li­sche Hän­de, wo­für auch die eng­li­sche Mach­art der Mi­nia­tur zu den Buß­psal­men spricht. Pro­ve­ni­enz: Ein ver­mut­lich eng­li­sches Wap­pen mit schwar­zem, stei­gen­dem Lö­wen auf ro­tem Grund, der je­doch durch die Po­si­ti­on im Bild zum schrei­ten­den Lö­wen wird, schmückt die Po­ sau­ne ei­nes lie­gen­den En­gels im Bas-de-page auf fol. 79. Die Farb­kom­bi­na­ti­on kommt in kei­ nem pro­mi­nen­ten Lö­wen­wap­pen vor, wie sie vor al­lem in den süd­li­chen Nie­der­lan­den be­liebt wa­ren. [Charles van der Elst], Ven­te II: Pa­ris, 16. Sept. 1988, lot 67: 2.150.000 frs.; Pri­vat­samm­ lung (USA).

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Der Text: fol. 1: Ma­ rien­ of ­fi­ zi­ um für den Ge­brauch von Rom: Matutin (fol. 1), Lau­des (fol. 21), Prim (fol. 34), Terz (fol. 39), Sext (fol. 44), Non (fol. 48v), Ves­per (fol. 53), Komplet (fol. 61v); fol. 72v: Ad­vents­of­fi­zi­um. fol. 79: Buß­psal­men, mit ex­trem kur­zer Li­ta­nei (fol. 91v): Pa­ri­ser Prä­gung mit Dio­ny­si­ us und Eustachius. fol. 95: Horen von Hei­lig Kreuz (fol. 95) und Horen von Hei­lig Geist (fol. 99). fol. 103: To­ ten­ of ­fi­ zi­ um, für den Ge­brauch von Rom: Ves­per (fol. 103), mit ei­nem Für­ bitt­ge­bet am Ende in weib­li­cher Form: pour vne fe(m)me or(aison). Quesu­mus domi­ne pro tua pi­et­ate mi­se­re­re an­ime fa­mule tue… (fol. 110), Matutin (fol. 111, mit Ru­brik), Lau­des (fol. 135v, mit Ru­brik). fol. 149: Ma­rien­ge­be­te: Ob­secro te (fol. 149), re­di­giert für ei­nen Mann, ge­folgt vom O in­ teme­rata (fol. 152v), für ei­nen Mann re­di­giert (et esto michi pecca­tori…, fol. 154). fol. 156v: Vo­tiv­mes­sen: Hei­lig-Geist-Mes­se: la mes­se du saint es­prit: Spi­ri­tus domi­ni rep­ le­vit orbem terra­rum…, Hei­lig-Kreuz-Mes­se (fol. 161v): la mes­se de la crois: Nos autem glo­ria­ri op­or­tet in cruce domi­ni…, Ma­rien­mes­se (fol. 164v): la mes­se de nostre dame: Sal­ve sancta parens… fol. 168 (nach­ge­tra­gen): Ge­be­te des hei­li­gen Tho­mas Becket von Can­ter­bu­ry (docteur et martir saint tho­mas de chanthorbie): Gau­de flo­re vir­gin­ali que honore speci­ali trans­cen­dis splendife­rum… (fol. 168v) und Du­lcissime domi­ne ihesu christe qui beat­iss­imam gen­itricem tuam glo­ri­os­am virginem mariam… (fol. 169v). fol. 169v Texten­de. Schrift und Schrift­de­kor Mit sei­ner sorg­fäl­ti­gen Tex­tura, den leuch­tend ro­ten Ru­bri­ken und dem vor­züg­li­chen Schrift­de­kor er­weist sich das Ma­nu­skript als ein aus­ge­sucht schö­nes Bei­spiel auf­wen­ dig ge­stal­te­ter Pa­ri­ser Stun­den­bü­cher aus der Um­bruch­zeit zwi­schen dem 14. und dem 15. Jahr­hun­dert. Doch ge­gen den Orts­brauch sind die Ver­sa­li­en nicht gelb la­viert, son­ dern rot an­ge­stri­chen. Als Ku­rio­sum wird man be­mer­ken, daß auf fol. 48v eine Reklam­ an­te loria lau­tet, weil nicht ein­be­zo­gen wird, daß dem vom Schrei­ber no­tier­ten Fol­ge­wort die In­itia­le G noch fehl­te. Psal­men­ver­se set­zen am Zei­len­an­fang an und ver­lan­gen des­halb vie­le Zei­len­fül­ler in der glei­chen Fa­mi­lie des Flä­chen­de­kors. Die drei- bis vierz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len auf den Bild­sei­ten ste­hen auf far­bi­gen Fel­dern und sind nur im Buch­sta­ben­kör­per mit Blatt­gold ge­füllt, wäh­rend die drei- und zweiz­ei­li­gen im Text ganz auf Blatt­gold er­schei­nen. Die hin­zu­ge­füg­ten Ge­be­te des Tho­mas von Can­ter­bu­ry am Schluß er­öff­nen mit Blatt­gold­ buch­sta­ben auf Fe­der­werk.

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Er­staun­lich reich ist der Rand­de­kor der ein­fa­chen Text­sei­ten; denn ob­wohl bei den zweiz­ei­li­gen In­itia­len noch nach­wirkt, daß Zier­lei­sten ei­gent­lich mit Buch­sta­ben or­ga­ nisch ver­bun­den sein müß­ten, wer­den die Dop­pel­stä­be ein­fach als senk­rech­te Rah­men links und rechts ein­ge­setzt. Aus ih­nen sprießt far­bi­ges Dorn­blatt, das der Ent­ste­hungs­ zeit ent­spre­chend kei­ne ge­schlos­se­ne Tep­pich­wir­kung er­reicht; die hin­zu­ge­hö­ri­gen Dra­ chen in Blau und Rot ent­sprin­gen vor­zugs­wei­se den äu­ße­ren Zier­lei­sten. Die Bild­sei­ten er­hal­ten drei­sei­ti­ge Zier­lei­sten, die um die In­itia­len kräf­ti­ges Dorn­blatt ent­wickeln, ehe sie zu­nächst durch­weg in Flä­chen­de­kor aus­ge­führt wer­den, von der fünf­ ten Mi­nia­tur aber in­nen und un­ten nur noch als Dop­pel­stä­be, um am Schluß beim To­ ten­of ­fi­zi­um noch ein­mal alle drei Lei­sten mit Flä­chen­de­kor zu ge­stal­ten. Drolerien in Grisaille er­schei­nen un­ter dem In­cipit, mit ei­ner Aus­nah­me im Bas-de-page, das bei der Flucht nach Ägyp­ten nicht aus­ge­bil­det ist. Gro­tes­ken, Vö­gel und In­sek­ten be­völ­kern die Rand­strei­fen, z. B. oft ein Storch oder Pe­li­kan mit ver­dreh­tem Hals. Nur die er­ste Mi­nia­tur nutzt das gan­ze Bild­feld; sonst sind Vier­päs­se mit rot-weiß-blau­en Rah­men ein­ge­setzt; ei­ner von ih­nen wird durch sei­ne ge­schwun­ge­ne Form und zier­li­che­ re Aus­füh­rung von den an­de­ren ab­ge­setzt. Das Grund­mu­ster war in der Pa­ri­ser Buch­ ma­le­rei der bei­den letz­ten Jahr­zehn­te vor 1400 un­ge­mein be­liebt und zwar für Ein­zel­ bil­der in Stun­den­bü­chern eben­so wie für mit vier Mi­nia­tu­ren be­stück­te Front­ispize; im 15. Jahr­hun­dert kommt es nur noch sel­ten vor. Von hier er­schließt sich die Ver­bin­dung mit den wich­tig­sten Hand­schrif­ten, die heu­te mit Per­rin Rem­iet und Jean de Nizières ver­bun­den wer­den, al­len vor­an das Ex­em­plar der Péleri­na­ge des Guillaume de Degulleville, fr. 823 der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek (Ca­mil­le 1996, Abb. 6 und 162.). Hin­zu kommt, in un­se­rem Kon­text be­son­ders wich­tig, das Stun­den­buch H. Y. Thompson 45 in der Bri­tish Lib­rary (eben­da, Abb. 174). Die Bild­sei­te mit ei­nem ab­wei­chend ge­stal­te­ten, stär­ker fi­li­gra­nen Vier­paß und die er­ste Mi­nia­tur, die auf eine Bin­nen­glie­de­rung der Mi­nia­tur ganz ver­zich­tet, sind cha­rak­te­ri­ sti­scher Wei­se von an­de­rer Hand. Die Bil­der: Im Ma­rien­of ­fi­zi­um hat sich noch nicht die im 15. Jahr­hun­dert dann für Pa­ris gül­ti­ge Bild­fol­ge durch­ge­setzt: Kin­der­mord und Flucht nach Ägyp­ten bil­den den Ab­schluß; spä­ ter soll­te die Flucht nach Ägyp­ten die Ves­p er be­set­zen, so daß zur Komplet Ma­ri­as Er­ hö­hung im Him­mel ge­zeigt wer­den konn­te. Das Ein­gangs­bild mit der Ma­rien­ver­kün­di­ gung zur Matutin ist dop­pelt von der üb­ri­gen Bild­fol­ge ab­ge­setzt: im Lay­out wie im Stil. Von den Lau­des (fol. 21) an wer­den die Bil­der von lie­gen­den Vier­päs­sen um­schlos­sen, die im recht­ecki­gen Bild­feld von ei­ner Gold­flä­che um­ge­ben sind, die ih­rer­seits mit ei­nem Dop­pel­stab aus Gold und Far­be ge­rahmt ist. Drei­far­big wie die heu­te für Frank­reich ste­hen­de Tri­ko­lo­re sind die Rän­der des Vier­pas­ses an­ge­legt und zwar im Wech­sel von Rot-Weiß-Blau und Blau-Weiß-Rot; fol­ge­rich­tig al­ter­nie­ren auch die Must­er­grün­de der Bil­der, zu­nächst in Alt­ro­sa und dann in Blau und so fort. Land­schaft wie In­te­rieur wird

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nur durch die Bö­den an­ge­deu­tet: Fels­grund mit Bäum­chen wird so von ei­nem grau­grü­ nen Est­rich un­ter­schie­den, auf dem Ma­ri­as Wo­chen­bett eben­so wie höl­zer­ne Kä­sten für Al­tä­re und Thro­ne Mo­bi­li­ar re­prä­sen­tie­ren. Zur Matutin wird die Ver­kün­di­gung an Ma­ria (fol. 1) in ein fast qua­dra­ti­sches Bild­feld ge­setzt, das vom Dop­pel­stab ge­rahmt wird. Statt ei­nes Mu­ster­grun­des strahlt blau­er Him­mel hin­ter den Ar­chi­tek­tu­ren, die als Schau­platz die­nen; auf ei­nen Blick in Land­ schaft ist ganz ver­zich­tet. Wie in man­chen an­de­ren frü­hen Ver­sio­nen zu die­sem The­ma, ver­weilt der Erz­en­gel in ei­ner Art An­ti­chambre vor dem Ka­pel­len­raum, in dem Ma­ria vor ei­nem Al­tar ge­be­tet hat­te und sich nun zu ihm um­dreht. Das Sil­ber der fünf rund­ bo­gi­gen Fen­ster hin­ter ihr hat einst ge­nau so präch­tig ge­glänzt wie das Gold ei­nes Bo­ gens über Ga­bri­els nied­ri­ge­rem Ge­wöl­be. Dort er­scheint Gott­va­ters Haupt mit dich­tem wei­ßen Bart und sen­det die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes zur Jung­frau. Von an­de­rer Hand ge­malt sind die drei mu­si­zie­ren­den En­gel im Bas-de-page. Wohl noch von ei­ner drit­ten Hand, wenn nicht so­gar vom Ma­ler des Haupt­bil­des aus­ge­führt sind die En­gels­köp­fe auf Vo­gel­kör­pern im äu­ße­ren Bor­dü­ren­strei­fen. Die Heim­su­chung (fol. 21) spielt auf nach rechts leicht an­stei­gen­dem Ge­län­de. Zu Ma­ ria, die „über’s Gebirg“ ge­kom­men ist, kommt von links die be­tag­te Eli­sa­beth, sinkt in die Knie und legt, von der Jung­frau mit bei­den Hän­den am rech­ten Arm ge­führt, ihre Hand auf de­ren ge­seg­ne­ten Leib. Sie wächst mit ih­rem grau­grü­nen Kleid gleich­sam aus dem Bo­den her­aus, die Fa­rb­flä­chen sind nicht ganz kon­se­quent zwi­schen den Kon­tu­ren aus­ge­füllt. Den Ge­samt­ein­druck be­stimmt der ko­lo­ri­sti­sche Grund­ge­dan­ke, mit dem Zin­no­ber­rot von Eli­sa­beths Man­tel und Ma­ri­as Blau so­wie dem Weiß der Hau­be für die äl­te­re Frau den Drei­klang der Bild­rah­mung noch ein­mal zu wie­der­ho­len. Der Gruß der bei­den Ba­sen wird auf an­mu­ti­ge Wei­se im Bas-de-page von En­geln per­ sifliert, die auf­ein­an­der zu­ge­flo­gen sind und nun ein­an­der die Hand ge­ben wol­len. In die­sem Fal­le ist der­sel­be Ma­ler tä­tig ge­wor­den, der die Mi­nia­tur ge­schaf­fen hat, nur hat er sich auf Grau be­schränkt und da­bei eher Grisaille als rei­ne Zeich­nung schaf­fen wol­ len. Daß er auch die zwei Vö­gel und den Schmet­ter­ling in der Bor­dü­re aus­ge­führt hat, ist nicht of­fen­sicht­lich, aber mög­lich. Ein ähn­li­ches Spiel mit Rot, Weiß und Blau wird im Bild der Ge­burt Chri­sti (fol. 34) wie­der­holt: Die leuch­tend rote Decke des schräg von links oben nach rechts un­ten ins Bild ra­gen­den Wo­chen­betts bil­det die größ­te Fa­rb­flä­che. Das Weiß des Bett­zeugs und des Wickel­kin­des setzt Ma­ri­as blau­es Kleid da­von ab. Blau ist auch Jo­sephs Müt­ze; doch mit dem Alt­ro­sa sei­nes Kit­tels kommt ein wei­te­rer Farb­ton ins Bild. Et­was un­ge­fü­ge sind Bet­ten in sol­chen Mi­nia­tu­ren; dies­mal dient eine Art Flecht­zaun als Bett­kan­ten. Da­vor ra­gen die Köp­fe von Esel und Ochs von links ins Bild; sie drän­gen zur höl­zer­nen Krip­pe, die aber leer ist. Jo­seph, der in frü­he­ren Mi­nia­tu­ren meist noch ganz un­be­tei­ligt ne­ben dem Bett sitzt und schläft, macht sich hier nütz­lich, als müße er die Heb­am­me er­set­zen, die ein Bad für das Neu­ge­bo­re­ne an­rich­tet. So beugt er sich über die höl­zer­ne Wan­ne, ob­wohl ja der Kna­be be­reits schön ge­wickelt in der Jung­frau Arm liegt.

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Der Un­ter­schied zwi­schen den Vö­geln im Rand­schmuck und den bei­den Harp­yen im Bas-de-page zeigt, daß der Ma­ler der Mi­nia­tur mit ra­schem und si­che­ren Strich die bei­ den ein­an­der im Bas-de-page be­geg­nen­den We­sen ge­stal­tet hat, aber nicht in der Bor­ dü­re tä­tig war. Von ge­ra­de­zu em­pha­ti­scher Schön­heit ist das Bild der Hir­ten­ver­kün­di­gung (fol. 39), das wie­der mit den Haupt­far­ben spielt: Vor mit Gold­ran­ken ge­mu­ster­tem Alt­ro­sa er­schei­ nen oben die weiß ge­klei­de­ten En­gel mit ih­ren ro­ten Flü­geln aus drei­fa­chen blau­en Wol­ ken­krei­sen, um ihre Bot­schaft mit wei­ßen Schrift­bän­dern an­zu­deu­ten, die dort je­doch nicht ein­ge­tra­gen ist. Zu ih­nen blicken die bei­den Hir­ten auf un­ter­schied­li­che Wei­se auf; von links schrei­tet ei­ner mit sei­nem Hund her­an, wäh­rend der an­de­re in kom­pli­zier­ter Win­dung auf dem Bo­den sitzt. Die Her­de sorgt für wei­te­re wei­ße Flecken im Bild. Von ge­üb­ter Hand aus­ge­führt wur­de die ele­gan­te Jagd­sze­ne von Hund und Hase im Basde-page. Da­ge­gen tritt das Teu­fel­chen mit den ge­dreh­ten Hör­nern zu­rück; der Schmet­ ter­ling er­in­nert an hier schon Ge­se­he­nes und der Schwan mit dem ge­wun­de­nen Hals er­weist sich als Va­ri­an­te ei­nes Mo­tivs aus dem Rand­schmuck zur Heim­su­chung. Bei der An­be­tung der Kö­ni­ge (fol. 44) ist die lin­ke Bild­hälf­te Ma­ria, die rech­te den drei Wei­sen aus dem Mor­gen­land zu­ge­wie­sen. Mit ei­nem zu­rück­ge­wen­de­ten Blick ver­si­chert sich der nack­te Je­sus­kna­be der Zu­stim­mung sei­ner Mut­ter, um sich dann dem grei­sen Kö­nig zu­zu­wen­den, der vor ihm kniet, die Kro­ne in der ge­senk­ten Lin­ken und sein gol­ de­nes Ge­schenk in der er­ho­be­nen Rech­ten. Der­weil spricht der mitt­le­re Kö­nig, in lan­ gem Ge­wand, mit dem jüng­sten, der eine mo­di­sche kur­ze Robe trägt. Von sy­ste­ma­ti­scher Ar­beits­ver­tei­lung kann nicht die Rede sein; denn dies­mal sind die ge­flü­gel­ten Halb­we­sen – mit Hin­ter­bei­nen von Säu­ge­tie­ren und Men­schen­köp­fen – im Bas-de-page von der­sel­ben re­so­lu­ten Hand hin­ge­stri­chen, die auch ei­nen Vo­gel in die Bor­dü­re setz­te, zwei­fel­los vom Ma­ler der Mi­nia­tur. Vor Gold­ran­ken auf Rosa nimmt der höl­zer­ne Al­tar bei der Dar­brin­gung im Tem­pel (fol. 48v) die Bild­mit­te ein. Von links ist die Mut­ter­got­tes in Blau über ih­rem ro­sa­far­ be­nen Kleid mit ei­ner in Rot ge­klei­de­ten Be­glei­te­rin ein­ge­tre­ten, die sich als Mäd­chen mit of­fe­nen Haa­ren, aber ei­nem gol­de­nen Hei­li­gen­schein zeigt und die Ker­ze so­wie ein Körb­chen mit drei Tau­ben hält. Ma­ria reicht Simeon den nack­ten Kna­ben, der zu ihr zu­rück­blickt und mit bei­den Hän­den auf den Greis zeigt; Simeon kommt bar­häup­tig und ohne Nim­bus, die Arme bis zur Schul­ter mit ei­nem wei­ßen Tuch be­deckt, ohne Be­ glei­ter auf sie zu. Der Tem­pel als Ort der Prie­ster regt im Bas-de-page eine gro­tes­ke Be­geg­nung zwei­er Halb­we­sen an, die sich mit ei­ner ein­fa­chen Papst­kro­ne links und der Mi­tra von Bi­schof oder Abt rechts zei­gen. Nicht so rasch hin­ge­wor­fen, aber doch ganz in der Mach­art des Haupt­ma­lers sind sie ge­stal­tet, der viel­leicht auch die Bor­dü­re mit ei­nem Vo­gel be­lebt hat.

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Auch der Kin­der­mord (fol. 53) spielt in ei­nem Raum, wie der Thron und der glat­te Est­ rich zei­gen: Links thront He­ro­des, die Bei­ne wie bei ei­nem Rich­ter­spruch ge­kreuzt, als Kö­nig und be­fiehlt mit aus­ge­streck­tem Arm ei­nem Sol­da­ten, auf ein Wickel­kind, das be­reits blu­tet, ein­zu­ste­chen; der­weil ver­schwin­det ein zwei­ter Mann in vol­ler Rü­stung nach rechts, of­fen­bar um ähn­li­che Un­ta­ten zu be­ge­hen. Ein nack­ter Mann geht im Bas-de-page mit sei­nem Schwert auf ei­nen Af­fen los; ein klei­ ner Dra­che brei­tet im Rand­strei­fen da­ne­ben die Flü­gel, bei­des vom Mi­nia­tu­ren­ma­ler. Sei­nen Spitz­na­men un­ter Ken­nern ver­dankt das Buch der Flucht nach Ägyp­ten (fol. 61v), die den Kind­heits­zy­klus zur Mari­en-Komplet ab­schließt: Wäh­rend Jo­seph un­ter dem er­ho­be­nen Kopf des Esels vor­aus­geht, sitzt Ma­ria auf dem Last­tier und hält den in Weiß ge­wickel­ten Je­sus­kna­ben; da hebt das Tier sei­nen Kopf und wie­hert. Die­ses Mo­ment ist vor­züg­lich be­ob­ach­tet; in der strik­ten Aus­rich­tung im Pro­fil ver­tritt es eine nord­al­pi­ne Tra­di­ti­on, die sich deut­lich von dem ab­hebt, was die Brü­der Lim­burg nur we­nig spä­ter in un­se­rer Nr. 4 so­wie in den Bel­les Heu­res bei der An­be­tung der Kö­ni­ge und dem hei­li­ gen Ge­org aus ita­lie­ni­schen An­re­gun­gen ge­stal­ten soll­ten. Die stei­le Wen­dung nach oben wird in der Bor­dü­re links von ei­nem Storch nach­ge­ahmt. In den Ran­ken un­ter dem Schrift­feld, wo kein Bas-de-page ein­ge­rich­tet ist, ver­folgt ein nack­ter Mann, der sich mit ei­nem Schild schützt, ei­nen Vo­gel mit ei­nem Stein. Auch dies­mal war der Mi­nia­tu­ren­ma­ler ver­ant­wort­lich. Die Buß­psal­men er­öff­net hier wie in vie­len Pa­ri­ser Stun­den­bü­chern noch nach der Wen­de zum 15. Jahr­hun­dert eine Majestas Domi­ni mit den vier Evan­ge­li­sten­sym­bo­len (fol. 79): Der Be­deu­tung die­ses In­cipits, das in der Hier­ar­chie vor den ein­fa­chen Ma­rien­ stun­den steht und nur von der Matutin über­trof­fen wird, soll of­fen­bar da­durch ent­spro­ chen wer­den, daß ein an­de­rer Ma­ler ein­ge­setzt wird und, auch wenn das Lay­out grund­ sätz­lich gleich bleibt, die Vier­paß­form kunst­voll ab­ge­wan­delt wird: Sehr viel zier­li­cher sind die Rah­men in den­sel­ben drei Far­ben, sie bil­den in den Ecken Spit­zen, die zwar nur we­nig mehr Bild­raum schaf­fen, aber fei­ner und aus­ge­fal­le­ner wir­ken. Ohne eine An­ga­be von Bo­den setzt Got­tes Thron hin­ter dem Zier­rat des Rah­mens an. In den vier Ecken sind die We­sen ver­teilt, an de­nen man die Evan­ge­li­sten er­kennt, und zwar so, daß die zwei­bei­ni­gen mit ih­ren Flü­geln oben, die vier­bei­ni­gen aber flü­gel­los un­ten er­schei­nen; alle vier tra­gen Schrift­bän­der mit dem Na­men des je­wei­li­gen Evan­ge­li­sten. Die Got­tes­ er­schei­nung os­zil­liert zwi­schen Chri­stus und dem Va­ter. In Alt­ro­sa ge­klei­det mit ei­ nem in­nen rot, au­ßen blau ge­färb­ten Man­tel sitzt die Ge­stalt mit der Spha­ira und ei­nem gol­de­nen Zep­ter leicht nach links ge­wen­det und seg­net mit der Rech­ten, eine welt­li­che Kro­ne auf dem Haupt. Der Ma­ler die­ser Haupt­mi­nia­tur hat auch den ku­rio­sen Jüng­ling mit zwei Po­sau­nen ge­ stal­tet, der im Bas-de-page liegt. Eben­so war er ver­ant­wort­lich für ei­nen zum Schwert­ streich aus­ho­len­den Wil­den, der so weit in den Rand ge­rückt ist, daß er als ein­zi­ger vom Buch­bin­der be­schnit­ten wur­de. Wie die­se bei­den Ge­stal­ten ver­rät auch ein in Tuch ein­

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ge­hüll­ter Dra­che mit Af­fen­kopf und Mi­tra links und Dra­chen­kopf rechts eine Art von Bild­phan­ta­sie, die sonst in un­se­rem Stun­den­buch nicht zu fin­den ist. In be­son­de­rer Wei­se be­ein­druckt der Ma­ler mit den drei im Lei­den und Schmerz er­faß­ ten Ge­stal­ten der Kreu­zi­gung (fol. 95) zu den Horen des Hei­li­gen Kreu­zes: Der Er­lö­ser mit sei­nem wal­len­den blon­den Haar er­scheint tot, aber durch die Li­ni­en, mit de­nen sein Ant­litz, sein Leib, vor al­lem auch Arme und Bei­ne ge­stal­tet sind, noch im Tode be­lebt; en­er­gisch he­ben sich die drei schwar­zen Nä­gel ab, die ihn ans hell­brau­ne Kreuz hef­ten. Ent­spre­chend er­schüt­tert sind Ma­ria, die wie frie­rend die Arme kreuzt, und der Lieb­ lings­jün­ger Jo­han­nes. Vom Ma­ler der Mi­nia­tur rasch hin­ge­stri­chen sind die Halb­fi­gu­ren zwei­er wei­nen­der En­ gel im Bas-de-page so­wie Vo­gel und In­sekt im Rand­schmuck. In der Zeit vor 1400 hat­te sich das Pfingst­bild zur Er­öff­nung der Horen des Hei­li­gen Geists noch nicht all­ge­mein durch­ge­setzt; des­halb kann hier der so­ge­nann­te Gna­den­ stuhl (fol. 99) zur Matutin ge­zeigt wer­den: Über spit­zig auf­ra­gen­den Mo­ti­ven ei­nes ab­ strak­ten Grun­des thront eine Got­tes­er­schei­nung, der die cha­rak­te­ri­sti­schen Al­ters­zü­ ge des Va­ters feh­len, auf ei­nem Re­gen­bo­gen, der aus den­sel­ben drei Far­ben ge­bil­det ist, die dem Vier­paß als Rah­mung die­nen. Haar und Bart sind blond wie beim Ge­kreu­zig­ ten, den die­ser Gott hält; von sei­nem Mund glei­tet die Tau­be zum Nim­bus des Soh­nes. Im Bas-de-page er­he­ben sich zwei nack­te Auf­er­ste­hen­de aus ih­ren Sär­gen; sie deu­ten die Got­tes­er­schei­nung als ein Bild vom Jüng­sten Tag. Der Ma­ler der Mi­nia­tur hat sie eben­ so sorg­sam aus­ge­führt wie ei­nen Schmet­ter­ling am Rand. Vor ei­nem Rau­ten­mu­ster aus Gold und Blau mit wei­ßen fle­urs-de-lis steht ei­gen­tüm­lich nach rechts an­stei­gend der Ka­ta­falk mit dem To­ten beim To­ ten­ of ­fi­ zi­ um (fol. 103), von vier Ker­zen um­ge­ben: Das blaue Tuch wird von ei­ner gol­de­nen Bor­te ge­schmückt, die hier kaum er­kenn­bar ein Kreuz über den Ver­stor­be­nen brei­tet. An sei­nem Fußen­de ste­ hen die Pleurants in Schwarz; zum Haupt ist ein ho­hes Sän­ger­pult mit dem Vor­tra­ge­ kreuz ge­stellt. Dort­hin schau­en die drei Prie­ster hin­ter dem Ka­ta­falk und stim­men das To­ ten­ of ­fi­ zi­ um an. Ei­gen­tüm­lich wirkt die Per­si­fla­ge der Prie­ster im Bas-de-page: Der Ma­ler der Mi­nia­ tur, der rechts oben im Rand auch ei­nen hocken­den Hund ge­zeich­net hat, zeigt dort zwei mus­ku­lö­se Nack­te, von de­nen ei­ner zwei Glocken schwingt, wäh­rend der an­de­re ein Vor­tra­ge­kreuz hält. Eher nicht von der­sel­ben Hand sind der Storch und das Halb­ we­sen dar­un­ter. Lo­ka­li­sie­rung, Da­tie­rung und Zu­schrei­bung: Ge­prägt ist die Hand­schrift von je­nem Buch­ma­ler, der die zehn Bild­sei­ten mit blau-weißrot um­ran­de­ten Vier­päs­sen ge­stal­tet hat, wie sie in der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei in den Jahr­ zehn­ten vor 1400 vor al­lem bei Per­rin Rem­iet und Jean de Nizières be­liebt wa­ren. An den zehn Mi­nia­tu­ren selbst war zwar kein Mit­ar­bei­ter be­tei­ligt; denn die sind ganz und

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gar ein­heit­lich. Die Ge­stal­ten im Bas-de-page und die In­sek­ten, Vö­gel und Gro­tes­ken in den Bor­dü­ren sind je­doch teil­wei­se so ver­schie­den, daß ein Ne­ben­ein­an­der meh­re­rer Hän­de nicht zu ver­ken­nen ist. Eine strik­te Tren­nung zwi­schen dem hi­sto­rie­ur, der die Bil­der ge­malt hat und den für In­itia­len und Rand­schmuck ver­ant­wort­li­chen enlu­mi­ne­ urs hat es nicht ge­ge­ben; denn man­che Fi­gur in Bas-de-page und Bor­dü­ren stammt vom Ma­ler der Mi­nia­tu­ren. Die­se Hand hat auch die En­gel im Bas-de-page der Ver­kün­di­gung ge­malt; doch die­sen Künst­ler als Haupt­ma­ler der Hand­schrift zu be­zeich­nen, ist nicht ganz un­pro­ble­ma­ tisch; denn die Mi­nia­tur zur Mari­en-Matutin (fol. 1) stammt eben­so­we­nig von sei­ner Hand wie das von der Text­hier­ar­chie zweit­wich­tig­ste In­cipit, die Buß­psal­men (fol. 79). Zu­dem sind bei­de Bild­sei­ten wie­der­um so un­ter­schied­lich ge­stal­tet, daß man nicht recht weiß, ob sie nicht ih­rer­seits von zwei ver­schie­de­nen Ma­lern aus­ge­führt wur­den. Sie ent­ zie­hen sich der sonst herr­schen­den Werk­statt­dis­zi­plin: Beim An­fang des Mari­en-Of ­fi­zi­ ums wirkt es, als habe der sonst ver­ant­wort­li­che Ma­ler nur das Haupt­bild ei­nem Frem­ den über­las­sen, nach­dem er wohl schon die Vo­gel­kör­per in der Bor­dü­re an­ge­legt hat­te, de­ren Men­schen­köp­fe dann der Ma­ler des Ver­kün­di­gung hin­zu­füg ­te. Mi­nia­tur und Rand­schmuck der Majestas domi­ni zu den Buß­psal­men hin­ge­gen wir­ken eben­so weit ent­fernt von dem sonst hier üb­li­chen Stil, aber in sich ein­heit­lich. Die Ar­beits­ver­tei­lung mag nicht von den Ma­lern, son­dern von ei­nem libra­ire, also ei­nem für das Pro­jekt ver­ant­wort­li­chen Buch­händ­ler ver­fügt wor­den sein, der auch Schrei­ber ge­we­sen sein mag. Der hät­te sich, was den Lö­wen­an­teil der Ar­beit be­traf, auf ei­nen so­li­ den orts­an­säs­si­gen Ma­ler ver­las­sen, für die bei­den Haupt­bil­der aber Orts­frem­de, Durch­ rei­sen­de für eine Art Gast­auf­tritt en­ga­giert. Für die in Pa­ris an­säs­si­gen Be­tei­lig­ten kom­men drei Na­men ins Spiel: Der libra­ire Ren­ aut oder Reg­nault du Montet (Rouse und Rouse 2000, I, S. 287-297, und II , 123-125, mit ei­nem wohl et­was zu spät an­ge­setz­ten Ge­burts­jahr um 1375) und der Buch­ma­ler Per­rin Rem­iet (Rouse und Rouse 2000, II , S. 115), so­wie als wei­te­rer Buch­ma­ler Jean de Nizières, der in ei­nem Ex­em­plar der fran­zö­si­schen Fas­sung des Bart­holomaeus An­glicus mit „Je­han de Nizie­res, enlumi­neur“ sei­nen Na­men hin­ter­las­sen hat (Pa­ris, Bibliothèque Sainte-Ge­ne­viève, ms. 1028: Rouse und Rouse 2000, II , S. 79). Pierre oder Per­rin Rem­ iet hin­ge­gen wird in zwei Ma­nu­skrip­ten na­ment­lich er­wähnt und zwar pa­ra­do­xer Wei­ se an Stel­len, die kei­ne Mi­nia­tu­ren von ihm zei­gen: In ei­nem Ex­em­plar der Histo­ire an­ cienne jusqu’à César, die man auch als Orosius be­zeich­net, der Bri­tish Lib­rary (Roy­al 20 D I, fol. 8v), das in Nea­pel um 1330-40 ent­stand (Avril 1969, S. 308-310; zu­letzt Aus­st. Kat. Lon­don 2011, Nr. 135), ist von Reg­nault du Montet und Per­rin Rem­iet ge­mein­sam die Rede, wenn es in ei­ner Rand­be­mer­kung heißt, Ma­gi­ster Reg­nault dürf­te die zwei­ te Lage noch bei sich ha­ben, weil sie Rem­iet zum Il­lu­mi­nie­ren ei­ner Ko­pie ge­lie­hen sei („Ci faut le sec­ont ca­yer que mai­stre Ren­aut doit avoir, qui fu baillié à Per­rin Rem­iet pour fai­ re l’enlu­min­eu­re de l’au­tre ca­yer“). 1393 mag Reg­nault du Montet selbst in ein Ex­em­plar ei­ner Péleri­na­ge des Guillaume de Digulleville (fr. 832 der Pa­ri­ser BnF, mit Da­tie­rung fol. 168v) auf fol. 18v ein­ge­tra­gen ha­ben, Rem­iet sol­le den Raum für ein Bild leer las­sen,

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weil er dort et­was sel­ber ein­ma­len wer­de (‚Rem­iet, ne fa­ites rien cy, car je y feray une fi­gure qui y doit estre‘), was dann nicht ge­sche­hen ist. Des­halb müß­te Rem­iet den Rest der ent­spre­chen­den Lage in fr. 832 aus­ge­malt ha­ben. In­ dem Mi­cha­el Ca­mil­le 1996 den Ma­ler aber Ma­ster of Death nann­te, setz­te er zu­gleich ei­ nen prä­gnan­ten Bei­na­men in die Welt, der eine Tren­nung von Œuvre und Na­men in der nach­fol­gen­den Dis­kus­si­on zu­min­dest er­leich­ter­te. Auf ei­gen­hän­di­ge Ar­bei­ten von Per­rin Rem­iet zu schlie­ßen, wird näm­lich pro­ble­ma­tisch, wenn man der zwei­ten Er­wäh­nung folgt: Sie muß sich auf eine Pa­ri­ser Ko­pie des Orosius aus Rem­iets Leb­zei­ten be­zie­hen; die­ses Ex­em­plar er­kennt man in français 301 der BnF. Dort aber stammt die Aus­ma­lung der ent­spre­chen­den Lage nicht vom Ma­ster of Death, son­dern von ei­nem Künst­ler, der nach die­sem Ma­nu­skript als Orosius-Mei­ster be­zeich­net wird. Zu­dem fehlt in Français 301 die Hand des Ma­ster of Death; da­ne­ben nimmt dort der mit Jean de Nizières iden­ ti­fi­zier­te Stil brei­ten Raum ein. Ein wei­te­res Pro­blem kommt hin­zu, auf das Rouse und Rouse 2000, II , S. 216, mit al­ler Schär­fe hin­ge­wie­sen ha­ben: Do­ku­men­te mit dem Na­men Per­rin Rem­iet über­span­nen ei­nen Zeit­raum, der über die Le­bens­er­war­tung ei­nes ein­zel­nen Buch­ma­lers hin­aus­geht: Schon 1368 wur­de ein Il­lu­mi­na­tor die­ses Na­mens in Pa­ris von der Wacht auf den Mau­ ern be­freit, er­hielt also ein Pri­vi­leg, das er­ste künst­le­ri­sche Lei­stun­gen vor­aus­setzt. Daß der­sel­be Mann zwi­schen 1422 und 1428 in Pa­ris an der Nord­sei­te der Rue des Ecriva­ins ein Haus di­rekt ne­ben je­nem be­wohn­te, das der bis 1418 do­ku­men­tier­te und vor 1425 ver­stor­be­ne Reg­nault du Montet be­ses­sen hat­te, scheint mehr als zwei­fel­haft. Des­halb wird man der Kri­tik an Ca­mil­le so­weit zu­stim­men müßen, als es sich bei Pierre oder Per­rin Rem­iet in Pa­ris um zwei ver­schie­de­ne Ma­ler, viel­leicht Va­ter und Sohn glei­chen Na­mens, ge­han­delt ha­ben dürf­te. In den Jah­ren kurz vor 1400 aber kom­men bei­de für eine Mit­ar­beit mit dem 1396, spä­te­stens 1399 zum er­sten­mal er­wähn­ten Reg­nault du Montet in Fra­ge. Ca­mil­les Iden­ti­fi­zie­rung sei­nes Ma­ster of Death mit Per­rin Rem­iet wird man nicht über Bord wer­fen; denn der Na­mens­trä­ger, der 1368 zum er­sten­mal er­wähnt wird, kommt für die mei­sten Mi­nia­tu­ren un­se­res Stun­den­buchs noch aus ei­nem an­de­ren Grund in Fra­ge: Er hat be­reits für den 1380 ver­stor­be­nen Karl V. ge­ar­bei­tet (so in den Gran­des Chroniques, fr. 2813 der BnF, fol. 149-230v) und dürf­te auch in Quel­len von 1396 ge­ meint sein, die Auf­trä­ge für Lou­is d’Orlé­ans be­tref­fen. Die­ser 1407 er­mor­de­te Her­zog be­saß meh­re­re stil­gleich il­lu­mi­nier­te Ma­nu­skrip­te, dar­un­ter die vom libra­ire The­venin de l’An­gevin ver­ant­wor­te­ten zwei Bän­de der Cité de Dieu, fr. 170-171 der BnF (Ca­mil­le 1996, S. 68-70) so­wie die Éthiques des Ari­sto­te­les, Ms. 277 in Chan­tilly und des­sen Pol­ itiques und Économiques, fr. 9106 der BnF, alle aus der Zeit um 1396. Am sinn­voll­sten ist es des­halb, ge­gen die Be­den­ken von Rouse und Rouse 2000 in gro­ßen Zü­gen Mi­cha­ el Ca­mil­les Kon­zep­ti­on von 1996 zu fol­gen und Rem­iet als den Na­men an­zu­er­ken­nen, der sich hin­ter dem Ma­ster of Death ver­birgt. In der Péleri­na­ge fr. 823 von 1393 hat Rem­ iet dem­nach die er­ste und die drit­te Ab­tei­lung il­lu­mi­niert, wäh­rend Jean de Nizières die zwei­te Ab­tei­lung ver­ant­wor­te­te.

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Die mei­sten mit dem Stil des Ma­ster of Death und dem Na­men Per­rin Rem­iet ver­bun­ de­nen Ma­nu­skrip­te sind welt­li­cher Na­tur (Li­ste bei Ca­mil­le 2000, S. 249-254). Ein mit 38 Mi­nia­tu­ren reich aus­ge­stat­te­tes Stun­den­buch, das spä­ter dem bur­gun­di­schen Kanz­ler Nico­las Rolin ge­hört hat (H. Y. Thompson Ms. 45 der Bri­tish Lib­rary, Lon­don) kommt un­se­rer Hand­schrift schon des­halb be­son­ders nahe, weil auch dort die mei­sten Mi­nia­ tu­ren mit Vier­päs­sen ge­stal­tet sind (Ca­mil­le 2000, Abb. 128 und 174, nicht je­doch 182). Noch viel wich­ti­ger aber ist die Tat­sa­che, daß die mei­sten Mi­nia­tu­ren den­sel­ben Bild­ vor­la­gen fol­gen und auch sti­li­stisch eng­stens über­ein­stim­men, ob­wohl in dem Lon­do­ner Ma­nu­skript Ge­wän­der in Grisaille ge­hal­ten sind. Die en­gen Be­zü­ge zur Pa­ri­ser Pro­duk­ ti­on vor 1400 las­sen kei­nen Zwei­fel an der Lo­ka­li­sie­rung in die fran­zö­si­sche Haupt­stadt und der Da­tie­rung um 1385-95. Von be­son­de­rem In­ter­es­se ist dann aber die Fra­ge, wer die stil­frem­den Bil­der auf fol. 1 und 79v ver­ant­wor­te­te. Für die Ver­kün­di­gung mit ih­rer frü­hen Öff­nung zum Raum mit Dar­stel­lung des Him­mels um das Ku­lis­sen­häus­chen könn­te man an die nur we­nig spä­ ter ent­stan­de­nen Bil­der im Stun­den­buch der Ma­rie d’Har­court d’Au­ma­le den­ken, die 1405 den Her­zog Rein­hald IV. von Gel­dern und Jül­ich ge­hei­ra­tet hat­te und auch als Ma­ria von Gel­dern be­kannt ist. Vor al­lem mit dem rei­chen Pas­si­ons­zy­klus stim­men Farb­ge­ bung und Pin­sel­füh­rung so­weit über­ein, daß an ein und den­sel­ben Ma­ler zu den­ken wäre. Frei­lich ist das heu­te in Ber­lin auf­be­wahr­te Stun­den­buch (Staats­bi­blio­thek, Ms. germ. qu. 42: Aus­st.-Kat. Ber­lin 1987, Nr. 45), von dem ei­ni­gen La­gen in Wien lie­gen (ÖNB , cod. 1908: Aus­st.-Kat. Kon­stanz 2014, Nr. 68), erst 1415 von Bru­der Helmich die Lewe aus dem Klo­ster Ma­rien­born bei Arn­heim ge­schrie­ben wor­den. Wenn es sich nicht nur um die­sel­be Stil­ten­denz, son­dern so­gar um die­sel­be Hand han­delt, ver­tritt un­ser Stun­ den­buch eine frü­he­re Pha­se die­ses Künst­lers und be­weist des­sen Auf­ent­halt in Pa­ris. Ganz von der Hand zu wei­sen ist eine sol­che Kon­jek­tur nicht: Im­mer­hin be­steht ein en­ ger Be­zug auf dop­pel­ter Ebe­ne: Per­rin Rem­iet, der dem frem­den Ma­ler das Haupt­bild die­ses Stun­den­buchs über­las­sen hat, schuf ei­ni­ge sei­ner wich­tig­sten Ar­bei­ten für Lou­is d’Orlé­ans. Die­ser Her­zog war sei­ner­seits ent­schei­dend an der dy­na­sti­schen Ver­bin­dung zum Her­zog­tum Gel­dern be­tei­ligt, hat er doch die Ehe zwi­schen Ma­rie d’Har­court und Rein­hald IV. ge­stif­tet. An­ge­sichts der Mi­nia­tur zu den Buß­psal­men wird man je­doch in eine ganz an­de­re Rich­ tung schau­en müßen; denn nicht auf dem Kon­ti­nent, wohl aber in Eng­land hat man ähn­ lich ge­malt: Sti­li­stisch be­we­gen sich die Zeich­nung wie die Ma­le­rei zwi­schen Buch­ma­ le­rei der Bohun-Grup­pe aus dem spä­ten 14. Jahr­hun­dert und der Kunst, die man mit Her­man Schee­re ver­bin­det. So ist an ei­nen Psal­ter in Hol­kham Hall, Ms. 26, zu den­ken (Sand­ler 1986, Nr. 143, mit Abb. 382), wäh­rend die Sti­li­sie­rung der Schee­re-Grup­pe, z. B. im be­rühm­ten Marco Polo, Ox­ford, Bodley 264 (Scott 1996, Nr. 13, Abb. 63 und 65) noch nicht er­reicht ist.

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Mit die­sem even­tu­ell ohne Ka­len­der (wo­bei auch Yates Thompson 45 kei­nen be­ sitzt!), aber sonst voll­stän­dig und vor­züg­lich er­hal­te­nen Stun­den­buch für den Ge­ brauch von Rom, des­sen kurz ge­faß­te Li­ta­nei Pa­ri­ser Prä­gung ver­rät und das we­gen zwei­er hin­zu­ge­füg­ter Ge­be­te wohl früh in eng­li­sche Hän­de ge­langt sein mag, ist ei­ nes der we­ni­gen cha­rak­te­ri­sti­schen Pa­ri­ser Stun­den­bü­cher der Zeit um 1385-90 auf­ge­taucht, die von dem sonst eher mit der Be­bil­de­rung gro­ßer Text­hand­schrif­ ten be­trau­ten Per­rin Rem­iet il­lu­mi­niert wur­den. So steht die­ser Ko­dex ne­ben dem Stun­den­buch der Samm­lung Hen­ry Yates Thompson, das spä­ter dem bur­gun­di­schen Kanz­ler Rolin ge­hört hat (Yates Thompson Ms. 45 in der Bri­tish Lib­rary). Bei der Zu­tei­lung der Auf­ga­ben konn­te sich der ver­ant­wort­li­che libra­ire auf die be­ währ­te Werk­statt von Per­rin Rem­iet ver­las­sen. Sie lie­fert ein kla­res Kon­zept für ein über­zeu­gen­des Lay­out mit Bil­dern in Vier­päs­sen, die al­les We­sent­li­che in ei­ner knap­pen und kla­ren Bild­spra­che aus­drücken. Zeich­ne­risch her­vor­ra­gend ge­stal­tet, ar­bei­ten die Mi­nia­tu­ren mit we­ni­gen leuch­ten­den Far­ben. Ar­chi­tek­tur ist noch kein The­ma für die­se Ma­le­rei, wohl aber Land­schaft. Must­er­grün­de tex­ti­ler Art tre­ten ne­ben kost­ba­ren Ka­ro­grün­den und frü­hen Bei­spie­len von Gold­ran­ken auf. Fort­schritt­li­cher wirkt dem­ge­gen­über das mit ei­nem Ku­lis­sen­haus vor Him­mels­ grund ge­zeig­te Ver­kün­di­gungs­bild, das sti­li­stisch auf die wohl in Gel­dern ge­mal­ten Mi­nia­tu­ren im Stun­den­buch der Ma­rie d’Har­court oder Ma­ria von Gel­dern hin­ führt und mög­li­cher­wei­se von ei­nem dar­in noch 1415 faß­ba­ren Ma­ler bei ei­nem Pa­ ris­auf­ent­halt ge­malt wur­de, den man in den Suff­ragien­bil­dern des Ber­li­ner Ma­nu­ skripts an­trifft. Die Ein­be­zie­hung ei­nes eng­li­schen Ma­lers für das zweit­wich­tig­ste Bild, die Mai­estas Domi­ni zu den Buß­psal­men un­ter­streicht, wie le­ben­dig Pa­ris als Dreh­schei­be zwi­schen Frank­reich, den Ge­bie­ten nie­der­län­di­scher Spra­che und Eng­ land wirk­te; ob die Mi­nia­tur dann wirk­lich in Frank­reich ge­schaf­f en wur­de oder im Zu­sam­men­hang mit dem wohl et­was spä­te­ren eng­li­schen Wap­pen steht, das den äl­ te­sten Be­sit­zer­hin­weis bie­tet, müß­te noch ge­klärt wer­den. Die Tat­sa­che, daß ein von Jan van Eyck und Rogier van der Wey­den mit sehr viel fort­schritt­li­cher­er Kunst ver­wöhn­ter Auf­trag­ge­ber wie der bur­gun­di­sche Kanz­ler Nico­las Rolin ein nach den­sel­ben Prin­zi­pi­en ge­stal­te­tes Ma­nu­skript als sein per­ sön­li­ches Stun­den­buch be­hielt und daß ein mo­der­ner Samm­ler wie Hen­ry Yates Thompson, der al­les bei­sei­te­schob, was ihm nicht in sei­ne Samm­lung der hun­dert schön­sten Bil­der­hand­schrif­ten paß­te, die­ses wich­tig­ste Ver­gleichs­stück hoch­schätz­ te, be­weist den Rang auch un­se­res Stun­den­buchs weit über die Fra­gen hin­aus, ob der Ma­ler denn nun Rem­iet hieß oder als ei­ner der gro­ßen Vi­sio­nä­re sei­ner Zeit na­men­ los zu blei­ben hat. LI­T E­R A­T UR: Das Ma­nu­skript ist der wis­sen­schaft­li­chen Li­te­ra­tur un­be­kannt. Zu Per­rin Rem­iet sie­he Avril 1969, Ca­mil­le 1996 so­wie Rouse und Rouse 2000.

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2 Jean de Vignays Ep­isto­lar und Ev­an­geli­star mit Mi­nia­tu­ren von Jean de Nizières


2 • Épîtres et évangiles, in der Über­set­zung des Jean de Vignay, also Lek­ti­on­ar und Ep­isto­lar für das Kir­chen­jahr. Fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, mit Ru­bri­ken in Rot, in brau­ner Bast­arda. Pa­ris, 1390er Jah­re: Jean de Nizières Neun­zehn Bil­der, das er­ste ganz­sei­tig und ko­lo­riert, die üb­ri­gen meist halb­sei­tig als teil­ ko­lo­rier­te Grisaille, dazu eine gro­ße Wap­pen­ma­le­rei aus spä­te­rer Zeit. Zweiz­ei­li­ge In­itia­ len auf Fe­der­werk, sel­te­ner ein­zei­li­ge Pa­ra­gra­phen­zei­chen ab­wech­selnd rot auf Schwarz und blau auf Rot. Ver­sa­li­en gelb la­viert 200 Blatt Per­ga­ment des ur­sprüng­li­chen Buch­blocks, lücken­los und voll­stän­dig foli­iert vom er­ sten Ru­brika­tor i-cc; dazu ein lee­res Per­ga­ment­blatt mit nach­ge­tra­ge­nem Wap­pen, fol. 201, an den Falz ge­klebt so­wie als flie­gen­de Vor­sät­ze je zwei Blatt neue­res Per­ga­ment. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt. Mit re­gel­mä­ßi­gen Reklam­an­ten. Quart (220 x 165 mm; Text­spie­gel: 185 x 120 mm). Zu 29 Zei­len, meist ohne sicht­ba­re Reg­lierung. Voll­stän­dig und sehr schön er­hal­ten. Die Ko­lo­rie­rung der er­sten Mi­nia­tur er­folg­te viel­leicht erst im 16. Jahr­hun­dert, als Wap­pen auf fol.1 und fol. 201 nach­ge­tra­gen wur­den. Hi­sto­ri­sie­ren­der Ein­band in dun­kel­brau­nem Ma­ro­quin, von Brug­alla 1974 si­gniert, mit Hin­ wei­sen auf Fran­çoise d’Ale­nçon und in gol­de­ner Tex­tura „Cette traduct­ion a été ex­écutée pour Je­an­ne de Bourgogne“. Zwei goti­sier­en­de Schlie­ßen und Be­schlä­ge aus Sil­ber. Gold­schnitt. In ge­präg­ter und gel­etterter Ma­ro­quin-Che­mi­se über Holz­deckeln, in farb­lich pas­sen­dem Ma­ro­ quin-Steck­schu­ber. Pro­ve­ni­enz: Die Über­set­zung ent­stand 1336 für den fran­zö­si­schen Hof, in des­sen Um­feld auch die­ses Ex­em­plar ge­schaf­f en wur­de. Die nach­weis­ba­re Pro­ve­ni­enz die­ses Ex­em­plars be­ginnt je­ doch fast hun­dert Jah­re nach sei­ner Ent­ste­hung: Hin­wei­se auf die Besitzerreihe des Ma­nu­ skripts, des­sen kö­nig­li­che Her­kunft nicht aus­ge­schlos­sen wer­den kann, be­gin­nen mit dem Ex­ li­bris von Jean Budé, kö­nig­li­chem Rats­herrn (1430-1503), Va­ter des Hu­ma­ni­sten Guillaume Budé, auf fol. 199v. Durch ir­ri­ges Aus­krat­zen ei­nes „c“ liest es sich heu­te als 1386; doch fin­det sich in fr. 964 der Na­tio­nal­bi­blio­thek ein ent­spre­chen­des Ex­li­bris von 1486 (Hen­ri Omont, Not­ice sur les co­llect­ions de Jean et Guillaume Budé, in: Bulle­tin de la So­ciété de l’Histo­ire de Pa­ris XII, 1885, S. 100-113, und XIII, 1896, S. 112). Nach 1500 ge­lang­te der Band an Fran­çoise d’Ale­nçon, die 1513 den Her­zog von Vendôme, Charles de Bour­bon, hei­ra­te­te und 1537 starb: Ihr rau­ten­för­mi­ges Wap­pen aus Ale­nçon und Bour­bon-Vendôme hängt an ei­nem Ast in der Ein­gangs­mi­nia­tur, dort über ein nicht mehr les­ ba­res äl­te­res Wap­pen ge­malt. Fran­çoise d’Ale­nçon und Charles de Bour­bon wa­ren über ih­ren Sohn An­toine de Vendôme Groß­el­tern von Kö­nig Hein­rich IV. Um 1830 im Be­sitz des Jo­seph Bar­rois; 1848 von dort mit über 700 wei­te­ren, teils ge­stoh­le­ nen Hand­schrif­ten an Lord As­hburnham; lot 192 in der Auk­ti­on As­hburnham-Bar­rois, Sot­ heby’s 1901; für 175 Pfund ver­kauft; da­nach bei Charles Fair­fax Murray; von ihm an Charles

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Dyson Perr­ins, des­sen Ex­li­bris er­hal­ten ist; dann Er­win Ro­sen­thal („A Gentle­man re­si­dent in Swit­zer­land“); von ihm zu Sot­heby’s 4. Juni 1934, lot 42 (200 Pfund); aus ei­nem Pa­ri­ ser An­ti­qua­ri­at an Ro­bert Da­non, in des­sen Ver­stei­ge­rung lot 4, das am 21. März 1973 für 92.000 frs. ver­kauft wur­de. Für eine spa­ni­sche Pri­vat­samm­lung (Dom B. March) ent­stand der Prunk­ein­band Brugal­las. Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter III, 2000, Nr. 3. Text Jean de Vignays Über­set­zung von Le­sun­gen vor­wie­gend aus Epi­steln und Evan­ge­li­en, aber auch aus dem Al­ten Te­sta­ment so­wie der Apo­ka­lyp­se, wie sie im Pa­ri­ser Miss­ale üb­lich wa­ren, für Je­an­ne de Bourgogne, Ge­mah­lin Kö­nig Phil­ipps VI . von Valo­is (sie­he Sa­mu­el Ber­ger, La Bible française au Moyen Age, Pa­ris 1884, S. 221-229, und C. Knowles, Jean de Vignay, un traducteur du XIVe siècle, in: Ro­ma­nia 75, 1954, S. 353-383, bes. 362 ff.). fol. 1: Tem­po­ra­le: Cy co­mmen­cent les epistres et les eva­ngiles de tout lan selon le mes­sel a l’usa­ ige de pa­ris. Trans­la­tees de latin en fran­çois. Et pre­mie­re­ment du pre­mier dimenche de l’ad­vent n(ost)re s(eig­neur). Text­an­fang auf fol. 1v –Cy fi­nent toutes les epistres et les euuangiles de tout le temps selon l’usage de pa­ris (fol. 155v). fol. 155v: Sanct­ora­le rein Pa­ri­ser Prä­gung mit kur­zen Le­sun­gen, oft nur In­cipits, un­ter an­de­rem zu Eligius, Gen­cian und Fuscian, Ju­li­an von Le Mans, Balthil­dis, Auf ­fi n­dung des Dio­ny­si­us, Auf ­fi n­dung des Kreu­zes, Trans­lat­ion des Ni­ko­laus, Germ­anus von Pa­ ris, Ger­vasius und Pro­thasius, Trans­lat­ion des Tho­mas von Can­ter­bu­ry, Trans­lat­ion des Mar­cel­lus, Trans­fi­gu­ra­ti­on, Germ­anus von Au­xerre, Auf ­fi n­dung des Steph­anus, Leo von St. Cloud, Lud­wig IX , Avia, Dio­ny­si­us mit Vigil, Mag­lorius, Mar­cel­lus, Gen­ovefa. Da­ bei ist das frü­he Auf­tre­ten der Trans­fi­gu­ra­ti­on auf­fäl­lig. fol. 177v: Co­mmune Sancto­rum: Apo­stel (fol. 177v), Mär­ty­rer (fol. 183), Be­ken­ner (fol. 187v), Weib­li­che Hei­li­ge (fol. 191v), Pfing­sten, Tri­ni­ta­tis, Fron­leich­nam und Hei­lig Kreuz (fol. 195), Re­qui­em (fol. 197). fol. 199/199v: Cy fi­nent les epistres et euuangiles trans­latées de latin en fran­çois/ selon le mes­ sel a l’usa­ige de pa­ris. fol. 200 (noch als lee­res Blatt mit cc foli­iert): um 1500 nach­ge­tra­gen: dar­un­ter Ordo ad sponsam benedice(n)dam cu(m) ve­ne­runt an(te) valuas eccl(es)ie, also Ele­men­te ei­nes Ri­tua­le. fol. 200v: Texten­de.

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Schrift und Schrift­de­kor In flüs­si­ger Bast­arda ohne sicht­ba­re Reg­lierung ist das Ma­nu­skript ge­schrie­ben; der Schrift­de­kor be­schränkt sich auf Fe­der­werk. Ru­bri­ken ge­ben die je­wei­li­ge Bi­bel­stel­le an, die la­tei­ni­schen In­cipits er­hal­ten da­bei die zweiz­ei­li­gen In­itia­len; sie sind zu­wei­len durch ein­zei­li­ge Pa­ra­gra­phen­zei­chen vom fran­zö­si­schen Text ab­ge­setzt; da­bei al­ter­nie­ ren Rot auf Schwarz und Blau auf Rot. Erst spä­ter hat man die la­tei­ni­schen In­cipits mit dun­kel­ro­ter Tin­te un­ter­stri­chen, die sich von den hel­le­ren Ru­bri­ken ab­setzt; viel­leicht ka­men im glei­chen Zuge knap­pe An­ga­ben der be­tref­fen­den Bi­bel­stel­len am Rand hin­zu. Die Bil­der im Jah­res­lauf Das For­mat der Bild­fel­der schwankt, zu­wei­len ste­hen nur Rest­fel­der un­ter dem Text zur Ver­fü­gung. Im Text­ver­lauf schal­tet der Schrei­ber ohne eine er­kenn­bar stren­ge Vor­ ga­be nach Be­lie­ben. Von Hier­ar­chie wird man nur bei der Ein­gangs­mi­nia­tur spre­chen, die in ei­gen­ar­ti­ger Span­nung zum Pa­ri­ser Prin­zip steht, nur Kopf­bil­der über In­cipits zu­zu­las­sen: Mit je­weils ei­ner Leer­zei­le, die ih­rer­seits dem ge­wohn­ten Hor­ror vacui wi­ der­spricht, sind die zwei Ru­bri­ken vom Bild­feld und un­ter­ein­an­der ge­trennt. Von den üb­ri­gen Mi­nia­tu­ren un­ter­schei­det sich das gro­ße Bild durch die Rah­men­lei­ste in Blatt­ gold, die ei­gent­lich als Dop­pel­stab an­ge­legt ist, zum Bild hin aber nicht wie üb­lich ei­nen Fa­rb­strei­fen er­hielt. Hier fin­den sich auch die ein­zi­gen Ele­men­te ei­nes Blatt­gold-De­kors aus Paa­ren von Dorn­blät­tern an ein­fa­chen schwar­zen Tin­ten­li­ni­en. In schlich­ten ro­ten Rah­men, also im Mi­ni­um, von dem der Be­griff der Mi­nia­tur stammt, sind die üb­ri­gen Sze­nen ge­faßt. Die breit an­ge­leg­ten Bil­der stel­len zwar weit­ge­hend The­ men dar, die auch in Stun­den­bü­chern vor­kom­men, je­doch ohne all­zu enge Be­zü­ge zu die­ser Buch­gat­tung. Die Fi­gu­ren be­we­gen sich auf grü­nem, meist mit Gras­bü­scheln als Wie­se cha­rak­te­ri­sier­tem Grund, auch wenn sie sich in In­nen­räu­men be­we­gen müß­ten. Als Fond dient ein­fa­cher Per­ga­ment­grund. Die Fi­gu­ren sind als Por­traits d’encre an­ge­legt; Nimben, Gür­tel und Ge­fä­ße sind in Gelb ge­ge­ben. Ein­zel­ne Ele­men­te wie der Stall von Beth­le­hem in der Weih­nacht, Ma­ri­as Bett bei Epi­pha­ni­as, Sitz­mö­bel, das Ka­mel­fell des Täu­fers und das Was­ser des Jor­dans sind ko­lo­riert; mit Schwarz ge­füllt sind der Pil­ger­hut des Ja­kob­us und die Ge­wän­der beim Bild zum Re­qui­em. fol. 1: Zum 1. Ad­vent las man aus dem Rö­mer­brief und vom Ein­zug in Je­ru­sa­lem nach Mat­thä­us. So stellt das gro­ße, wohl erst nach­träg­lich ko­lo­rier­te Bild viel­leicht im Rück­ griff auf sie­nesische Bei­spie­le aus der Nach­fol­ge von Du­ccios Maestà (um 1305) den Ein­zug nach Je­ru­sa­lem mit Je­sus auf der Ese­lin, die von ih­rem Fül­len be­glei­tet wird, der Apo­stel­schar und zwei jun­gen Män­nern dar, de­ren ei­ner eine rote Tu­ni­ka aus­brei­ tet, wäh­rend der an­de­re in ei­nen Baum mit ro­ten Blü­ten (oder gar Früch­ten) über Jesu Haupt ge­stie­gen ist. Das Stadt­tor nimmt mehr als die Hälf­te der Mi­nia­tur ein und läßt

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be­reits an Kom­po­si­tio­nen der Brü­der Lim­burg wie die wohl 1408 den New Yor­ker Bel­ les Heu­res hin­zu­ge­füg­te Mi­nia­tur mit ei­ner Rei­se­ge­sell­schaft den­ken. fol. 9v: Zur Mit­ter­nachts­mes­se von Weih­nach­ten die Ge­burt Chri­sti, stark äl­te­rer Tra­ di­ti­on ver­pflich­tet: In ei­nem bild­par­al­lel ge­stell­ten Stall, der letzt­lich aus der Tra­di­ti­on von Giot­tos be­rühm­tem Paduaner Fres­ko aus der Zeit um 1305 stam­men könn­te, sitzt Ma­ria links auf­ge­rich­tet im Bett, be­rührt sacht die Stirn des Wickel­kin­des. Rechts hin­ ge­gen ist Jo­seph, Sinn­bild von Al­ter und Win­ter, in sei­nem run­den Lehn­stuhl ein­ge­schla­ fen, wäh­rend zwei Hir­ten zwi­schen bei­den zum Stall ge­hen. fol. 12v: Zum Neu­jahrs­t ag (1. Ja­nu­ar) ist ir­rig das ei­gent­lich erst zu Licht­meß (2. Fe­bru­ ar) pas­sen­de Bild der Dar­brin­gung im Tem­pel ge­schal­tet: Von der durch Nim­bus aus­ge­ zeich­ne­ten Magd mit Ker­ze und Tau­ben­körb­chen be­glei­tet, reicht Ma­ria ihr Kind dem von rechts her­an­ge­tre­ten Simeon, der eben­falls ei­nen Hei­li­gen­schein trägt. Bild­par­al­lel ist der Al­tar mit ei­nem bild­lo­sen Ret­abel in die Mit­te ge­stellt. fol.13v: Zum Mat­thä­us-Evan­ge­li­um, das an Epi­pha­ni­as (6. Ja­nu­ar) ge­le­sen wird, die An­ be­tung der Kö­ni­ge: Auf ei­ner Wie­se steht das rote Him­mel­bett der Jung­frau. Ma­ria sitzt auf­recht mit dem nack­ten Kna­ben, der den Deckel des Ge­fä­ßes auf­ge­klappt hat, das ihm der bar­häup­ti­ge äl­te­re Kö­nig dar­reicht, wäh­rend die bei­den jün­ge­ren noch mit ih­ren Kro­ nen auf dem Haupt mit­ein­an­der spre­chen. fol. 16: Zu Ok­tav von Epi­pha­ni­as wird der Be­richt des Mat­thä­us von der Tau­fe Chri­ sti ge­le­sen, die des­halb dar­ge­stellt wird: Ohne eine gött­li­che Er­schei­nung reckt sich der Täu­fer, ste­hend, im Ka­mel­fell ge­hüllt, um Chri­stus aus ei­ner Scha­le zu tau­fen; der nackt in ei­nem Was­ser­rund steht, wäh­rend ein En­gel, grö­ßer als die an­de­ren, sei­nen un­ge­näh­ ten Rock hält. fol. 65v: Da das Bild­the­ma zu Palm­sonn­tag be­reits auf fol. 1 er­schie­nen ist, er­öff­net der Text aus Mat­thä­us mit der Sal­bung Chri­sti: Mit drei Apo­steln sitzt er an ei­nem Tisch; hin­ter ihn tritt, nim­biert wie die an­de­ren, Mag­da­le­na und träu­felt das Salb­öl auf sein Haupt. fol. 77: Zu Grün­don­ners­t ag folgt das Letz­te Abend­mahl in ähn­li­cher Kom­po­si­ti­on: Nun müßen alle zwölf Apo­stel Platz fin­den; des­halb ist der Tisch viel grö­ßer, je ein Apo­stel sitzt am Ti­schen­de, ein wei­te­rer vorn, ne­ben Ju­das, der als ein­zi­ger nicht nim­biert ist. Der Ver­rä­ter kniet und greift zum Tisch, als neh­me er das Brot ent­ge­gen, doch sei­ner Ge­ste ant­wor­tet Je­sus nicht; eher wirkt es, als kün­di­ge er ge­ra­de den Ver­rat an. fol. 82v: Zum Be­richt des Jo­han­nes wird am Kar­frei­tag die Kreu­zi­gung ge­zeigt, auf den Ge­kreu­zig­ten zwi­schen der Mut­ter­got­tes und dem Lieb­lings­jün­ger be­schränkt, mit be­ son­de­rer Be­to­nung der gro­ßen Nä­gel, aus de­nen eben­so wie aus der Sei­ten­wun­de kräf­ tig Blut strömt. fol.88v: Zum Oster-Evan­ge­li­um des Mar­kus wird statt der Auf­er­ste­hung das äl­te­re Mo­ tiv der Frau­en am Gra­be ge­zeigt: In ih­ren Nimben farb­lich un­ter­schie­den na­hen die drei Frau­en von links, als er­ste die Mut­ter­got­tes. Auf dem in be­fremd­li­cher Per­spek­ti­ve auf­

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ra­gen­den Gra­bes­deckel sitzt ein En­gel, mit ro­tem Ant­litz und ro­ten Hän­den, als sei er ein Se­ra­ph; er brei­tet die Flü­gel und hält ein Zep­ter; mit der Rech­ten weist er auf das lee­re Grab. fol.101: Zur Him­mel­fahrt Chri­sti ha­ben sich zwölf Apo­stel, also die ver­blie­be­nen elf mit Mat­thi­as, ver­sam­melt, ohne Ma­ria. Vom Auf­er­stan­de­nen ist nur noch der Rock­saum mit den Fü­ßen zu se­hen, die kei­ne Lei­den­spu­ren mehr zei­gen. In ei­ner Art Vor­griff auf das Pfingst­wun­der er­fas­sen von ihm aus­ge­hend rote Strah­len die Apo­stel. fol.105: Zum Pfingst­fest wird die Aus­sen­dung des Hei­li­gen Gei­stes ge­zeigt, er­neut ohne die Mut­ter­got­tes: Den Nimben zu­fol­ge sit­zen vier­zehn Apo­stel auf ei­ner Wie­se; über ih­nen er­scheint un­ge­wöhn­lich groß die Tau­be in ei­ner nur ge­zeich­ne­ten Gloriole, von der er­neut rote Strah­len aus­ge­hen. fol.110v: Zu Tri­ni­ta­tis wird der An­fang des Jo­han­nes­evan­ge­li­ums ge­le­sen. Als Bild er­ scheint der Gna­den­stuhl: Die gro­ße Ge­stalt Gott­va­ters sitzt auf ei­nem ka­sten­förmi­gen Thron; er hält den Sohn als klei­nes Kru­zi­fix; von sei­nem Mun­de geht die Tau­be des Hei­ li­gen Gei­stes aus. fol.155v: Ein gro­ßes Bild mit Chri­stus zwi­schen An­dre­as und dem Täu­fer er­öff­net das sehr kurz ge­faß­te Sanct­ora­le. fol. 177v: Zum Co­mmune der Apo­stel eine Apo­stel­ver­samm­lung um Pau­lus und Pe­trus, ne­ben de­nen nur Ja­kob­us an Hut und Pil­ger­stab noch er­kenn­bar ist; nur elf Ge­stal­ten sind zu zäh­len; sie wir­ken, als ström­ten sie ge­ra­de von links und rechts her­bei, so daß an­ zu­neh­men ist, daß die feh­len­den noch kom­men. fol. 183: Zur Le­sung aus dem alt­te­sta­ment­li­chen Buch der Weis­heit zu „plusie­urs martirs“ tre­ten nur Fünf Dia­ko­ne auf, mit den Proto­mär­ty­rern Steph­anus (mit dem Stein) und Lo­renz (mit dem Rost ) im Zen­trum. Ein drit­ter trägt ein glü­hend ro­tes Herz. fol. 187v: Die Be­ken­ner wer­den von zwei na­men­lo­sen Bi­schö­fen so­wie den Or­dens­grün­ dern Fran­zis­kus mit den Wund­ma­len der Stig­ma­tisat­ion und Be­ne­dikt als Abt mit Krüm­me ver­tre­ten. fol. 191v: Die Weib­li­chen Hei­li­gen wer­den eben­falls von vier Ge­stal­ten re­prä­sen­tiert; ein­ deu­tig be­stimm­bar ist nur Ka­tha­ri­na mit Kro­ne, Rad und Schwert; links ne­ben ihr steht eine na­men­lo­se Mär­ty­re­rin mit Palm­zweig und Buch, rechts wohl Mar­ga­re­te mit ei­nem klei­nen Kreuz und even­tu­ell Gen­ovefa, um de­ren bren­nen­de Ker­ze al­ler­dings kein Streit zwi­schen En­gel und Teu­fel ge­zeigt wird. fol. 195: Für Pfing­sten, Tri­ni­ta­tis, Fron­leich­nam und Hei­lig Kreuz ge­nügt ein Bild der Apo­stel­kom­mu­ni­on: Die Kom­po­si­ti­on ist stark asym­me­trisch: Auf ei­ner Wie­se, die nach links schräg ab­fällt, knien sechs nicht wei­ter be­nann­te Jün­ger an ei­ner Kom­mu­ni­ons­ bank. Von rechts ist Je­sus als Liturg von ei­nem bild­par­al­lel ste­hen­den Al­tar vor­ge­tre­ten; mit dem Kelch in der Lin­ken reicht er Ho­sti­en.

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fol. 197: Die Ei­gen­art der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei ge­gen 1400, auch Sze­nen, die im In­nen­ raum spie­len, auf eine Wie­se zu set­zen, verun­klärt den To­ten­dienst mit Ka­ta­falk zum Re­qui­em durch Ver­mi­schung von ver­schie­de­nen Ele­men­ten des To­ten­kults: Wie in ei­ ner Kir­che steht der Ka­ta­falk, mit zwei Ker­zen und ei­nem Kru­zi­fix nun auf ei­ner Wie­ se. Von links sind vier Prie­ster hin­zu­ge­tre­ten; sie sin­gen, an­ge­führt von je­nem, der ein Buch auf­ge­schla­gen hält und zu­gleich mit dem Weih­was­ser­we­del den Ka­ta­falk ein­seg­ net; hin­ten steht noch das Weih­was­ser­becken. Von rechts hin­ge­gen sind min­de­stens acht Pleurants ge­kom­men und ver­har­ren ge­senk­ten Haupts. fol. 201v: Ganz­sei­tig das Al­li­anz­wap­pen der Fran­çoise d’Ale­nçon aus Bour­bon (France mo­der­ne mit ro­tem Schräg­strich) und Ale­nçon (France mo­der­ne in ei­ner Bor­dü­re aus Rot und Sil­ber). Zum Stil: Die Mi­nia­tu­ren sind der Kunst un­ter Karl V. (ge­stor­ben 1380) ver­pflich­tet, ent­stan­den aber in den er­sten Jahr­zehn­ten der un­glück­li­chen Herr­schaft Karls VI . Sie ver­ste­hen sich als Fe­der­zeich­nun­gen im Sin­ne der Por­traits d’encre, die nur zur Ver­deut­li­chung ein­zel­ ner Ele­men­te, die für das Ver­ständ­nis der Bil­der wich­tig wa­ren, schlich­te Ko­lo­rie­rung be­müh­te. Die­ser Kunst geht es dar­um, mit si­che­rem Strich zu ent­schie­de­ner Cha­rak­te­ ri­sie­rung zu kom­men und da­bei auf Raum­an­ga­ben weit­ge­hend zu ver­zich­ten. Be­zü­ge zu Per­rin Rem­iet, der un­se­re Nr. 1 il­lu­mi­niert hat, sind eben­so un­ver­kenn­bar wie zu den Ar­bei­ten, die man vom Bild der Krö­nung Karls VI . in den Gran­des Chroniques, fr. 2813 der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek, aus be­stimmt (Avril 1978, Nr. 35, S. 108 f.). Der Aus­ar­bei­tung der Zeich­nun­gen in un­se­rer Hand­schrift fehlt die Fül­le, die man bei dem von Mi­cha­el Ca­mil­le als Ma­ster of Death be­zeich­ne­ten Per­rin Rem­iet fin­det. Tat­säch­lich führt die Su­che nach dem ver­ant­wort­li­chen Künst­ler zu dem­sel­ben Ex­em­ plar von Guillaume Digullevilles Péleri­na­ge zu­rück, von dem aus man trotz be­son­ne­ner Ein­wän­de von Rouse und Rouse 2000 Rem­iet be­stim­men soll­te: In fr. 823 der Na­tio­ nal­bi­blio­thek dürf­te der zwei­te Text von der­sel­ben Hand ge­stal­tet sein wie un­se­re Mi­ nia­tu­ren, wäh­rend Rem­iet den er­sten und drit­ten Text il­lu­mi­nier­te. Da­mit kommt man zu Jean de Nizières, der in en­gem Be­zug zu Rem­iet stand und des­ sen Si­gna­tur in ei­nem Livre des pro­priétés des choses (Pa­ris, Bibliothèque Sainte Ge­ne­ viève, Ms. 1028, fol. 12) zu fin­den ist. Das auf fol. 14 fol­gen­de Front­ispiz (Mar­tin 1924, S. 99 und Abb. XCIX auf Taf. 74) er­laubt die­se Zu­schrei­bung. In die­sem Lek­ti­on­ar aus Bi­bel­stel­len im Pa­ri­ser Miss­ale, die 1336 von Jean de Vig­ nay für die fran­zö­si­sche Kö­ni­gin Je­an­ne de Bourgogne über­setzt wur­den, liegt ein sel­ten zu fin­den­der Text für Lai­en vor, die beim Got­tes­dienst die ent­schei­den­den Le­sun­gen mit­ver­fol­gen und zu­gleich die im Kir­chen­jahr re­flek­tier­te Heils­ge­schich­ te bild­lich vor Au­gen ha­ben woll­ten. Ei­ner from­men Schlicht­heit und Stren­ge ent­

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spre­chen Schrift und Aus­stat­tung; auf Gold ist mit Aus­nah­me der Ein­gangs­sei­te ganz ver­zich­tet. Ver­ant­wort­lich war Jean de Nizières, der in en­ger Zu­sam­men­ar­beit mit Per­rin Rem­ iet wirk­te und sti­li­stisch nicht im­mer klar von die­sem zu schei­den ist. Bei­de ge­hö­ren noch nicht zu je­nen Buch­ma­lern, die im we­sent­li­chen Stun­den­bü­cher il­lu­mi­niert ha­ ben. Ihre Kunst ist noch ganz den groß­for­ma­ti­gen Bü­chern ver­pflich­tet, die kei­nen Un­ter­schied zwi­schen pro­fa­nen und geist­li­chen In­hal­ten mach­ten. Statt üp­pi­ger Pracht herrscht hier eine klu­ge, auf Zeich­nung grün­den­de Dar­stel­ lungs­wei­se, die ganz im Sin­ne des fran­zö­si­schen 14. Jahr­hun­derts, das eine gro­ße Epo­che der Grisaille war, fast ohne Bunt­far­ben aus­kommt und noch kein In­ter­es­se zeigt, das Am­bi­en­te aus In­te­rieur und Land­schaft aus­zu­schil­dern. Da­für ge­winnt die sze­ni­sche Ver­ge­gen­wär­ti­gung der Bild­the­men eine be­mer­kens­wer­te Prä­zi­si­on, die das In­ter­es­se an ei­nem sol­chen auf den er­sten Blick al­ter­tüm­li­chen Ma­nu­skript auch über die re­vo­lu­tio­nä­re Um­wäl­zung der Buch­ma­le­rei im 15. Jahr­hun­dert hin­weg le­ben­dig hielt. Da­von zeu­gen hier das In­ter­es­se von Jean Budé, 1486, und Fran­çoise d’Ale­nçon, die sich die­ses Lek­ti­on­ar im frü­hen 16. Jahr­hun­dert zu ei­gen mach­te, eben­so wie die Auf­merk­sam­keit spä­te­rer Be­sit­zer – Earl of As­hburnham, Ch. Fair­ fax Murray, Ch. W. Dyson Perr­ins, R. Da­non – bis hin zu ei­nem no­to­ri­schen spa­ni­ schen Samm­ler, der um 1974 ei­nen his­t ori­sier­en­den Ein­band schaf­f en ließ, wie man ihn über ein Jahr­hun­dert frü­her er­war­tet hät­te. LI­T E­R A­T UR: Hen­ri Omont, Not­ice sur les co­llect­ions de man­uscrits de Jean et Guillaume Budé, in: Bull. de la Soc. de l’Histo­ire de Pa­ris XII, 1885, S. 100-113, so­wie XIII , 1886, S. 112 f. Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge III, 2000, Nr. 3.

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3 Das Stun­den­buch des Pierre Poictevin aus Sel­les-sur-Cher ge­gen 1390


3 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Rom mit ei­nem Pa­ri­ser Ka­len­der. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, in brau­ner Tex­tura mit leuch­tend ro­ten Ru­bri­ken, im Ka­len­der Blau, Wein­rot und Gold. Pa­ris (oder Bour­ges), ge­gen 1390: Ja­cquem­art de Hes­din, Pseu­do-Ja­cquem­art und ­wei­te­re Buch­ma­ler 35 Bild­sei­ten mit recht­ecki­gen Mi­nia­tu­ren über vier Zei­len Text, mit drei­sei­ti­ger Zier­lei­ ste, meist aus Dop­pel­stä­ben ge­bil­det mit aus­grei­fen­den Ran­ken, de­ren Zwei­ge und Dorn­ blatt far­big ge­füllt sind; die In­itia­len auf den Bild­sei­ten in der Re­gel dreiz­ei­lig in Dorn­ blatt­de­kor; die Haupt­mi­nia­tur, fol. 21, mit vierz­ei­li­ger Dorn­blatt-In­itia­le und dich­te­rer, durch Ake­lei und Vö­gel be­leb­ter Bor­dü­re. Alle Text­sei­ten, auch bei ge­rin­ger Zei­len­zahl mit ei­ner Zier­lei­ste links, aus der oben, un­ten und in der Mit­te Dorn­blat­tran­ken ent­ sprin­gen, dar­ein in­te­griert Dra­chen in Rot und Blau. Psal­men­an­fän­ge und ähn­li­che Tex­te mit zweiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len, wo mög­lich mit der Zier­lei­ste ver­bun­den. Psal­men­ver­se am Zei­len­be­ginn mit ein­zei­li­gen Gold­buch­sta­ben auf ro­ten und blau­en Flä­chen; Zei­len­fül­ler der­sel­ben Art. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 229 Blatt Per­ga­ment; dazu je zwei Blatt Pa­pier als flie­gen­des Vor­satz vorn und hin­ten. Ge­ bun­den vor­wie­gend in La­gen zu acht Blatt, die je­weils am La­gen­be­ginn un­ten links num­mer­ iert sind. Ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (12), so­wie die La­gen 6 (8-1, das vor­letz­te Blatt viel­ leicht nach Schrei­ber­feh­ler ent­fernt), die End­la­ge des Mari­en-Of­fi­zi­ums 13 (6), Lage 15 (8-1, das vor­letz­te Blatt viel­leicht nach Schrei­ber­feh­ler ent­fernt), die um ein Blatt am Ende er­gänz­te End­la­ge des To­ten-Of­fi­zi­ums 22 (8+1), die End­la­ge der Mes­sen 25 (6) und die End­la­ge der VII Requ­estes 27 (2) so­wie schließ­lich das Texten­de 30 (4). Kei­ne Reklam­an­ten. Zu 15, im Ka­len­der zu 17 Zei­len; die rote Reg­lierung un­ter­drückt. Se­dez (145 x 100 mm, Text­spie­gel 70 x 42 mm). Kom­plett und vor­züg­lich er­hal­ten; bei der Bin­dung die sehr brei­ten Rän­der un­we­sent­lich ge­ trimmt. In­tak­ter Pracht­ein­band der Zeit um 1580: Olivbrau­nes Kalb­le­der, gold­ge­prägt, mit glat­tem Rücken, Rücken und Deckel mit in 15 Zei­len an­ge­ord­ne­ten li­gier­ten Let­tern DC ge­schmückt; Rücken wie Deckel mit je drei Li­ni­en um­ran­det; auf den Deckeln die Ecken mit Ran­ken­werk ver­ziert. Gold­schnitt. Pro­ve­ni­enz: In der Mit­te des vor­de­ren Deckels ova­les Me­dail­lon mit Kreu­zi­gung: Über ei­ ner gro­ßen Dor­nen­kro­ne, in der ein Herz mit drei Nä­geln steckt, wird das Je­sus-Mo­no­gramm IHS , das zu je­ner Zeit vor al­lem die Je­sui­ten pro­pa­gier­ten, aus drei ste­hen­den Fi­gu­ren und ei­ nem da­ne­ben ge­schrie­be­nen S ge­bil­det. Der waa­ge­rech­te Strich des H er­gibt sich aus den Kei­ len, aus de­nen das weit über den Ster­nen zu Son­ne und Mond er­ho­be­ne Kreuz mit Chri­stus auf­wächst; des­sen Er­schei­nung wird durch ge­kräu­sel­te Wol­ken von den Bei­fi­gu­ren ge­trennt, da­bei ist ge­gen die Tra­di­ti­on der drei­fig­uri­gen Kreu­zi­gung noch Mag­da­le­na zu Ma­ria links hin­zu­ge­kom­men.

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Ein eben­so un­ge­wöhn­li­ches Me­dail­lon schmückt den hin­te­ren Deckel: Über dem Schrift­zug ave grat­ia / ple­na öff­net sich die Kam­mer der Jung­frau, in de­ren Mit­te eine Li­lien­va­se steht. Von links durch die of­fe­ne Tür, durch die man auf ein Ge­bäu­de im Hin­ter­grund blickt, ist der En­gel in stoff­rei­chem an­ti­ki­schen Pep­los ein­ge­tre­ten, hebt die Rech­te und weist mit sei­ nem Stab auf eine Him­mels­er­schei­nung, die mit dich­tem Strah­len­bün­del auf die un­ter ei­nem Bal­da­chin sit­zen­de Ma­ria trifft. Die Jung­frau nimmt nur den En­gel wahr, zu dem sie sich von ih­rem Bet­pult aus um­wen­det. Im Schei­tel des Bild­fel­des er­scheint Gott­va­ter als Halb­fi­gur mit Tia­ra und sen­det aus ei­nem Kranz von En­gels­köp­fen die Tau­be und hin­ter ihr, fast als Bild­ mit­te, zeigt sich das IHS in präch­ti­gem Kranz. Da­mit wird die So­ci­etas Jesu als spi­ri­tu­el­les Um­feld der präch­ti­gen Neu­bin­dung ma­ni­fest. Das Mo­no­gramm DC läßt sich viel­leicht deu­ten, wenn man ei­nen von Guig­ard I, S. 119, ab­ge­bil­ de­ten Ein­band mit be­rück­sich­tigt: Dort wird DC zwei­mal über­ein­an­der­ge­setzt; das weist auf die Schwe­ster Hein­richs IV., Ca­therine de Bour­bon (1559-1604), die 1599 Hen­ri de Pont-àMou­sson hei­ra­te­te, der spä­ter Her­zog der Lorraine wur­de. We­der ein Stun­den­buch noch erst recht der je­sui­ti­sche Be­zug wür­de zwar zu die­ser Für­stin pas­sen, die sich nach der Bar­tho­lo­ mä­us-Nacht kurz­zei­tig und nur in Le­bens­ge­fahr zum Ka­tho­li­zis­mus be­kann­te, aber doch zeit­ le­bens, auch nach ih­rer spä­ten Ehe­schlie­ßung, eine ent­schie­de­ne Pro­te­stan­tin blieb. Das Buch könn­te den­noch als ein Ge­schenk ge­dacht ge­we­sen sein, in der Hoff­nung, die­se Für­stin für die ka­tho­li­sche, je­sui­ti­sche Sei­te zu ge­win­nen. Eine wei­te­re Kom­bi­na­ti­on von DC , je­doch mit ver­ schränk­ten Let­tern, fin­det sich auf ei­nem 1592 da­tier­ten Ein­band ei­nes Stun­den­buchs, das kürz­lich auf­ge­taucht ist (Ven­te Pa­ris 13.05.2014, lot 33). In vier ver­schie­de­nen Wei­sen gibt sich etwa zwei Ge­ne­ra­tio­nen spä­ter ein Pierre Poictevin, Chir­urg in Cel­les im Berry, heu­te Sel­les-sur-Cher, mit den Jah­res­zah­len 1635 und 1636 als Be­sit­zer aus: auf dem letz­ten Vor­satz vorn: Ces heu­res appartiennent / A Pierre (li­giert) poictevin m(aître ?) chir­ur­gien / A Cel­les en Berry / 1636. In an­de­rer Tin­te und mit Pa­ ra­phen (oder rei­nen Schnör­keln) pierre.poictevin mit nicht auf­ge­lö­stem Kür­zel; die­ser Ein­trag wird ge­nau­so am Texten­de auf fol. 229 wie­der­holt; in wei­te­ren Zei­len dann pierre. (ge­folgt von ei­nem Kür­zel) und in der Fol­ge­zei­le poictevin, dar­un­ter 1635 in groß­formi­ger Tex­tura. In Sel­les-sur-Cher re­si­dier­te zu Pierre Poictev­ins Leb­zei­ten je­ner Phil­ippe de Béthune (15651649), der als Ba­ron, spä­ter Graf von Sel­les, zu den auf­fäl­lig­sten Bi­blio­phi­len in der Zeit Hein­ richs IV. und Lud­wigs XIII. ge­hör­te. Als Samm­ler be­müh­te sich Phil­ippe de Béthune, durch Auf­bre­chen und Neu­bin­den von Ma­nu­skrip­ten wie der Heu­res de Ma­rie de Rieux (Edin­ burg, New York, Pa­ris und Tours) oder ei­nes 1428 in Bour­ges ge­schrie­be­nen Ex­em­plars des Livre des Sécrets d’histo­ire na­tu­rel­le (Pa­ris, BnF, fr. 1377-1379) vor­zu­täu­schen, er ver­fü­ge über eine Bi­blio­thek aus vie­len Bän­den, die er zum Teil mit fik­ti­ven Ex­li­bris gro­ßer Sou­ve­rä­ ne des Mit­tel­al­ters und der Re­nais­sance ver­se­hen ließ. Die Auf­merk­sam­keit des Gra­fen für Bü­cher mag das In­ter­es­se des Chir­ur­gen Pierre Poictevin an dem kost­bar ge­bun­de­nen Stun­ den­buch be­stärkt ha­ben. Quaritch’s Ca­talogue of Book­bin­dings, 1889, Nr. 165 (der Ka­ta­log-Ein­trag auf ein Vor­satz ge­klebt). Sir Charles Clo­re.

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Der Text und die Be­bil­de­rung Letz­tes Vor­satz mit Be­sitz­ein­trag von 1636. fol. 1: Ka­len­der in stark dia­lek­tal ge­präg­ter fran­zö­si­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt: Gol­de­ne Zahl in Blau, Sonn­tags­buch­sta­ben A in Gold auf blau­en und ro­ten Flä­chen; Sonn­tags­buch­sta­ben b-g in bräun­li­cher Tin­te; rö­mi­sche Ta­ges­zäh­lung mit wein­ro­ten Zah­len zu blau­en Be­zeich­nun­gen Nos/Idus in ei­ner er­sten Spal­te so­wie mit Kür­zeln N, Id und kl ab­wech­selnd zin­no­ber­rot, wein­rot und blau in ei­ner zwei­ten Spal­te; die An­ ga­ben zu den Ta­gen ohne Her­vor­he­bung des An­fangs­buch­sta­bens ab­wech­selnd in den bei­den Rots und in Blau; Fe­ste in Gold. Die Hei­li­gen­aus­wahl weist auf Pa­ris mit Gen­ ovefa (3.1.), Mar­cel­lus (12.4.), Lud­wig (25.8.), Rem­igius (1.10.), Dio­ny­si­us (9.10.); dazu das Fest des in Bour­ges ver­ehr­ten Hei­li­gen Wil­helm (10.1.); un­ge­wöhn­lich der hei­li­ge Bo­ni­tus von Clermont in Gold am 15.1, die Her­vor­he­bung des Tho­mas von Can­ter­bu­ry in Gold (29.12.) so­wie der nur in Rot ge­ge­be­ne Per­petuus von Tours am 30.12, für den der 8. April und der 1. Ja­nu­ar eben­so in Fra­ge kä­men. fol. 13: Per­ik­open mit un­ge­wöhn­li­cher Be­bil­de­rung: Jo­han­nes auf Patmos (fol. 13), Ma­ rien­ver­kün­di­gung zu Lu­kas (fol. 15), Drei Kö­ni­ge vor He­ro­des zu Mat­thä­us (fol. 17), Chri­stus er­scheint den Jün­gern zu Mar­kus (nach ei­ner Zei­le Ru­brik fol. 19). fol. 20v: leer. fol. 21: Mari­en-Of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Rom: Matutin mit Ma­rien­ver­kün­di­ gung (fol. 21, mit drei Psal­men­grup­pen für die Wo­chen­ta­ge); Lau­des mit Heim­su­chung (fol. 41); Prim mit Weih­nachts­bild (fol. 54v), Terz mit Hir­ten­ver­kün­di­gung (fol. 60); Sext mit An­be­tung der Kö­ni­ge (fol. 65v); Non mit Dar­brin­gung im Tem­pel (fol. 70v); Ves­p er mit Kin­der­mord (fol. 75v); Komplet mit Flucht nach Ägyp­ten (fol. 84v), Ad­vents-Of ­fi­zi­ um (fol. 90), statt Ru­bri­ken rote Un­ter­strei­chun­gen. fol. 104: ur­sprüng­lich bis 105v leer; in klein­formi­ger Bast­arda aus dem ent­wickel­ten 15. Jahr­hun­dert als Psal­men des hei­li­gen Hi­larius be­zeich­ne­ter Text, der Psal­men-In­ cipits für be­son­de­re Ge­müts­la­gen, ge­gen Ver­su­chun­gen usw. bün­delt. fol. 106: Buß­psal­men mit Jüng­stem Ge­richt, da­nach Li­ta­nei (fol. 118v); de­ren Hei­li­gen­ aus­wahl sehr be­schei­den. fol. 128-128v leer. fol. 129: To­ten-Of ­fi­zi­um: Ves­p er mit Chor­ge­sang am Ka­ta­falk (fol. 129), Matutin (ru­ bri­ziert fol. 137v), Lau­des (nicht mar­kiert fol. 163v); fol. 177v leer. fol. 178: Horen: von Hei­lig Kreuz mit Kreu­zi­gung (fol. 178) und von Hei­lig Geist mit Tri­ni­täts­bild (fol. 182). fol. 186: Mes­sen: zur Ma­rien­mes­se die Ma­don­na ste­hend: Sal­ve sancta parens, (fol. 186), Weih­nachts­mes­se mit Weih­nachts­bild: Puer na­tus est (fol. 190v), Oster­mes­se mit Auf­er­ ste­hung aus dem Gra­be: Resurrexit (fol. 193v), Pfingst­mes­se mit Apo­stel­ver­samm­lung um Ma­ria: Spi­ri­tus domi­ni rep­le­vit orbem (fol. 196v).

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fol. 200: Ge­be­te in fran­zö­si­scher Spra­che: die XV Joyes mit Milch spen­den­der Ma­don­na thro­nend: Douce Dame (fol. 200); die VII Requ­estes mit Gott­va­ter, in der Art des Gna­ den­stuhls ein Kru­zi­fix wei­send: Quiconques veuit (fol. 206). Dame sainte Ma­rie, mere de dieu mit Je­sus­kna­ben, der Ma­ria beim Garn­wickeln hilft (fol. 210); O très entière es­p érance mit Ma­don­na ste­hend (fol. 214, nach Texten­de von ei­ ner Zei­le). fol. 218: Suff­ragien; durch Ru­bri­ken auf den Ver­so-Sei­ten in die­ser Rei­hen­fol­ge und Aus­ wahl ge­si­chert; mit nur zwei Mär­ty­rern und ohne Be­ken­ner: Mi­cha­el mit Dra­chen­kampf (fol. 218), Pe­trus mit Schlüs­seln (fol. 219), Pau­lus mit Schwert und Buch (fol. 220), Jo­han­ nes der Täu­fer in der Ein­öde, auf das Lamm wei­send (fol. 221), Jo­han­nes der Evan­ge­list mit Kelch (fol. 222), Ja­kob­us der Äl­te­re mit Stab und Pil­ger­ta­sche (fol. 223), Chri­stoph­ orus mit dem Chri­stus­kna­ben im Fluß (fol. 224, nach Texten­de von ei­ner Zei­le), Ge­org im Dra­chen­kampf (fol. 225), Ka­tha­ri­na mit Rad und Schwert, den Herr­scher über­win­ dend (fol. 226), Mar­ga­re­te aus dem Rücken des Dra­chen auf­stei­gend (fol. 227), Mag­da­ le­na mit Salb­ge­fäß (fol. 228). fol. 229: Texten­de mit vier Zei­len und ei­ner Bor­dü­re mit Dra­chen; dar­un­ter Be­sitz­ein­ trag des Pierre Poictevin in Kur­si­ve und in Tex­tura, mit Jah­res­zahl 1635. Schrift und Schrift­de­kor Das Buch ist in ei­ner sorg­fäl­ti­gen Tex­tura mit ro­ten Ru­bri­ken so­wie im Ka­len­der ab­ wech­selnd in Blau, Wein­rot und Zin­no­ber­rot ge­schrie­ben, mit in Gold her­vor­ge­ho­be­nen Fe­sten. Psal­men­ver­se set­zen am Zei­len­be­ginn an; ihre ein­zei­li­gen In­itia­len er­schei­nen wie die Zei­len­fül­ler in Blatt­gold auf ro­ten und blau­en Flä­chen. Die hö­her be­wer­te­ten In­cipits er­hal­ten Dorn­blatt-In­itia­len, die, wo im­mer von der Buch­sta­ben­form her mög­ lich, mit ei­ner Zier­lei­ste links ver­bun­den wer­den. Des­sen un­ge­ach­tet er­hal­ten alle Text­ sei­ten auch ohne ein sol­ches In­cipit ent­spre­chen­den Rand­schmuck mit ei­nem Dop­pel­ stab links, der ei­gent­lich al­lein den grö­ße­ren In­itia­len zu­ge­ord­net sein müß­te. Selbst Sei­ten mit sehr we­nig Text wer­den ge­schmückt, wenn auch mit Zier­lei­sten, die sich auf die Text­hö­he be­schrän­ken; sie kön­nen aber de­ko­ra­tiv ge­wich­tig wir­ken, wenn bei­spiels­ wei­se zu nur drei Zei­len auf fol. 127v nicht nur eine kur­ze Bor­dü­re, son­dern dar­in auch noch ein Dra­che ge­zeigt wird. Wie das be­son­ders eng ver­wand­te Stun­den­buch Ms. 159 der Biblioteca Pa­la­ti­na in Par­ma aus der Zeit um 1390 wirkt die­se Hand­schrift wie eine cha­rak­te­ri­sti­sche Ar­beit aus Pa­ris; bei­de Stun­den­bü­cher mö­gen aber we­gen der be­tei­lig­ ten Buch­ma­ler eben­so­gut in Bour­ges ent­stan­den sein, wo ver­mut­lich auch Berrys Pe­tit­es Heu­res fer­tig­ge­stellt wur­den. Die Bild­fol­ge Nach der ge­wohn­ten Dar­stel­lung von Jo­han­nes auf Patmos zum Be­ginn des Jo­han­nesEvan­ge­li­ums (fol. 13) wer­den die Per­ik­open auf un­ge­wohn­te Wei­se be­bil­dert: Die An­ fangs­sät­ze der an­de­ren drei Per­ik­open sorg­ten da­für, daß drei Si­tua­tio­nen so ge­schil­dert

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wer­den, als habe der Ma­ler nur die vier Zei­len der In­cipits wahr­ge­nom­men: Die Ma­rien­ ver­kün­di­gung (fol. 15) ver­bild­licht Lk 1.26 (Missus est an­gel­us ga­bri­el: Der En­gel Ga­bri­el wur­de ge­sen­det). Die Drei Kö­ni­ge vor He­ro­des (fol. 17) be­zie­hen sich auf Mt 2.1 (Cum na­tus es­set ihesus in beth­leem in die­bus he(ro)dis ecce magi ab ori­ente/ ve­ne­runt hier­osolymam: Als Je­sus ge­bo­ren war, in den Ta­gen des He­ro­des, ka­men die Ma­gier aus dem Ori­ent). Chri­sti Er­schei­nung bei den Jün­gern (fol. 19) nimmt Mk 16,14 auf (Recumbenti­bus und­ ecim dis­cip­ulis appa/ruit: Als die elf Jün­ger ruh­ten, er­schien ih­nen der Auf­er­stan­de­ne). Jo­han­nes wird noch ein zwei­tes Mal, dann nicht als Evan­ge­list, son­dern als Wun­der wir­ ken­der Hei­li­ger auf fol. 222 wie­der­keh­ren; die Ma­rien­ver­kün­di­gung, die hier wie in der Haupt­mi­nia­tur der Pe­tit­es Heu­res des Her­zogs von Berry mit ste­hen­den Fi­gu­ren ge­zeigt ist, wird auf fol. 21 sehr viel ele­gan­ter mit knien­dem Ga­bri­el ge­schil­dert; der Be­such bei He­ro­des be­rei­tet die An­be­tung des Kin­des durch die Wei­sen aus dem Mor­gen­land vor, die zur Mari­en-Sext auf fol. 65v folgt. Im Ma­rien­of ­fi­zi­um be­schrän­ken sich die acht Bil­der (das Ad­vents­of ­fi­zi­um bleibt wie so oft bild­los) ganz auf die Kind­heits­ge­schich­te Jesu. Der vom frü­hen 15. Jahr­hun­dert an in Pa­ris und wei­ten Tei­len Frank­reichs gül­ti­ge Zy­klus war of­fen­bar noch nicht fest­ge­legt. Des­halb wird, wie spä­ter in den süd­li­chen Nie­der­lan­den, der Kin­der­mord der Ves­p er (fol. 75v) und die Flucht nach Ägyp­ten der Komplet (fol. 84v) zu­ge­ord­net. Ein leuch­tend ro­ter Grund mit ei­nem eng­ma­schi­gen tex­ti­len Mu­ster spannt sich hin­ter dem wich­tig­sten Bild, der Ver­kün­di­gung zur Matutin (fol. 21), die der­sel­ben Bild­vor­la­ ge wie auf fol. 22 im Stun­den­buch Pal. 159 der Biblioteca Pa­la­ti­na in Par­ma folgt; ihre Rän­der sind wie in un­se­rer Nr. 1 und auf vie­len Bild­sei­ten von Jean de Berrys Pe­tit­es Heu­ res mit Vö­geln be­lebt. Ein Ran­ken­mu­ster, das eine Art Da­mast­wir­kung an­strebt, hin­ ter­fängt die Heim­su­chung zu den Lau­des (fol. 41). Der Stall von Beth­le­hem ist als Bild­ be­griff bei der Ge­burts­sze­ne zur Prim (fol. 54v) und der An­be­tung der Kö­ni­ge zur Sext (fol. 65v) un­ver­zicht­bar. Beim Weih­nachts­bild ist der Zieh­va­ter ein­ge­schla­fen, wäh­rend der nack­te Je­sus­kna­be auf dem Bauch der Jung­frau sitzt, von ihr zärt­lich ge­hal­ten. Das un­ter­schei­det die Mi­nia­tur von der Ver­si­on zur Weih­nachts­mes­se (fol. 190v). Der bis auf ei­nen Haar­kranz kahl­köp­fi­ge Alte mit dem lan­gen wei­ßen Bart, der mitt­le­re Kö­nig mit ei­ner kur­zen Locke, die un­ter der Kro­ne ab­steht, und der bart­lo­se Blon­de, der sein Haupt sacht dreht, füh­ren Haupt­ty­pen von Herr­schern aus der Zeit Kö­nig Wen­zels vor Au­gen. Ka­ro­mu­ster auf Blatt­gold bil­det von der Prim an den Fond; das gilt auch für die An­sät­ze von Land­schaft bei der Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 60). Ar­chi­tek­tur ist auf Ver­satz­stücke wie den Al­tar bei der Dar­brin­gung im Tem­pel zur Non (fol. 70v) be­ schränkt, bei der Ma­ria von ih­rer Magd be­glei­tet wird. Im Ne­ben­ein­an­der iso­lier­ter Ele­men­te ver­weist der Kin­der­mord zur Ves­p er (fol. 75v) dar­auf, wie stark die Bild­welt die­ses Stun­den­buchs in recht al­ten Quel­len wur­zelt; He­ ro­des folgt der be­kann­ten Tra­di­ti­on mit­tel­al­ter­li­cher Rich­ter. In der zwei­ten Bild­hälf­te steht ein Sol­dat mit sei­nen Ei­sen­schu­hen auf den Ober­schen­keln ei­ner Mut­ter, die ih­ ren nack­ten Kna­ben an sich rei­ßen will, wäh­rend er das Kind mit dem Ei­sen­hand­schuh am Hals hält, um es mit ei­nem er­ho­be­nen Dolch zu tö­ten. Be­mer­kens­wert kom­po­niert

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ist die Flucht nach Ägyp­ten zur Komplet (fol. 84v): Jo­seph blickt zu Ma­ria zu­rück, die mit dem Kind auf ei­nem fül­li­gen Esel sitzt, im Da­men­sitz, die Bei­ne dem Be­trach­ter der Mi­nia­tur ent­zo­gen, also ähn­lich wie auf dem Po­lyp­tychon des Ant­wer­pen­er Mu­se­ums Mayer van den Bergh aus der Zeit um 1400 und durch­aus auf die be­rühm­te Mi­nia­tur der Lim­burgs in den Bel­les Heu­res der New Yor­ker Cloi­sters vor­aus­wei­send. Ehe sich der Brauch durch­setz­te, die Buß­psal­men mit ei­nem Bild von Da­vids Buße zu er­öff­nen, stell­te man lie­ber Gott als Adres­sa­ten die­ser Psal­men dar: Hier ist das Jüng­ste Ge­richt (fol. 106) ge­meint; denn mit Po­sau­nen wen­den sich zwei En­gel zur Erde, um die To­ten auf­zu­er­wecken, die – eine Frau links und ein Mann rechts – nackt aus dem Gras­ bo­den auf­tau­chen und un­ter dem Re­gen­bo­gen be­ten. Chri­stus weist mit er­ho­be­nen Ar­ men die Wun­den sei­ner Hän­de und bil­det da­mit zu­gleich die Kreuz­form, die der Ver­ hei­ßung ge­mäß einst am Him­mel er­schei­nen soll. Auf das Nö­tig­ste be­schränkt ist der To­ten­dienst in der Kir­che zum To­ten­of ­fi­zi­um (fol. 129): Vor nur un­deut­lich ge­mu­ster­tem dun­kel­blau­en Grund nimmt der Ka­ta­falk etwa zwei Drit­tel der Bild­brei­te ein; drei gol­de­ne Leuch­ter schwe­ben gleich­sam da­vor und las­sen ah­nen, daß man den nächt­li­chen Brauch der Re­zi­ta­ti­on des To­ten-Of ­fi­zi­ums in der Kir­che im Sin­ne hat­te. Links ste­hen, eng ge­drängt, drei bart­lo­se Chor­sän­ger. Die Kreu­zi­gung Chri­sti zur Matutin des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 178) ver­in­ner­licht die stil­le Trau­er der Mut­ter­got­tes und des Lieb­lings­jün­gers un­ter dem Kreuz; das Ka­ro­mu­ ster des Fonds ist be­ru­higt. Der Er­lö­ser wirkt klei­ner als die Bei­fi­gu­ren; Chri­sti Kreuz be­stimmt mit dem Quer­bal­ken die Di­men­sio­nen der Kom­po­si­ti­on. Zur Matutin des Hei­li­gen Gei­stes (fol. 182) wie spä­ter noch ein­mal zur Pfingst­mes­ se (fol. 196v) wäre ein Bild der Aus­gießung des Hei­li­gen Geists zu er­war­ten. Statt des­ sen be­sinnt man sich dar­auf, daß der Hei­li­ge Geist­nach der Fleisch­wer­dung des Sohns durch die Ge­burt die Drei­ei­nig­keit voll­en­det, in­dem er bei der Tau­fe Chri­sti in Ge­stalt ei­ner Tau­be er­scheint. Als ein Tri­ni­täts­bild er­schei­nen auf fel­si­gem Grund zwei ju­gend­ li­che Ge­stal­ten ein­an­der zu­ge­wandt und hal­ten ge­mein­sam die Welt­ku­gel. Der Va­ter wird mit dem Seg­nen­den rechts ge­meint sein, weil der Got­tes­sohn ja zur Rech­ten des Va­ters, also für den Be­trach­ter links zu den­ken ist. Über ih­nen kommt die Tau­be steil aus dem Him­mel her­ab, vor dun­kel­blau­em, Ton in Ton mit Dorn­blat­tran­ken ge­mu­ster­ tem Grund. Die Grup­pe ist deut­lich aus der Sym­me­trie­ach­se nach rechts ver­scho­ben, als sol­le Chri­stus, der für den Be­trach­ter links er­scheint, mehr Ge­wicht ge­ge­ben wer­den. Vor dem glei­chen Mu­ster­grund wie die Tri­ni­tät zur Geist-Matutin, nur dies­mal in Rot, steht die Ma­don­na mit dem Kind zu Ma­rien­mes­se (fol. 186). Wie­der ist die Ge­stalt aus der Bild­mit­te ge­rückt, dies­mal nach links. Zur Weih­nachts­mes­se wird die­sel­be Bild­vor­la­ge der Ge­burt Chri­sti (fol. 190v) va­ri­iert, die schon zur Prim dien­te. Nun hat die Jung­frau das Kind in eine wei­ße Win­del ge­hüllt und an ihre Brust ge­legt. Sie wen­det sie sich nach links, nicht dem Be­trach­ter zu, son­ dern weg von Jo­seph, der nun auf­ge­wacht ist und zwei Hir­ten auf­hält, die hin­ter dem Flecht­zaun vor dem Mu­ster­grund aus gol­de­nen, ro­ten und blau­en Ka­ros auf­tau­chen.

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Mit sei­ner stri­cheln­den Mal­wei­se be­son­ders sen­si­bel aus­ge­führt ist das Bild der Auf­er­ ste­hung aus dem Gra­be zur Oster­mes­se (fol. 193v); da­mit wird hier ein Stil er­reicht, der be­reits ent­schie­den ins 15. Jahr­hun­dert weist. Vor das dia­go­nal nach rechts auf­stei­gen­de Ka­ro­mu­ster ist nur der bläu­lich mo­del­lier­te Sar­ko­phag ge­stellt. Auf des­sen Stu­fe sit­zen vorn zwei Sol­da­ten, der eine schläft, der an­de­re schaut un­gläu­big hoch zur Er­schei­nung des Auf­er­stan­de­nen, der dop­pelt so groß wie die Wäch­ter ist; links hin­ten taucht noch ein drit­ter auf. Auch zur Pfingst­mes­se wird kein Bild des ei­gent­li­chen Pfingst­wun­ders ge­bo­ten: In den recht­ecki­gen Bild­raum zwängt der Buch­ma­ler nur Ma­ria mit den Apo­steln (fol. 196v); von der Tau­be und den gol­de­nen Flämm­chen zeigt er nichts. Mit den zwei Rei­hen von je­weils sechs Apo­steln, die sich um Ma­ria als Ecclesia ver­sam­meln, deu­tet er das Er­eig­ nis viel­leicht theo­lo­gisch be­wußt als Be­grün­dung der Kir­che. Die Bil­der zu den Ge­be­ten in fran­zö­si­scher Spra­che er­öff­net die Milch spen­den­de Ma­ don­na (fol. 200) zu den XV Freu­den Mariä: Als wahr­haf­te Mut­ter er­weist sich die Jung­ frau Ma­ria, in­dem sie zeigt, daß sie dem Je­sus­kna­ben die Brust gibt. Durch die Art, wie sich die Wan­gen des stei­ner­nen Throns öff­nen, ge­hört die Mi­nia­tur zu ei­ner Grup­pe von Bil­dern, die um 1386 in der be­rühm­ten Se­rie der Pro­phe­ten und Apo­stel von An­ dré Beau­neveu im Psal­ter des Her­zogs von Berry, fr. 13091 der Pa­ri­ser Na­tio­nal­bi­blio­thek, ih­ren frü­hen Hö­he­punkt fan­den. Die VII Kla­gen des Herrn, die hier mit der zum Text er­ho­be­nen Ru­brik Quiconques veult estre bien co­nseillé be­gin­nen, rich­ten sich ei­gent­lich an Chri­stus und nicht an Gott­va­ter; doch er­öff­net der Text mit ei­nem vor al­len in Bur­gund ver­brei­te­ten Bild der Tri­ni­tät (fol. 206), bei dem der Va­ter ein klei­nes Kru­zi­fix hält. Doch an­ders als in bur­gun­di­schen Va­ri­an­ten ent­springt die Tau­be nicht Got­tes Mund, son­dern stößt aus der Höhe her­ ab. Wie­der wird die Vor­stel­lung der im Ein­zel­nen nicht un­ter­scheid­ba­ren Per­so­nen der Drei­ei­nig­keit so ernst ge­nom­men, daß Gott­va­ter in Chri­sti Ge­stalt als ein Mann be­sten Al­ters mit bräun­li­chem Haar er­scheint. Wie­der rich­tet sich die­se Mi­nia­tur auf – nicht dar­ge­stell­te – Be­ter oder Be­te­rin­nen, die von links her­an­kom­men. Von be­son­de­rer An­mut sind Bil­der der Ma­don­na als Jung­fer im Grün; ge­ra­de in den Jahr­zehn­ten um 1400, als auch die nord­al­pi­ne Ma­le­rei zag­haft die Dar­stel­lung von Na­ tur und Um­welt wag­te, ent­stan­den rüh­ren­de Schil­de­run­gen der Mut­ter­got­tes mit dem Je­sus­kna­ben im Gar­ten. Zu die­sen ge­hört die im Text als Dame sainte Ma­rie, mère de dieu, an­ge­spro­che­ne Ma­don­na (fol. 210): Ma­ria sitzt ne­ben ei­nem Bäum­chen auf ei­ner Wie­se, hoch auf­ge­rich­tet; sie nimmt die Mit­te ein und wen­det sich nach links, wo der in ei­nen ro­ten Rock ge­klei­de­te Je­sus­kna­be mit nack­ten Füß­chen steht. In ei­ner über­aus sel­te­nen Bild­idee hilft er sei­ner Mut­ter, ro­tes Garn zu wickeln. In glei­cher Wei­se voll­en­det ist die Ste­hen­de Ma­don­na, die den Je­sus­kna­ben herzt, zum Ge­bet O très entière es­p érance (fol. 214). Mit sei­nem rech­ten Ärmchen er­greift das Kind den Saum des Man­tels, der das Haupt der Mut­ter­got­tes um­spielt; ein Kuß wird an­ge­

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deu­tet. Die Ge­sichts­zü­ge der bei­den wir­ken pla­stisch; kräf­ti­ge Locken ge­ben dem blon­ den Haar Fül­le. Die Bild­fol­ge zu den Suff­ragien setzt mit dem Erz­en­gel Mi­cha­el (fol. 218) vor dem tief­ blau­en Grund. Er trägt ei­nen ro­sa­far­be­nen Man­tel über Flie­der­far­ben, steht mit sei­nen in blau­em Pan­zer stecken­den Bei­nen auf dem Teu­fel, der als Dra­che ver­stan­den ist. Ei­ gent­lich müß­te die Fol­ge mit Jo­han­nes dem Täu­fer fort­ge­setzt wer­den; denn die­ser Hei­ li­ge, der noch vor Chri­sti Kreu­zi­gung als der gro­ße Vor­läu­fer und letz­te Ver­tre­ter des Al­ten Bun­des sein Mar­ty­ri­um er­litt, war kein Apo­stel. Doch wird er hier in ei­ner Fol­ ge von fünf Bil­dern in de­ren Mit­te pla­ziert, um nach den bei­den Apo­stel­für­sten Pe­trus und Pau­lus, mit Jo­han­nes dem Evan­ge­li­sten ein zwei­tes Paar zu bil­den. Auf ei­nem Bo­ den­strei­fen, der nur beim Täu­fer in der Ein­öde durch Hü­gel mit Bäum­chen er­gänzt ist, ste­hen die ein­zel­nen Ge­stal­ten je­weils vor ro­tem Mu­ster­grund, der mit nur dünn auf­ge­ tra­ge­nem Schwarz mit dorn­blatt­ähn­li­chen Ran­ken be­lebt ist. Der rote Grund­ton sorgt da­für, daß alle, auch der Täu­fer, ei­nen leuch­tend blau­en Man­tel tra­gen. Nur Pe­trus wen­ det sich nach links un­ten. Die Apo­stel sind an ih­ren At­tri­bu­ten wie auch ei­ner ge­wis­sen Por­trät-Ikon­ographie zu er­ken­nen: Pe­trus mit Schlüs­seln (fol. 219), Pau­lus mit Schwert und Buch (fol. 220), Jo­han­nes der Täu­fer mit dem Lamm (fol. 221), Jo­han­nes der Evan­ ge­list mit dem Kelch (fol. 222) und Ja­kob­us mit dem Pil­ger­stab (fol. 223). Nach der streng ein­heit­li­chen Er­schei­nung der Apo­stel bo­ten die Dar­stel­lun­gen der bei­ den Rit­ter­hei­li­gen und Mär­ty­rer Chri­stoph­orus und Ge­org dem Buch­ma­ler mehr ge­ stal­te­ri­schen An­reiz; dem Be­ter aber ent­zie­hen sich die bei­den Hei­li­gen, weil sie im Bild be­schäf­tigt sind: Chri­stoph­orus schrei­tet mit dem Chri­stus­kna­ben durch ei­nen Fluß (fol. 224). Vom Wind ge­zaust, der den blau­en Man­tel weit nach rechts weht, stützt er sich auf ei­nen Stab; da­bei wird er von dem in leuch­ten­des Rot ge­klei­de­ten Kna­ben ge­ ra­de­zu be­drängt; denn der stützt sich, nach rechts ge­wen­det, mit sei­ner Lin­ken auf die Haa­re des Rie­sen, um mit der Rech­ten zu seg­nen. Nach­dem das „Land­schafts­bild“ mit Chri­stoph­orus noch vor den matt­ro­ten Mu­ster­grund ge­stellt war, was auch zur Fol­ge hat­te, daß der Hei­li­ge wie die Apo­stel in Blau ge­klei­det ist, zu dem Vio­lett für das Un­ ter­ge­wand und Zin­no­ber­rot für Chri­sti Rock kom­men, tritt Ge­org (fol. 225) in Rü­stung vor un­ge­mu­ster­tem Dun­kel­blau auf, wie man es in man­chen Bil­dern von Berrys Brüs­se­ler Stun­den­buchs und bei der Tau­fe im Pa­ri­ser Band sei­ner Très Bel­les Heu­res de No­tre-Dame fin­det. Die Land­schaft ist ähn­lich be­wegt wie das Fluß­tal mit Chri­stoph­orus. Zu Fuß, im tail­lier­ten Pan­zer des spä­ten 14. Jahr­hun­derts, über dem er das wei­ße Wams mit dem ro­ten Kreuz trägt, steht Ge­org auf dem Dra­chen, greift nach des­sen Schopf und führt das Schwert ge­gen das nach links ge­dreh­te Maul des Un­tiers, das in sei­ner Be­we­gung dem Bild or­na­men­ta­len Reiz gibt. In ver­än­der­ter Rah­mung er­schei­nen die drei weib­li­chen Hei­li­gen am Schluß des Bu­ches: Ka­tha­ri­na (fol. 226) wen­det sich mit ge­senk­tem Blick nach links; sie steht auf dem heid­ ni­schen Herr­scher, der sie auf das Rad span­nen und schließ­lich ent­haup­ten ließ. Mo­ra­ lisch aber hat sie ihn be­siegt, wie sie sich nun in ein­drucks­vol­ler Wir­kung auf das noch un­zer­stör­te Rad stützt und das Schwert nur locker am Griff hält. Mar­ga­re­te (fol. 227)

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ist der Le­gen­de nach im tief­sten Ver­ließ von Beelzebub, der ihr dort in Ge­stalt ei­nes Dra­ chen auf­lau­er­te, ver­schlun­gen wor­den. Doch so schnell, daß noch ein Zip­fel ih­res Man­tels dem Un­ge­heu­er aus dem Maul hing, konn­te die Hei­li­ge mit ih­rem klei­nen Kru­zi­fix des­ sen Rücken spren­gen. Aus dem Dra­chen, der ihr At­tri­but wur­de, auf­stei­gend und zum Kru­zi­fix in ih­rer Hand be­tend er­scheint sie vor Akanthus­mu­ster, ohne Hin­weis auf den Ker­ker. Als Ver­trau­te Jesu und da­mit als eine Ge­stalt aus dem Evan­ge­li­um steht Ma­ria Mag­da­le­na (fol. 228) in der Hier­ar­chie ei­gent­lich vor Ka­tha­ri­na und Mar­ga­re­te; in un­ se­ren Suff­ragien be­setzt die Hei­li­ge der Reue­rin­nen aber das Ende der Suff­ragien. Vor dem im we­sent­li­chen von Blau und Gold ge­präg­ten Ka­ro­mu­ster steht die Hei­li­ge mit dem Salb­ge­fäß, als ein­zi­ge Ge­stalt in die­sem Stun­den­buch in Gelb ge­klei­det, über das ein ro­sa­far­be­ner Man­tel ge­legt ist. Zeich­nung blieb sicht­bar, weil der Fa­rb­auf­trag beim Man­tel un­voll­en­det blieb. Fer­ti­gungs­grad und Hän­de­schei­dung, Zu­schrei­bung, Da­tie­rung und Lo­ka­li­sie­rung Alle Mi­nia­tu­ren sind gut les­bar, in den Hin­ter­grün­den im­mer, meist auch in den Ge­ wän­dern voll­en­det; das gilt eben­falls für die Rah­mung, die meist als letz­tes aus­ge­führt wur­de. Je­doch fehlt man­chen Ge­sich­tern und Hän­den, sel­te­ner auch den Dra­pe­ri­en die letz­te Aus­ma­lung. Dar­aus er­ge­ben sich wun­der­ba­re Ein­blicke in die Art, wie ge­zeich­net wur­de, bei­spiels­wei­se bei den Köp­fen von Ma­ria und dem Kind der Flucht nach Ägyp­ten. Die Zu­schrei­bung wird je­doch er­schwert, zu­mal in ein­zel­nen Fäl­len ein ge­wis­ser Zeit­ raum zwi­schen der An­la­ge der Bil­der und der Fer­tig­stel­lung der Ge­sich­ter nicht aus­zu­ schlie­ßen ist. Das gilt be­son­ders für die er­ste Mi­nia­tur, Jo­han­nes auf Patmos, de­ren stark ins 15. Jahr­hun­dert wei­sen­der Cha­rak­ter dar­auf zu­rück­ge­hen mag, daß sie viel­leicht in zwei Etap­pen aus­ge­führt wur­de. Hän­de­schei­dung kann sich an den schlüs­sig zu Ende ge­mal­ten Mi­nia­tu­ren ori­en­tie­ren. Be­mer­kens­wert ist der Un­ter­schied der bei­den Ver­kün­di­gungs­bil­der, fol. 15 und 21: Das er­ste mit dem ste­hen­den En­gel ver­rät noch eine stär­ke­re Ori­en­tie­rung an der Haupt­mi­ nia­tur in Berrys Pe­tit­es Heu­res, die um 1375 von Jean le Noir an­ge­legt, aber in fort­schritt­ li­cher­er Ma­nier ein Jahr­zehnt spä­ter voll­en­det wur­de; das zwei­te, mit knien­dem Ga­bri­el ent­spricht dem zwei­ten Ver­kün­di­gungs­bild dort (fol. 141v), das zwar eben­falls äl­te­ren Quel­len ver­pflich­tet ist, aber ganz von ei­ner jün­ge­ren Hand aus­ge­führt wur­de. Die Zei­ ten von Jean le Noir, der in den 1370er Jah­ren ge­stor­ben sein dürf­te, sind in je­dem Fall Ver­gan­gen­heit; doch blei­ben bei­de Mi­nia­tu­ren in un­se­rem Stun­den­buch äl­te­rer Pa­ri­ ser Tra­di­ti­on treu. An ita­lie­ni­scher Mo­del­lie­rung ori­en­tiert und des­halb sti­li­stisch fort­ schritt­li­cher ist das zwei­te Ver­kün­di­gungs­bild, fol. 21; es er­öff­net als ty­pi­sche Haupt­ mi­nia­tur die Mari­en-Matutin und ver­rät wie die End­fas­sung der er­sten Ver­kün­di­gung in den Pe­tit­es Heu­res je­nen jün­ge­ren Stil, den Ro­bert de La­ste­yrie 1896 – na­tür­lich ohne un­ser Buch zu ken­nen – mit Ja­cquem­art de Hes­din ver­bun­den hat. Von Berrys Gran­des Heu­res, latin 919 der BnF, aus­ge­hend wi­der­setz­te sich Paul Dur­ rieu die­ser Iden­ti­fi­zie­rung, in­dem er den Haupt­stil in de­ren er­hal­te­nem Buch­block für Ja­cquem­art in An­spruch nahm. Nach­dem Pan­ofsky 1953 La­ste­yrie ge­folgt war, Mill­ard

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Meiss die Iden­ti­fi­zie­rung des Künst­lers im glei­chen Sin­ne neu be­grün­det hat­te und Carl Nor­denf­alk eben­so wie Otto Pächt 1956 so­wie spä­ter Fran­çois Avril (1975 und 1989) dem zu­ge­stimmt hat­ten, schien die Fra­ge end­gül­tig ge­klärt. Doch Al­bert Châtelet ist im Jahr 2000 mit ver­än­der­ter Ar­gu­men­ta­ti­on auf Dur­rieu zu­rück­ge­kom­men, je­doch ohne gro­ßen Wi­der­hall, wie Avril 2004 und die ver­schie­de­nen Bei­trä­ge von Inès Villela-Pe­ tit zei­gen. Die Lö­sung des Pro­blems sah nach Meiss fol­gen­der­ma­ßen aus: Da Ja­cquem­arts Name für Berrys Gran­des Heu­res zwar ver­bürgt ist, dort aber die Voll­bil­der feh­len, hielt er des­ sen Ar­beit in der Hand­schrift (bis auf das von ihm falsch ein­ge­schätz­te spal­ten­brei­te Da­ vids­bild, fol. 45) für ver­nich­tet. Die ver­lo­re­nen Voll­bil­der stell­te sich Meiss ähn­lich wie das Fo­lio-Blatt der Kreuzt­ragung im Lou­vre vor, das erst 1930 auf­ge­taucht ist, zu­nächst als ita­lie­nisch galt und seit Nor­denf­alk 1956 als Rest­be­stand aus den Gran­des Heu­res dis­ku­tiert wird, ob­wohl er das Blatt nicht als Frag­ment aus dem Ma­nu­skript an­er­kann­ te. Ein Grund­pro­blem wur­de da­bei kaum an­ge­spro­chen: Ja­cquem­art, wie ihn Meiss und die an­de­ren sa­hen, ver­tritt eine Pla­sti­zi­tät und ein ge­dämpft far­ben­fro­hes Ko­lo­rit, das ent­schie­den ins 15. Jahr­hun­dert vor­aus­weist; die­sen Grund­zug er­klär­te Meiss mit fri­ scher Er­fah­rung des Ma­lers aus dem Art­ois in Avi­gnon. Den al­ter­tüm­li­che­ren Mi­nia­ tur­isten – also Dur­rieus und Châtelets Ja­cquem­art –, der die Gran­des Heu­res do­mi­niert, tauf­te er Pseu­do-Ja­cquem­art. Auch die­ser Buch­ma­ler war an un­se­rem Stun­den­buch be­tei­ligt: Sei­ne schön­ste Mi­nia­ tur ist die Ma­don­na im Gar­ten, der Je­sus als Kna­be beim Garn­wickeln hilft, fol. 210. Von hier aus sind Pseu­do-Ja­cquem­art (bzw. Dur­rieus und Châtelets Ja­cquem­art) nicht nur die Bil­der zu Mari­en-Sext und -Non, son­dern auch das Jüng­ste Ge­richt zu Be­ginn der Buß­psal­men zu­zu­schrei­ben. Der fort­schritt­li­chere, also Ja­cquem­art, wie Meiss ihn sieht, über­nimmt in un­se­rem Ma­nu­skript die Füh­rung und ver­weist von der Hier­ar­chie der Text­an­fän­ge her Pseu­do-Ja­cquem­art auf den zwei­ten Platz. Die an­de­ren Buch­ma­ ler sind schwer zu fas­sen; die er­ste Ver­kün­di­gung, fol. 15, mag von Pseu­do-Ja­cquem­art stam­men; die drei Bil­der der weib­li­chen Hei­li­gen am Schluß sind schon we­gen der ab­wei­ chen­den Rah­mung mit al­ter­tüm­li­chen Rau­ten in den Ecken von ei­gen­stän­di­ger Hand. Chro­no­lo­gi­sche Pro­ble­me, wie sie die ent­schie­den fort­schritt­li­che Fi­gu­ren­bil­dung der Haupt­mi­nia­tur stel­len könn­te, wer­den durch die enge Ver­wandt­schaft un­se­res Erz­en­gels Ga­bri­el auf fol. 21 mit den knien­den Wap­pen-En­geln auf dem Front­ispiz zum zwei­ten Band der Bi­bel Vat. lat. 50/51 aus dem Weg ge­räumt; denn die He­ral­dik dort hat Jean de Berry zwi­schen 1389 und 1394 für Papst Cle­mens VII . ein­ma­len las­sen. Mit die­sem Hin­weis ge­rät man zu­gleich in Grau­zo­nen, weil Mill­ard Meiss um die we­ni­gen Wer­ke sei­ner Mei­ster, die er für ei­gen­hän­dig hielt, Scha­ren von Mit­ar­bei­tern und Nach­fol­gern ver­sam­mel­te. Er hät­te un­ser Ma­nu­skript ver­mut­lich eben­so wie die am be­sten ver­gleich­ ba­re Par­al­lel-Hand­schrift, Ms. 159 in Par­ma, der Ja­cquem­art-Nach­fol­ge oder viel­leicht sei­nem un­ge­nau de­fi­nier­ten Drei­fal­tig­keits-Mei­ster zu­ge­spro­chen. Der Be­griff follo­wer hat da­bei kaum chro­no­lo­gi­sche Re­le­vanz; denn Meiss da­tiert das Stun­den­buch in Par­ ma als ver­meint­li­ches Nach­fol­ge­werk des erst 1384 auf­tre­ten­den Ja­cquem­art be­reits um

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1390; der dar­an mit­wir­ken­de Mei­ster der Brüs­se­ler In­itia­len dürf­te je­doch erst im Lau­ fe der 1390er Jah­re nach Frank­reich ge­kom­men sein. Da­mit er­gibt sich, un­ab­hän­gig da­von, wes­sen Ja­cquem­art denn nun der ech­te war, die Zu­schrei­bung un­se­res Stun­den­buchs an das Ate­lier des seit 1384 in Berrys Dien­sten nach­ge­wie­se­nen Ja­cquem­art de Hes­din aus dem Art­ois. Im Ver­gleich mit dem Ma­nu­ skript in Par­ma ist ein An­satz ge­gen 1390 an­ge­mes­sen. Mit dem in Bour­ges an­säs­si­gen Ja­cquem­art de Hes­din er­gibt sich aber zu­gleich das Pro­blem, daß die­ses in je­der Hin­ sicht für Pa­ris mu­ster­gül­ti­ge Stun­den­buch in der Haupt­stadt des Berry ent­stan­den sein könn­te. Eine bis zu un­se­rem Buch von 2015 völ­lig un­be­kann­te Hand­schrift, die in Text, De­ kor und Be­bil­de­rung mu­ster­gül­tig den Ty­pus des Pa­ri­ser Stun­den­buchs ver­tritt. In zehn über­schau­ba­re Ab­schnit­te ein­ge­teilt, klug ru­bri­ziert, dem Brauch von Rom fol­ gend mit ei­nem Pa­ri­ser Ka­len­der, der durch nicht ganz ein­deu­ti­ge re­gio­na­le Fär­bung er­gänzt ist, zeugt das Ma­nu­skript von ei­ner Pha­se in der Ent­wick­lung des Hand­ schrif­ten­typs, in der die ikono­gra­phi­sche Aus­wahl noch nicht schlüs­sig fest­ge­legt war: Drei der Per­ik­open wer­den mit in­halt­lich den Text ver­an­schau­li­chen­den Bil­ dern er­öff­net; der Kin­der­mord ver­drängt die Ma­rien­krö­nung; das Jüng­ste Ge­richt er­scheint statt Da­vids Buße; Got­tes­bil­der und Ma­ri­en­bil­der von er­staun­li­cher In­ vent­ion be­rei­chern das Spek­trum, zu dem gute Hei­li­gen­bil­der ge­hö­ren. Ja­cquem­art de Hes­din und Pseu­do-Ja­cquem­art ge­stal­te­ten ge­mein­sam mit wei­te­ren Ma­lern die teil­wei­se in den Ge­sich­tern un­voll­en­det ge­blie­be­nen Mi­nia­tu­ren. Noch sind Tra­di­ tio­nen des 14. Jahr­hun­derts, wie sie in Berrys Pe­tit­es Heu­res kul­mi­nier­ten, sehr le­ ben­dig. Wie das am be­sten ver­gleich­ba­re Ma­nu­skript 159 in Par­ma könn­te un­ser Stun­den­buch als ein klei­ner Bru­der der zu Recht be­rühm­ten Pe­tit­es Heu­res des Her­ zogs von Berry an­ge­spro­chen wer­den, die um 1375 an­ge­legt und etwa zeit­gleich um 1385/90 voll­en­det wur­de. In je­der Hin­sicht bie­tet der Ko­dex span­nen­de Ein­blicke in ei­nen ent­schei­den­den Mo­ment der Buch­ma­le­rei­ge­schich­te: Hin­rei­ßend sind ei­ni­ ge der als Zeich­nung ste­hen ge­blie­be­nen Pas­sa­gen; be­mer­kens­wert ist der von kei­ nem Il­lu­mi­na­tor an­schau­li­cher als von Ja­cquem­art ver­tre­te­ne Wech­sel von der Ma­ le­rei des Kur­zen 14. Jahr­hun­derts zum Gol­de­nen Zeit­al­ter un­ter dem Mä­zen­at des Her­zogs Jean de Berry. LI­T E­R A­T UR: Eber­hard Kö­nig: Vom Psal­ter zum Stun­den­buch. Zwei be­deu­ten­de Hand­schrif­ten aus dem 14. Jahr­ hun­dert mit ei­nem Ver­such über das Phä­no­men Ja­cquem­art de Hes­din (Il­lu­mi­na­tio­nen 22, Ka­ta­log 76), Bi­ber­müh­le 2015.

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4 Ein Stun­den­buch mit drei­ßig Zeich­nun­gen ei­nes der drei Brü­der Lim­burg als Berrys Ge­schenk für Lou­is d’Orlé­ans und Valen­ti­na Vis­conti


4 • Stun­den­buch: Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Pa­ris, mit ei­nem von den Her­ zö­gen Phil­ipp le Hardi von Bur­gund und Jean de Berry be­vor­zug­ten Ka­len­der. La­tei­ni­sche Hand­schrift mit Ka­len­der in Fran­zö­sisch und la­tei­ni­schen und fran­zö­si­schen Ru­ bri­ken, in Tex­tura, in Gold, Blau und Schwarz. Pa­ris, vor No­vem­ber 1407 in zwei Etap­pen ge­zeich­net: von dem für den Hie­ro­ny­mus der Bible mo­ral­isée ver­ant­wort­li­chen Lim­burg-Bru­der, viel­leicht Paul von Lim­burg: vor De­zem­ber 1408 mit ei­ner Text­la­ge und Bor­dü­ren er­gänzt; (zu­letzt um 1460 mit ei­ner wei­te­ren Bor­dü­re ver­se­hen). Drei­ßig Bild­sei­ten mit Zeich­nun­gen, sech­zehn da­von zu Dop­pel­sei­ten kom­bi­niert: dar­un­ ter eine Dop­pel­sei­te mit ei­ner dreiz­ei­li­gen Bild-In­itia­le und sym­me­tri­schem Rand­schmuck aus Fi­gu­ren und Akanthus mit Blu­men, eine wei­te­re Dop­pel­sei­te auf Ver­so mit Ne­ben­ sze­ne im Bas-de-Page und auf Recto mit dreiz­ei­li­ger In­itia­le und Bor­dü­ren­schmuck, die an­de­ren Dop­pel­sei­ten je­weils mit nur ei­ner dreiz­ei­li­gen In­itia­le, bei Mari­en-Terz und Mari­en-Ves­p er auf Recto, bei den Suff­ragien auf Ver­so; dazu sechs wei­te­re Sei­ten mit leer ge­las­se­nen Räu­men für Bil­der in un­ter­schied­li­chen Fer­ti­gungs­stu­fen. Zwei lee­re vierz­ei­ li­ge In­itia­len mit Bor­dü­ren­klam­mer von links; ein Raum für eine vierz­ei­li­ge In­itia­le leer­ge­ las­sen. Psal­men­an­fän­ge und ähn­li­che Tex­te mit zweiz­ei­li­gen gol­de­nen In­itia­len auf ro­ten und blau­en Flä­chen mit in den Rand aus­strah­len­dem rein gol­de­nem Dorn­blatt; Psal­men­ver­se am Zei­len­be­ginn mit ein­zei­li­gen In­itia­len der­sel­ben Art; die Zei­len­fül­ler ent­spre­chend. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 178 Blatt Per­ga­ment, dazu je­weils vier Blatt Pa­pier als flie­gen­des und fe­stes Vor­satz vorn und hin­ten. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, ein­schließ­lich des Ka­len­ders; Ab­wei­chun­gen durch Zä­su­ren und durch Ein­fü­gung von Dop­pel­blät­tern für die Be­bil­de­rung so­wie durch Blatt­ver­ lu­ste. Mit Reklam­an­ten un­ter­schied­li­cher Art. Ka­len­der: 1 (8-1) – 2 (8), das er­ste Blatt ent­fernt; die fol­gen­den zwei Blät­ter und die RectoSei­te von fol. 3 ur­sprüng­lich leer; fol. 15v leer; Per­ik­open und Ma­rien­ge­be­te: 3 – 4 (8), 5 (4): 33v-35v leer; Mari­en-Of­fi­zi­um: 6 (2): Hin­zu­fü­gung für das Bild auf fol. 37v; 7 – 11 (8); 12 (8-2): das mitt­le­re Dop­pel­blatt fehlt zwi­schen fol. 81/82; 13 (8); 14 (8-4): die bei­den äu­ße­ren Dop­pel­blät­ter feh­len; 15 (8); 16 (8-2): zwei­tes Dop­pel­blatt fehlt; 17 (6): fol. 115-115v leer; 18 – 19 (8): Horen des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 116); 130v-131v leer; Mes­sen und Suff­ragien, Ge­be­ te zum Ta­ges­lauf hin­zu­ge­fügt: 20 (8); 21 (8-1, + 2): nach fol. 139 fehlt ein Blatt; fol. 143/144 ein­ge­fügt; 21 (8-1): er­stes Blatt fehlt vor fol. 149; 22 (8); 23 (8-1 + 8): fol. 167v leer; in die La­gen­mit­te ein­ge­stell­ter Qua­ter­nio mit 18 statt 13 Zei­len (fol. 168-175); ein lee­res Blatt der äl­te­ren Lage ent­fernt; fol. 176-178 leer; fol. 178v ge­bräunt durch Ein­kle­ben in ei­nen Ein­band. Se­dez: 143 x 104 mm; Text­spie­gel 79 x 49 mm. Zu 13, im Ka­len­der zu 17 Zei­len, ein in die letz­te Lage ein­ge­schal­te­ter Qua­ter­nio zu 18 Zei­ len, rot reg­liert. In zwei Kam­pa­gnen wur­de das Ma­nu­skript er­gänzt und dann auf­ge­ge­ben, aber sorg­fäl­tig auf­ be­wahrt. Im gül­ti­gen Be­stand feh­len vier Dop­pel­blät­ter im Mari­en-Of­fi­zi­um. Ohne jede Spur from­men Ge­brauchs, frisch und bril­lant so­wie un­be­schnit­ten er­hal­ten.

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Frü­her in ei­nem völ­lig de­mo­lier­ten fran­zö­si­schen Schaf­l e­der­band des 18. Jahr­hun­derts mit ver­dor­be­ner Mar­mor­ierung; heu­te in al­tem schwar­zen Samt über Holz­deckeln, ei­ner Schlie­ ße. Gold­schnitt. Pro­ve­ni­enz: Die ein­zig­ar­ti­ge Dis­p o­si­ti­on die­ses Ma­nu­skripts läßt er­ken­nen, daß es sich um ein Werk aus dem eng­sten Kreis des fran­zö­si­schen Kö­nigs­hofs han­delt, und zwar um eine Pa­ri­ser Ar­beit ei­nes der aus Nim­we­gen ge­kom­men Brü­der Lim­burg, der sich da­bei in viel­fäl­ti­ger Wei­se an ober­ita­lie­ni­schen Vor­bil­dern ori­en­tier­te. Das ver­ra­ten un­ ge­wohn­te Bild­mo­ti­ve, Ent­leh­nun­gen aus ei­nem Le­gen­dar­ium des 14. Jahr­hun­derts für Ein­zel­bil­der und Bild­paa­re in den Suff­ragien und vor al­lem für die auf zwei Sei­ten ver­ teil­te Ma­rien­ver­kün­di­gung, die in Hand­schrif­ten aus Mai­land vor­be­rei­tet wird. Von be­ son­de­rer Be­deu­tung könn­te der Um­stand sein, daß ein nur in Gold und Blau ge­schrie­ be­nes Stun­den­buch aus der Lom­bar­dei mit Mi­nia­tu­ren von Ramo de Ramedellis, das Valen­ti­na Vis­conti nach Pa­ris mit­ge­bracht ha­ben dürf­te, eine von zwei Vor­stu­fen für die auf zwei Sei­ten ver­teil­te Ma­rien­ver­kün­di­gung ist (un­ser Ka­ta­log 67, Nr. 9). Die als Tartschen ge­form­ten lee­ren Wap­pen in den Bor­dü­ren zu die­ser Dop­pel­sei­te neh­men ein Mo­tiv der Vis­conti auf; die Harp­yen, die sie tra­gen, las­sen sich in der He­ ral­dik des Hau­ses Orlé­ans nach­wei­sen. Der ir­ri­tie­ren­de Um­stand, daß die Ar­beit an die­sem Buch zu­nächst ab­ge­bro­chen, dann aber wie­der auf­ge­nom­men wur­de, spricht für zwei rasch auf­ein­an­der fol­gen­de Schick­sals­schlä­ge. Zu den Hin­zu­fü­gun­gen in un­se­ rem Stun­den­buch ge­hört ein Text, den man mit der Er­mor­dung von Lou­is d’Orlé­ans am 23. No­vem­ber 1407 ver­bin­det und den Jean de Berry in meh­re­ren Stun­den­bü­chern mit Lim­burg-Mi­nia­tu­ren eben­falls hin­zu­fü­gen ließ. Des­halb neh­men wir an, daß der ur­ sprüng­li­che Be­stand vor der Er­mor­dung ge­schaf­fen wur­de. Mit der Hin­zu­fü­gung kam der Rand­schmuck in Dorn­blatt und Akanthus hin­zu, der nicht mit den ur­sprüng­li­chen In­ten­tio­nen über­ein­stimmt. Nur kur­ze Zeit spä­ter wur­de die Ar­beit an der Hand­schrift auf­ge­ge­ben. Da die Brü­der Lim­burg in den Dien­sten Jean de Berrys stan­den und die Zeich­nun­gen zeit­gleich zur Voll­en­dung von Berrys Bel­les Heu­res ent­stan­den sind, ist an­zu­neh­men, daß Jean de Berry das Ma­nu­skript zu­nächst sei­nem Nef­fen Lou­is d’Orlé­ans zu­eig­nen woll­ te; nach des­sen Er­mor­dung am 23. No­vem­ber 1407 wird Berry noch Er­gän­zun­gen für die Wit­we Valen­ti­na Vis­conti in Auf­trag ge­ge­ben ha­ben, um nach de­ren Tod am 4. De­ zem­ber 1408 das Pro­jekt auf­zu­ge­ben. Um 1600 wur­de das Buch zwei­mal mit der Be­zeich­nung „des­sainctz“ ver­se­hen, die nicht als Na­mens­zug ge­meint ist, son­dern in an­ti­quier­ter Or­tho­gra­phie auf des­seins (=des­sins), also die Zeich­nun­gen ver­weist. 2013 ist das Ma­nu­skript in ei­ner in Bel­gi­en an­säs­si­gen Sei­ten­li­nie der aus dem fran­ zö­si­schen Quer­cy stam­men­den Adels­fa­mi­lie Ca­stelnau auf­ge­taucht; viel­leicht aus dem Be­sitz des Mau­rice de Ca­stelnau (1678-1742), des­sen Stamm­baum auf An­toine de Ca­ stelnau (1471-1541) zu­rück­führt, der im Dienst de Marguerite de Valo­is oder d’An­ goulême (1492-1549) stand, ei­ner Ur­en­ke­lin des Her­zogs Charles de Bour­bon (14011456), sei­ner­seits En­kel des Her­zogs Jean de Berry (1340-1416).

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Die Text­fol­ge fol. 1: Nach­trä­ge aus dem 17. Jahr­hun­dert in ro­ter Tin­te: Oreson du st. Au­gu­stin in der Art ei­ner Ru­brik, dann aber ge­stört durch die An­ga­be le v jour du mois d’avril (ohne Jah­res­an­ga­be; im Ka­len­der ent­sprä­che dies dem Fest­tag von saint yraine), dann zwi­schen Kreuz­zei­chen in gro­ßen Let­tern: + des­sainctz + Tres doulx Je­sus Crist vray dieu: ein ba­rockes Ge­bet mit Tour d’horizon der Heils­ge­schich­ te; dar­in, in schwar­zer Tin­te her­vor­tre­tend, die Let­ter „N“ an den Stel­len, an de­nen sich der Be­ter na­ment­lich nen­nen soll. fol. 2v: Jah­res­zahl 1403 in der­sel­ben schwar­zen Tin­te wie das N. fol. 3v: Ka­len­der, ein über­aus ra­res Ex­em­plar mit den Mo­na­ten auf ge­gen­über­lie­gen­den Dop­pel­sei­ten, ähn­lich dis­p o­niert wie in Jean Pucel­les New Yor­ker Stun­den­buch der Je­an­ ne d’Ev­reux aus den 1320er Jah­ren und in ei­nem Haupt­werk aus der Lom­bar­dei: Pa­ris, ms. lat. 757, dem Stun­den­buch-Miss­ale für Bert­rando de’ Rossi (gest. 1396). Der Text folgt ei­nem For­mu­lar, das un­ter an­de­rem für Berrys Bel­les Heu­res eben­so wie in Hand­schrif­ ten für wei­te­re Mit­glie­der des fran­zö­si­schen Hofs von Phil­ipp dem Küh­nen an ge­dient hat, dar­un­ter auch das spä­ter an Bed­ford ge­lang­te Lon­do­ner Add. Ms. 18850. fol. 15v leer. fol. 16: Per­ik­open in un­ge­wohn­ter Rei­hen­fol­ge: Jo­han­nes (fol. 16), Lu­kas (fol. 18), Mar­ kus (fol. 19v), Mat­thä­us (fol. 21). fol. 23: Ma­rien­ge­be­te, für ei­nen Mann kon­zi­piert, das er­ste der Ver­si­on in den Bel­les Heu­res eng ver­wandt; das zwei­te da­von ent­schie­den ab­wei­chend: Ob­secro te (fol. 23) und O in­teme­rata (fol. 28). fol. 33v-37 leer. fol. 37v: Mari­en-Of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Pa­ris: (A)ve ma­ria (fol. 37v); Matutin wie in den Bel­les Heu­res mit drei vol­len Nok­tur­nen, die auch als sol­che be­zeich­net wer­ den (fol. 38); Lau­des (fol. 67v); Prim (fol. 82, An­fang fehlt); fol. 87v text­los, Terz (fol. 88); Sext (fol. 92, An­fang fehlt), Non (fol. 96, An­fang fehlt); fol. 101v text­los, Ves­p er (fol. 102, Text­blatt fehlt nach fol. 104); Komplet (fol. 109, An­fang fehlt). fol. 115-115v leer. fol. 116: Horen des Hei­li­gen Kreu­zes: Matutin (fol. 116), Prim (fol. 118), Terz (fol. 120), Sext (fol. 122), Non (fol. 124), Ves­p er (fol. 126), Komplet (fol. 128). fol. 130v-131v leer. fol. 132: Wie die Bel­les Heu­res, aber um­ge­kehrt, schließt das Buch mit zwei Text­grup­pen, die in Berry-Stun­den­bü­chern sonst nicht in glei­cher Wei­se vor­kom­men: auf vier Mes­sen fol­gen zwölf Suff­ragien. Mes­sen bil­den in den Très Bel­les Heu­res de No­tre Dame heu­te ei­nen gan­zen Band für sich, der aus Mai­land nach Tu­rin ge­langt ist; sie be­set­zen in den

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Très Riches Heu­res ei­nen wich­ti­gen Text­block; hin­ge­gen gab es in Berry-Hand­schrif­ten sonst nur ein ein­zi­ges Suff­ragium, das des hei­li­gen Ju­li­an im ver­brann­ten Tu­ri­ner Band der Très Bel­les Heu­res de No­tre Dame. Vo­tiv­mes­sen kurz ge­faßt, vom Text her eher dem so­ge­nann­ten Bed­ford-Stun­den­buch in Lon­don als Berrys Bel­les Heu­res ver­wandt: Ma­rien­mes­se (fol. 132); Hei­lig Geist-Mes­se (fol. 135v); Tri­ni­täts­mes­se (fol. 140, An­fang fehlt); 143-144 leer, 144v text­los, Re­qui­em (fol. 145 Texten­de fehlt nach fol. 148), fol. 149: Suff­ragien: mit Aus­nah­me des er­sten Blatts lücken­los in un­ge­wohn­ter Aus­wahl und Rei­hen­fol­ge, die durch die La­gen­ord­nung fest­liegt; die Hier­ar­chie der Hei­li­gen wird nicht be­ach­tet; die Frau­en sind un­ter­be­setzt; und es gibt mit Chri­stoph­orus und Ge­org nur zwei Mär­ty­rer: Mi­cha­el (fol. 149, An­fang fehlt auf Ver­so); Pe­trus (fol. 150); Pau­lus (fol. 151); Jo­han­nes der Täu­fer (fol. 152v); Chri­stoph­orus (fol. 154); Ka­tha­ri­na (fol. 155v); Ni­ko­laus (fol. 157v); Ja­kob­us der Äl­te­re (fol. 159); An­to­ni­us Ab­bas (fol. 160v); Pau­lus Ere­mita (fol. 162); Hie­ ro­ny­mus (fol. 163v); Ge­org (fol. 165v). fol. 167v leer. fol. 168: auf dem ein­ge­füg­ten Qua­ter­nio (fol. 168-175): Ge­bets­fol­ge für den Tag, wie sie an­ders for­mu­liert und ge­ord­net, je­doch weit­ge­hend in fran­zö­si­scher Spra­che, im ver­ brann­ten Tu­ri­ner Band der Très Bel­les Heu­res de No­tre Dame zu fin­den war; die er­sten bei­den auf­ge­baut wie Suff­ragien mit gleich­lau­ten­der An­ti­phon Deus pro­picius esto michi pecca­tori, aber ver­än­der­ten Schluß­ge­be­ten: zum mor­gend­li­chen Auf­ste­hen Domi­ne deus omnipotens qui nos ad principium huius diei (fol. 168), zum Schla­fen­ge­hen Vis­ita quesu­mus domi­ne hab­itationem ist­am (fol. 168v), am Ein­gang der Kir­che In­troibo in dom­um tuam mit dem Schluß­ge­bet In­gr­edere domi­ne ihesu xpi­ste templum co­rporis mei (fol. 169), beim Be­tre­ten der Kir­che Pax huic dom­ui et om­ni­bus habit­an­ti­bus in ea (fol. 169v), wenn man Weih­was­ser nimmt As­p er­ges me domi­ne ysopo mit zwei Schluß­ge­be­ten Domi­ne sancte pa­ ter omnipotens et­erne deus emit­tere digneris sanctum an­gel­um tuum und Deus qui co­ntrito­ rum non des­pi­cis gemitum (fol. 170), beim Kreuz­zei­chen Per cru­cis hoc si­gnum (fol. 171), beim An­schau­en der Ho­stie Ave verum cor­pus (fol. 171v), bei der El­evat­ion der Ho­stie Xpisti cor­pus ave sancta de vir­gine na­tum (fol. 171v), beim Emp­fang der Ho­stie Per­ceptio co­rporis tui (fol. 172), nach Emp­fang der Ho­stie Quod ore sum­psi­mus und Cor­pus tuum domi­ne quod sum­psi und Lau­des et grat­ias tibi ago (fol. 172v), Ma­rien­ge­bet nach der Kom­ mu­ni­on: Se­ren­issima et in­clita ma­ter domi­ni (fol. 173v). fol. 174: Rei­se-Of ­fi­zi­um: In viam pacis, das Be­ne­dic­t us nur als In­cipit. Die­sen in Stun­ den­bü­chern ex­trem sel­te­nen Text hat Jean de Berry, wohl nach der Er­mor­dung Lud­wigs von Orlé­ans 1407, an zwei sei­ner Hand­schrif­ten, die Pe­tit­es Heu­res und die Bel­les Heu­ res, an­fü­gen las­sen; ein wei­te­res Bei­spiel gibt eine Li­tho­gra­phie für Au­gu­ste de Ba­stard wie­der, die ir­rig den Très Bel­les Heu­res zu­ge­wie­sen wird. Un­ser Ex­em­plar ist das ein­zi­ge Bei­spiel, das den Text an die – hier al­ler­dings auch erst nach­träg­lich ein­ge­füg­ten – Ge­ be­te für den Ta­ges­lauf an­schließt. Nur in dem deut­lich spä­te­ren Psal­ter-Stun­den­buch für

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Lang­res des An­ti­qua­ri­ats Bi­ber­müh­le (Tour de France, Kat. 71, Nr. 11) ge­hört er zum Grund­be­stand ei­nes Ge­bet­buchs. fol. 175v: Texten­de. fol. 176: drei Zei­len in der­sel­ben ro­ten Tin­te wie fol. 1-3, dies­mal mit dem aus­drucks­ vol­len „N“ in Rot. fol. 176v-178v leer. Schrift und Schrift­de­kor An­ge­sichts der be­mer­kens­wer­ten Nähe zu ita­lie­ni­scher Ma­le­rei ist die Fest­stel­lung wich­ tig, daß das Ma­nu­skript in ei­ner vor­züg­li­chen fran­zö­si­schen lettre de for­me, also Libra­ria oder Tex­tura, ge­schrie­ben ist, mit blau­en und gol­de­nen Ru­bri­ken. Mit zwei unreglierten Dop­pel­blät­tern, die nur zur Er­gän­zung des Bild­be­stan­des die­nen, setzt sich die Il­lu­mi­nie­rung von An­fang an vom Kon­zept des Schrei­bers ab. Der De­ kor wur­de dann in meh­re­ren zeit­lich nicht all­zu weit aus­ein­an­der­lie­gen­den Kam­pa­gnen an­ge­legt: Ganz voll­en­det sind die text­be­glei­ten­den In­itia­len von vor­züg­li­cher Qua­li­tät. Nur auf fol. 37v/38, sind eine hi­sto­ri­sier­te In­itia­le und Bor­dü­ren als Zeich­nung an­ge­ legt wor­den und so ste­hen ge­blie­ben; sonst er­hiel­ten Bild­sei­ten zu­nächst we­der In­itia­len noch Rand­schmuck. Erst, als in Lage 23 noch ein Qua­ter­nio, mit 18 statt 13 Zei­len Text, ein­ge­fügt wur­de, ent­stand der aus­ge­zeich­ne­te Dorn­blatt-De­kor mit Dop­pel­stab, eng ge­ führ­ten Spi­ral­ran­ken und klei­nen Ele­men­ten aus Akanthus und Blatt­werk in Buch­ma­ ler­far­ben, wie er erst im Jahr 1408 für Pa­ris do­ku­men­tiert ist (Ox­ford, Bodleian Lib­rary, Ms. Douce 144). In auf­fäl­li­ger Wei­se grei­fen die Bor­dü­ren von links um Text und Bild­feld und las­sen den rech­ten Rand­strei­fen aus; un­ter dem In­cipit neh­men sie die vol­le Brei­te des Text­spie­gels ein, rei­chen aber – mit Aus­nah­me der In­cipits der Mes­sen und der bei­den letz­ten Sei­ ten – über der Mi­nia­tur von links nur bis zum Schei­tel des Ab­schluß­bo­gens. Die­sen Schmuck ge­währ­te man aus­schließ­lich den Sei­ten mit Text­be­ginn; auf Dop­pel­bil­dern ließ man je­doch die Sei­ten ohne In­itia­len aus: in Mari­en-Of ­fi­zi­um und Re­qui­em die Ver­ sos, in den Suff­ragien hin­ge­gen die Rectos. Un­klar bleibt, wann die Gold­lei­sten zur Rah­ mung der Bild­flä­chen, die ganz er­ra­tisch auf­tre­ten, aus­ge­führt wur­den. Zur zwei­ten Kam­pa­gne ge­hö­ren zwei vierz­ei­li­ge In­itia­len zu den Ma­rien­ge­be­ten (in drei vom Schrei­ber frei­ge­las­se­nen Zei­len und dem obe­ren Rand), de­ren Bin­nen­fel­der viel­ leicht für Bild­mo­ti­ve frei­ge­las­sen wur­den, eben­so wie die vor­züg­li­chen In­itia­len KL im Ka­len­der mit nach links und oben aus­strah­len­den Ran­ken. Die er­ste Bild­sei­te wur­de in ei­ner drit­ten Kam­pa­gne um 1460 aus­ge­stat­tet: mit drei­sei­ ti­gem Dop­pel­stab um Bild und In­cipit, grö­be­rer Dorn­blatt-In­itia­le und Voll­bor­dü­re aus Dorn­blatt mit dich­tem Ran­ken­werk aus blau-gol­de­nem Akanthus und sti­li­sier­ten Blu­ men so­wie ei­nem Vo­gel.

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Die Be­bil­de­rung und die leer ge­blie­be­nen Bild­flä­chen im Über­blick fol. 16: Von den Per­ik­open soll­te nur der Jo­han­nes-Text be­bil­dert wer­den: Le­sung wäh­ rend der Mes­se (fol. 16). fol. 23: Die Ma­rien­ge­be­te soll­ten viel­leicht vier Zei­len hohe Bild-In­itia­len er­hal­ten (fol. 23 und 28). fol. 37v: Am An­fang ist ein Dop­pel­blatt vor­ge­schal­tet, da­mit die Matutin mit ei­ner Dop­ pel­sei­te er­öff­net wird; auf de­ren Ver­so wird der En­gel der Ver­kün­di­gung ge­zeigt; die Ver­ kün­di­gungs­ma­ria hin­ge­gen er­scheint auf der er­sten Sei­te der An­fangs­la­ge des Mari­en­fi­zi­ums (fol. 37v/38). Zu den we­ni­gen Vor­läu­fern in der Buch­ma­le­rei ge­hö­ren zwei Of lom­bar­di­sche Stun­den­bü­cher: das von Giovanni di Benedetto da Como um 1380 il­lu­mi­ nier­te Stun­den­buch α.S.2-31 der Biblioteca Esten­se in Modena so­wie die bei­den Haupt­ mi­nia­tu­ren in Nr. 9 un­se­res Ka­ta­logs 67, Un­ter­wegs zur Re­nais­sance, von 2011, das wohl zu den von Valen­ti­na Vis­conti aus Mai­land mit­ge­brach­ten Ma­nu­skrip­ten ge­hört hat. Für Lau­des ist nur ein vier Zei­len ho­hes Buch­sta­ben­feld vor­ge­se­hen, ob mit Bild-In­itia­ le, bleibt of­fen (fol. 67v). Auf lee­ren Ver­so-Sei­ten war vor Terz und Ves­p er Platz für Bil­der, so daß dort je­weils Dop­pel­sei­ten be­bil­dert sind mit den sonst vor Sext und Non er­schei­nen­den The­men der An­be­tung der Kö­ni­ge und der Dar­brin­gung im Tem­pel zur Terz (fol. 87v/88) so­wie den sonst auf Ves­p er und Komplet ver­teil­ten Dar­stel­lun­gen von Kin­der­mord und Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 101v/102). Die vier heu­te feh­len­den Dop­pel­blät­ter sind viel­leicht bei der Her­stel­lung des Ma­nu­ skripts an den Zeich­ner aus­ge­ge­ben und von ihm nicht zu­rück­ge­ge­ben wor­den. fol. 116: Zu den Horen des Hei­li­gen Kreu­zes ein Pas­si­ons­zy­klus: zur Matutin die Ge­ fan­gen­nah­me (fol. 116), zur Prim in ein Bild­feld ein­ge­paßt Ver­leug­nung Petri und Je­sus vor dem Ho­hen­prie­ster (fol. 118), zur Terz Kreuzt­ragung (fol. 120), zur Sext Kreu­zi­gung mit Es­sig­schwamm (fol. 122), zur Non Kreu­zi­gung nach dem Lan­zen­stich (fol. 124), zur Ves­per Kreuz­ab­nah­me (fol. 126), zur Komplet Grab­le­gung (fol. 128). fol. 132: Jede Mes­se soll­te be­bil­dert wer­den: Ma­rien­tod und leib­li­che Him­mel­fahrt zur Ma­rien­mes­se (fol. 132); zur Mes­se von Hei­lig Geist lee­res Bild­feld mit Bor­dü­re und In­ itia­le (fol. 135v); das In­cipit der Tri­ni­täts­mes­se fehlt (vor fol. 140). Vor das Re­qui­em ist ein sonst lee­res Dop­pel­blatt ge­schal­tet, um eine Dop­pel­sei­te mit Bil­ dern zu er­mög­li­chen, die er­ste Zeich­nung nach ei­nem Ent­wurf, der an­schlie­ßend, wohl vor 1417, im Psal­ter Hein­richs VI. (Lon­don, Bri­tish Lib­rary, Cot­ton Dom­itian A. XVII) be­nutzt wur­den: Klö­ster­li­ches Chor­ge­bet mit dem To­ten auf dem Fried­hof in der Bor­dü­ re und Chor­ge­bet für ei­nen ver­stor­be­nen Kö­nig (fol. 144v/145), fol. 149: Alle Suff­ragien soll­ten we­nig­stens mit ei­nem Bild ver­se­hen wer­den. An­ders als bei Mari­en-Matutin und Re­qui­em, de­nen je­weils ein lee­res Dop­pel­blatt vor­ge­schal­tet ist, wur­de bei den Suff­ragien schon in der Grund­pla­nung mit zwei Bil­dern ge­rech­net;

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zu die­sem Zweck setzt der Text­an­fang wie im Pass­ions-Of ­fi­zi­um der Bel­les Heu­res auf Ver­so wie Recto mit nur drei Zei­len ein: Das Mi­cha­el-Suff­ragium soll­te wohl Dra­chen­kampf und See­len­waa­ge er­hal­ten: der Text­ an­fang fehlt, das zwei­te Bild­feld (fol. 149) ist leer ge­las­sen und ohne Bor­dü­re ge­blie­ben; zu Pe­trus der Fall des Si­mon Mag­us mit dem ju­gend­li­chen Nero, der vom Pa­last aus zu­schaut (fol. 150); zu Pau­lus Pre­digt mit dem Sturz des Eutychus (fol. 151); zum Täu­ fer Sa­lo­me mit dem Jo­han­nes­haupt und die Jo­han­nes­schüs­sel an der Ta­fel der Hero­dias (fol. 152v/153); zu Chri­stoph­orus lee­res Bild­feld mit In­itia­le und Bor­dü­re (fol. 154); zu Ka­tha­ri­na das Rad­wun­der und die Ber­gung des Leich­nams auf dem Si­nai, mit Pil­gern (fol. 155v); zu Ni­ko­laus Ret­tung ei­nes Schiffs im Sturm (fol. 157v); zu Ja­kob­us dem Äl­ te­ren lee­res Bild­feld mit In­itia­le und Bor­dü­re (fol. 159); zu An­to­ni­us Ab­bas der hei­ li­ge An­to­ni­us, als Sta­tue über­le­bens­g roß thro­nend, von Kran­ken und Krüp­peln an­ge­ fleht (fol. 160v); zu Pau­lus Ere­mita zwei Mi­nia­tu­ren der Bel­les Heu­res in ei­nem Bild zu­sam­men­ge­faßt die Be­stat­tung des er­sten Ere­mi­ten durch An­to­ni­us Ab­bas nach der Ent­rückung von des­sen See­le (fol. 162); zu Hie­ro­ny­mus Hei­lung des Lö­wen und Tod mit Ent­rückung der See­le (fol. 163v/164); zu Ge­org Dra­chen­kampf mit der kilikischen Prin­ zes­sin und, ikono­gra­phisch ein­zig­ar­tig, die Be­keh­rung der per­si­schen Kö­ni­gin mit ih­rem Hen­ker (fol. 165v/166). fol. 168: In der Ge­bets­fol­ge für den Tag soll­te nur der Emp­fang der Ho­stie be­bil­dert wer­ den: lee­res Bild­feld mit In­itia­le und Bor­dü­re (fol. 172). fol. 174: Zum Rei­se-Of ­fi­zi­um lee­res Bild­feld mit In­itia­le und Bor­dü­re. Der ver­ant­wort­li­che Künst­ler Ver­ant­wort­lich war je­ner Lim­burg-Bru­der, der den Hie­ro­ny­mus im Geh­äus als Front­ ispiz zur Bible mo­ral­isée für Phil­ipp den Küh­nen von Bur­gund vor April 1404 ge­zeich­net hat und der zu­min­dest zur zwei­ten Lage je­ner Hand­schrift bei­ge­tra­gen hat; in den Bel­les Heu­res hat die­sel­be Hand bei­spiels­wei­se die mei­sten Bil­der aus der Le­gen­de von An­to­ ni­us und Pau­lus Ere­mita ge­stal­tet hat; um 1408 zeich­ne­te die­ser Künst­ler die Rand­bil­ der im Ox­for­der Stun­den­buch Douce 144; ge­gen 1416 schuf er Mi­nia­tu­ren in den Très Riches Heu­res und er­reich­te mit dem Fe­bru­ar und an­de­ren be­rühm­ten Mi­nia­tu­ren eine un­er­hör­te Höhe. Der Schöp­fer un­se­rer Zeich­nun­gen war be­son­ders eng mit ita­lie­ni­scher Kunst ver­traut, hat mit be­son­de­rem En­ga­ge­ment Ar­chi­tek­tu­ren ge­stal­tet und ist weit­ge­hend mit der „ele­ gant hand“ iden­tisch, die Mar­ga­ret Lawson in den Bel­les Heu­res er­kannt hat. Da die­ser Lim­burg in der mit win­zi­gem „P“ si­gnier­ten letz­ten Mi­nia­tur der Bel­les Heu­res zu fas­sen ist, wird es sich um Paul von Lim­burg han­deln.

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Zum Rang des Ma­nu­skripts Das neu ent­deck­te Ma­nu­skript ver­än­dert un­se­ren Blick auf die Brü­der Lim­burg nach­ hal­tig. Zwar teil­wei­se noch un­voll­en­det ge­blie­ben, er­wecken ei­ni­ge Zeich­nun­gen den Ein­druck, man habe sie als „por­traits d’encre“ be­las­sen wol­len. Die Zeich­nun­gen über­ tref­fen un­voll­en­det ge­blie­be­ne Mi­nia­tu­ren aus dem frü­hen 15. Jahr­hun­dert durch ihre ent­schie­de­ne Ten­denz zu voll­en­det bild­haf­ter Wir­kung. Als das be­deu­tend­ste Bei­spiel für die Kunst der Zeich­nung er­hält die­ses neu ent­deck­te Stun­den­buch sei­ne erst­ran­gi­ge Be­deu­tung durch au­ßer­or­dent­li­che und bis­her un­be­kann­te Qua­li­tät; da­mit über­trifft es Nach­fol­ge­werke, die meist auf die Bel­les Heu­res zu­rück­grei­fen. Die Ar­beit an den Bild­sei­ten hat man ge­gen Buch­ma­ler­brauch nicht mit dem Rand­ schmuck und den gro­ßen In­itia­len, son­dern mit den Bil­dern be­gon­nen; das gilt so­gar für die Dop­pel­sei­te zur Mari­en-Matutin mit ih­ren nur ge­zeich­ne­ten Bor­dü­ren, die in ei­ner zwei­ten Ar­beits­p ha­se vom sel­ben Zeich­ner – und nicht wie neu­er­dings zu­wei­len vor­ ge­tra­gen wird, vom Bed­ford-Mei­ster – aus­ge­führt wur­den. Ähn­lich an­ge­legt sind nur Berrys Très Riches Heu­res in Chan­tilly, die von den Brü­dern Lim­burg vor 1416 be­gon­nen wur­den, für mehr als zwei Ge­ne­ra­tio­nen un­voll­en­det blie­ben und auf vie­len Bild­sei­ten ohne Bor­dü­ren be­las­sen sind, ob­wohl das­sel­be Ate­lier mit den 1408 voll­en­de­ten Bel­les Heu­res Maß­stä­be für frü­hen Dorn­blatt­de­kor ge­setzt hat­te. Nicht von der Tech­nik, wohl aber von der Wir­kung her nä­hert man sich den im 14. Jahr­ hun­dert be­lieb­ten Grisaillen. In die­ser Hin­sicht, eben­so wie beim re­du­zier­ten For­mat mag man sich an Pucel­les Stun­den­buch der Je­an­ne d’Ev­reux, das Jean de Berry be­ses­sen hat (heu­te in den New Yor­ker Cloi­sters) ori­en­tiert ha­ben. Ein­zig­ar­tig sind die Qua­li­tät der Zeich­nun­gen, die Bild­phan­ta­sie und die Dich­te der Dar­stel­lung. Als ein Mei­ster­werk ei­nes der drei Brü­der Lim­burg be­rei­chert die­ses bis­her völ­lig un­be­kann­te Stun­den­buch auf un­er­hör­te Wei­se un­se­re Kennt­nis von der Kunst der Lim­burgs in den Jah­ren 1404 bis 1408, in de­nen sie die Bel­les Heu­res in meh­re­ren Etap­pen il­lu­mi­nier­ten. Der mit der Auf­ga­be be­treu­te Lim­burg des Hie­ro­ ny­mus hat­te sich bei die­sem Pro­jekt nicht mit vor­her fest­ge­leg­tem Rand­schmuck zu ar­ran­gie­ren. Das klei­ne For­mat för­der­te zu­dem sei­ne er­staun­li­che Vir­tuo­si­tät. Die hier vor­ge­schla­ge­ne Deu­tung als ein Ge­schenk, das Jean de Berry zu­nächst sei­nem Nef­f en Lou­is d’Orlé­ans und nach des­sen Er­mor­dung der Wit­we Valen­ti­na Vis­conti zu­eig­nen woll­te, gibt dem Ma­nu­skript sei­nen hi­sto­ri­schen Rang. Aber un­ab­hän­gig von al­lem, was wir ver­mu­ten mö­gen über den Künst­ler, den Auf­trag­ge­ber und jene, für die das Ma­nu­skript be­stimmt war, ist schon die rei­ne Exi­stenz die­ses groß­ar­ti­ gen Stun­den­buchs ein Tri­umph des Genies der Zeich­nung, ist es doch ein Wun­der, daß es über­lebt hat und wie­der auf­ge­taucht ist in ei­ner Zeit, in der wir mei­nen, al­les über die Herr­lich­kei­ten der Ver­gan­gen­heit zu wis­sen.

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Katalognummer 4 LI­T E­R A­T UR: Eber­hard Kö­nig, Das Ge­nie der Zeich­nung. Ein un­be­kann­tes Ma­nu­skript mit 30 gro­ßen Dar­stel­lun­gen von ei­nem der Brü­der Lim­burg – wohl im Auf­trag des Her­zogs von Berry für Lou­is d’Orlé­ans & Valen­ti­na Vis­conti (Il­lu­mi­ na­tio­nen. Stu­di­en und Mo­no­g ra­phi­en, hrsg. von Heri­bert Ten­schert, 23; zu­gleich Ka­ta­log LXXVII ), Bi­ber­müh­le 2016. An­dre­as Platt­haus, Das Buch­wun­der der Brü­der Lim­burg, in: Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­tung, 15. Au­g ust 2016, S. 9; Al­bert Châtelet, Une nouv­el­le œuvre des frères Limbourg, in: art de l’enlumi­nure 57, 2016, S. 59-60.

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5 Ei­nes der frü­he­sten be­kann­ten Stun­den­bü­cher des Maza­rine-Mei­sters


5 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Pa­ris La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken in Hell­rot und Pur­pur, mit ei­nem Ka­len­der in Schwarz und Rot, ge­schrie­ben in schwar­zer Tex­tura. Pa­ris, um 1405-07: Ein Stun­den­buch vom jun­gen Maza­rine-Mei­ster, mit ei­ner Mi­ nia­tur von ei­nem un­be­kann­ten Mei­ster, viel­leicht vom Mit­tel­rhein 12 Bild­sei­ten mit fast qua­dra­ti­schen Mi­nia­tu­ren von Dop­pel­stä­ben ge­rahmt, über vier Zei­len Text mit dreiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len in drei­sei­ti­gen Zier­lei­sten, die ein Bas-depage un­ter dem Text aus­spa­ren und meist als Dop­pel­stab ge­bil­det sind, nur zur Mari­enMatutin mit Flä­chen­de­kor, dar­aus sprie­ßend Voll­bor­dü­ren und Ran­ken im Bas-de-page aus fei­nen Tin­ten­spi­ra­len, die in gol­de­nem Dorn­blatt en­den. Eine dreiz­ei­li­ge In­itia­le glei­ cher Art mit drei­sei­ti­gem Dop­pel­stab und vier­sei­ti­ger Dorn­blatt­bor­dü­re so­wie eine dreiz­ ei­li­ge In­itia­le im Flä­chen­de­kor mit sprie­ßen­den Tin­ten­spi­ra­len und gol­de­nem Dorn­blatt. Zweiz­ei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­an­fän­gen in Gold auf pur­pur­nen und blau­en Flä­chen mit wei­ßem Li­ni­en­de­kor; ein­zei­li­ge In­itia­len zu den an Zei­len­be­ginn ein­set­zen­den Psal­men­ver­sen in glei­cher Art, eben­so die Zei­len­fül­ler. Ver­sa­li­en nicht be­han­delt. 158 Blatt Per­ga­ment, dazu je­weils ein flie­gen­des Vor­satz aus Pa­pier zu Be­ginn und am Ende des Ban­des. Ge­bun­den vor­wie­gend in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ ge 1 (12) so­wie Lage 10 (8-2) am Ende des Ma­rien­of­fi­zi­ums ohne Text­ver­lust, die um je­weils ein Text­blatt er­gänz­ten La­gen 13 (8+1) und 14 (8+1), die um das er­ste Blatt mit dem Be­ginn des To­ten­of­fi­zi­ums be­raub­te Lage 15 (8-1), so­wie die um das letz­te, lee­re Blatt ge­brach­te End­ la­ge 20 (4-1). Mo­der­ne Blei­stift­fo­li­ie­rung rechts oben. Ok­tav (165 x 127 mm; Text­spie­gel: 110 x 63 mm). Rot reg­liert zu 15, im Ka­len­der zu 16 Zei­len; kei­ne Reklam­an­ten. Bis auf den Ver­lust des In­cipits zur Ves­per des To­ten­of­fi­zi­ums voll­stän­dig er­hal­ten. Un­ten vom Buch­bin­der so ge­trimmt, daß die ur­sprüng­li­chen Pro­por­tio­nen leicht al­te­riert sind und das Ran­ken­werk der Bild­sei­ten oben oder un­ten mi­ni­mal be­ein­träch­tigt ist. Auf fol. 83/83v Rück­stän­de von Kleb­stoff; hier wa­ren ein­mal beid­sei­tig ganz­sei­ti­ge Pil­ger­bil­der oder Ver­gleich­ ba­res ein­ge­klebt, eben­so auf fol. 158v, wo der Ab­druck ei­nes Pil­ger­ab­zei­chens zu er­ken­nen ist. Fran­zö­si­scher ro­ter Ma­ro­quin-Ein­band des 18. Jahr­hun­derts mit gold­ge­präg­ten Rah­men aus Blatt­gir­lan­den auf den Deckeln mit je vier auf Eck ge­stell­ten Blu­men­stem­peln in den Ecken; glat­ter Rücken mit 6 Kompartim­en­ten und je­weils ei­nem zen­tra­len Blu­men­stem­pel, mit der Auf­schrift of­fices / de / l’eg­lise; Mar­mor­pa­pier als fe­ster und flie­gen­der Vor­satz vorn und hin­ten, Gold­schnitt. Auf dem Nach­satz (fol. 158v) ein nicht mehr le­ser­li­cher Ge­bets­ein­trag.

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Der Text fol. 1: Ka­len­der, mit vor­wie­gend Pa­ri­ser Hei­li­gen, mit Fest der Gen­ovefa (3.1.) und Dio­ ny­si­us (9.10.) so­wie Trans­latio Gen­ovefas als ein­fa­cher Ein­trag (26.11.) in stark dia­lek­ ta­ler Schreib­wei­se. fol. 13: Per­ik­open: Jo­han­nes (fol. 13), Lu­kas (fol. 14), Mat­thä­us (fol. 15) und Mar­kus (fol. 16v). fol. 17: Ma­rien­ge­bet O in­teme­rata in fran­zö­si­scher Über­set­zung: O tres en­ter­nie et per­ du­rablement benoite sing­uliere non co­mparable vierge ma­rie. fol. 21: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Pa­ris, mit drei Nok­tur­nen zur Matutin: Matutin (fol. 21), Lau­des (fol. 42v), Prim (fol. 53), Terz (fol. 58v), Sext (fol. 62v), Non (fol. 67), Ves­p er (fol. 71), Komplet (fol. 77v). fol. 83: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 95), die auf Pa­ri­ser Hei­li­ge aus­ge­rich­tet ist; un­ter den Be­ken­nern auch Lebuinus von Ut­recht und Severin, un­ter den Frau­en Gen­ovefa, Chri­sti­na, Chri­sti­ana, Co­rona und Co­lumba von Sens. fol. 100: Horen von Hei­lig Kreuz (fol. 100) und Hei­lig Geist (fol. 104v). fol. 108v: Fran­zö­si­sches Ge­be­te: Fünf­zehn Freu­den Mariä: Doulce dame de miseri­corde, ge­folgt den Fünf Schmer­zen uns­res Herrn (V plaies de nostre sei­gneur): Quiconques veult… Dous dieu (fol. 113). fol. 116: To­ten­of ­fi­zi­um, für den Ge­brauch von Pa­ris: Ves­p er (An­fangs­blatt fehlt vor fol. 116), Matutin und Lau­des wer­den nicht durch Ru­bri­ken be­zeich­net; mit der Be­son­ der­heit, daß die Responsorien der neun Le­sun­gen ge­mäß Ot­to­sen (1993) nach Pa­ris ge­ hö­ren, je­doch das ab­wei­chen­de fünf­te Responsorium Domi­ne dum ve­ne­ris iudicare… in kei­nem sei­ner voll­stän­di­gen Bei­spie­le ver­zeich­net ist. Schrift und Schrift­de­kor Das Stun­den­buch ist in ei­ner recht gro­ßen Tex­tura ge­schrie­ben, was für die er­ste Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts auch in Pa­ris nicht ver­wun­der­lich ist. Auch das leuch­ten­de Hell­rot der Ru­bri­ken ist in die­ser Zeit ty­pisch. Die Ab­fol­ge der Tex­te wird durch die Ord­nung der La­gen in ih­rer ak­tu­el­len Form be­stä­tigt. Be­mer­kens­wert in un­se­rem Stun­den­buch ist der Um­stand, daß zwei Schrei­ber zu­sam­ men­ge­ar­bei­tet ha­ben: den er­sten Hin­weis dar­auf lie­fert die ab­wei­chen­de Far­be der Ru­ bri­ken, die von ei­nem hel­len Rot zu ei­nem dunk­le­ren wech­seln, das sich dem Rot des In­iti­al­de­kors an­nä­hert. Auch die schwar­ze Tin­te ist in die­sen Tex­ten durch­weg we­ni­ger gut er­hal­ten als in den üb­ri­gen Tei­len des Ma­nu­skripts. Da die Tex­te aber zum Teil in den­sel­ben La­gen ne­ben­ein­an­der ste­hen, han­delt es sich nicht um nach­träg­li­che Er­wei­ te­run­gen. Da­bei wur­de auf fol. 17 eine dreiz­ei­li­ge In­itia­le, die sonst in Dorn­blatt aus­ge­ führt sind, in Blatt­gold auf ei­ner rot-blau­en Flä­che mit ei­nem sonst nicht wie­der­keh­ren­ den wei­ßen Spi­ral­mu­ster ge­ge­ben.

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Der für die ein- und zweiz­ei­li­gen In­itia­len vor­herr­schen­de Flä­chen­de­kor be­sticht vor al­lem durch die kräf­ti­ge schwar­ze Um­ran­dung und den dem In­iti­al­kör­per fol­gen­den Grund, der ge­le­gent­lich weit in den Rand aus­schlägt und das dicht mit Zei­len­fül­lern be­setz­te Schrift­bild dy­na­mi­siert. Das Rah­men­sy­stem der Bild­sei­ten – drei­sei­ti­ge Dop­pel­stä­be und Dorn­blat­tran­ken, die in fei­nen Tin­ten­li­ni­en aus den Ecken und der Mit­te der Zier­stä­be in die Rän­der wach­ sen, ist re­la­tiv neu und setzt sich in Pa­ris erst im Jahr­zehnt nach 1400 lang­sam durch. Die wich­tig­ste Mi­nia­tur des Stun­den­buchs, die Ver­kün­di­gung an Ma­ria, er­hält als be­ son­de­re Aus­zeich­nung auf al­len drei Sei­ten Zier­lei­sten im Flä­chen­de­kor. Die Zier­lei­sten fol­gen nicht kon­se­quent ei­nem ein­zi­gen Mu­ster, son­dern tre­ten in zwei Va­ri­an­ten auf: Ent­we­der sprie­ßen die Dop­pel­stä­be aus der In­itia­le oder sind un­ver­bun­den und sto­ßen zu­wei­len so an­ein­an­der, als habe man zu­nächst mit ab­wei­chen­den Rah­men ge­rech­net. Die Bil­der We­der der Ka­len­der noch die Per­ik­open wur­den in die­sem Stun­den­buch be­bil­dert und so er­öff­net die Bild­fol­ge mit der Ver­kün­di­gung (fol. 21) zur Matutin des Ma­rien­of ­fi­zi­ums. Vor wech­selnd gol­de­nen be­zie­hungs­wei­se mit wei­ßen fleur de lis auf Rosa und Blau ver­ zier­ten Rau­ten steht eine schräg in den Bild­raum ge­stell­te Ka­pel­le mit Ap­sis nach links. Vor ei­nem mit ro­tem Tuch ver­han­ge­nen Al­tar­tisch mit Ret­abel hat die ganz in Blau ge­ hüll­te Jung­frau ihr Buch auf­ge­schla­gen und sich auf ein da­vor­lie­gen­des Kis­sen ge­kniet. Nun hebt sie über­rascht bei­de Hän­de und wen­det sich über die Schul­ter dem in ei­nen ro­sa­far­be­nen Chor­man­tel ge­hüll­ten Erz­en­gel Ga­bri­el zu, der – wie in vie­len Stun­den­bü­ chern der Bed­ford-Grup­pe, aber nur sel­ten in sol­chen des Boucicaut-Stils – von rechts hin­zu­ge­tre­ten und vor dem Ka­pel­len­raum auf dem ge­mein­sa­men Flie­sen­bo­den nie­der­ge­ kniet ist. Das Schrift­band mit sei­nem Gruß schwebt vor ihm, ohne daß er es selbst hiel­te. Be­glei­tet wird er von der Tau­be des hei­li­gen Gei­stes, die sei­nem Gruß fol­gend auf Ma­ria her­ab­sinkt, aus­ge­sen­det von ei­ner klei­nen Got­tes­er­schei­nung in der obe­ren rech­ten Ecke. Zu den Lau­des folgt auf fol. 42v die Heim­su­chung: Von links tritt Ma­ria an ihre Base Eli­sa­beth her­an, die sich de­mü­tig vor der zu­künf­ti­gen Got­tes­mut­ter ver­neigt und sanft de­ren schwan­ge­ren Leib be­rührt. Die bei­den Frau­en tref­fen ein­an­der in ei­ner fla­chen Wie­sen­land­schaft, wo­bei Ma­ria ein ein­zel­ner Baum, Eli­sa­beth aber ein Fels zu­ge­ord­net wird. In der Ent­ste­hungs­zeit un­se­res Bu­ches war die Zeit für gro­ße Land­schafts­aus­blicke noch nicht ge­kom­men, statt des­sen spannt sich ein klein­tei­li­ger Mu­ster­grund als Fond hin­ter die Land­schafts­ku­lis­se. Ins Zen­trum rücken die gro­ßen Fi­gu­ren von Ma­ria und Eli­sa­beth – die eine mit blon­dem Haar, die an­de­re mit ver­hüll­tem Haupt – vom Ma­ler durch den Ein­satz von tie­fem Blau und leuch­ten­dem Rot und Rosa, wie es auch das Ge­ wand des En­gels in der Mi­nia­tur zu­vor cha­rak­te­ri­sier­te, span­nungs­reich kon­tra­stiert. Die Ge­burt zur Mari­en-Prim (fol. 53) ge­hört zu den ein­falls­reich­sten und le­ben­dig­sten Mi­nia­tu­ren in un­se­rem Stun­den­buch; der Stall über­spannt die ge­sam­te Brei­te des Bil­des und ist doch schräg ins Bild ge­stellt. Von hin­ten blicken Ochs und Esel über die Krip­ pe auf Ma­ria, die auf ei­nem gro­ßen ro­ten Bett sitzt und das Wickel­kind zart an sich

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schmiegt. Sie be­kommt ih­ren ei­ge­nen Bild­raum in der Kom­po­si­ti­on, der zu­gleich der größ­te ist. Wie ein an­ek­do­ti­scher Ne­ben­ge­dan­ke ist in der rech­ten Bild­hälf­te, um­schlos­ sen von zwei Holz­pfo­sten des Stalls, Jo­seph in hell­grü­nem Ge­wand und ro­sa­far­be­nem Bonn­et ge­zeigt, wie er auf ei­nem Holz­stuhl sei­nen Kopf stützt, um ein Nicker­chen zu hal­ten; als eine be­son­ders in­di­vi­du­ell ge­stal­te­te und gen­re­haf­te Sze­ne ist dies wohl ei­nes der schön­sten Weih­nachts­bil­der, die der Maza­rine-Mei­ster ge­malt hat. Es folgt zur Mari­en-Terz die Hir­ten­ver­kün­di­gung auf fol. 58v. Im Vor­der­grund grast eine Grup­pe von Scha­fen, wäh­rend die zwei Hir­ten und ihr Hund zum En­gel auf­blicken, der als Halb­fi­gur in ei­ner blau­en Wol­ke er­scheint und ein lee­res Schrift­band prä­sen­ tiert. Wie­der ge­nü­gen ein Baum und ein schrof­fer Fel­sen, um ver­ständ­lich zu ma­chen, daß die­se Sze­ne im Frei­en spielt. Der Maza­rine-Mei­ster zählt zu je­nen Künst­lern, die be­son­ders schö­ne Ver­sio­nen die­ser Sze­ne ent­wickelt ha­ben; der Hir­te in ro­sa­far­be­nem Man­tel, der, of­fen­bar beim Mu­si­zie­ren von der himm­li­schen Er­schei­nung über­rascht, sei­ne Flö­te ab­setzt und sich um­wen­det, do­mi­niert als groß­ar­ti­ge Ge­stalt den Bild­raum. Zur An­be­tung der Kö­ni­ge auf fol. 62v hat der Ma­ler den Stall so ge­dreht, daß Ma­ria links auf ih­rem Bett Platz neh­men und die von rechts hin­zu­tre­ten­den Kö­ni­ge wie auf ei­nem Thron emp­fan­gen kann. Der Kna­be sitzt nun nackt auf ih­rem Schoß und greift nach dem Ge­schenk des äl­te­sten Kö­nigs, der sei­ne Kro­ne schon ab­ge­nom­men hat und vor der Mut­ter­got­tes kniet. Die bei­den an­de­ren Kö­ni­ge sind noch ge­krönt und ein­an­der so zu­ ge­wandt, als müß­ten sie sich erst über das Er­eig­nis klar wer­den. Die Pro­fi­le der bei­den spie­geln sich in der Ver­wen­dung des Hell­grüns wie­der, das so­wohl für den Kra­gen des mitt­le­ren als auch das Ge­wand des jüng­sten Kö­nigs ver­wen­det wur­de. Da­bei wird auch klar, daß die kraft­vol­len Far­ben Blau und Rot als Aus­zeich­nung Ma­ria und dem Kind vor­be­hal­ten sind, wäh­rend nach­ge­ord­ne­te Fi­gu­ren Misch­tö­ne tra­gen. Dies trifft auch für die Dar­brin­gung im Tem­pel auf fol. 67 zur Mari­en-Non zu. Auf Eck ge­stellt ist der Al­tar auf ei­nem bunt ge­ka­chel­ten Fuß­bo­den vor ei­nem Karo-Mu­ster­grund mit fle­urs de lis. Da­hin­ter steht Simeon in ro­tem Chor­man­tel, die Hän­de mit ei­nem wei­ ßen Tuch ver­hüllt, um den Kna­ben ent­ge­gen­zu­neh­men. Der sitzt nackt auf den Ar­men sei­ner Mut­ter, die, wie­der ganz in Blau ge­klei­det, an den Al­tar tritt. Be­glei­tet wird sie von ei­ner – ih­res Nim­bus we­gen – hei­li­gen Magd mit Ker­ze als An­spie­lung auf Licht­ meß, aber lee­rem Körb­chen. Daß auf die Cha­rak­te­ri­sie­rung des Sa­kral­raums ver­zich­tet wird, be­weist die frü­he Ent­ste­hung der Mi­nia­tur. Zur Flucht nach Ägyp­ten zur Mari­en-Ves­p er auf fol. 71 hat der Zieh­va­ter Jo­seph Ma­ ria mit dem Wickel­kind auf ei­nen gro­ßen grau­en Esel ge­setzt, der be­hä­big, wie schon zur Ge­burt mit ei­nem ge­ra­de­zu fröh­li­chen Aus­druck im Ge­sicht, nach links über die Wie­se trabt. Ma­ria hat sich und das Kind in ih­ren lan­gen blau­en Man­tel ge­hüllt, wäh­ rend Jo­seph den Esel bei dem Zaum­zeug führt und über sei­ne Schul­ter auf die kost­ba­ re Fracht blickt. Am Ende des Ma­rien­of ­fi­zi­ums er­scheint in fran­zö­si­schen Stun­den­bü­chern üb­li­cher­ wei­se die Ma­rien­krö­nung zur Komplet, so auch in un­se­rem Buch. Auf fol. 77v sind zwei

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Thron­stüh­le schräg in den Bild­raum ge­scho­ben. Der lin­ke, ein statt­li­cher Holz­thron, der mit ei­nem ro­ten Stoff be­zo­gen ist, des­sen Blu­men­mu­ster an mil­le­fle­urs-Tep­pi­che den­ ken läßt, war­tet mit dem dicken wei­ßen Kis­sen auf Ma­ria. Die Mut­ter­got­tes kniet aber noch vor dem Herrn, der rechts un­ter ei­nem grü­nen Bal­da­chin thront. Mit sei­nem Se­ gen rich­tet sich Chri­stus in kö­nig­li­chem Or­nat an sei­ne Mut­ter; und als wür­de sie sei­ nen Ge­stus be­glei­ten, schwebt die Kro­ne ganz un­auf­fäl­lig vor dem mit gol­de­nen fle­urs de lis ge­mu­ster­ten Fond. fol. 83: Die Buß­psal­men er­öff­nen mit der Majestas domi­ni. Gott­va­ter, von den vier apo­ ka­lyp­ti­schen We­sen um­ge­ben, thront zwi­schen den Zei­chen des al­ten und des neu­en Bun­des; das weist zu­rück auf die Tra­di­ti­on des 14. Jahr­hun­derts; auf ei­nem Stein­thron sitzt der Bär­ti­ge mit grau­em Haar, die Rech­te zum Se­gen er­ho­ben und eine gol­de­ne Ku­ gel in der Lin­ken, die auf die welt­li­che und himm­li­sche Macht Got­tes ver­weist. Die vier We­sen wer­den auf Spruch­bän­dern als Sym­bo­le der Evan­ge­li­sten iden­ti­fi­ziert: Die zur Erde ge­hö­ri­gen, Löwe und Och­se, lie­gen zu Fü­ßen von Got­tes Thron, die We­sen der Lüf­te, En­gel und Ad­ler, schwe­ben vor ei­nem blau­en Wol­ken­band in den obe­ren Ecken über dem­sel­ben Fond mit durch fle­urs-de-lis ge­mu­ster­ten Rau­ten, der auch die Ver­kün­ di­gung und die Dar­brin­gung schmück­te. Im Boucicaut-Stil wie im frü­hen Bed­ford-Stil gab man zur glei­chen Zeit schon Da­vid als bi­bli­schem Au­tor der Psal­men in sei­ner Buße den Vor­zug; sie­he dazu un­ser Buch von 2011 (Ka­ta­log 66) mit Got­tes­bil­dern in Nr. 1 (S. 161), im Joffroy-Stun­den­buch vom Bed­ford-Mei­ster (Nr. 2: S. 195) und in Nr. 5 vom Maza­rine-Mei­ster (S. 269), wäh­rend beim Bed­ford-Mei­ster zu die­sem In­cipit in Nrn. 3 und 4 (S. 229 und 249) und bei Con­rad von Toul in Nr. 6 (S. 297) Da­vid er­scheint. fol. 100: Die ge­wohn­ten Er­ken­nungs­bil­der der Horen ha­ben sich hier be­reits durch­ge­ setzt: Hei­lig-Kreuz wird mit ei­nem Bild der Kreu­zi­gung auf fol. 100 ein­ge­lei­tet. Statt eine Sze­ne des Pas­si­ons­ge­sche­hens in­mit­ten von rö­mi­schen Söld­nern und kla­gen­den Frau­en zu zei­gen, spannt sich das Kru­zi­fix in vol­ler Bild­hö­he auf ei­ner Wie­se vor dem Mu­ster­grund, wäh­rend un­ter den Kreu­zes­ar­men Ma­ria und Jo­han­nes in stil­ler Trau­er zum Kreuz ge­wen­det die Köp­fe nei­gen. Ma­ria hat die Hän­de zum Ge­bet ge­fügt, wäh­ rend Jo­han­nes, als Evan­ge­list mit ei­nem Buch be­zeich­net, die Hand an die Wan­ge legt; es ist eine stil­le, zeit­lo­se Fas­sungs­lo­sig­keit, die der Ma­ler in die­sem Kreu­zi­gungs­bild zum Ge­den­ken an die Pas­si­on Chri­sti ent­wickelt hat. Die Horen von Hei­lig-Kreuz er­öff­nen mit ei­ner Dar­stel­lung des Pfingst­wun­ders (fol. 104v). Auf ei­ner Holz­bank, die wohl an ein Chor­ge­stühl er­in­nern soll, sitzt die blau ge­wan­de­ te Got­tes­mut­ter in der Mit­te, die Füße auf ei­nem ro­ten Kis­sen. Über ihr er­scheint die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes, die ei­nen ro­ten Strah­len­kranz aus­sen­det; dar­un­ter teilt sich die Grup­pe von Apo­steln sym­me­trisch in zwei Grup­pen. Die lin­ke wird an­ge­führt vom ju­gend­li­chen Apo­stel Jo­han­nes in ro­tem Ge­wand, die rech­te von Pe­trus als Apo­stel­fürst in ei­nem grü­nen Ge­wand, das durch das rote In­nen­fut­ter in den Man­tel­um­schlä­gen eine auf­re­gen­de Dy­na­mik ent­wickelt. Mehr braucht der Ma­ler nicht, um das Ge­sche­hen wie­ der­er­kenn­bar zu cha­rak­te­ri­sie­ren; die üb­ri­gen Apo­stel wer­den durch hal­be Köp­fe und

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Hei­li­gen­schei­ne an­ge­deu­tet. Ein­zig der Apo­stel ne­ben Jo­han­nes ist voll­stän­dig cha­rak­ te­ri­siert; er trägt Schwarz. fol. 108: Die letz­te Mi­nia­tur be­glei­tet das fran­zö­si­sches Ma­rien­ge­bet Doulce dame, das gern von ei­nem Her­ren­ge­bet mit An­ru­fun­gen des Dous dieu be­glei­tet wird, in un­se­rem Ma­nu­skript aber nur durch eine dreiz­ei­li­ge Dorn­blatt-In­itia­le mit Voll­bor­dü­re her­vor­ ge­ho­ben wird. Auf fol. 108v sitzt nun auf ei­nem ro­sa­far­be­nen Thron ohne Leh­ne die Ma­don­na mit Kind: Nun trägt Ma­ria ein ro­sa­far­be­nes Ge­wand und ist in ei­nen blau­en Man­tel mit gol­de­nem Saum ge­hüllt. Die sonst so ele­gan­te Streckung des Kop­fes weicht ei­nem rund­li­che­ren Ant­litz mit spit­zem Kinn. Die blon­den Locken le­gen sich be­wegt um das Haupt und fal­len locker auf die Schul­tern; ru­hig blickt sie auf den klei­nen Chri­ stus­kna­ben, der, hier mit et­was blei­chem In­ka­rnat und blon­dem Haar, in ein trans­p a­ ren­tes Tuch ge­hüllt, le­ben­dig auf dem Schoß sei­ner Mut­ter turnt und die klei­nen Ärmchen aus­streckt. Zum Stil: In ih­rer Ge­samt­ge­stalt re­prä­sen­tiert die­se Hand­schrift ei­nen Stil, den man vom Gra­ fen Paul Dur­rieu bis zu Mill­ard Meiss 1968 vom Stun­den­buch des Mar­schalls Boucicaut, Ms. 2 des Pa­ri­ser Mus­ée Ja­cquem­art-An­dré, aus be­stimmt hat. In ih­rer weg­wei­sen­den Stu­die, die 1999 als er­ster Band un­se­rer Rei­he Il­lu­mi­na­tio­nen er­schie­nen ist, hat Ga­ brie­le Bartz eine heu­te all­ge­mein an­er­kann­te Schei­dung voll­zo­gen: Wäh­rend Meiss dem Haupt­mei­ster nur das na­men­ge­ben­de Ma­nu­skript so­wie ein spä­ter im Be­sitz des Étienne Che­va­lier be­find­li­ches Stun­den­buch, Add. 16996 der Bri­tish Lib­rary, und sonst nur we­ ni­ge an­de­re Mi­nia­tu­ren als ei­gen­hän­di­ge Bei­trä­ge zu­wies, läßt sich der in­zwi­schen auch durch Neu­fun­de ge­wach­se­ne Ge­samt­be­stand schlüs­sig in zwei Stil­va­ri­an­ten schei­den: Ne­ben dem Boucicaut-Mei­ster steht ein Künst­ler, der von ei­nem viel­leicht für den Da­ up­hin Lou­is de Guyenne oder so­gar Kö­nig Karl VI . be­stimm­ten Stun­den­buch der Pa­ ri­ser Bibliothèque Maza­rine, Ms. 469, aus de­fi­niert wird. Die­ser Künst­ler zeich­net sich durch ele­gan­te­re Li­ni­en­füh­rung aus, be­vor­zugt vor al­lem in frü­hen Wer­ken wie un­se­ rem Ma­nu­skript Terra ver­de für die Mo­del­lie­rung von In­ka­rn­aten. Sei­ne Kom­po­si­tio­ nen sind we­ni­ger von Per­spek­ti­ve und Raum­ge­win­nung be­stimmt; der be­son­de­re Sinn für rech­te Win­kel, der den Boucicaut-Ma­ler aus­zeich­net, fehlt ihm. Ins­ge­samt dürf­te der Maza­rine-Mei­ster et­was frü­her an­set­zen als der bis­her be­rühm­te­re Stil­ge­nos­se; in­ten­ siv wa­ren sei­ne Be­zie­hun­gen zum frü­hen Bed­ford-Mei­ster und zum Eger­ton-Mei­ster. Eine be­mer­kens­wer­te neue Er­kennt­nis er­gibt sich aus Un­ter­su­chun­gen in Cam­bridge un­ ter der Lei­tung von Stel­la Pan­ayotova. Im neue­sten Aus­stel­lungs­ka­ta­log des Fit­zwilliam Mu­se­ums Cam­bridge (Co­lour. The Art & Science of Illu­min­ated Man­uscripts, Lon­don 2016, S. 127-129) teilt sie im Bei­trag über „Ma­ster’s Sec­rets“ ge­mein­sam mit Paola Ricci­ ardi mit, daß der Maza­rine-Mei­ster in ei­nem Ex­em­plar des Livre des pro­priétés des choses von Bar­tho­lo­mä­us An­glicus (Ms. Foun­ders 251) Far­ben in Mit­tel­hol­län­disch oder gar Deutsch an ge­ge­ben hat: rot oder root steht da ne­ben hi­mel für Blau.

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Da­mit er­weist sich Pa­ris auch für den Maza­rine-Mei­ster als der Schmelz­tie­gel, in dem Leu­te aus der gan­zen la­tei­ni­schen Welt zu­sam­men­fan­den und neue, dann für die fran­zö­ si­sche Haupt­stadt cha­rak­te­ri­sti­sche Kunst ent­wickel­ten. Nicht ganz so cha­rak­te­ri­stisch für Pa­ris war hin­ge­gen je­ner Ma­ler, der mit dem Ma­don­nen­bild am Schluß die ele­gan­ te Pro­por­ti­on­ierung und den Li­ni­en­fluß ver­mis­sen läßt, die den Maza­rine-Mei­ster aus­ zeich­nen. Die­ser aus Deutsch­land stam­men­de Mit­ar­bei­ter ge­stal­tet sei­ne Fi­gu­ren mit kom­pak­ter Le­ben­dig­keit; wo der Maza­rine-Mei­ster die fa­rb­star­ken Ge­wän­der ganz aus der Dich­te des Pig­ments zu ent­wickelt, be­nutzt er dunk­le Kon­tu­ren, um die klein­tei­li­ gen Stoff­kas­ka­den des blau­en Ma­rien­man­tels vor­zu­be­rei­ten und dann mit vie­len fei­nen Pin­sel­stri­chen in ei­nem hel­len Blau zu hö­hen. Selbst den Hei­li­gen­schein ge­stal­tet die­ser Ma­ler an­ders; Mut­ter und Kind er­hal­ten bei ihm ei­nen wun­der­ba­ren Strah­len­kranz um das Haupt, der auf dem Blatt­gold der Nimben ge­ar­bei­tet ist. Zu den vie­len er­staun­li­chen Neu­fun­den von mar­kan­ten Wer­ken der fran­zö­si­schen Buch­ma­le­rei aus dem er­sten Jahr­zehnt nach 1400 ge­hört die­ses Stun­den­buch ei­ nes der füh­ren­den Buch­ma­ler, han­delt es sich doch um eine recht frü­he Ar­beit des Maza­rine-Mei­sters, des­sen Ei­gen­art in­zwi­schen klar vom Stil des Boucicaut-Mei­ sters un­ter­schie­den wird. Vom Buch­de­kor und dem Zu­schnitt der fast qua­dra­ti­ schen Mi­nia­tu­ren ge­hört die­se Hand­schrift in die Zeit vor dem Auf­tau­chen des ab 1407/08 do­ku­men­tier­ten Akanthus. In der schlich­ten und über­zeu­gen­den Bild­spra­ che in Mi­nia­tu­ren, die noch weit­ge­hend auf Ar­chi­tek­tur und Land­schaft ver­zich­ten, da­für aber mit kost­ba­ren Must­er­grün­den auf­war­ten, be­rei­ten Wer­ke wie die­ses die gro­ßen Neue­run­gen vor, die das zwei­te Jahr­zehnt brin­gen soll­te. In der kost­ba­ren Far­big­keit und der ein­drucks­vol­len Mo­del­lie­rung ver­ra­ten die Mi­nia­tu­ren be­reits die tech­ni­schen Neue­run­gen, die, wie wir heu­te wis­sen, nicht al­lein auf den BoucicautMei­ster, son­dern vor al­lem auf den hier tä­ti­gen Maza­rine-Mei­ster und auch den Bed­ ford-Mei­ster zu­rück­ge­hen, die wohl bei­de nicht in Pa­ris ge­bo­ren wur­den. Durch die Mit­ar­beit ei­nes wohl aus dem Rhein­ge­biet stam­men­den Buch­ma­lers könn­ten von deutsch­spra­chi­gem Ge­biet her­rüh­ren­de Ein­flüs­se Ge­wicht be­kom­men, zu­mal der Maza­rine-Mei­ster selbst, wie ge­ra­de er­kannt wur­de, Far­ben auf Deutsch oder Hol­ län­disch no­tier­te. LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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6 Ein Pa­ri­ser Stun­den­buch des Boucicaut-Mei­sters mit den Wap­pen von Co­rlieu und Lusi­gnan


6 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, mit teil­wei­se fran­zö­si­schen Ru­bri­ken in Rot und ei­ nem fran­zö­si­schen Ka­len­der in Gold, Blau und Rot, ge­schrie­ben in Tex­tura. Pa­ris, um 1412-15: Mei­ster des Mar­schalls Boucicaut 26 Bil­der: zehn gro­ße Mi­nia­tu­ren mit Bo­gen­ab­schluß über vier Zei­len Text mit dreiz­ei­li­ gen Dorn­blatt-In­itia­len, da­von zwei in Voll­bor­dü­ren mit sym­me­trisch an­ge­leg­tem bun­ten Akanthus, mit Gold­ein­schlüs­sen und Vö­gel­chen, die an­de­ren mit drei­sei­ti­ger Dorn­blattZier­lei­ste und Dorn­blatt­bor­dü­ren mit Blü­ten am Ende der Spi­ra­len; vier fünfz­ei­li­ge Bil­ der im Text­feld, da­von ei­nes in Voll­bor­dü­re mit Dop­pel­stab um das Text­feld, aus­strah­ len­der Akanthus oben; zwölf Vier­päs­se im un­te­ren Rand­strei­fen des Ka­len­ders. Alle Text­sei­ten mit Dop­pel­stab au­ßen und drei­sei­ti­ger Klam­mer aus Dorn­blatt­bor­dü­ren von au­ßen. Zweiz­ei­li­ge Dorn­blatt-In­itia­len zu den Psal­men­an­fän­gen auf Recto mit aus­strah­len­ dem Dorn­blatt, ein­zei­li­ge In­itia­len zu den am Zei­len­be­ginn ein­set­zen­den Psal­men­ver­sen in Gold auf ro­ten und blau­en Flä­chen mit wei­ßem Li­ni­en­de­kor; Zei­len­fül­ler in glei­cher Art. Ver­ sa­li­en gelb la­viert. 143 Blatt Per­ga­ment, je ein flie­gen­des Vor­satz al­tes Per­ga­ment. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (12) so­wie die La­gen 2 (6) mit den Per­ik­open, 5 (4), Lage 11 (8-2, die bei­den er­sten Blät­ter ent­fernt), 15 (8-1, das zwei­te Blatt ent­fernt) und die End­la­ge 19 (8-4; Text bricht auf fol. 143v ab). Reklam­an­ten in et­was klei­ne­rer Tex­tura zu­wei­len beim Trim­men ab­ge­schnit­ten. Ok­tav (210 x 150 mm; Text­spie­gel: 100 x 70 mm). Rot reg­liert zu 15, im Ka­len­der zu 17 Zei­len. Ge­bun­den in al­ten ro­ten ab­ge­grif­f e­nen Samt über Holz­deckeln mit zwei Mes­sing­schlie­ßen. Gold­schnitt mit Spu­ren al­ter Be­ma­lung. Im­mens breit­ran­dig und na­he­zu ohne Be­nut­zungs­spu­ren er­hal­ten; das Jo­han­nes­bild durch Ver­ wer­fung des Per­ga­ments mit mi­ni­ma­len Fehl­stel­len. Zwei Blät­ter mit Mi­nia­tu­ren und dazu ein Text­blatt so­wie das Ende des To­ten-Of­fi­zi­ums mit der 9. Le­sung und den Lau­des feh­len. Ein Flicken für eine Fehl­stel­le auf fol. 9 ist heu­te ent­fal­len. Pro­ve­ni­enz: Mit we­nig spä­ter nach­ge­tra­ge­nen Wap­pen Co­rlieu-Lusi­gnan, in de­nen Sil­ber durch­weg als Weiß ge­ge­ben ist: auf fol. 19 ge­viert: im 1. und 4. Feld de sinople au che­vron d’ar­gent chargé de trois quin­te­feuilles de gueu­les, im 2. und 3. Feld d’ar­gent au lion de gueu­ les, armé, lam­pas­sé et co­uronné d’or (Co­rlieu, Curlew oder Co­rleix von York), als Herz­schild bu­re­lé d’ar­gent et d’azur de huit pi­èces (Lusi­gnan). Das Wap­pen mit sinople au che­vron d’ar­gent chargé de trois quin­te­feuilles de gueu­les ne­ben dem Wap­pen der Lusi­gnan auf dem Ka­ta­falk fol. 115 er­gänzt Tho­mas de Co­rlieu oder Curlew, geb. um 1390, kam 1414 mit Tho­mas von Lan­ca­ster oder Tho­mas Planta­ge­net, Her­zog von Clarence (gest. 1421), nach Frank­reich, hielt die Burg von Gourville bei An­goulême be­setzt, bis er de­ren Er­bin Ren­otte oder Perot­te du Fresne aus dem

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An­jou hei­ra­ten konn­te; Tho­mas oder der Sohn Jean de Co­rlieu dürf­te die Wap­pen hin­zu­ge­ fügt ha­ben. Text: fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che ab­wech­selnd in Rot und Blau, Fe­ste in Gold. Die Hei­li­gen­aus­wahl mit Fe­sten von Gen­ovefa (3.1.), Germ­anus (27.5.), Lud­wig IX . (27.8.) und Dio­ny­si­us (9.10.) weist auf Pa­ris. fol. 13: Per­ik­open: Jo­han­nes (fol. 13), Lu­kas (fol. 14), Mat­thä­us (fol. 15v) und Mar­kus (fol. 17); fol. 18/v: leer. fol. 19: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Pa­ris, wie zur Mari­en-Lau­des be­zeugt: Matutin (fol. 19, mit drei voll­stän­di­gen Nok­tur­nen), Lau­des (fol. 42, mit aus­führ­li­cher Ru­brik auf fol. 41v: Ci co­mmen­cent les lau­des des heu­res de n(ost)re dame a l’usa­ige de pa­ ris), Prim (fol. 52v), Terz (fol. 58v), Sext (fol. 63v), Non (fol. 67v), Ves­p er (fol. 72), Komplet (Ru­brik auf fol. 79v, die er­sten bei­den Blät­ter feh­len). fol. 85: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 97v) mit Pa­ri­ser Hei­li­gen: u. a. Ger­vasius und Pro­ thasius, Ana­sta­sia, Gen­ovefa, Op­por­tuna, Avia. fol. 103v: Horen von Hei­lig Kreuz (fol. 103v) und Hei­lig Geist (fol. 111, das er­ste Blatt ent­fernt). fol. 115v: To­ten­of ­fi­zi­um, für den Ge­brauch von Pa­ris: Ves­per (fol. 115v), Matutin (fol. 123v, nicht mar­kiert); Text bricht nach dem Responsorium zur ach­ten Le­sung der Matutin ab. Schrift und Schrift­de­kor Die sorg­fäl­ti­ge Tex­tura, die auch für die de­ko­ra­ti­ven Reklam­an­ten ver­wen­det wur­de, ver­rät die ge­pfleg­te Buch­kul­tur in Pa­ris im zwei­ten Jahr­zehnt nach 1400: Klar ge­schie­ den sind die De­ko­ra­ti­ons­stu­fen mit dem Flä­chen­de­kor für die ein­zei­li­gen In­itia­len und dem Dorn­blatt für die zweiz­ei­li­gen. Dorn­blatt er­scheint in den Rand­strei­fen durch­weg nur in Blatt­gold an ein­fa­chen Tin­ten­li­ni­en. Der Kon­flikt zwi­schen ei­nem von In­itia­len ab­hän­gi­gen Rand­schmuck und ei­nem für alle Dop­pel­sei­ten gül­ti­gen Gleich­klang wird hier so ge­löst, daß der Text­spie­gel je­weils von au­ßen von ei­nem Dop­pel­stab be­glei­tet wird, der eine zum Falz hin aus­grei­fen­de Klam­mer aus rei­nen Dorn­blat­tran­ken sprie­ßen läßt. Doch gibt man den Ge­dan­ken, Dorn­blatt müße aus den ent­spre­chen­den zweiz­ei­li­gen In­ itia­len sprie­ßen, hier nicht ganz auf: Wo Platz ist, also nur auf Recto, kom­men Aus­läu­ fer von Dorn­blatt hin­zu und sor­gen da­mit für wei­te­ren Reich­tum und ein ge­wis­ses Un­ gleich­ge­wicht. Die­ser De­kor ist durch­weg von ei­nem Il­lu­mi­na­tor ge­schaf­fen, der sei­nen ei­ge­nen Vor­rat an Rot und Blau für die klei­nen Blü­ten und aus den Zier­lei­sten sprie­ßen­ den Blatt­for­men ver­wen­det. Sei­ne Ar­beit er­staunt in­so­fern, als die waa­ge­rech­ten Ran­ ken nicht in gan­zer Brei­te des Text­spie­gels aus­grei­fen und un­ten gleich hoch wie oben blei­ben, also nicht auf den sehr viel grö­ße­ren Rand­strei­fen un­ten ein­ge­stellt sind. Be­son­

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ders ir­ri­tie­rend wir­ken des­halb die Recto-Sei­ten des Ka­len­ders; dort ver­drän­gen die recht gro­ßen Me­dail­lons den Ran­ken­schmuck, der sich nur mit ein paar Dorn­blätt­chen um die Mo­nats­ar­bei­ten legt, wäh­rend vom KL aus kräf­ti­ger De­kor zum Falz hin­zu­kommt. Da­von un­ter­schie­den wer­den die Ran­ken der Sei­ten mit gro­ßen Bil­dern so­wie des In­ cipits zu Jo­han­nes, fol. 13: Für sie wer­den Buch­ma­ler­far­ben ein­ge­setzt: Aus dem stren­ gen, hart kon­tu­rier­ten Blatt­werk des Il­lu­mi­na­tors, wie es auf fol. 14 zu fin­den ist, schla­gen die Dop­pel­stä­be in rote und blaue Akanthus­blät­ter aus, die sich um Blatt­gold-Ein­schlüs­ se le­gen; und an den En­den der Dorn­blatt-Spi­ra­len sprie­ßen nun ge­mal­te Blät­ter, Blü­ten oder Früch­te. Als Zier­lei­sten wer­den brei­te Bän­der des Dorn­blatt­de­kors in den Far­ben des Il­lu­mi­na­tors ein­ge­setzt; ein­mal je­doch ver­drängt der in der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei erst ab 1407/08 nach­ge­wie­se­ne Akanthus die äl­te­re Or­na­ment­ik: zur Non mit der Dar­brin­ gung im Tem­pel (fol. 67v). Von hier ist es noch ein er­heb­li­cher Schritt zu den bei­den wich­tig­sten Buch­sei­ten, zur Mari­en-Matutin und den Buß­psal­men. Dort ist der Dorn­blatt­schmuck fast ganz von Blatt­werk in den Buch­ma­ler­far­ben ver­drängt: Akanthus in vie­len Far­ben be­stimmt nun den Ein­druck; er geht von ei­nem Blu­men­topf oder ei­nem Kno­ten im un­te­ren Rand­strei­ fen aus, bil­det dann in den Senk­rech­ten Mit­tel­ach­sen, schließt präch­ti­ge Gold­flä­chen ein und ent­wickelt so eine ge­schlos­se­ne Wir­kung, die der Na­tur ver­pflich­te­te Blu­men und Früch­te nicht dul­det. Die Bil­der fol. 1: Den Ka­len­der be­glei­ten wie bei­spiels­wei­se in den Bel­les Heu­res des Her­zogs von Berry (New York, Cloi­sters) auf al­len Recto-Sei­ten im un­te­ren Rand­strei­fen ste­hen­de Vier­päs­se mit Mo­nats­bil­dern; die auf­fäl­lig spitz ge­zack­ten Bild­fel­der zei­gen in un­re­ gel­mä­ßi­ger Fol­ge vor fein ge­stri­chel­tem Him­mel oder vor mit Gold­ran­ken ge­mu­ster­ten Grün­den in Blau, sel­te­ner Rosa ein­zel­ne Ge­stal­ten in ein­schlä­gig ver­trau­ten Mo­ti­ven: Im Ja­nu­ar sitzt ein Mann am Ka­min und schaut wie ge­spannt ins lo­dern­de Feu­er; den Fond füllt Blau, das den Ka­min, der ei­gent­lich in eine von rechts in die Tie­fe fluch­ten­ de Wand ein­ge­baut sein müß­te, wie ein Mö­bel­stück iso­liert. Vor Him­mels­blau sind die Ar­bei­ten von Fe­bru­ar und März ge­zeigt: Da bückt sich zu­nächst ein Mann un­ter ei­nem dür­ren Bäum­chen und bin­det das sau­ber be­schnit­te­ne Rei­sig beim Holz­ho­len; dann wird im März bei der Ar­beit im Wein­berg der Bo­den vor den Wein­stöcken ge­lockert. Ein vor­ neh­mer Jüng­ling mit Blu­men­zwei­gen in Kar­min­rot mit zin­no­ber­ro­tem Kopf­putz spa­ziert vor dem blau­en Mu­ster­grund im April. Auch der Falk­ner beim Aus­ritt im Mai er­scheint vor blau­em Fond. Die bis­her nicht be­ach­te­te Tra­di­ti­on, ei­gent­lich Must­er­grün­de in Blau und Alt­ro­sa al­ter­nie­ren zu las­sen, setzt sich im Juni bei der Heu­ern­te vor Alt­ro­sa durch; viel Gras steht da nicht, so daß der Bau­er mit sei­ner Sen­se et­was ver­lo­ren wirkt. Fast manns­hoch hin­ge­gen er­he­ben sich die Äh­ren bei der Korn­ern­te im Juli, die vor zar­tem Him­mel­blau statt­fin­det. Im Frei­en, vor Him­mel, er­folgt auch das Dre­schen im Au­gust. Der Bot­tich mit dem Mann, der die Re­ben nie­der­tritt, zur Kel­ter im Sep­tem­ber steht hin­ge­gen vor Alt­ro­sa. Un­ter blau­em Him­mel schrei­tet der Sä­mann im Ok­to­ber. Kräf­tig

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holt der Schwei­ne­hirt im No­vem­ber mit sei­nem Stock aus, um Ei­cheln für die Schwei­ne her­ab zu schla­gen. Zum Schwei­ne­schlach­ten im De­zem­ber holt ein Mann vor Alt­ro­sa mit ei­nem Holz­ham­mer aus. fol. 13: Klein­bil­der er­öff­nen die Per­ik­open; fünf Zei­len hoch sind sie als Qua­dra­te ne­ ben der Dorn­blatt-In­itia­le ein­ge­rich­tet und neh­men die hal­be Brei­te des Text­spie­gels ein. Den er­sten Text hebt eine Voll­bor­dü­re mit drei­sei­ti­ger Zier­lei­ste her­vor, die in den Ecken und En­den in kräf­ti­gen blau-ro­ten Akanthus aus­schlägt. Un­ge­ach­tet des klei­nen Bild­for­mats wer­den die Evan­ge­li­sten in Ganz­fi­gur mit ih­ren ge­flü­gel­ten und nimbierten At­tri­buts­we­sen beim Ver­fas­sen ih­rer Tex­te ge­zeigt. Die Bild­tra­di­ti­on un­ter­schied bei Jo­han­nes nicht zwi­schen dem Evan­ge­li­sten und dem Apo­kalyptiker; des­halb wird der blond ge­lock­te Jo­han­nes auf Patmos (fol. 13) ge­zeigt: Das run­de Ei­land wird von ei­nem sil­ber­nen Fluß um­run­det, den wie­der­um in den Ecken vorn und hin­ten das Ufer um­gibt, hin­ten so­gar mit zwei Bäu­men vor dem Him­mel. Der Evan­ge­list hockt auf dem Gras und schreibt auf ein Schrift­band; der Ad­ler taucht hin­ter ihm auf und hält das un­ver­hält­nis­mä­ßig gro­ße Schreib­zeug in schwar­zem Le­der. Vor blau­em Grund mit Gold­mu­ster sitzt der grei­se Lu­kas (fol. 14) an ei­nem Schreib­ pult, ihm ge­gen­über liegt sein Stier auf dem Flie­sen­bo­den und schaut wie ein Schü­ler auf zum Mei­ster. Ähn­lich aus­ge­stat­tet ist das Bild des eben­falls grei­sen Mat­thä­us (fol. 15v), der zu­dem über eine Fuß­bank ver­fügt; er beugt sich an­ge­strengt über sei­ne Schreib­ar­ beit, wäh­rend der En­gel ge­las­sen ne­ben ihm steht und das schwar­ze Schreib­zeug hält. Bei Mar­kus (fol. 17), im er­sten Bild mit ei­nem kost­ba­ren Ka­ro­grund, än­dert sich die Rich­tung: Nun sitzt der Löwe mit sei­nen mäch­ti­gen ro­ten und grü­nen Flü­geln links und schaut auf­recht zum Evan­ge­li­sten, der über ein dreh­ba­res Schreib­pult ge­beugt ist. fol. 19: Das Ma­rien­of ­fi­zi­um wird vom im 15. Jahr­hun­dert in Pa­ris ge­wohn­ten Bild­zy­ klus be­glei­tet: Die Ma­rien­ver­kün­di­gung zur Matutin (fol. 19) ist als In­te­rieur mit Aus­blick in der Mit­te be­grif­fen und von ei­nem Dia­phrag­ma aus Säu­len und leicht vor­sprin­gen­dem Bo­gen ge­ rahmt. Ein mit gol­de­nen Ster­nen ge­schmück­tes blau­es Kreuz­grat­ge­wöl­be ver­mag kaum die ge­gen­sätz­lich kon­stru­ier­ten Sei­ten des Rau­mes zu fas­sen; denn statt mit Sei­ten­wän­ den Ord­nung zu schaf­fen, ar­bei­tet der Buch­ma­ler mit je­weils in ei­ge­ner Art fluch­ten­den Ne­ben­räu­men, ei­ner Al­tar­ni­sche links und ei­nem Ne­ben­raum für Ma­ri­as Bal­da­chin rechts; de­ren Fen­ster sind so un­ter­schied­lich hoch, daß rechts im sehr viel nied­ri­ger an­ set­zen­den Ge­wöl­be noch Platz für ein zu­sätz­li­ches Fen­ster bleibt. Grund­sätz­lich soll hier Zen­tral­per­spek­ti­ve herr­schen; doch selbst der Aus­blick ins Freie fügt sich dem nicht; ge­ zeigt wird eine Ter­ras­se, auf de­ren Mäu­er­chen zwei Blu­men­töp­fe ste­hen. Zu die­ser Ter­ ras­se führt von rechts un­ten eine Trep­pe hin­auf, die ge­ra­de noch an­ge­deu­tet ist. Ga­bri­el ist links nie­der­ge­kniet, hat sein Spruch­band vor der Li­lien­va­se und dem Bet­pult ge­senkt; die Jung­frau ist ihm zu­ge­wandt, läßt die Lin­ke auf ih­rem Ge­bet­buch ru­hen, wäh­rend sie

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mit der Rech­ten of­fen­bar ges­tisch über die Bot­schaft des Erz­en­gels so spricht, als bie­te das Buch Ar­gu­men­te. Die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes er­reicht ge­ra­de Ma­ri­as Nim­bus, sie ist aus dem von Se­ra­phim ge­bil­de­ten Kranz um die Got­tes­er­schei­nung her­ab ge­flo­ gen, die sich vor gol­de­nem Grund im Bo­gen des Bil­des zeigt. Sil­ber ist in un­ge­wohn­ter Viel­falt ein­ge­setzt: Die Fen­ster wir­ken un­ter­schied­lich dun­kel oxid­iert; die Li­lien­va­se ist sil­bern und in ei­nem lich­te­ren Ton auch Ga­bri­els Albe, der dar­über eine ro­sa­far­be­ne Dal­ma­tika trägt. Nach so­viel Auf­wand für die Er­öff­nungs­mi­nia­tur wir­ken die fol­gen­den Bil­der schlicht und sach­lich, was auch die ein­fa­chen Dorn­blatt­bor­dü­ren un­ter­strei­chen: Bei der Heim­ su­chung zu den Lau­des (fol. 42) ge­nügt ein Gras­strei­fen und ein nur kurz hin­ter Ma­ ria auf­ra­gen­des Fels­stück als An­deu­tung, daß die Jung­frau übers Gebirg ge­kom­men ist; beim Fond darf man sich nicht täu­schen las­sen: Sein Gold­mu­ster mit klei­nen Ka­ros ist un­ge­mein teu­er und kost­bar. Da­vor steht Ma­ria im blau­en Man­tel über ei­nem Kleid in Alt­ro­sa und wird von der grei­sen Eli­sa­beth be­grüßt, die über grau­vio­let­tem Kleid leuch­ ten­des Zin­no­ber und eine wei­ße Hau­be trägt. Vor Ka­ro­mu­ster steht bei der An­be­tung des Kin­des zur Prim (fol. 52v) der Stall von Beth­le­hem mit sei­nem stei­len Drei­ecks­gie­bel, nach rechts hin­ten ver­kürzt. Die Dä­cher wie die aus grün­li­chem Flecht­werk ge­bil­de­te Sei­ten­wand sind in vor­züg­li­chem Zu­stand, wäh­rend sonst mit den Fehl­stel­len ma­le­ri­sche Ef­fek­te er­zeugt wer­den. Auch die höl­zer­ ne Krip­pe vorn links wirkt ge­ra­de­zu wie neu. Von Esel und Ochs gleich­sam be­wacht, liegt der nack­te Je­sus­kna­be auf grü­nem Grund. Ihn be­tet die Jung­frau Ma­ria kniend an, wäh­rend der grei­se Zieh­va­ter Jo­seph mit ge­beug­tem Haupt hin­ter ihr steht. Daß Land­schafts­ma­le­rei eine Op­ti­on des ver­ant­wort­li­chen Buch­ma­lers war, zeigt die Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 58v), auch wenn ihr nur we­nig Raum ge­ge­ben wird: Un­ter ei­ner En­gels­er­schei­nung in ei­nem Seg­ment best­irnten Blaus spannt sich tex­til ge­ mu­ster­tes Alt­ro­sa; dar­un­ter wird dann doch recht ge­schickt Land­schaft aus­ge­brei­tet: Die Schaf­her­de ist vor ei­nem Feld­hü­gel und ei­nem Baum links ver­sam­melt, das Ge­län­ de steigt rechts an, wo zu­nächst der Hir­ten­hund mit dem Sta­chel­hals­band auf­merk­sam nach oben schaut, ein we­nig zu den bei­den Hir­ten ge­dreht, de­ren ei­ner sit­zend zum En­ gel auf­blickt und mit der Hand sei­ne Au­gen schützt, wäh­rend der an­de­re ru­hi­ger auf ei­ nen Stock ge­stützt da­steht. Bei der Kö­nigs­an­be­tung zur Sext (fol. 63v) wird der Blick auf den Stall von Beth­le­hem um­ge­dreht. Der Zu­stand des Dachs bleibt gleich; doch ist die ge­floch­te­ne Wand nicht so sorg­sam ge­ord­net. Ma­ria sitzt links, wie an­de­re Ver­sio­nen des The­mas ver­mu­ten las­ sen, auf der Kan­te ih­res ro­ten Betts, hält den nack­ten Kna­ben, der sich auf sei­nen Füß­ chen auf­rich­tet und in den Kelch faßt, den der äl­te­ste Kö­nig bar­häup­tig kniend dar­reicht, wäh­rend sich die bei­den an­de­ren noch un­ter­hal­ten, wohl über den Stern, der je­doch ein we­nig hin­ter ih­nen in bombiertem Blatt­gold vor dem Him­mel­blau er­scheint. Ein aus­ge­sucht schö­nes getrepptes Mu­ster bil­den die Ka­ros als Fond der Dar­brin­gung im Tem­pel zur Non (fol. 67v): Das Per­so­nal ist auf die ju­gend­li­che Magd, die drei Tau­

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ben in ei­nem stei­len Korb bringt, Ma­ria und Simeon be­schränkt. Die Jung­frau reicht das Wickel­kind wie ei­nen Laib Brot über den Al­tar­tisch; selbst sie faßt es nur mit vom Man­tel ver­deck­ter Hand; ent­spre­chend hält der grei­se Prie­ster sei­ne Hän­de un­ter ei­nem wei­ßen Tuch ver­deckt. Auch die Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 72) spielt vor wie­der­um an­ders ge­mu­ster­ ten Ka­ros. Jo­seph trägt an auf­ge­reck­tem Stock ein hell­grü­nes Bün­del, wen­det sich um und führt den Esel. Auf des­sen Rücken sitzt Ma­ria, ganz vom Blau ih­res Man­tels um­ flos­sen und schaut in­nig auf ihr Wickel­kind. Vor fol. 80 fehlt wohl eine Ma­rien­krö­nung als Bild zur Komplet. fol. 85: Die Boucicaut-Werk­statt hat sich be­son­ders gern mit Da­vids Buße in der Ein­ öde aus­ein­an­der­ge­setzt; hier aber er­öff­nen die Buß­psal­men mit dem äl­te­ren, be­reits in un­se­rer Nr. 1 zu find­en­den Mo­tiv der Majestas domi­ni: In ei­ner ähn­lich pracht­vol­len Akanthus-Bor­dü­re wie zur Mari­en-Matutin er­scheint das Bild des grei­sen Gott­va­ters, der bar­häup­tig den Kreuz­nim­bus des Soh­nes trägt. Er sitzt auf ei­nem Thron, des­sen Wan­gen zur Lin­ken die Ge­set­zes­ta­feln und zur Rech­ten, also für die Be­trach­ter links, den Meß­kelch mit der wei­ßen Ho­stie tra­gen. So zwi­schen dem Al­ten und dem Neu­en Bund zeigt sich Gott vor best­irntem Rosa, das von tief­blau­en Wol­ken um­ge­ben ist; dort sit­zen un­ten Löwe und Stier mit hel­len Flü­geln, oben aber der En­gel und der Ad­ler, also die vier We­sen, die als At­tri­bu­te die Evan­ge­li­sten ver­kör­pern. fol. 103v: Zu den Horen ist nur die Kreu­zi­gung (fol. 103v) er­hal­ten ge­blie­ben; das Bild zu den Horen von Hei­lig Geist fehlt vor fol. 111; es stell­te ver­mut­lich das Pfingst­wun­der dar. Streng und schlicht ist die Kreu­zi­gung auf den Er­lö­ser zwi­schen der Mut­ter­got­tes und dem Lieb­lings­jün­ger be­schränkt. Die Bei­fi­gu­ren ste­hen mit ge­senk­ten Häup­tern auf kar­gem Bo­den. Das Kreuz ragt vor tex­til ge­mu­ster­tem Rosa auf; doch im Bo­gen oben zeigt sich tie­fes Him­mels­blau mit Ster­nen so­wie Son­ne und Mond als Aus­weis der kos­ mi­schen Di­men­si­on des Er­eig­nis­ses. ten­ of ­fi­ zi­ um zum ent­ fol. 115v: Aus ei­nem gän­gi­gen Bild­mo­tiv macht der Ma­ler beim To­ spre­chen­den Text eine pracht­vol­le Mi­nia­tur: Streng bild­par­al­lel steht vorn der Ka­ta­falk mit ro­tem Kreuz auf dem blau­en Tuch, auf das erst nach­träg­lich Al­li­anz­wap­pen auf­ge­ malt wur­den. Nur vorn ist Platz für zwei hohe Ker­zen; denn hin­ter dem Sarg ste­hen links drei Prie­ster in schwar­zen Chor­män­teln am Chor­buch, wäh­rend von rechts drei Pleurants hin­zu­ge­tre­ten sind. Ins leuch­ten­de Blatt­gold des Fonds sind brei­te grü­ne Ran­ ken ein­ge­fügt, wie sie der Eger­ton-Mei­ster in die Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei ein­brach­te. Ge­ra­ de­zu ei­nen ju­beln­den Ton stif­ten die zin­no­ber­ro­ten Blü­ten in die­sem Pflan­zen­mu­ster.

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Zum Stil Die Haupt­mi­nia­tu­ren ver­ra­ten durch­weg den Stil und die Hand des Ma­lers, den schon Paul Dur­rieu vom Stun­den­buch des Mar­schalls Boucicaut (Pa­ris, Mus­ée Ja­cquem­art-An­ dré, Ms. 2) aus be­stimmt hat und dem Mill­ard Meiss 1968 eine Mo­no­gra­phie wid­me­te. Eine ent­schei­den­de Klä­rung er­hiel­ten die mit die­sem Stil ver­bun­de­nen Pro­ble­me durch Ga­brie­le Bartz, die in ih­rem Buch von 1999, mit dem wir un­se­re Rei­he Il­lu­mi­na­tio­nen er­ öff­ne­ten, ne­ben den Boucicaut-Mei­ster mit dem Maza­rine-Mei­ster ei­nen zwei­ten Buch­ ma­ler stel­len konn­te. Im Ne­ben­ein­an­der un­se­rer Nr. 5 und des hier be­schrie­be­nen Stun­den­buchs tre­ten die Un­ter­schie­de bei al­ler Ähn­lich­keit von Kom­po­si­tio­nen und Ko­lo­rit klar zu Tage: In­ner­ halb ei­nes ge­mein­sa­men Rah­mens un­ter­schei­den sich die Phy­sio­gno­mi­en, was durch die hel­le­ren In­ka­rn­ate hier ge­gen­über dem Ein­satz von Terra ver­de dort un­ter­stri­chen wird. Zu­gleich wird deut­lich, daß die bei­den Hand­schrif­ten nicht gleich­zei­tig ent­stan­den sind: Die durch hohe Rund­bö­gen ab­ge­schlos­se­nen Bild­fel­der hier ent­wickeln eine ein­drucks­ vol­le Höhe. Das lädt bei der Ver­kün­di­gung zu ei­ner küh­nen Ar­chi­tek­tur ein, an die in Nr. 5 noch nicht zu den­ken war. Von be­son­de­rer Be­deu­tung ist schließ­lich das Bild zum To­ten­of ­fi­zi­um, das ei­nes der sel­ te­nen Bei­spie­le im Werk des Boucicaut-Mei­sters mit di­rek­ter An­leh­nung an den Eger­ ton-Mei­ster ist. Von die­sem Künst­ler ist hier das pracht­vol­le Blatt­werk für den Fond über­nom­men. Auch in die­sem Stun­den­buch wird man ei­nen Mit­ar­bei­ter aus­ma­chen kön­nen: Ei­ni­ge Vier­päs­se im Ka­len­der und drei der vier Evan­ge­li­sten set­zen sich vom per­sön­li­chen Stil des Boucicaut-Mei­sters et­was ab. Die stär­ker zeich­ne­ri­sche Ge­stal­tung läßt an Künst­ ler den­ken, die wie der Mei­ster des Guy de Laval (un­se­re Nr. 7) dem Boucicaut-Mei­ster ver­pflich­tet sind. Ein bis­her un­be­kann­tes, künst­le­risch ein­drucks­vol­les Stun­den­buch mit Mi­nia­tu­ ren des Boucicaut-Mei­sters und ei­nes nicht ge­nau be­stimm­ba­ren Ge­hil­fen aus dem zwei­ten Jahr­zehnt nach 1400: In den Mi­nia­tu­ren zwi­schen den äl­te­ren Bild­for­men mit Must­er­grün­den und Sze­nen im Frei­en un­ter blau­em Him­mel schwan­kend, ent­ hält das Ma­nu­skript auf sei­nen wich­tig­sten Buch­sei­ten be­reits den voll ent­wickel­ ten Akanthus­de­kor, wie er etwa zeit­gleich auch vom Bed­ford-Mei­ster ge­pflegt wird. Die Be­bil­de­rung zeigt sich ei­ner­seits äl­te­ren Tra­di­tio­nen ver­pflich­tet, be­weist aber den für den Künst­ler cha­rak­te­ri­sti­schen Sinn für ein neu­es, kraft­vol­les Ko­lo­rit. So war­ten ei­ni­ge Bil­der mit wun­der­ba­ren Va­ria­tio­nen zu den wich­tig­sten Bild­the­men auf. Be­glei­tet wer­den sie von ei­nem kost­ba­ren De­kor, der Zeit­sprün­ge, die sich aus der Ent­wick­lung der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei zu Be­ginn des 15. Jahr­hun­derts er­k lä­ren, so­fort für eine hier­ar­chi­sche Un­ter­schei­dung der bei­den wich­tig­sten In­cipits vom üb­ ri­gen Be­stand ein­setzt. Da­mit ist die­ses Ma­nu­skript in un­se­rer Ab­fol­ge ein be­son­

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ders cha­rak­te­ri­sti­sches und über­aus qua­li­tät­vol­les Bei­spiel für den künst­le­ri­schen Gip­fel, den die Buch­kunst in Pa­ris um 1415 er­reich­te. LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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7 Ein Pa­ri­ser Stun­den­buch des Mei­sters des Guy de Laval


7 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, mit Ru­bri­ken in Rot und ei­nem fran­zö­si­schen Ka­len­der in Schwarz und Rot, ge­schrie­ben in Tex­tura. Pa­ris, um 1415: Mei­ster des Guy de Laval (ex-Guise-Mei­ster) Vier­zehn gro­ße Mi­nia­tu­ren mit ein­ge­zo­ge­nem Bo­gen­ab­schluß: ein­mal über vier Zei­len Text mit vierz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len, sonst über drei Zei­len Text mit dreiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len, in Voll­bor­dü­ren mit drei­sei­ti­ger Dorn­blatt-Zier­lei­ste und Dorn­ blatt­bor­dü­ren mit vie­len grü­nen Blätt­chen und Blü­ten am Ende der Spi­ra­len; die bei­den wich­tig­sten, Mari­en-Matutin und Buß­psal­men mit Paa­ren bun­ter Akanthus­blät­ter. Zwei dreiz­ei­li­ge und zu den Psal­men­an­fän­gen zweiz­ei­li­ge Dorn­blatt-In­itia­len und Bor­dü­ren­strei­fen in der Höhe des Text­spie­gels au­ßen, auf Recto mit aus­strah­len­dem Dorn­blatt nach links, also mit Rand­schmuck links und rechts; Sei­ten ohne sol­che In­itia­len je­doch ohne Rand­schmuck; ein­zei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­ver­sen am Zei­len­be­ginn in Gold auf ro­ten und blau­en Flä­ chen mit wei­ßem Li­ni­en­de­kor, Zei­len­fül­ler in glei­cher Art. Ver­sa­li­en gelb la­viert. 166 Blatt Per­ga­ment, je ein Dop­pel­blatt al­tes Per­ga­ment als flie­gen­des Vor­satz. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (12) und die La­gen 3 (2) und 12 (2) so­wie die End­la­ge 23 (2). Kei­ne Reklam­an­ten. Ok­tav (180 x 133 mm; Text­spie­gel: 100 x 70 mm). Rot reg­liert zu 14, im Ka­len­der zu 17 Zei­len. Neu­er Ein­band mit schwar­zem Samt über den al­ten Holz­deckeln, fünf sicht­ba­re Bünde. Gold­schnitt mit Spu­ren al­ter Punzierung. Voll­stän­dig und ohne Be­nut­zungs­spu­ren er­hal­ten; die brei­te­sten Ran­ken vom Buch­bin­der leicht ge­trimmt. Ohne Hin­wei­se auf äl­te­re Be­sit­zer; zu­letzt Pri­vat­samm­lung, USA . Text fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt: ein­fa­che Tage in Schwarz, Fe­ste und Gol­de­ne Zahl in Rot, die Sonn­tags­buch­sta­ben A in gol­de­nen In­itia­len auf Rot und Blau, Sonn­tags­buch­sta­ben b-g schwarz; rö­mi­sche Ta­ges­zäh­lung ab­wech­selnd schwarz und rot. Die Hei­li­gen­aus­wahl mit Fe­sten von Gen­ovefa (3.1.; auch ihre Trans­ latio 26.11. als Fest), Germ­anus (28.5.), Lud­wig IX . (27.8.) Dio­ny­si­us (9.10.) weist eben­ so auf Pa­ris wie die dia­lek­ta­le Fär­bung (so „La typ­haingne“ für Epipha­nie). fol. 13: Per­ik­open: Jo­han­nes (fol. 13), Lu­kas (fol. 14), Mat­thä­us (fol. 15) und Mar­kus (fol. 16v). fol. 17v: Ma­rien­ge­be­te, für ei­nen Mann re­di­giert: Ob­secro (fol. 17v), O in­teme­rata für Ma­ ria und Jo­han­nes (fol. 20); fol. 22v leer.

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fol. 23: Ma­ rien­ of ­fi­ zi­ um für den Ge­brauch von Pa­ris: Matutin (fol. 23 mit ei­ner lee­ ren An­fangs­zei­le, viel­leicht für eine Ru­brik, mit drei voll­stän­di­gen Nok­tur­nen), Lau­des (fol. 46v), Prim (fol. 58), Terz (fol. 64), Sext (fol. 68v), Non (fol. 72v), Ves­p er (fol. 77), Komplet (fol. 84). fol. 89: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 101v) mit nor­man­ni­schen Hei­li­gen: an zwei­ter Stel­le der Be­ken­ner Lau­dus, also Saint Lô von Co­utances, der im Ka­len­der (21. oder 22. Sep­ tem­ber) fehlt; Rom­anus und Au­doenus (Ouen) von Rouen. fol. 106v: Horen von Hei­lig Kreuz (fol. 106v) und Hei­lig Geist (fol. 110v). fol. 114v: To­ten­of ­fi­zi­um, für den Ge­brauch von Pa­ris: Ves­per (fol. 114v), Matutin (fol. 122v, ru­bri­ziert), Lau­des (fol. 145). fol. 157: Fran­zö­si­sche Ge­be­te: Lez xv ioies nostre dame: Doulce dame (fol. 157); Lez v plaies nostre sei­gneur: Doulz die­ux (fol. 162v). fol. 165: Texten­de. fol. 165-166v leer. Schrift und Schrift­de­kor Im Schrift­de­kor herrscht das in Pa­ris üb­li­che Sy­stem von Tex­tura mit gelb la­vier­ten Ver­ sa­li­en, ein­zei­li­gen In­itia­len und Zei­len­fül­lern im Flä­chen­de­kor zu den Psal­men­ver­sen, die am Zei­len­be­ginn ein­set­zen. Die Schrift ist auf der Höhe der Zeit; beim Flä­chen­de­kor sor­gen die har­ten Grenz­li­ni­en, die auch meist et­was wei­ter aus­grei­fen, durch Ein­buch­ tun­gen für eine ge­wis­se Dy­na­mik. Un­ge­wohnt ist der Um­stand, daß ein­fa­che Text­sei­ten ganz ohne Bor­dü­ren aus­kom­men, wäh­rend bei den bei­den dreiz­ei­li­gen und den vie­len zu den Psal­men­an­fän­gen ge­ord­ne­ten zweiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len Bor­dü­ren­strei­fen in der Höhe des Text­spie­gels au­ßen und dazu noch auf Recto nach links aus­strah­len­ des Dorn­blatt hin­zu­kom­men. Der Ran­ken­schmuck auf den äu­ße­ren Rand­strei­fen ist dann recht locker, rich­tet sich nicht strikt nach den Rand­li­ni­en des Text­spie­gels, son­ dern strahlt von ei­nem Punkt etwa auf der Mit­te des Text­spie­gels je­weils in zwei ge­gen­ läu­fi­gen Spi­ra­len nach au­ßen aus. Wäh­rend sol­cher Dorn­blatt­de­kor recht locker wirkt, wer­den die­sel­ben Ele­men­te auf den Bild­sei­ten sehr dicht in Spi­ra­len ge­führt, die auf die Sche­ma­tik spä­te­rer bre­to­ni­scher Hand­schrif­ten hin­füh­ren. Auf­fäl­lig ist die Be­schrän­ kung auf die Far­ben des Il­lu­mi­na­tors: Blü­ten sind tra­di­ti­ons­ge­mäß nur blau und rot ge­ färbt; ova­le grü­ne Blätt­chen mit spitzi­gen Kon­tu­ren kom­men hin­zu, die im Wech­sel mit Dorn­blatt Spi­ra­len bil­den. Zur Her­vor­he­bung von Mari­en-Matutin und Buß­psal­men die­nen Paa­re bun­ter Akanthus­blät­ter, vor­wie­gend in we­nig mo­del­lier­tem Rot und Blau. Nur auf die­sen bei­den Sei­ten wer­den auch die un­ter den In­cipits von der Zier­lei­ste aus­ ge­spar­ten Räu­me mit Ran­ken­werk aus Dorn­blatt ge­füllt.

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Die Bil­der fol. 23: Zum Ma­rien­of ­fi­zi­um der üb­li­che Bild­zy­klus in schlich­ten Bil­dern, die das Per­ so­nal auf das Nö­tig­ste be­schrän­ken. Mit Aus­nah­me des Weih­nachts­bil­des wird auf Ar­ chi­tek­tur weit­ge­hend ver­zich­tet. Hin­ter­grün­de er­schei­nen nach weit­ge­hend de­ko­ra­ti­ven Ge­sichts­p unk­ten in groß­formi­gen Ka­ro­mu­stern mit Gold, best­irntem Blau, bei Heim­ su­chung, Hir­ten­ver­kün­di­gung und Flucht nach Ägyp­ten aber auch als zum Bo­gen­ab­ schluß dunk­ler wer­den­der Him­mel, mit sil­ber­nen Wol­ken durch­zo­gen. Die gro­ßen, we­ nig mo­del­lier­ten Fa­rb­flä­chen vor al­lem von Blau, vier Rot­tö­nen, dar­un­ter ein auf­fäl­lig hel­les Zin­no­ber, so­wie grau­em Vio­lett und auch gern für Ge­wän­der ein­ge­setz­tem Grün be­stim­men den Ein­druck. Die Ma­rien­ver­kün­di­gung zur Matutin (fol. 23) vor Ka­ro­mu­ster über­zeugt in ih­rer kar­ gen Bild­spra­che: Auf ei­ner Wie­se steht in der Mit­te die sil­ber­ne Li­lien­va­se. Links ist Ga­bri­el ins Knie ge­sun­ken, in Zin­no­ber ge­klei­det mit in­nen wei­ßen, au­ßen blau­en Flü­ geln. Mit ge­kreuz­ten Ar­men und aus­ge­streck­tem rech­ten Zei­ge­fin­ger spricht der Erz­en­ gel das Ave aus, das auf ei­nem weit nach oben schwin­gen­den Spruch­band steht. Ma­ria, die un­ter ei­nem kar­min­ro­ten Bal­da­chin ihr Ge­bet­buch ge­le­sen hat­te, hebt bei­de Hän­de und wen­det sich sacht um, wäh­rend durch den Bo­gen des Schrift­ban­des aus ei­nem dun­ kel­blau­en Him­mels­seg­ment, das einst sil­bern leuch­te­te, die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes auf sie her­ab­schwebt. Vor steil nach rechts zum Him­mel an­stei­gen­den Fels­klip­pen mit ver­ein­zel­ten Bäum­chen sind bei der Heim­su­chung zu den Lau­des (fol. 46v) die gro­ßen Flä­chen von Blau und Zin­ no­ber ge­stellt, die Ma­ria und Eli­sa­beth ein­hül­len und von den wei­ßen Hau­ben gleich­sam bekrönt wer­den. Die Jung­frau ist von links ge­kom­men; die Grei­sin sinkt ins Knie, bei­de su­chen ein­an­der mit den Hän­den. Beim Weih­nachts­bild zur Prim (fol. 58) wird der säu­ber­li­che Stall von Beth­le­hem zum In­te­rieur mit glat­ten Wän­den und in­tak­tem Dach ge­zeigt; durch eine drei­ecki­ge Luke fal­len Strah­len von ei­nem der Ster­ne, die den blau­en Grund mu­stern. Über ei­nen Flecht­ zaun blicken Ochs und Esel; eine Krip­pe gibt es nicht. Den nack­ten Kna­ben auf dem kar­min­ro­ten Bett be­tet Ma­ria al­lein an, wäh­rend der grei­se Jo­seph mit sei­nem Geh­stock im Lehn­stuhl rechts vorn da­sitzt, als hal­te er ein Selbst­ge­spräch. Bei der Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 64) grenzt ein sil­ber­ner Bach die Wie­se vorn von ei­nem ge­gen den Him­mel auf­stei­gen­den Hü­gel ab. Zwi­schen zwei Grup­pen von Scha­fen sitzt links ein Hir­te und spielt Flö­te, wäh­rend ein zwei­ter rechts, auf sei­nen Stab ge­stützt, sich zum En­gel wen­det, der im Bo­gen­schei­tel ein we­nig nach links ver­scho­ben mit dem glo­ria auf ei­nem Spruch­band er­scheint. Bei der An­be­tung der Kö­ni­ge zur Sext (fol. 68v) ist auf die Dar­stel­lung des Stalls ver­ zich­tet. Un­ter ei­nem ro­ten Bal­da­chin vor mit Ster­nen ge­mu­ster­tem Blau sitzt Ma­ria auf ei­ner höl­zer­nen Ki­ste, die Füße auf kar­min­ro­tem Kis­sen. Sie hält das nack­te Kind, das die Arme nach dem Gold­ka­sten des in Zin­no­ber ge­klei­de­ten Kö­nigs aus­streckt; zu ihm

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schaut auch der in Vio­lett ge­wan­de­te mitt­le­re so­wie der jüng­ste Kö­nig, der eine mo­disch grü­ne Robe courte trägt. Vor das Ka­ro­mu­ster ist bei der Dar­brin­gung im Tem­pel zur Non (fol. 72v) der Al­tar schräg ge­stellt: Von links ist die mit Nim­bus ge­kenn­zeich­ne­te Magd mit drei Tau­ben im Korb und ei­ner Ker­ze hin­ter Ma­ria hin­zu­ge­tre­ten. Die Jung­frau hält ihr Wickel­kind noch fest im Arm, wäh­rend der grei­se Simeon bei­de blo­ßen Hän­de nach ihm aus­streckt. Land­schaft un­ter Him­mel mit Sil­ber­wol­ken er­hält bei der Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­ per (fol. 77) be­son­de­re Auf­merk­sam­keit; mit Gras­nar­be be­setz­te Fel­sen stei­gen nach rechts auf und ver­stär­ken die Be­we­gung, in der Jo­seph vor­aus­geht, nicht ohne sich nach Ma­ria um­zu­schau­en, die – sehr viel klei­ner als der Zieh­va­ter – auf dem Esel sitzt und das Wickel­kind im Arm hat. Statt ei­ner an die­ser Stel­le üb­li­chen Ma­rien­krö­nung wird Ma­ria auf Chri­sti Thron zur Komplet (fol. 84) ge­zeigt. Vor Ka­ro­mu­ster und brei­tem ro­ten Bro­kat, der den Thron be­deckt, ha­ben bei­de bar­häup­tig Platz ge­nom­men. Ma­ria wen­det sich be­tend ins Pro­fil, wäh­rend Chri­stus mit ei­ner gol­de­nen Spha­ira, die kein Kreuz bekrönt, in der Lin­ken die Mut­ter­got­tes seg­net. fol. 89: Da­vid in der Buße zu den Buß­psal­men be­setzt die Mit­te der Land­schaft, wie er nach links ge­wen­det aus ei­ner Gru­be steigt, die Har­fe links ne­ben sich. In blau­em Ge­ wand und mit Her­me­lin ge­füt­ter­tem ro­ten Man­tel, die Kro­ne auf dem Haupt, blickt er in die Höhe. Über dem ro­sa­far­be­nen Mu­ster­grund mit Gold­ran­ken er­scheint oben Gott vor Gold­grund, in ei­nem blau­en Him­mels­seg­ment von Se­ra­phim um­ge­ben; da er eben­ falls die Mit­tel­ach­se be­setzt, und nach rechts schaut, tref­fen sich die Blicke nicht. fol. 106v: Zu den Horen von Hei­lig Kreuz ist die Kreu­zi­gung (fol. 106v) vor tex­ti­lem Mu­ster­grund auf ei­nen schma­len Land­schafts­strei­fen mit dem Ge­kreu­zig­ten zwi­schen Ma­ria und Jo­han­nes be­schränkt. Das Pfingst­wun­der zu den Horen von Hei­lig Geist (fol. 110v) do­mi­niert Ma­ria als Ver­ kör­pe­rung der Kir­che, auf ei­nem Thron, von Jo­han­nes und Pe­trus links und den an­de­ ren Apo­steln um­ge­ben. Dies­mal ist der Mu­ster­grund in Alt­ro­sa wirk­lich als Tuch ver­ stan­den, des­sen Hal­te­rung ge­gen das tie­fe Blau im Ab­schluß­bo­gen ab­ge­setzt ist; dort er­scheint die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes mit Gold­strah­len; doch sind die Flämm­chen, von de­nen die Apo­stel­ge­schich­te spricht, nicht ge­zeigt. fol. 114v: Beim To­ ten­ of ­fi­ zi­ um wird der mit ro­tem Kreuz ge­zeich­ne­te schwar­ze Ka­ta­falk vor ro­sa­far­be­nem Mu­ster­grund auf dem grü­nen Bo­den schräg ge­stellt; ihn um­ste­hen zwei Prie­ster am Sing­pult links und zwei Pleurants rechts. fol. 157: Zu den Fünf­zehn Freu­den Mariae zeigt sich die thro­nen­de Ma­don­na mit dem in ein ro­tes Hemd­chen ge­klei­de­ten Je­sus­kna­ben auf ei­nem Falt­stuhl un­ter ei­nem gro­ßen ro­ten Bal­da­chin mit gol­de­nen Fle­urs-de-lis.

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fol. 162v: Zu den Fünf Wun­den des Herrn wird die Auf­er­ste­hung der To­ten durch ei­nen Mann und eine Frau ver­kör­pert, die nackt zwi­schen Fel­sen un­ten be­ten. Als Wel­ten­rich­ ter er­scheint oben der Schmer­zens­mann in ro­sa­far­be­nem Man­tel mit den Fü­ßen auf ei­ nem er­sten Re­gen­bo­gen und dann auch ei­nem zwei­ten Re­gen­bo­gen thro­nend und seg­ net. Im Bo­gen­schei­tel über ihm leuch­tet gol­den gött­li­ches Licht, das Strah­len aus­sen­det. Zum Stil: Die­ses Stun­den­buch steht in be­ster Tra­di­ti­on des Boucicaut-Stils; ihm sind die wich­tig­ sten Vor­la­gen ver­dankt. Am ein­drucks­voll­sten wird das bei Da­vids Buße deut­lich, wo die Ein­fü­gung der Haupt­fi­gur in die Land­schaft und die gro­ße Got­tes­er­schei­nung im Bo­gen­ab­schluß eine in­ter­es­san­te Aus­ein­an­der­set­zung mit ein­schlä­gig be­rühm­ten Fas­ sun­gen des Boucicaut-Mei­sters selbst (so im na­men­ge­ben­den Stun­den­buch) bie­tet. Durch­weg zeugt die­se Hand­schrift aber von ei­nem Ma­ler ei­ge­ner Sta­tur, den man am ein­fach­sten an sei­ner Nei­gung zu Fi­gu­ren im Pro­fil, am prä­gnan­te­sten an bär­ti­gen Grei­ sen er­ken­nen kann. In der Zeich­nung prä­zi­se, im Ko­lo­rit auf gro­ße kla­re Fa­rb­flä­chen aus­ge­rich­tet, er­reicht die­ser Künst­ler vor al­lem in der Land­schaft un­ter mit Wol­ken durch­zo­ge­nem Him­mel über­zeu­gen­de Wir­kun­gen. Mill­ard Meiss hat­te ihn von ei­nem pracht­vol­len Stun­den­buch in Chan­tilly, Ms. 64, aus be­stimmt, das die Wap­pen des Her­ zogs von Guise trägt, in sei­ner Haupt­mi­nia­tur, ei­ner bril­lan­ten Ver­kün­di­gungs­sze­ne aber von an­de­rer Hand ist. Schon aus die­sem Grund war die Be­zeich­nung un­glück­lich. Ga­brie­le Bartz hat sie des­halb zu Recht durch eine hi­sto­risch an­ge­mes­se­ne er­setzt: Fast ganz ei­gen­hän­dig hat der Künst­ler ein Stun­den­buch für Guy XIV de Laval aus­ge­malt, das von uns in die Samm­lung Re­na­te Kö­nig ge­langt ist (de­po­niert im Erz­bi­schöf­li­chen Mu­se­um Kolumba, Köln). So spre­chen wir nun von ei­nem Mei­ster des Guy de Laval, wie er von Ga­brie­le Bartz in un­se­rem Ka­ta­log Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter, Neue Fol­ge III, 2000, Nr. 6 und kurz dar­auf in ei­nem spä­ter auch als Mo­no­gra­phie er­schie­ne­nen Bei­trag zu Nr. 8 der Köl­ner Aus­ stel­lung von 2001 um­ris­sen wur­de – auf die Druck­le­gung der Dis­ser­ta­ti­on, die sich mit dem Künst­ler aus­ein­an­der­setzt, wird noch ge­war­tet. Die­ser Buch­ma­ler ge­hört zu den ent­schei­den­den Kräf­ten, die in Pa­ris aus­ge­bil­det wur­den und dann of­fen­bar in Zei­ten der po­li­ti­schen Wir­ren die Haupt­stadt ver­lie­ßen, um ent­we­der in der Um­ge­bung des Da­uph­ins Karl, der bis 1429 als „Kö­nig von Bour­ges“ ver­spot­tet war, oder in West­frank­ reich neue Auf­trag­ge­ber zu su­chen. Zu de­nen ge­hör­te der dem Da­up­hin die­nen­de Guy de Laval, des­sen wich­tig­ste Be­sitz­tü­mer im Grenz­ge­biet zur Bre­ta­gne la­gen. Un­ser Stun­den­buch wird noch in Pa­ris ent­stan­den sein, auch wenn sich der Weg nach We­sten in Ele­men­ten wie der ho­hen Po­si­ti­on von Saint Lô in der Li­ta­nei an­deu­tet. Ein be­mer­kens­wer­tes voll­stän­dig er­hal­te­nes Stun­den­buch aus der Stil­tra­di­ti­on des Boucicaut-Mei­sters von ei­nem ei­gen­stän­di­gen Buch­ma­ler aus­ge­malt, den man schon län­ger un­ter dem ir­re­füh­ren­den Na­men Guise-Mei­ster kennt und der durch neue­re

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For­schun­gen als Mei­ster des Guy de Laval zu­neh­mend Ge­stalt ge­winnt. In sei­nem Œuvre ge­hört die­ses Ma­nu­skript zu den frü­he­sten Bei­spie­len. In den Kom­po­si­tio­nen noch eng den Pa­ri­ser Wur­zeln ver­pflich­tet, hat sich der per­sön­li­che Stil des Künst­ lers be­reits klar er­kenn­bar aus­ge­prägt. Wer­ke sei­ner Hand sind rar; doch zeigt sich schon durch den hier prä­sen­tier­ten neu­en Fund, wie For­schung und An­ti­qua­ri­at ein­ an­der er­gän­zen kön­nen. LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert. Zum Ma­ler sie­he Bartz 2017.

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8 Ein Stun­den­buch aus der un­mit­tel­ba­ren Boucicaut-Nach­fol­ge


8 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken in Rot, mit ei­nem Ka­len­ der in Schwarz und Rot, ge­schrie­ben in Tex­tura. Pa­ris, um 1415-20: Nach­fol­ger des Boucicaut-Mei­sters 14 gro­ße Mi­nia­tu­ren mit fla­chem Rund­bo­gen­ab­schluß in Dop­pel­stab ge­rahmt, über fünf Zei­len In­cipit mit vierz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len, mit drei­sei­ti­ger Dorn­blatt-Zier­lei­sten, aus de­ren En­den sich dich­te Voll­bor­dü­ren mit gol­de­nem Dorn­blatt­de­kor so­wie ro­ten und blau­en Blü­ten ent­wickeln; eine vierz­ei­li­ge In­itia­le ohne Bild (fol. 177) in Blau auf ro­tem Grund; alle Text­sei­ten mit Dop­pel­stab au­ßen und drei­sei­ti­ger Dorn­blatt­bor­dü­re, die in Ver­bin­dung mit zweiz­ei­li­gen In­itia­len auf Recto-Sei­ten ei­nen Strei­fen zum Falz er­hält, also zur Voll­bor­dü­re wird. Zweiz­ei­li­ge Dorn­blatt-In­itia­len zu den Psal­men­an­fän­gen, ein­zei­ li­ge In­itia­len zu den Psal­men­ver­sen in Gold auf ro­ten und blau­en Flä­chen mit wei­ßem Li­ni­ en­de­kor, Zei­len­fül­ler in glei­cher Art. Gel­be Lavie­rung der Ver­sa­li­en kaum noch sicht­bar. 180 Blatt Per­ga­ment, dazu vor­ne ein flie­gen­des und hin­ten drei flie­gen­de Vor­sät­ze aus al­tem Per­ga­ment, die al­ten Ein­band­deckel als Doub­lu­re. Ge­bun­den vor­wie­gend in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die er­ste Ka­len­der­la­ge 1 (12) so­wie die La­gen 2 (4) mit den Per­ik­ open, 5 (8-1, End­blatt ohne Text­ver­lust ent­fernt), 6 (8-1, er­stes Blatt ohne Text­ver­lust ent­fernt), Lage 11 (6) am Ende des Ma­rien­of­fi­zi­ums, Lage 17 (8-1, letz­tes Blatt ohne Text­ver­lust ent­ fernt), Lage 18 (8-1, er­stes Blatt ohne Text­ver­lust ent­fernt), Lage 20 (2+1) und die letz­te Lage 24 (4); mo­dern Blei­stift­fo­li­ie­rung rechts un­ten. Ok­tav (185 x 135 mm; Text­spie­gel: 100 x 60 mm). Rot reg­liert zu 15, im Ka­len­der zu 17 Zei­len; zwei Ar­ten ho­ri­zon­ta­ler Reklam­an­ten. Sehr schön und breit­ran­dig er­hal­ten; trotz ei­ni­ger un­re­gel­mä­ßi­ger La­gen voll­stän­dig, auf dem text­lo­sen Blatt fol. 18/v vor dem Be­ginn des Ma­rien­of­fi­zi­ums sind Naht­lö­cher zu er­ken­nen: Rück­stän­de ein­ge­näh­ter Pil­ger­ab­zei­chen. Mo­dern ge­bun­den in al­ten grü­nen Samt, die Deckel des al­ten brau­nen Le­der­ein­ban­des aus dem 16. Jahr­hun­dert mit ge­stem­pel­ten und ver­gol­de­ten Me­dail­lons als Doub­lu­ren vor­ne und hin­ten; eine zen­tra­le Schlie­ße. Pro­ve­ni­enz: Ein­trag auf Vor­satz hin­ten: „ach­eté de M Lenfumé le 9, 9bre 1809 a vellefrie“. Da­vor: „Sémi­na­ire de Lang­res“. Spä­ter P. Berès, Cat. 66 (1974), Nr. 6: frs. 180.000,-. Seit­ her eu­ro­päi­scher Pri­vat­be­sitz. Der Text: fol. 1: Ka­len­der fol. 13: Per­ik­open: Jo­han­nes (fol. 13), Lu­kas (fol. 14), Mat­thä­us (fol. 15v) und Mar­kus (fol. 17). fol. 18/v: leer.

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fol. 19: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Pa­ris, mit drei voll­stän­di­gen Nok­tu­ren zur Mari­en-Lau­des: Matutin (fol. 19), Lau­des (fol. 44), Prim (fol. 55), Terz (fol. 61), Sext (fol. 65v), Non (fol. 70), Ves­p er (fol. 74), Komplet (fol. 80v). fol. 87: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 100) mit Pa­ri­ser Hei­li­gen. fol. 106: Horen von Hei­lig Kreuz (fol. 106) und Hei­lig Geist (fol. 113v). fol. 119v: To­ten­of ­fi­zi­um, für den Ge­brauch von Pa­ris: Ves­p er (ru­bri­ziert „ad ves­per­as mortuo­rum“, fol. 119v), Matutin (fol. 127, von ei­ner Ru­brik ein­ge­lei­tet), Lau­des nicht mar­kiert. fol. 165: Fran­zö­si­sches Ma­rien­ge­bet: Doulce dame de miseri­corde, ge­folgt von dem fran­ zö­si­schen Her­ren­ge­bet: Doulz dieu (fol. 170v). fol. 173v: Ma­rien­ge­be­te: Ob­secro te (fol. 173v), re­di­giert für ei­nen Mann; O in­teme­rata (fol. 177), re­di­giert für ei­nen Mann. Schrift und Schrift­de­kor: Mit der sorg­fäl­ti­gen Tex­tura und den we­sent­li­chen Grund­zü­gen sei­nes Lay­outs ent­ spricht die­ses Stun­den­buch weit­ge­hend Hand­schrif­ten des Boucicaut-Mei­sters wie un­ se­rer Nr. 6. Hier wie dort wer­den alle Text­sei­ten mit Ran­ken­klam­mern aus Dop­pel­stä­ ben mit aus­strah­len­dem Dorn­blatt ge­rahmt; da­bei sprie­ßen auf Recto-Sei­ten aus den zweiz­ei­li­gen In­itia­len Dorn­blatt-Aus­läu­fer. Nicht scharf zu be­stim­men ist, ob in­di­vi­du­el­le Un­ter­schie­de zwi­schen den ein­zel­nen Wer­ken ei­ner kon­ti­nu­ier­li­chen Ent­wick­lung der Buch­kunst, per­sön­li­cher Ei­gen­art der aus­füh­ren­den Hän­de oder gar Spie­le­rei­en der Be­tei­lig­ten ver­dankt wer­den. So bleibt es beim Text­de­kor die­ser Hand­schrift beim glei­chen Grund­be­stand mit dem rein gol­de­nen Blatt­werk an ein­fa­chen Tin­ten­li­ni­en und den nur mit dem Rot und Blau des Il­lu­mi­na­tors ge­stal­te­ten or­na­men­ta­len Blü­ten. Doch wan­delt sich der Cha­rak­ter die Ran­ken­klam­ mern: Wäh­rend die Zier­lei­sten in Nr. 6 im­mer wie­der an den En­den streng sti­li­sier­ te grö­ße­re Blät­ter aus­bil­den kön­nen und da­mit eine ge­wis­se Do­mi­nanz ge­gen­über den re­la­tiv schwa­chen waa­ge­rech­ten Ran­ken er­hal­ten, wer­den sie in dem hier vor­lie­gen­den Ma­nu­skript zu ein­fa­chen Stä­ben re­du­ziert, wäh­rend das Ran­ken­werk die von der Reg­ lierung vor­ge­ge­be­nen Flä­chen ganz aus­füllt. Die Ent­wick­lung führt von aus­strah­len­den Ran­ken zu tep­pich­hafter Wir­kung; daß man hier die­sen Weg ent­schie­de­ner be­schrei­ tet, wird am deut­lich­sten an der Ten­denz sicht­bar, die Aus­läu­fer der In­itia­len auf RectoSei­ten zum An­laß zu neh­men, die Rän­der ganz aus­zu­fül­len und da­mit zu vier­sei­ti­gen Voll­bor­dü­ren zu ge­lan­gen. Auf den Bild­sei­ten bleibt es beim Dorn­blatt; die fort­schritt­li­chere De­ko­ra­ti­ons­art der mit den Far­ben des Buch­ma­lers ge­stal­te­ten Akanthus­blät­ter und Blu­men ge­hör­te ent­we­der nicht zum Re­per­toire oder paß­te nicht zum kon­ser­va­ti­ven Auf­trag. Dorn­blatt do­mi­niert bei den Zier­lei­sten; an­ders als in den Stun­den­bü­chern vom Maza­rine- und BoucicautMei­ster wird un­ter dem Text­be­ginn kein noch an Bas-de-page er­in­nern­der Raum frei­

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ge­las­sen; zu Ei­gen­art des Il­lu­mi­na­tors ge­hö­ren zu­dem die asym­me­trisch und ab­rupt in den Rand­strei­fen en­den­den Stücke von dicken Zier­lei­sten. Bei den Mi­nia­tu­ren hat sich ein fla­cher Rund­bo­gen­ab­schluß durch­ge­setzt; dem äl­te­ren Brauch, die Bil­der recht­wink­ lig zu be­las­sen, folgt noch die Mi­nia­tur zur Mari­en-Non. Die Bil­der: Wie ge­wohnt er­öff­net das Ma­rien­of ­fi­zi­um mit der Ver­kün­di­gung an Ma­ria (fol. 19). Die Mut­ter­got­tes kniet un­ter ei­nem gro­ßen Bal­da­chin; ein grü­nes Tuch an ei­ner Stan­ge da­ ne­ben ist so zu­rück­ge­schla­gen, als sol­le es den Blick auf die be­ten­de Ma­ria aus­nahms­ wei­se ge­stat­ten und da­mit die In­ti­mi­tät der Ver­kün­di­gung in Ma­ri­as Kam­mer be­to­nen, die sich erst et­was spä­ter als po­pu­lä­res Bild­the­ma durch­set­zen wird. Der Bal­da­chin wird spä­ter Teil ih­res Bet­tes sein; in Nr. 7 dien­ten die nur an Tü­chern be­fe­stig­ten Stan­gen zur Ab­gren­zung ei­nes Al­tars; in un­se­rer Nr. 10 ist er hin­ge­gen Ma­ri­as Stuhl; hier aber nimmt er eine Zwi­schen­stel­lung ein: Ma­ria hat sich von ih­rem Falt­stuhl er­ho­ben, um vor ei­nem Al­tar kniend in ih­rem Buch zu le­sen. Der von links hin­zu­tre­ten­de En­gel ist be­reits in die Knie ge­sun­ken und ver­kün­det mit zum Ge­bet ge­fal­te­ten Hän­den die Bot­ schaft, über ihm in der Bil­decke Gott­va­ter als Halb­fi­gur, der bei­de Hän­de er­hebt und den Hei­li­gen Geist aus­sen­det, hier nur in Form von Strah­len, nicht aber in der Ge­stalt der Tau­be. Das aus Gold mit Rot und Blau zu­sam­men­ge­setz­te Ka­ro­mu­ster des Fonds wirkt, als rich­te es sich in sei­ner Nei­gung nach der Got­tes­er­schei­nung. In den Sta­tio­nen des Ma­ri­en­le­bens folgt auf die Ver­kün­di­gung das Zu­sam­men­tref­fen Mari­ens mit ih­rer schwan­ge­ren Base Eli­sa­beth. Dazu muß die Got­tes­mut­ter den be­ schwer­li­chen Weg übers Ge­bir­ge an­tre­ten. Zwar kann­te man in der Pa­ri­ser Buch­ma­le­ rei zu die­ser Zeit be­reits Land­schaf­ten un­ter blau­em Him­mel, doch un­ser Ma­ler zeigt sei­ne Heim­su­chung (fol. 44) auf ei­ner ein­fa­chen Wie­se vor Mu­ster­grund. Eli­sa­beth links wirkt, als sei sie die Rei­sen­de. In ei­nem wei­ßen Beu­tel trägt sie ein Buch, wäh­rend sie zu­ gleich nach Ma­ri­as Hän­den greift. Ele­gant nei­gen sich bei­de Frau­en ein­an­der zu. Statt kräf­ti­gen Rots be­vor­zugt die­ser Ma­ler ein leuch­ten­des Oran­ge­rot, das ne­ben dem tie­fen Blau des Man­tels zu den Aus­zeich­nungs­far­ben Mari­ens ge­hört. Eli­sa­beth hin­ge­gen trägt über Kar­min­rot Rosa und eine wei­ße Hau­be, die viel Flä­che be­an­sprucht Zur Prim wird die Ge­burt Chri­sti auf fol. 55 ge­zeigt. Auf ei­nem gro­ßen Bett, das die ge­sam­te Bild­brei­te ein­nimmt und zur Gän­ze von dem Stall­dach über­fan­gen wird, hat sich Ma­ria mit ver­hüll­tem Haupt nie­der­ge­las­sen. Mit auf­ge­stütz­tem Arm schaut sie auf den nack­ten Kna­ben, den sie nackt in den lee­ren Ka­sten der Krip­pe ge­legt hat, über die Ochs und Esel auf den Neu­ge­bo­re­nen schau­en. Die­se Art der Dar­stel­lung, die das Kind in der Krip­pe vor der Mut­ter mit Kind im Arm be­vor­zugt, ist aus der by­zan­ti­ni­schen Iko­nen­ma­le­rei, aber auch der ita­lie­ni­schen Ma­le­rei des Tre­cento be­kannt; in Frank­reich fin­det man die­se Bild­lö­sung eher sel­ten. Jo­seph hat auf ei­nem klei­nen Flecht­stuhl links Platz ge­nom­men; als klei­ne Pro­fil­fi­gur ist er mit Vio­lett und Oran­ge­rot nur As­si­stenz in die­sem Bild.

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Die Hir­ten­ver­kün­di­gung auf fol. 61 zur Terz fin­det eben­falls auf ei­ner Wie­se vor ei­nen ei­gen­tüm­lich aus dem Gleich­ge­wicht ver­rutsch­ten Mu­ster­grund statt, wo­bei die blau­ en und ro­ten Rau­ten, die sich mit Gold ab­wech­seln, hier mit wei­ßen fleur-de-lis ver­ziert sind, wie wir sie schon beim Maza­rine-Mei­ster in Nr. 5 ge­se­hen ha­ben. Ei­ner häu­fig ein­ ge­setz­ten Bild­vor­la­ge des Boucicaut-Mei­sters fol­gen die zwei Hir­ten. Be­glei­tet von zwei wei­den­den Scha­fen und ei­nem Hir­ten­hund, wen­den sie dem Be­trach­ter den Rücken zu und blicken auf zu der himm­li­schen Er­schei­nung: ein rot ge­flü­gel­ter En­gel er­scheint am obe­ren Bild­band und stimmt das Glo­ria in ex­celsis deo et in (terra pax) an. Für die An­be­tung der Kö­ni­ge (fol. 65v) hat Ma­ria un­ter ei­nem blau­en Bal­da­chin Platz ge­nom­men, den nack­ten Sohn auf ih­rem Schoß. Der äl­te­ste Kö­nig, in oran­ge­ro­tem Ge­ wand, ist vor dem Got­tes­sohn auf die Knie ge­gan­gen, um ihm sein Ge­schenk dar­zu­rei­ chen. Der mitt­le­re und der jüng­ste Kö­nig, hier in kur­zem Rock, ha­ben sich hin­ter ihm ein­an­der zu­ge­wandt. Bei­de sind bart­los; noch mit den Kro­nen auf dem Haupt war­ten sie dar­auf, dem Chri­stus­kind ihre Ge­schen­ke über­ge­ben zu kön­nen. In ei­nem Wech­sel von Blau, Oran­ge­rot und Rosa ent­wickelt der Ma­ler eine leuch­ten­de Fa­rb­fol­ge, die span­ nungs­reich mit dem ge­mu­ster­ten Fond kon­tra­stiert. Zur Non wird wie üb­lich die Dar­brin­gung im Tem­pel auf fol. 70 ge­zeigt. Es ist die ein­ zi­ge Mi­nia­tur im Buch, die kei­nen fla­chen Rund­bo­gen­ab­schluß be­sitzt son­dern ein qua­ dra­ti­sches Bild­feld ein­nimmt. Ein gro­ßer, von rechts schräg in den Bild­raum ra­gen­der Al­tar­tisch ge­nügt, um den Tem­pel an­zu­deu­ten. Ma­ria ist von links mit ei­ner Be­glei­te­ rin an den Al­tar­tisch ge­tre­ten, um das Wickel­kind zu über­ge­ben, der Prie­ster Simeon neigt sich von rechts über den Al­tar, um es mit ver­hüll­ten Hän­den ent­ge­gen­zu­neh­men. Daß die ab­wei­chen­den Maße des Bild­fel­des den Künst­ler hier ir­ri­tiert ha­ben, zeigt sich in der Art, wie der wei­ße Hut des Ho­he­prie­sters weit über den gol­de­nen Rah­men der Mi­nia­tur ragt. Die Flucht nach Ägyp­ten auf fol. 74 ist eine be­son­ders kraft­vol­le Mi­nia­tur, die sich fast ganz aus dem dy­na­misch be­weg­ten Jo­seph ent­wickelt, der nichts mehr mit dem Greis im Ge­burts­bild ge­mein hat, wie er nach rechts schrei­tend den Esel führt und da­bei mit Knie und Stock so­gar den Bild­rand über­schnei­det. Auch mit den Fü­ßen durch­bricht er eben­so wie der Esel die Bild­gren­zen – ein in der zeit­ge­nös­si­schen Buch­ma­le­rei sel­te­nes Phä­no­men. Jo­seph packt das Tier bei der Mäh­ne, in­dem er sich zu Ma­ria um­wen­det, die in ih­ren blau­en Man­tel ge­hüllt das Wickel­kind eng an die Brust drückt. Die zwei wun­ der­bar ein­an­der zu­ge­neig­ten Fi­gu­ren be­stim­men den Bild­raum, der hier fast et­was zu eng wirkt. Der Esel hin­ge­gen ist recht klein, zu­dem nur in Ver­satz­stücken prä­sent – mit nur je ei­nem Vor­der- und ei­nem Hin­ter­bein. Zur Komplet wird die Ma­rien­krö­nung (fol. 80v) ge­zeigt. Chri­stus thront hier in der lin­ ken Bild­hälf­te, also ei­gent­lich auf der he­ral­disch bes­se­ren Sei­te, ob­wohl die Kon­ven­ti­on eine Be­we­gung in Le­se­rich­tung be­vor­zugt, die Ma­ria von links auf den Thron zu­kom­men läßt. Un­ter ei­nem ro­ten Bal­da­chin ist der ge­krön­te Got­tes­sohn mit Wel­ten­ku­gel ei­nem Kö­nig gleich, mit der Rech­ten seg­net er Ma­ria, die noch vor ih­rem Holz­thron kniend ver­weilt. De­mü­tig fügt sie die Hän­de zum Ge­bet, wäh­rend über ihr ein klei­ner En­gel

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er­scheint, um ihr von oben die Kro­ne auf das Haupt zu set­zen. Daß die­se Sze­ne ei­gent­ lich in himm­li­schen Sphä­ren spielt, hat der Ma­ler nicht wei­ter be­ach­tet; wie auch die üb­ri­gen Bil­der fin­det das Ge­sche­hen auf ei­ner Wie­se vor klein­tei­li­gem Ka­ro­mu­ster statt. Un­ser Stun­den­buch stammt aus ei­ner Zeit, in der Da­vids Buße be­reits zum be­lieb­ten Bild­the­ma der Er­öff­nungs­mi­nia­tur zu den Buß­psal­men wur­de. Auf fol. 87 kniet der Kö­ nig als ein­drucks­voll gro­ße Pro­fil­fi­gur in oran­ge­ro­tem Ge­wand und dem blau­en ge­schlitz­ ten Man­tel ei­nes Kö­nigs in der fel­si­gen Ein­öde, vor Mu­ster­grund. An sei­nem Gür­tel hängt eine Geld­bör­se, sei­ne Har­fe ist bei­sei­te ge­legt; er trägt aber die Kro­ne. Nach rechts wen­det er sich mit of­fe­nen Hän­den zur klei­nen Halb­fi­gur Gott­va­ters, der am Him­mel den Sün­der zu ru­fen scheint. Die Horen von Hei­lig Kreuz und Hei­lig Geist wer­den von den üb­li­chen Bil­dern er­öff­net: In der wie ge­wohnt drei­fig­uri­gen Kreu­zi­gung (fol. 106) ist eine un­ge­wohn­te Span­nung ent­wickelt. Chri­stus wirkt ge­ra­de­zu zier­lich, wie er mit weit auf­ge­spann­ten Ar­men leb­ los am Kreuz be­fe­stigt ist. Wäh­rend die Got­tes­mut­ter sich ganz in ih­ren blau­en Man­ tel ge­hüllt hat und fast schwe­re­los ver­harrt, hat sich der blon­de Jo­han­nes in ra­san­tem Schwung ins Pro­fil ge­dreht, um fas­sungs­los auf­zu­blicken. Selt­sam kör­per­los wir­ken die zier­li­chen Fi­gu­ren, al­lein durch die Dy­na­mik ih­rer Ge­wän­der be­wegt. Ganz im Ge­gen­satz dazu steht das Pfingst­bild zu den Horen von Hei­lig Geist auf fol. 113v. Fast rie­sen­haft sitzt Ma­ria in ih­rem lan­gen blau­en Man­tel in der Bild­mit­te, um­ge­ben von nur sechs Apo­steln, die sich um sie ins Bild drän­gen, ohne voll­stän­dig hin­ein zu pas­ sen. Die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes fehlt; statt des­sen sind die Fi­gu­ren ins Ge­spräch ver­tieft ein­an­der zu­ge­wandt. Al­lein der weiß­haa­ri­ge Bär­ti­ge links, der von sei­nem Buch auf­schaut und die Hand auf die Brust legt, scheint et­was vom himm­li­schen Ge­sche­hen zu wis­sen. Ei­gent­lich wür­de man hier Pe­trus als iden­ti­fi­zier­ba­ren Apo­stel er­war­ten; dem wi­der­spricht je­doch der be­son­ders lan­ge Bart. Wer von den jun­gen Ge­stal­ten der sonst gern her­vor­ge­ho­be­ne Jo­han­nes sein soll, läßt sich nicht klar ent­schei­den. Die To­ten-Ves­p er wird ein­ge­lei­tet durch ein Bild vom To­ ten­ of ­fi­ zi­ um ( fol. 119v). Statt in ei­nem Kir­chen­raum liegt der mit ei­nem blau­en Tuch ver­hüll­te Ka­ta­falk auf ei­ner Wie­se, vor ei­nem Grund aus schräg ver­lau­fen­den Rau­ten; doch ist kein Ri­tus auf dem Fried­hof ge­meint. Hin­ter ei­nem lan­gen höl­zer­nen Ge­stühl, das zum Kir­chen­in­te­rieur ge­hört, sen­ ken zwei in Schwarz ge­klei­de­te Pleurants die Köp­fe, wäh­rend ein drit­ter sein Ge­sicht in die Bild­tie­fe ge­wen­det hat. Links an ei­nem mit Grau­vio­lett ver­hüll­ten Pult ste­hen zwei Kle­ri­ker, um aus dem Chor­buch zu sin­gen. Das für Pa­ri­ser Stun­den­bü­cher ty­pi­sche Ma­rien­ge­bet Doulce dame lei­tet die thro­nen­de Ma­ria mit Kind auf fol. 165 ein. Auf ei­nem höl­zer­nen Falt­stuhl, ein gol­de­nes Kis­sen un­ ter den Fü­ßen, sitzt die ele­gant ge­streck­te Got­tes­mut­ter. Ihr nack­tes Kindl­ein be­deckt sie

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mit ei­nem wei­ßen Tuch und neigt den Kopf da­bei sacht zu Sei­te, als wol­le sie den Blick wen­den und auf et­was schau­en, dem links au­ßer­halb des Bil­des auch die Auf­merk­sam­ keit des Kin­des gilt. Das fol­gen­de Her­ren­ge­bet er­öff­net der Wel­ten­rich­ter (fol. 170v), der auf ei­nem Re­gen­ bo­gen thront, mit den Fü­ßen auf ei­ner Welt­ku­gel, die auf uns sonst un­be­kann­te Art von zwei klei­nen En­geln mit bun­ten Flü­geln ge­hal­ten wird. Auf ei­ner Wie­se vor Mu­ster­ grund steht der Re­gen­bo­gen des wie­der­keh­ren­den Got­tes­soh­nes, des­sen Er­schei­nung mit den Wund­ma­len an die bei Mat­thä­us be­schrie­be­ne zwei­te Wie­der­kehr er­in­nern soll. Die Rech­te hat er zum Se­gen er­ho­ben und ge­gen die zen­tral­per­spek­ti­vi­sche An­la­ge der Kom­po­si­ti­on blickt er nach rechts aus dem Bild, als wol­le auch er ei­nen Au­ßen­ste­hen­ den auf der Sei­te ge­gen­über mah­nen. Zum Stil: Von den Kom­po­si­tio­nen, dem Ko­lo­rit und dem Buch­de­kor her ge­hört die­ses Stun­den­ buch eben­so wie un­se­re Nr. 7 vom Mei­ster des Guy de Laval ins Um­feld des BoucicautStils. Es steht dem Boucicaut-Mei­ster nä­her als dem Maza­rine-Mei­ster, wie ein Ver­gleich mit un­se­ren Nrn. 5 und 6 zeigt. Die tra­di­tio­nel­le Aus­rich­tung des Schrift­de­kors, die Be­ schrän­kung auf Sze­nen vor Mu­ster­grund, in de­nen Mö­bel­stücke In­te­rieurs an­deu­ten, die Land­schaft hin­ge­gen selbst bei der Hir­ten­ver­kün­di­gung und der Flucht nach Ägyp­ten auf ein­fa­che Wie­sen­strei­fen be­schränkt ist, läßt den Zeit­punkt ei­ni­ger­ma­ßen be­stim­ men, an dem der Ma­ler die­ses Ma­nu­skripts im Boucicaut-Kreis ge­lernt ha­ben dürf­te: Das dürf­te noch im er­sten Jahr­zehnt nach 1400 ge­we­sen sein, spä­te­stens um 1410. Wann dann ge­nau un­ser Buch ent­stan­den ist, läßt sich nur schwer be­stim­men. Ein ver­ wand­ter Stil taucht in ei­nem da­tier­ten Ma­nu­skript auf, dem Stun­den­buch des Jean de Gin­ gins (Lau­sanne, Ar­chi­ves Can­to­na­les Vaudoises, Ar­chi­ves du Châ­teau de la Sarraz, H 50). Dort liest man auf fol. 193: „Ces heu­res sont à Je­han de Gin­gins sei­gneur Divonne et ca­pitaine sur gens d’ar­mes pour le roy nostre sire et furent fa­ites a la rue neu­ffve de nostre dame par ja­quet lescuyer l’an mil CCCCXXI “. Wie schon Hahn­lo­ser 1972 ge­zeigt hat, stammt der Buch­schmuck dort im we­sent­li­chen aus der Bed­ford-Werk­statt. Doch set­ zen sich vom Bed­ford-Stil ei­ni­ge Mi­nia­tu­ren wie die mo­tiv­isch nicht ganz frem­de Dar­ stel­lung des Wel­ten­rich­ters zu Doulz Dieu ab (fol. 374v: Kö­nig 2007, Abb. S. 66). Viel­ leicht deu­tet sich hier eine Wei­ter­ent­wick­lung des Ma­lers an, der sich dann noch stär­ker vom Boucicaut-Stil weg ei­ner zeich­ne­ri­schen Ar­beits­wei­se ver­schrie­ben hät­te. Auf alle Fäl­le rückt durch die frü­he Zeit­stel­lung des Gin­gins-Stun­den­buchs un­ser hier be­ schrie­be­nes Ma­nu­skript eher in das zwei­te Jahr­zehnt des 15. Jahr­hun­derts. Ein voll­stän­dig er­hal­te­nes Pa­ri­ser Stun­den­buch aus dem zwei­ten Jahr­zehnt des 15. Jahr­hun­derts, das be­reits we­sent­li­che Neue­run­gen, die der Boucicaut-Stil spä­te­ stens um 1410 ent­wickelt hat­te, ver­wirk­licht, da­bei aber eine Ten­denz ver­tritt, die der Tra­di­ti­on treu bleibt. Ein ein­drucks­vol­les Werk ei­nes noch un­ge­nü­gend de­fi­nier­

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ten Künst­lers, in des­sen Ar­beits­wei­se zeich­ne­ri­sche Ele­men­te stär­ker zu Tage tre­ten, selbst in der Mo­del­lie­rung der Schat­ten. Mu­ster­gül­tig kann die­ses Ma­nu­skript für das Pa­ri­ser Stun­den­buch um 1415 ste­hen, wie es für eine Käu­fer­schaft vor­ge­hal­ten wur­de, der es auf schlich­te No­bles­se an­kam. Da­bei darf die Kost­bar­keit des Gol­des nicht un­ter­schätzt wer­den, das für die üp­pi­ge Aus­stat­tung des Rand­sch­mucks al­ler Text­sei­ten und für die Must­er­grün­de der Bil­der ein­ge­setzt wur­de. LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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9 Der Mei­ster des Lon­do­ner Alex­an­der aus Pa­ris in ei­nem Stun­den­buch für Rouen aus der Werk­statt des Tal­bot-Mei­sters


9 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Rouen. La­tei­ni­sche und fran­zö­si­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, mit Ru­bri­ken in Rot und ei­nem fran­zö­si­schen Ka­len­der in Schwarz und Rot, ge­schrie­ben in Tex­tura. Rouen, um 1425: Mei­ster des Lon­do­ner Alex­an­der (bzw. des Har­vard Han­ni­bal) und Tal­bot-Mei­ster Vier­zehn gro­ße Mi­nia­tu­ren mit fla­chem Bo­gen­ab­schluß, über vier Zei­len Text mit vierz­ ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len, sel­te­ner über drei Zei­len Text mit dreiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­ itia­len, in Voll­bor­dü­ren mit drei­sei­ti­ger Zier­lei­ste, bei Mari­en-Matutin mit vier Halb­ fi­gu­ren in den Ecken und ei­nem Blu­men­topf in der Mit­te au­ßen, sonst mit schma­le­ren Zier­lei­sten in Dorn­blatt oder Flä­chen­de­kor und Dorn­blatt­bor­dü­ren mit Blu­men und Akanthus in den Ecken und der Mit­te au­ßen. Die bei­den Ma­rien­ge­be­te mit fünfz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len, ei­nem Dop­pel­stab au­ßen und ei­ner Ran­ken­klam­mer aus Dorn­blatt von links. Zwölf vierz­ei­li­ge In­itia­len (für die Horen von Hei­lig Kreuz und Hei­lig Geist und den Be­ginn von Quiconque veult) so­wie die zweiz­ei­li­gen In­itia­len zu den Psal­men­an­fän­gen als Gold­buch­sta­ben auf ro­ten und blau­en Flä­chen mit ei­nem Strei­fen Dorn­blatt­bor­dü­re links; ein­zei­li­ge In­itia­len zu den Psal­men­ver­sen am Zei­len­be­ginn und Zei­len­fül­ler in glei­cher Art. Ver­sa­li­en gelb la­viert 160 Blatt Per­ga­ment, ein Blatt Pa­pier vorn, zwei hin­ten als flie­gen­de Vor­sät­ze. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (12) so­wie die La­gen 3 (8-2: zwei lee­re Blät­ter ent­fernt), 6 (6) und 11 (2). Re­gel­mä­ßig Reklam­an­ten aus je­weils we­ni­gen Buch­ sta­ben in der­sel­ben Schrift wie der Text, durch­weg ge­tilgt. Groß-Ok­tav (205 x 145 mm; Text­spie­gel: 111 x 75 mm). Rot reg­liert zu 14, im Ka­len­der zu 17 Zei­len.; der Ka­len­der mit ex­trem ho­hem un­te­ren Rand: 65 mm. Voll­stän­dig, breit­ran­dig und ohne Be­nut­zungs­spu­ren er­hal­ten. Oliv­grü­ner Ma­ro­quin­band des 18. Jahr­hun­derts, auf fünf sicht­ba­re Bünde, die Deckel mit ei­ ner flora­len Dent­el­le in Gold­prä­gung, der Rücken ohne Ti­tel mit Feu­er­rä­dern und Eck­blü­ten; die In­nen­sei­ten mit Mar­mor­pa­pier, das vor­de­re flie­gen­de Vor­satz grob ab­ge­ris­sen. Pro­ve­ni­enz: Lou­is Mich­ault, ein Pa­ri­ser Samm­ler der er­sten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts (sie­he un­se­ren Ka­ta­log Horae B. M. V., Nrn. 14, 64, 103.1, 116); des­sen ge­druck­tes Mo­no­gramm LM mit ei­nem Pa­piers­childchen im Vor­der­deckel, dar­un­ter in Tin­te mit 3 nu­me­riert. Text fol. 1: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, nur we­ni­ge Tage be­setzt, in Schwarz, Fe­ste und Gol­de­ne Zahl in Rot, Sonn­tags­buch­sta­ben A in gol­de­nen In­itia­len auf Rot und Blau, Sonn­tags­buch­sta­ben b-g schwarz; rö­mi­sche Ta­ges­zäh­lung ab­wech­selnd schwarz und rot. Hei­li­gen­aus­wahl für Rouen: mit Fest des hei­li­gen Martial (2.7.), Trans­latio des

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hei­li­gen Ouen (5.5.), Urs­in 12.6, Evod (8.7. Bi­schof von Rouen), Rom­anus (9.8. und als Fest am 23.10.). fol. 13: Per­ik­open, ab­wei­chend vom Brauch be­gin­nend mit Lu­kas (fol. 13), Mat­thä­ us (fol. 14v), Mar­kus (fol. 16 mit fal­scher Ru­brik: sec­undum mat­heum). und Jo­han­nes (fol. 16v, als Suff­ragium, mit zu­sätz­li­chem End­ge­bet Eccle­si­am tuam, wie es im Pa­ri­ser Mari­en-Of ­fi­zi­um als Schluß­ge­bet der mei­sten Stun­den ver­wen­det wird). Die­se ex­trem sel­ten zu find­en­de Ab­fol­ge hat of­fen­bar zum Ziel, den Be­ginn des Jo­han­nes-Evan­ge­li­ ums am Ende als gül­ti­ge Leh­re hin­zu­stel­len, die sich aus der Er­zäh­lung von Ver­kün­di­ gung, Epipha­nie und Letz­ten Wor­ten des Herrn er­ge­ben soll. Der Ru­brika­tor konn­te dem of­fen­bar nicht ganz fol­gen. fol. 18v: Ma­rien­ge­be­te, für ei­nen Mann re­di­giert: Ob­secro (fol. 18v), O in­teme­rata für Ma­ ria und Jo­han­nes (fol. 21v). fol. 25v-26v leer. fol. 27: Ma­ rien­ of ­fi­ zi­ um für den Ge­brauch von Rouen, mit ein­ge­schal­te­ten Suff­ragien nach den Lau­des: Mari­en-Matutin (fol. 27), Mari­en-Lau­des (fol. 37). Suff­ragien: Hei­lig Geist (fol. 47v), Hei­lig Kreuz (fol. 47v), Tri­ni­tät (fol. 48), Mi­cha­el (fol. 48v), Pe­trus (tat­säch­lich auch an Pau­lus ge­rich­tet, fol. 49), Ja­kob­us (fol. 49v), Jo­han­ nes der Evan­ge­list (fol. 50v), Rom­anus (fol. 50v), Lo­renz (fol. 51v), Ni­ko­laus (fol. 52), Anna (fol. 52v), Mag­da­le­na (fol. 53), Ka­tha­ri­na (fol. 53v), Clarus (fol. 54), Se­ba­sti­an (fol. 54v), Bla­si­us (fol. 55), Quint­inus (fol. 55v), Alle Hei­li­gen (fol. 56). Mari­en-Prim (fol. 57), Terz (fol. 62), Sext (fol. 65v), Non (fol. 69), Ves­per (fol. 72v), Komplet (fol. 77v). fol. 83: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 93v); der sehr rei­che Be­stand auch mit nor­man­ni­ schen Hei­li­gen: Au­doenus (Ouen), Rom­anus, Wand­rigisilus. fol. 100: Horen von Hei­lig Kreuz (fol. 100), Kreuz-Prim (fol. 101v) und Hei­lig Geist (fol. 107). Fol. 113v: Fran­zö­si­sche Ge­be­te: Doulce dame (fol. 113v), Quiconque veult (fol. 118), als Ein­ lei­tung zu Doulx die­ux (fol. 118v); fol. 120/v leer. fol. 121: To­ ten­ of ­fi­ zi­ um, für den Ge­brauch von Rouen: Ves­per (fol. 114v), Matutin (fol. 128v, ru­bri­ziert), Lau­des (fol. 150, nicht mar­kiert). fol. 160v: Texten­de. Schrift und Schrift­de­kor Das Buch ist mit schwar­zer Tin­te und leuch­tend ro­ten Ru­bri­ken in ei­ner groß­formi­gen Tex­tura ge­schrie­ben. Die Flä­chen-In­itia­len mit gol­de­nen Let­tern auf Blau und Rot sind le­ben­dig kon­tu­riert, oft schwung ­voll und leicht kur­vig um­ran­det. Text­bor­dü­ren sind durch­weg als Strei­fen mit paar­wei­se um eine senk­rech­te Mit­tel­li­nie ge­ord­ne­tem Dorn­ blatt ge­stal­tet; sie tre­ten zwar nur als Her­vor­he­bung von zweiz­ei­li­gen oder vierz­ei­li­gen

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In­itia­len auf, sind aber nicht or­ga­nisch mit ih­nen ver­bun­den. Ein mit der In­itia­le durch eine ein­fa­che Tin­ten­li­nie ver­bun­de­ner gol­de­ner Punkt links ne­ben dem Buch­sta­ben dient als Ur­sprung. Das rein gol­de­ne Dorn­blatt bil­det stark ver­ein­fach­te zacki­ge For­men aus und wech­selt oft mit schma­len ova­len Blätt­chen ab, die mit Schwarz ge­zackt sind; oft en­ den die ge­ra­den Ran­ken in ei­ner mit dem Rot oder Blau des Il­lu­mi­na­tors ge­färb­ten Blü­te. Her­vor­ge­ho­ben wer­den die bei­den la­tei­ni­schen Ma­rien­ge­be­te durch fünfz­ei­li­ge Dorn­ blatt-In­itia­len und eine Ran­ken­klam­mer von links, die von ei­nem Dop­pel­stab aus­geht. Zier­lei­sten auf den Bild­sei­ten sind in un­ge­ord­ne­tem Wech­sel ent­we­der im Flä­chen­de­kor oder mit Dorn­blatt ge­stal­tet. Ohne hier­ar­chi­sche Staf­fe­lung kann die Lei­ste zum Falz hin auch als schlich­ter Dop­pel­stab er­schei­nen. Un­ter dem In­cipit wird je­weils eine Zei­ len­hö­he aus­ge­spart, die hin und wie­der mit Dorn­blatt ge­füllt wird. Das Ran­ken­werk be­schränkt sich zum Falz hin auf aus­strah­len­de Ein­zel­for­men; nach un­ten und au­ßen ent­wickelt Dorn­blatt eng ge­zo­ge­ne Spi­ral­ran­ken, die in mit Buch­ma­ ler­far­ben ge­mal­ten Blü­ten en­den. Hart kon­tu­rier­ter Akanthus in kräf­ti­gem Rot, Blau und Grün be­stimmt mit sei­nen zacki­gen Blatt­for­men den Ge­samt­ein­druck. Da­ne­ben kom­men auch Blu­men und Erd­bee­ren als Eck­mo­ti­ve vor, je­weils stark ab­stra­hiert. Die ori­gi­nel­le Bor­dü­re zur Mari­en-Matutin ist von dem da­für her­an­ge­zo­ge­nen Pa­ri­ser Bil­ dermaler ge­stal­tet und setzt sich des­halb ent­schie­den von den an­de­ren Bor­dü­ren auf Bild­sei­ten ab. Die Bil­der fol. 13: In Rouen sa­hen Schrei­ber zu den Per­ik­open meist nur eine Mi­nia­tur vor, die in der Re­gel mit vier Bil­dern al­ler Evan­ge­li­sten ge­füllt wur­den. Hier er­scheint hin­ge­gen Lu­ kas (fol. 13); er thront mit sei­nem Schreib­pult vor Ka­ro­mu­ster; der Stier ver­steckt sich ge­ra­de­zu un­ter dem Sitz; auf das Schrift­band blickend schärft der Bär­ti­ge sei­ne Fe­der. ­fi­zi­um ist mit dem ver­trau­ten Zy­klus ge­schmückt. fol. 27: Das Ma­rien­of Die Ein­gangs­mi­nia­tur wur­de mit be­son­de­rer Sorg­falt und un­ge­wohn­tem Auf­wand ge­ stal­tet: Vier Pro­phe­ten, die als Halb­fi­gu­ren aus dun­kel­blau­en Wol­ken­bän­dern auf­tau­ chen, mit lee­ren Spruch­bän­dern, um­ge­ben in den Ecken von Zier­lei­ste und Bor­dü­re die Ma­rien­ver­kün­di­gung zur Mari­en-Matutin (fol. 27): Ma­ria steht links ne­ben ih­rem Bet­ pult un­ter ei­nem Bal­da­chin, von rechts kommt der En­gel, kniet mit dem ave gra(cia) ple­ na nie­der, wäh­rend über ihm oben aus dem Mund des Va­ters die Tau­be auf gol­de­nen Strah­len her­ab­kommt und ge­ra­de in Ma­ri­as Nim­bus ein­dringt. Der kost­ba­re Ka­ro­grund aus Blatt­gold mit Blau und Rot, der hin­ter Lu­kas und der Ver­ kün­di­gungs­sze­ne ein­ge­setzt ist, kehrt als recht klei­ne Him­mels­flä­che noch in der Heim­ su­chung und spä­ter der Kreu­zi­gung wie­der. Sonst aber steht best­irntes Blau ent­we­der über Land­schaft oder über tex­til ge­mu­ster­tem Alt­ro­sa, un­ab­hän­gig da­von, ob eine Sze­ ne im Frei­en oder in ei­nem In­nen­raum spielt.

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Die Heim­su­chung zu den Lau­des (fol. 37) spielt vor ei­ner ab­strakt schräg nach links und rechts oben an­stei­gen­den Land­schaft, Ma­ria links steht links, Eli­sa­beth ist von rechts ge­ kom­men und sinkt in die Knie, zur Jung­frau auf­schau­end. Fa­rb­har­mo­nie ent­steht durch den Um­stand, daß bei­de Frau­en in den Klei­der­far­ben tau­schen: Ihre in­nen weiß aus­ge­ schla­ge­nen Män­tel sind bei Ma­ria blau, bei Eli­sa­beth hin­ge­gen ge­nau­so vio­lett wie Ma­ ri­as Kleid, wäh­rend die äl­te­re Frau Ma­ri­as Blau als Kleid trägt. Die An­be­tung des Kin­des zur Prim (fol. 57) spielt im bild­par­al­lel ge­stell­ten Stall, der in per­fek­tem Zu­stand mit vier sil­ber­nen Fen­stern und ei­nem in­tak­ten Dach ge­zeigt wird. In ei­ner zen­tra­len Öff­nung zum best­irnten Blau zeigt sich hin­ten die Halb­fi­gur ei­nes En­ gels. Vorn links be­ten Ma­ria und hin­ter ihr Jo­seph kniend das seg­nen­de nack­te Je­sus­kind an, das auf dem blan­ken Est­rich liegt und Strah­len aus­sen­det. Die Köp­fe von Ochs und Esel flan­kie­ren ein ei­gen­tüm­lich an­stei­gen­des Stück Land­schaft, das ins In­ne­re ver­setzt ist. Vorn rechts tau­chen über ei­nem Flecht­zaun zwei Köp­fe auf, wohl Hir­ten. In ei­ner steil nach oben an­stei­gen­den Hü­gel­land­schaft fin­det die Ver­kün­di­gung an die Hir­ten zur Terz (fol. 62) statt: Un­ten schläft ein Hir­te; die Mit­te be­setzt ein schwar­zer Hund. Links ste­hen zwei wei­te­re Hir­ten, von de­nen der jün­ge­re zum En­gel auf­schaut, der an­de­re aber zu ei­nem Du­del­sack­blä­ser, der rechts am Bo­den hockt, auch er von ei­ nem jün­ge­ren be­glei­tet, der wohl die Hand zur En­gels­bot­schaft er­hebt. Oxid­iert ist das Sil­ber, in dem zwei Land­schafts­p ar­ti­en hin­ten ein­mal glänz­ten. Die Kö­nigs­an­be­tung zur Sext (fol. 65v) folgt ver­trau­ten Mu­stern aus dem Boucicaut-Stil: Der Stall ist auf ei­nen Drei­ecks­gie­bel nach rechts aus­ge­rich­tet; dar­un­ter sitzt Ma­ria auf ih­rem ro­ten Bett, dies­mal vor ei­nem sil­bern ver­gla­sten Fen­ster, also ei­nem Okulus, wie er eher in ei­nen Sa­kral­bau paßt. Das nack­te Kind sitzt ele­gant auf ih­ren Ar­men und faßt ohne gro­ße Neu­gier nach dem Kelch, den der äl­te­ste Kö­nig kniend dar­reicht, wäh­rend die bei­den jün­ge­ren, noch mit den Kro­nen auf den Häup­tern und mo­di­scher ge­klei­det, mit­ein­an­der spre­chen. Die ganz auf flä­chi­ge Wir­kung aus­ge­rich­te­te Kunst des Buch­ma­lers sorgt bei der Dar­ brin­gung im Tem­pel zur Non (fol. 69) für eine dop­pelt pa­ra­do­xe Wir­kung: Der rote Fond un­ter dem Him­mels­seg­ment wirkt wie eine mit Tuch aus­ge­klei­de­te Rund­ni­sche, der Al­ tar hin­ge­gen wie eine über Eck ste­hen­des Ge­stell aus schma­len Wän­den, die mit wei­ßem Tuch ver­hängt sind. Wo ei­gent­lich die Tisch­plat­te sein müß­te, steht der Prie­ster Simeon wie in ei­ner Schach­tel. Mit sei­ner Mi­tra auf dem gro­ßen Kopf wirkt er wie eine Halb­fi­ gur, die in den Pro­por­tio­nen gar nicht zu den von links ein­tre­ten­den weib­li­chen Fi­gu­ren paßt. Da be­glei­tet die hei­li­ge Magd mit dem Tau­ben­körb­chen und der Ker­ze die Jung­ frau Ma­ria mit dem in grau­grü­nes Tuch ge­wickel­ten Kind. Die Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 72v) folgt er­neut ei­nem Bild­mu­ster, das wohl aus dem Boucicaut-Kreis stammt, wie un­se­re vo­ri­gen Num­mern zei­gen. Auf ei­nem getreppten stei­ni­gen Weg, der nach rechts an­steigt, schrei­tet Jo­seph mit dem Esel, der wie in Nr. 8 ei­nen sehr klei­nen Kopf hat. Der Zieh­va­ter blickt zu Ma­ria zu­rück, die ihr Kind wie­der in Grau­grün ge­wickelt hat. Nicht nur die Land­schaft, son­dern auch die in kon­

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zen­tri­schen Bö­gen an­ge­ord­ne­ten Ster­ne im Blau des Fonds um­rah­men die Mut­ter­got­ tes; be­son­ders ei­gen­ar­tig wir­ken da­bei zwei sie flan­kie­ren­de Zwei­ge. Im Hin­ter­grund ist ein Land­schaft­steil mit Grau von den be­grün­ten Fels­stu­fen ab­ge­setzt. Bei der Ma­rien­krö­nung zur Komplet (fol. 77v) dient eine ein­fa­che Stein­ki­ste auf ei­ner Wie­se als Got­tes Thron: Da­vor kniet die Mut­ter­got­tes und be­tet zur Ge­stalt ih­res Soh­ nes. Wie in der Heim­su­chung zu den Lau­des sind die Ge­wand­far­ben der bei­den ge­ tauscht: Blau ist Ma­ri­as Man­tel und Chri­sti Ge­wand, mit Pin­sel­gold hin­ge­gen glänzt ihr Ge­wand und sein Man­tel. Ein En­gel über­quert das wie­der als Halb­rund ge­ge­be­ne Eh­ren­tuch un­ter dem best­irnten Blau. fol. 83: Da­vids Buße er­öff­net die Buß­psal­men in ei­ner Va­ri­an­te zu Vor­ga­ben aus dem Boucicaut-Kreis, wie sie auch der Mei­ster des Guy de Laval (un­se­re Nr.7) nutz­te. In Rouen schätz­te man Rosa als Ge­wan­dung Da­vids. Der Kö­nig mit Kro­ne und Schul­ ter­pan­zern, eine wei­ße Bin­de um den Bauch, taucht aus der Tie­fe auf und wen­det sich mit of­fe­nen Hän­den zu Gott, der im Wol­ken­kranz er­scheint. Dies­mal ist das best­irnte Blau durch be­wölk­ten Him­mel er­setzt, der Ton in Ton ge­malt ist und zum Ho­ri­zont leicht auf­hellt. Noch ent­schie­de­ner als sonst stei­gen die Klip­pen der Land­schaft in stei­ len Schrä­gen von der Mit­te nach au­ßen. fol. 100: Die Kreu­zi­gung zu den Horen von Hei­lig Kreuz (fol. 100) ist auch in die­sem Stun­den­buch auf drei Ge­stal­ten be­schränkt: Vor ei­nem glatt ge­zo­ge­nen best­irnten Tuch, des­sen Bor­te ex­akt un­ter dem Quer­bal­ken an­setzt, ste­hen Ma­ria und Jo­han­nes, die Köp­ fe leicht über die fer­nen Hü­gel er­ho­ben. Über dem Kreuz­bal­ken brei­tet sich dann noch ein­mal ein aus­ge­sucht schö­nes Ka­ro­mu­ster. Of­fen­bar irr­tüm­lich wird zur Kreuz-Prim (fol. 101v) die Hir­ten­ver­kün­di­gung, nun mit zwei Hir­ten wie­der­holt; das Schrift­band mit dem Glo­ria läßt kei­nen Zwei­fel dar­an, was der Ma­ler hier ge­meint hat. Der Irr­tum mag sich dar­aus er­klä­ren, daß man in Rouen ge­ wohnt war, die Horen ins Mari­en-Of ­fi­zi­um ein­zu­schal­ten. Zu den Horen von Hei­lig Geist ge­hört das Pfingst­wun­der (fol. 107): Eine klei­ne Tau­ be in ro­ter Gloriole sen­det Gold­strah­len vor dem tief­blau­en Fond, ein ro­tes Eh­ren­tuch spannt sich als Bo­gen. In der Mit­te thront die Jung­frau Ma­ria, er­höht, nicht als Ma­tro­ ne ge­kenn­zeich­net, in der Apo­stel­schar, im Vor­der­grund her­vor­ge­ho­ben links der grei­se Pe­trus, rechts der ju­gend­li­che Jo­han­nes. fol. 113v: Zum Doulce dame (fol. 113v) die Pi­età mit dem to­ten Chri­stus auf Ma­ri­as Schoß, des­sen win­zi­ge Ge­stalt an die be­rühm­te For­mu­lie­rung in den Gran­des Heu­res de Rohan, latin 9471 der BnF, den­ken läßt, vor dem kur­vig ge­spann­ten Eh­ren­tuch des Pfingst­bil­des, nun un­ter best­irntem Blau. fol. 121: Vor ähn­li­chem Fond, auf grü­ner Wie­se steht zum To­ ten­ of ­fi­ zi­ um der Ka­ta­falk mit wei­ßen Kreuz, das Tuch dun­kel­blau und bestirnt, links vier Prie­ster am Sän­ger­pult,

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rechts sche­ma­tisch, aber ein­drucks­voll an­ge­ord­net fünf Pleurants, de­ren Pro­fi­le un­ter den Ka­pu­zen zu se­hen sind, da­hin­ter vier, von de­nen nur die Stirn her­vor­schaut, vor drei schwar­zen Kopf ­ka­lot­ten. Zum Stil: Wie schon durch sei­ne li­tur­gi­sche Aus­rich­tung auf Rouen in den Of ­fi­zi­en eben­so wie in der Hei­li­gen­aus­wahl von Ka­len­der, Suff­ragien und Li­ta­nei ver­tritt die­ses Stun­den­buch kei­nes­wegs Pa­ri­ser Brauch: Es ent­spricht mit dem ei­nen Bild zu den Per­ik­open, den nach Lau­des ein­ge­schal­te­ten Suff­ragien und den aus Pa­ris ent­lehn­ten fran­zö­si­schen Ge­be­ten am Schluß dem Stan­dard, der in Rouen im zwei­ten Vier­tel des 15. Jahr­hun­derts galt und den wir 2013 in Wie­der­se­hen mit Rouen an­hand von Hand­schrif­ten vom Mei­ster des Humphrey von Glouc­ester cha­rak­te­ri­siert ha­ben. Hier nun tritt uns stil­ver­wandt, aber wohl et­was äl­ter der Ma­ler ent­ge­gen, den man nach Ar­bei­ten für John of Tal­bot, Graf von Shrewsbury, nennt: Dazu ge­hö­ren zwei so­ge­nann­te Hol­ster Books, Stun­den­ bü­cher von ex­trem stei­lem For­mat, die in das Half­ter ei­nes Rei­ters paß­ten (Cam­bridge, Fit­zwilliam Mu­se­um, 40-1950 und 41-1950), so­wie das 1444/45 in Rouen ge­schaf­fe­ne Shrewsbury Book, eine mo­nu­men­ta­le Sam­mel­hand­schrift mit fran­zö­si­schen Tex­ten für Ma­rie d’An­jou, die Ge­mah­lin des eng­li­schen Kö­nigs Hen­ry VI (Roy­al 15 E VI der Bri­ tish Lib­rary: zu­letzt Aus­st-Kat. Lon­don 2011, Front­ispiz und Nr. 143). Die­ser Buch­ma­ ler hat in der Be­sat­zungs­zeit bis 1449 ein­drucks­vol­le Wer­ke für eng­li­sche Auf­trag­ge­ber ge­schaf­fen, nach der Be­frei­ung von Rouen aber auch das er­ste mo­nu­men­ta­le Ma­nu­skript il­lu­mi­niert, das dort für die Bi­blio­thek der Schöf­fen be­stimmt war: eine Sam­mel­hand­ schrift mit Tex­ten von Gilles de Rome, Ci­ce­ro und Al­ain Char­tier (Pa­ris, BnF, fr. 126: Avril und Reynaud 1993, Nr. 88). In dem be­son­ders rei­chen Stun­den­buch (Vat. lat. 14935), das in der Va­ti­ka­ni­schen Bi­ blio­thek lan­ge als Ms. York 1 ge­führt wur­de (Kö­nig und Bartz 1998, pas­sim), tritt die­ ser Ma­ler ne­ben ei­nem äl­te­ren Künst­ler auf, der eben­falls in Rouen für die Eng­län­der ge­ar­bei­tet hat und dann of­fen­bar mit John Fast­olf, den man als Fal­staff in Dra­ma und Oper kennt, nach Eng­land ge­gan­gen ist. Die­ser so­ge­nann­te Fast­olf-Mei­ster kann­te die Kunst von Maza­rine- und Boucicaut-Mei­ster aus Pa­ris; über sei­ne Ar­bei­ten er­klärt sich die Kennt­nis von Pa­ri­ser Vor­la­gen beim Tal­bot-Mei­ster. Um so er­staun­li­cher ist dann die ent­schie­de­ne Ab­strak­ti­on in des­sen Mi­nia­tu­ren, die je­doch auch poe­ti­sche Züge trägt, wie un­ser hin­rei­ßen­des Bild der Ver­kün­di­gung an die Hir­ten zeigt. Noch das gan­ze Feu­er der Grün­der­ge­ne­ra­ti­on der gro­ßen Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei des 15. Jahr­hun­derts lebt hin­ge­gen im Werk des über­ra­gen­den Künst­lers, der hier – viel­ leicht auf der Durch­rei­se, wenn nicht so­gar in Pa­ris selbst – die Pracht­sei­te mit der Ver­ kün­di­gung ge­stal­tet hat: Mill­ard Meiss (1974, S. 390-392 und pas­sim) nann­te ihn nach ei­ner Dar­stel­lung der Krö­nung Han­ni­bals im Teil­band ei­nes Tite-Live in der Hough­ton Lib­rary (Cam­bridge, Mass., Ms. Ri­chards­on 32, fol. 1: zu­letzt Aus­st.-Kat. Bo­ston 2016, Nr. 189). Von ihm schied Ca­therine Reynolds 1994 ei­nen Künst­ler, den sie nach dem Alex­an­der­ro­man Roy­al 20 B. XX der Bri­tish Lib­rary als Mei­ster des Lon­do­ner Alex

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­an­der be­zeich­ne­te (Fak­si­mi­le-Aus­ga­be Lu­zern 2014 mit Bei­trä­gen von Joan­na Fron­ska u. a.; ohne In­ter­es­se für Kunst­ge­schich­te). Wir kön­nen die Stil­un­ter­schie­de nicht recht nach­voll­zie­hen. Da aber Meiss mit sei­ner Be­zeich­nung nach der Krö­nung Han­ni­bals kei­nes­wegs den Kern des Stils trifft, sei hier Reynolds ge­folgt: Es han­delt sich um ei­nen her­aus­ra­gen­den Künst­ler, der in Pa­ris im Boucicaut-Kreis auf­ge­wach­sen ist und of­fen­bar auch in en­ge­rem Kon­takt mit den Brü­ dern Lim­burg, wohl in Bour­ges ge­stan­den hat (sie­he zu­letzt den Ein­trag von Chri­sti­ne Sei­del im All­ge­mei­nen Künst­ler-Le­xi­kon Bd. 88, 2015, S. 395-396). Ein fast ganz ei­gen­ hän­dig von ihm aus­ge­mal­tes, be­son­ders präch­tig und cha­rak­te­ri­stisch ge­hal­te­nes Stun­ den­buch ha­ben wir als Nr. 13 in Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter V, 1993, vor­ge­stellt. In ei­ner Dar­stel­lung zur Ent­wick­lung Pa­ri­ser Stun­den­bü­cher mag ein der­ar­tig für Rouen ein­ge­rich­te­tes Ma­nu­skript ir­ri­tie­ren. Es ist je­doch ei­ner­seits ge­eig­net, die von der Haupt­stadt in­iti­ier­te Ent­wick ­lung beim Tal­bot-Mei­ster zu ver­an­schau­li­chen. Zu­gleich ent­hält sie aber eine der be­sten Bild­sei­ten ei­nes in Pa­ris auf­ge­wach­se­nen Mei­sters, des­sen ho­hen Rang wir be­reits 1993 an­ge­sichts von Nr. 13 des Ka­ta­logs Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter V ge­wür­digt ha­ben. So er­weist sich die­ses Stun­den­buch als ein vor­züg­li­ches Werk aus der Zeit um 1425, das die fas­zi­nie­ren­de Wir­kung der Pa­ri­ser Kunst auf die Buch­ma­le­rei in der gar nicht so fer­nen Erz­bi­schofs­stadt der Nor­man­die vor Au­gen führt und zu­gleich eine der her­aus­ra­gen­den Ma­le­rei­en birgt, die dem Mei­ster des Har­vard Han­ni­bal, den wir wohl bes­ser Mei­ster des Lon­do­ner Alex­an­der nen­nen, ver­dankt wird. LI­T E­R A­T UR:

Das Ma­nu­skript ist bis­her nicht pu­bli­ziert.

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10 Ein Stun­den­buch vom Mei­ster der Mün­che­ner Leg­enda Au­rea, Con­rad von Toul, für den Ge­brauch von Sarum, im al­ten Ein­band


10 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Sarum. La­tei­ni­sche, fran­zö­si­sche und eng­li­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment, Ru­bri­ken in Rot, mit ei­ nem Ka­len­der in Blau und Rot, Fest­ta­ge in Gold, ge­schrie­ben in Tex­tura. Pa­ris, 1420er Jah­re: Mei­ster der Mün­che­ner Leg­enda Au­rea: Con­rad von Toul 14 gro­ße Mi­nia­tu­ren über vier Zei­len Text mit dreiz­ei­li­gen Dorn­blatt-In­itia­len, alle mit reich ge­schmück­ten Voll­bor­dü­ren, da­von sechs mit far­bi­gem Akanthus und Blu­men um Mit­tel­ach­sen ge­ord­net; acht hin­ge­gen mit drei­sei­ti­gen Dorn­blatt-Zier­lei­sten, die un­ter dem In­cipit eine mit Dorn­blatt ge­füll­te Zei­le frei­las­sen; auf die­sen acht Bild­sei­ten Dorn­ blatt­bor­dü­ren mit bun­tem Akanthus und Blu­men in den Ecken und der Mit­te au­ßen. Eine vierz­ei­li­ge, bei Psal­men­an­fän­gen zweiz­ei­li­ge Dorn­blatt-In­itia­len mit Dorn­blatt­bor­dü­ren in Höhe des Text­spie­gels links, aus den Buch­sta­ben aus­strah­lend. Ein­zei­li­ge In­itia­len zu den am Zei­len­be­ginn ein­set­zen­den Psal­men­ver­sen in Gold auf Flä­chen von Rot und Blau mit wei­ ßem Li­ni­en­de­kor, Zei­len­fül­ler in glei­cher Art. Ver­sa­li­en nicht far­big be­han­delt, aber mit Tin­ te ver­ziert. 259 Blatt Per­ga­ment, vor­ne und hin­ten je­weils ein flie­gen­des und ein fe­stes Vor­satz aus al­tem Per­ga­ment. Ge­bun­den in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend die Ka­len­der­la­ge 1 (12) so­ wie die Lage 15 (8-1, 1. Blatt fehlt, ohne Text­ver­lust), und die End­la­ge 33 (1); stel­len­wei­se Re­ ste an­ge­schnit­te­ner ho­ri­zon­ta­ler Reklam­an­ten. Ok­tav (195 x 140 mm, Text­spie­gel 97 x 60 mm). Rot reg­liert zu 16, im Ka­len­der zu 17 Zei­len. Blind­ge­präg­ter Kalb­le­der­band des 15. Jahr­hun­derts auf fünf ech­te Bünde, mo­dern ver­stärkt. Pro­ve­ni­enz: Das in Frank­reich ent­stan­de­ne Buch war schon we­gen des li­tur­gi­schen Ge­brauchs für Eng­län­der be­stimmt, und ist we­gen der Hin­zu­fü­gun­gen ab fol. 235 früh nach Eng­land ge­ langt. Bis auf die Be­to­nung des hei­li­gen Chri­stoph­orus im be­bil­der­ten Suff­ragium am Ende des Ma­rien­of­fi­zi­ums und die Be­to­nung des­sel­ben Hei­li­gen in den eng­li­schen Ge­be­ten, fol 238, kei­ne Hin­wei­se auf frü­he­re Be­sit­zer: Das Wap­pen, das in der In­itia­le zur Mari­en-Matutin vor­ge­se­hen war, blieb leer. Ein Be­sitz­wech­sel sorg­te da­für, daß For­meln im Mas­ku­li­num auf fol. 80v durch sol­che im Fe­ mi­ni­num er­gänzt wur­den. Auf fol. 259 in ei­ner Schrift des 17. Jahr­hun­derts: „John Burg­win“. Auf fol. 82v: „Iaco­bus O’moy­don“; auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te, fol. 83: „N.Mil­ward“. H. Y. Thompson Sale (?), Sot­heby’s, 1.6.1905, lot 803: £500,-. Quaritch, Ca­talogue of Wo­rks of Stan­dard Eng­lish Li­te­ra­ture, Lon­don 1907, Ap­pen­dix Nr. 112. Hen­ri Vever (1854-1942), der gro­ße Ju­we­lier und be­deu­ten­de Samm­ler.

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Der Text: fol. 1: Ka­len­der in la­tei­ni­scher Spra­che, mit Haupt­hei­li­gen aus Rouen und Eng­land, Gol­ de­ne Zahl in Rot, Sonn­tags­buch­sta­be A in Gold auf rot-blau­en Flä­chen, Sonn­tags­buch­ sta­ben b-g in Schwarz, Hei­li­gen­na­men in Braun, Fe­ste in Rot. Ok­tav des Tho­mas von Can­ter­bu­ry (5.1.), Baltil­dis re­gi­ne (30.1.), Os­waldi regis (29.2.), Eduu­ardi regis (19.3.), Cuth­berti (21.3.) Ric­ardi epi, als Fest (3.4)., Au­dibilis (in klei­ne­rer Schrift; viel­leicht ist Trans­latio Au­doeni in Rouen ge­meint: 5.3.), Dunst­ani epi als Fest (19.5.), Trans­latio des Tho­mas von Can­ter­bu­ry (7.7.), Ro­ma­ni (9.8.), Taurini (11.8.), Co­mmemo­ra­tio Au­doeni (Ouen: 25.8.), Co­mmemo­ra­tio Lud­ovici (26.8.), Trans­latio Cuth­berti (4.9.), Ev­odi, Erz­ bi­schof von Rouen (8.10.), Ro­ma­ni, Erz­bi­schof von Rouen als Fest (23.10.) mit Ok­tav (30.10.), Ed­mund, Erz­bi­schof von Can­ter­bu­ry, als Fest (16.11.), Ed­mundi regis (20.11.), Tho­mas von Can­ter­bu­ry als Fest (29.12.), Urs­ini am 30.12. Pe­ter und Paul so­wie die Co­ mmemo­ra­tio Pauli Ende Juni um As­sumptio Ma­rie (15.8.) erst spä­ter in Kur­si­ve nach­ ge­tra­gen. fol. 13: Per­ik­open: Jo­han­nes (fol. 13), Lu­kas (fol. 14v), Mat­thä­us (fol. 16) und Mar­kus (fol. 17v), Pas­si­on Chri­sti nach Jo­han­nes: Apprehendit pyla­tus… (fol. 18v). fol. 20v: nach­ge­tra­ge­nes Suff­ragium der Tri­ni­tät, die Zier­buch­sta­ben blie­ben leer. fol. 21: Ma­rien­of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Sarum: Matutin (fol. 21), Lau­des (fol. 30v); hier sind wie in vie­len nor­man­ni­schen Stun­den­bü­chern Suff­ragien ein­ge­schal­tet: Hei­lig Geist (fol. 40), Tri­ni­tät (fol. 40v), Hei­lig Kreuz (fol. 41), Mi­cha­el (41v), Jo­han­nes der Täu­ fer (fol. 41v), Pe­trus und Pau­lus (fol. 42), An­dre­as (fol. 42v), Steph­anus (fol. 43), Lau­ren­ti­us (fol. 43), Tho­mas von Can­ter­bu­ry (fol. 43v), Ni­ko­laus (fol.44) Mag­da­le­na (fol. 44), Ka­tha­ ri­na (fol. 44v), Mar­ga­re­ta (fol. 45), Al­ler­hei­li­gen (fol. 45v), Memo­ria pro pace: Da pacem domi­ne in die­bus nostris quia non est ali­us qui pugnet pro nobis nisi tu deus noster… (fol. 46), Hei­lig Kreuz (fol. 46), Mari­en-Prim (fol. 47), Terz (fol. 53), Sext (fol. 58), Non (fol. 62), Ves­ per (fol. 66v), Komplet (fol. 73); Suff­ragium des hei­li­gen Chri­stoph­orus (fol. 80); fol. 8284v leer. fol. 85: Buß­psal­men, mit Li­ta­nei (fol. 99), die Hei­li­gen­aus­wahl geht von ei­nem Pa­ri­ser For­mu­lar aus (mit Ger­vasius und Pro­thasius, Ge­ne­vefa usw.), nimmt dazu Rouenna­iser Hei­li­ge wie Au­doenus (fälsch­lich an­doene) so­wie sol­che aus dem fran­ko-flä­mi­schen und bur­gun­di­schen Raum wie Bavo, Lam­ber­tus, Adri­an­us, Vedas­t us, Phil­iber­tus, Co­lumb­ anus (ir­rig co­lumbe) und Wald­eber­tus von Lux­euil, Al­degun­dis und Wal­bur­gis und dazu dann eng­li­sche Hei­li­ge wie Tho­mas von Can­ter­bu­ry, Os­wald, Dunst­an, Bot­ulf, Mil­burga von Wen­lock. Ei­ni­ge Nen­nun­gen sind kaum ver­ständ­lich, viel­leicht dem Schrei­ber nicht ge­läu­fig und des­halb ir­rig. fol. 110: Ma­rien­ge­bet: Sal­ve virgo virginum stel­la matu­ti­na…, fol. 116v: O in­teme­rata, fol. 122v: Ave mundi spes ma­ria…, wei­te­re Ma­rien­ge­be­te. fol. 129v: Ge­be­te der Wun­den Chri­sti: Ad im­aginem domi­ni nostri: Om­ni­bus co­nsideratis par­adisus voluptatis es ihesu…

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fol. 140v: To­ ten­ of ­fi­ zi­ um, für den Ge­brauch von Sarum/Rouen: Ves­per (fol. 140v), Matutin (fol. 147v, mit ei­ner Ru­brik her­vor­ge­ho­ben), Lau­des (fol. 170v, mit ei­ner Ru­brik her­ vor­ge­ho­ben). fol. 214: Psal­ter des hei­li­gen Hie­ro­ny­mus: Verba mea auri­bus per­cipe. fol. 233v: Ver­se des hei­li­gen Bern­hard: Il­lu­mi­na ocu­los meos… Von ei­ner eng­li­schen Hand hin­zu­ge­füg­te Text­fol­ge: fol. 235:Ge­be­te in La­tein und Fran­zö­sisch: Gau­de virgo ma­ter chri­sti que per au­rem co­ncep­ isti…, Saint christ­ofle mon tresc­her sire… (fol. 238), Du­lce dame de miseri­corde…(fol. 239), fran­zö­si­sche Über­set­zung des Ob­secro te: Je te pri dame sainte miseri­corde mere de dieu tresplaine… (fol. 243v), Ge­bet des Tho­mas von Can­ter­bu­ry: Deus qui sol­us habes sapienciam… (fol. 247), wei­te­re Ma­rien­ge­be­te. fol. 251v: Ad­vents­of­fi­zi­um, ein­ge­lei­tet von ei­ner eng­li­schen Rubik zur Be­rech­nung von Ostern: Missus est ga­bri­el. Schrift und Schrift­de­kor: In vor­züg­li­cher Tex­tura ist die­ses Ma­nu­skript ge­schrie­ben. Zwar ver­zich­tet der Schrift­ de­kor auf die gel­be Lavie­rung von Ver­sa­li­en, ver­ziert die­se Buch­sta­ben je­doch durch­weg mit Tin­te. Die Zu­ord­nung von Flä­chen- und Dorn­blatt­de­kor ent­spricht dem Pa­ri­ser Brauch. Daß die auf die Dorn­blatt-In­itia­len be­zo­ge­nen Bor­dü­ren­strei­fen in vol­ler Höhe des Text­spie­gels links ein­ge­rich­tet sind, ist in Pa­ri­ser Stun­den­bü­chern un­ge­wohnt. In den rei­nen Dorn­blat­tran­ken kom­men für ein­zel­ne Blü­ten wie auch für Akanthus­blät­ter ne­ ben dem Ko­lo­rit, über das die enlu­mi­ne­urs ver­füg­ten, auch die Far­ben der hi­sto­rie­urs vor. Der An­fang des Jo­han­nes-Evan­ge­li­ums ist durch eine be­son­ders präch­ti­ge vierz­ei­li­ge In­ itia­le bei glei­chem Rand­schmuck her­vor­ge­ho­ben. Gut zu un­ter­schei­den sind die von eng­li­scher Hand hin­zu­ge­füg­ten Par­ti­en: Sie ar­bei­ten zwar mit dem­sel­ben De­ko­ra­ti­ons­sy­stem, wech­seln je­doch im Flä­chen­de­kor un­ter dem gol­de­nen Buch­sta­ben Rot und Blau in der Mit­te der Grund­flä­che, le­gen die Dorn­blattIn­itia­len pla­sti­scher an und glie­dern die Bor­dü­ren mit locker ge­schwun­ge­nen Vo­lu­ten, die je­weils in ei­nem ro­sa­far­be­nen oder hell­grü­nen Blatt und schließ­lich ei­nem Maß­lieb­ chen en­den. Auf den Bild­sei­ten ste­hen zwei Sy­ste­me aus un­ter­schied­li­chen Ent­wick­lungs­p ha­sen der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei ein­an­der ge­gen­über, hier­ar­chisch ge­staf­felt: Rand­schmuck ohne Zier­lei­sten aus Akanthus und Blu­men er­öff­net ne­ben des Haupt­tex­ten, Mari­en-Matutin und Buß­psal­men, im Ma­rien­of ­fi­zi­um auch die Mari­en-Prim und -Ves­p er, dazu das To­ ten­of ­fi­zi­um und gibt auch dem un­ge­wohn­ten Pas­si­ons­ge­bet be­son­de­ren Rang. In die­ser ganz von den Buch­ma­ler­far­ben be­stimm­ten De­ko­ra­ti­ons­stu­fe wird der rei­che Schmuck au­ßen und in­nen um ver­ti­ka­le Mit­tel­ach­sen ge­ord­net, die sich aus der Spie­ge­lung der Blatt­for­men er­ge­ben.

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Bei den acht an­de­ren In­cipits do­mi­niert noch Dorn­blatt mit drei­sei­ti­gen Zier­lei­sten, in die bei Mari­en-Non und Komplet auch Buch­ma­ler­far­ben für Blät­ter und Früch­te die­ nen. Aus den Zier­lei­sten sprie­ßen kraft­vol­le, pla­stisch mar­kan­te Akanthus­zwei­ge, je­doch kaum Blu­men; Tie­re, Vö­gel oder In­sek­ten fin­den kei­nen Platz. Beim Akanthus herrscht be­reits eine ge­wis­se Be­vor­zu­gung der Kom­bi­na­ti­on von Blau und Gold, auch wenn an­ ders als um 1450 noch Frei­heit bei der Fa­rb­wahl herrscht. Die op­ti­sche Do­mi­nanz des spä­ter ge­ra­de­zu ka­no­ni­schen Far­ben­paars ver­dankt sich dem Um­stand, daß die Ecken der Rand­strei­fen in bei­den Ar­ten von Bor­dü­ren mit Blau-Gold be­setzt sind. Die Bil­der: Zum Ma­rien­of ­fi­zi­um war­tet die­ses Stun­den­buch zwar mit den­sel­ben The­men auf wie die bis­her be­schrie­be­nen Hand­schrif­ten; doch sind die Sze­nen fi­gu­ren­rei­cher und des­ halb die Mi­nia­tu­ren kom­ple­xer und raf ­fi­nier­ter an­ge­legt. Die Ma­rien­ver­kün­di­gung (fol. 21) spielt in ei­nem en­gen Ka­pel­len­raum; der Blick wird durch eine rah­men­de Ar­chi­tek­tur ge­währt, die dem Rah­men folgt, der nur in die­ser Mi­ nia­tur ei­nen Ein­zug beim Bo­gen­ab­schluß vor­sieht. Ge­gen jede Lo­gik be­rührt die­se Ar­ chi­tek­tur als Dia­phrag­ma die Bild­rän­der, ist aber von ei­nem dün­nen Säulchen so ge­teilt, daß zu­gleich ein grö­ße­res Feld für die Jung­frau links von ei­nem klei­ne­ren für den Erz­en­ gel Ga­bri­el ge­schie­den wird. Die schie­fe Per­spek­ti­ve er­hält durch die nach rechts auf­ra­ gen­de Ge­stalt der Jung­frau em­pha­ti­sche Kraft. Sie läßt die flan­kie­ren­de Wand mit drei sil­ber­nen Fen­stern nach rechts zu ei­nem Al­tar mit ge­stuf­tem Ret­abel an­stei­gen. Dar­über öff­net sich in der Stirn­wand ein Bo­gen zum Him­mel. In ihm er­scheint Gott­va­ter als Bü­ ste vor best­irntem Blau und sen­det auf gol­de­nen Strah­len die Tau­be des Hei­li­gen Gei­stes zu Ma­ria. Sie hat sich von ih­rem Thron­sitz un­ter ei­nem Bal­da­chin er­ho­ben, kniet vor ih­ rem Bet­pult und rich­tet sich mit ge­kreuz­ten Ar­men auf zur Tau­be, die be­reits durch die Zwei­ge der auf dem Al­tar­tisch ab­ge­stell­ten Li­lie zu ihr ge­drun­gen ist. Wie schon beim Bed­ford-Mei­ster ist der Erz­en­gel von rechts ein­ge­tre­ten und nie­der­ge­kniet, um sei­nen Gruß an die Jung­frau zu rich­ten. Die in gol­de­ner Tex­tura ge­schrie­be­nen Wor­te aue ma­ ria… sind schwer zu ent­zif­fern; denn of­fen­bar ste­hen sie auf dem Kopf, um von Ga­bri­ els Mund aus­ge­hen zu kön­nen. Da­mit folgt die­se farb­lich bril­lan­te Mi­nia­tur dem­sel­ben Prin­zip, das Jan van Eyck im 1432 voll­en­de­ten Gen­ter Al­tar sehr viel bes­ser les­bar an­ge­ wandt hat. Auf den Kopf stell­te der be­rühm­te Ta­fel­ma­ler je­doch von Ma­ri­as Mund aus die von rechts kom­men­de Ant­wort Ecce an­cilla. In­ter­pre­ten sa­hen dar­in gern ei­nen Hin­ weis, daß Jan van Eyck als Le­ser da­mit an Gott von oben dach­te; un­ser Bei­spiel zeigt, daß es dar­um geht, vom Mund aus sinn­voll zu schrei­ben. Ähn­lich dicht ge­drängt sind die Fi­gu­ren der Heim­su­chung (fol. 30v), ob­wohl die Sze­ ne wie ge­wohnt in der Land­schaft spielt: Vor die fer­ne Ku­lis­se ei­ner Stadt in den Ber­ gen un­ter ei­ner gol­de­nen Son­nen­schei­be, de­ren Strah­len der Be­geg­nung von Ma­ria und Eli­sa­beth gött­li­ches Licht ge­ben sol­len, schie­ben sich schol­len­ar­ti­ge Ber­ge mit klei­nen Bäum­chen und ei­ner Blu­me. Von links ist Ma­ria her­an­ge­tre­ten, von ei­ner from­men Magd und dem Zieh­va­ter Jo­seph be­glei­tet. Die Magd hält ein Ge­bet­buch und eine dicke Pa­ter­

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no­ster­schnur, wäh­rend Jo­seph sei­ne rote Müt­ze zum Gruß an­hebt. Ih­nen ist Eli­sa­beth von rechts ent­ge­gen­ge­kom­men, um vor Ma­ri­as ge­seg­ne­tem Leib in die Knie zu sin­ken. Recht ge­drängt sind auch die Haupt­fi­gu­ren der Ge­burt Chri­sti (fol. 47) im schad­haf­ten Stall von Beth­le­hem, in dem ein Bal­da­chin aus ro­tem Bro­kat wie in der Ka­pel­le der Ver­ kün­di­gung als Zei­chen von Ma­ri­as Wür­de auf­ge­spannt ist: Ma­ria und Jo­seph knien beim leb­haft und fast auf­recht sit­zen­den nack­ten Je­sus­kind, um es an­zu­be­ten, wäh­rend zwei Hir­ten be­reits über den Zaun schau­en, ob­wohl die Hir­ten­ver­kün­di­gung wie in Stun­ den­bü­chern ge­wohnt erst zur Terz folgt. Ein Hir­te hält sei­ne Sack­pfei­fe über den Zaun, als wol­le er sie her­schen­ken. Zwei wei­te­re Mo­ti­ve er­stau­nen in die­sem Weih­nachts­bild: Vorn ist rei­fes Korn ver­teilt, als sol­le wie spä­ter bei Hugo van der Goes in Flo­renz und Ber­lin im Sin­ne der Eu­cha­ri­stie an das Brot er­in­nert wer­den, das den Leib des Er­lö­sers im Sa­kra­ment ver­kör­pert. Zu­dem schwe­ben drei durch Oxid­at­ion ge­schwärz­te Tau­ben oder En­gel vor dem bun­ten Bal­da­chin Ma­ri­as. Zur Terz folgt die Hir­ten­ver­kün­di­gung (fol. 53); mit Va­ri­an­ten zu die­sem The­mas ver­ mag der ver­ant­wort­li­che Ma­ler im­mer wie­der zu be­zau­bern; das zeigt sich auch hier: Er­ neut wird die Mi­nia­tur von ei­ner kräf­tig von links nach rechts auf­stei­gen­den Be­we­gung be­stimmt, ob­wohl die Land­schaft mit ih­ren Hü­gel­ku­lis­sen und der fer­nen Stadt eben­so wie der En­gel mit sei­nem glo­ria in ex­celsis im Bo­gen­ab­schluß die Mit­te be­to­nen. Doch schaut ei­ner der bei­den Hir­ten eben­so wie der an sei­nen Gür­tel an­ge­lein­te Hir­ten­hund von links un­ten steil in die Höhe; der zwei­te hin­ge­gen kniet an ei­nem Bach, um – of­ fen­bar mit sei­nem schwar­zen Hut – Was­ser zu schöp­fen. Mit Blick nach links bückt er sich so, daß hin­ter ihm ein auch in Berrys Bel­les Heu­res und ih­rer Nach­fol­ge zu find­en­ des Mo­tiv sicht­bar wird, das aus der Spät­an­ti­ke stammt: ein Böck­chen, das – hier nach rechts oben – zu den Kro­nen klei­ner Bäum­chen auf­springt. Die Dich­te des Fi­gu­ren­re­li­efs nimmt bei der An­be­tung der Kö­ni­ge (fol. 58) noch zu; denn die Wei­sen aus dem Mor­gen­land sind mit wei­te­ren vor­neh­men Leu­ten durch die – sonst im Stall von Beth­le­hem kaum zu find­en­de – Tür ein­ge­tre­ten; ein blau­es Bro­kat­tuch ist vor der schad­haf­ten Rück­wand auf­ge­spannt. Durch ein Loch im Dach drin­gen gol­de­ne Strah­len des Sterns von Beth­le­hem ein. Auf ih­rem nun rot aus­ge­schla­ge­nen Bett un­ter ei­nem dies­mal grü­nen Bal­da­chin sitzt Ma­ria, die eine in ih­ren Nim­bus ein­be­schrie­be­ne Kro­ne trägt. Jo­seph, rechts ne­ben ihr, greift grü­ßend zum Hut. Der äl­te­ste Kö­nig ist be­ reits in die Knie ge­sun­ken, reicht Je­sus ein gol­de­nes Ge­fäß und blickt dem Kna­ben ge­ ra­de­zu ein­dring­lich in die Au­gen – und das in ei­ner Zeit, in der an eu­ro­päi­schen Hö­fen dis­ku­tiert wur­de, wem ein sol­cher Blick über­haupt ge­stat­tet sei. Die bei­den jün­ge­ren, wie ge­wohnt mo­di­scher ge­klei­det, der eine in ro­ten Bro­kat mit Puff­är­meln, der an­de­re in Schwarz, spre­chen mit­ein­an­der. Alle drei ha­ben ihre un­ter­schied­li­chen Kro­nen auf dem Haupt; nur ei­ner greift da­nach, un­schlüs­sig, ob er sei­nen mit Her­me­lin be­setz­ten Kron­hut nun ab­le­gen müß­te. Fünf wür­di­ge Her­ren des Ge­fol­ges ver­fol­gen das Ge­sche­ hen, drei von ih­nen bil­den rechts eine Ge­sprächs­grup­pe, wie sie in viel­fig­uri­gen Dar­stel­ lun­gen des The­mas in der alt­nie­der­län­di­schen Ta­fel­ma­le­rei der fol­gen­den Jahr­zehn­te häu­fi­ger zu fin­den sind.

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Zen­tral­kom­po­si­ti­on und von links kom­men­de Be­we­gung prä­gen die Dar­brin­gung im Tem­pel (fol. 62), in der die Dia­phrag­ma-Ar­chi­tek­tur aus dem Bild der Ver­kün­di­gung mit ih­ren zwei un­ter­schied­lich brei­ten Bö­gen wie­der­holt wird. Als do­mi­nie­ren­de Ge­stalt steht der Prie­ster Simeon hin­ter dem run­den Al­tar­tisch, mit ei­ner wei­ßen Mi­tra, aber ohne Hei­li­gen­schein, und greift mit un­be­deck­ten Hän­den zum Je­sus­kna­ben, der sei­ner­ seits den lin­ken Arm ge­ra­de­zu neu­gie­rig aus­streckt. Ma­ria trägt ihn, von Jo­seph und ei­ ner Magd be­glei­tet, die vor dem Al­tar nie­der­ge­kniet ist und die bren­nen­de Ker­ze so­wie drei sil­ber­ne Tau­ben in ei­nem klei­nen run­den Korb trägt. Wie sie im ver­lo­re­nen Pro­fil mit of­fe­nem blon­den Haar ge­zeigt wird und ihr Haupt von der schwe­ren Gold­schei­be ei­nes Nim­bus ge­schmückt ist, wirkt sie eher wie Mag­da­le­na un­ter dem Kreuz. Ein wohl­ ha­ben­der Bär­ti­ger mit ei­ner gol­de­nen Au­monière am Gür­tel nimmt den schma­len Raum des Bo­gens rechts ein, in dem noch die Häup­ter zwei­er Ge­sprächs­p art­ner auf­tau­chen. Schwarz spielt auch in die­ser Mi­nia­tur als Klei­der­far­be eine be­mer­kens­wer­te Rol­le: Simeon trägt es als Un­ter­ge­wand; ei­ner der Zu­schau­er rechts hat dich­tes schwar­zes Haar und Bart, der an­de­re ein schwar­zes Ge­wand. Land­schaft ist eine der Stär­ken un­se­res Ma­lers; das zeigt auch die Flucht nach Ägyp­ten (fol. 66v), selbst wenn das Fi­gu­ren­re­li­ef kraft­voll her­aus­ge­ar­bei­tet ist: Un­ter ei­ner rot­gol­ de­nen Licht­er­schei­nung im Bo­gen­schei­tel, die eher Got­tes Se­gen als die Son­ne meint, schrei­tet Jo­seph nach rechts und faßt den Esel an ei­nem Seil: Im Da­men­sitz rei­tet Ma­ ria in ih­rem in­nen gol­den aus­ge­schla­ge­nen blau­en Man­tel; sie hält das in Weiß ge­hüll­te Wickel­kind. Daß der Weg be­schwer­lich ist, deu­ten die zwei Klip­pen vorn und ein von links hin­ter Ma­ria auf­ra­gen­der Fel­sen an. Das Ge­län­de, das man durch­zieht, wird als ein Rund ge­kenn­zeich­net, hin­ter dem recht de­tail­reich eine Stadt aus­ge­brei­tet ist. Drei Hü­gel, der mitt­le­re mit ei­ner Wind­müh­le, der rech­te mit ei­ner Burg, er­he­ben sich vor dem wol­ki­gen und dann doch mit gol­de­nen Ster­nen be­setz­ten Him­mel. Ohne ei­ge­nes Zu­tun bringt die Hei­li­ge Fa­mi­lie heid­ni­sche Göt­zen­bil­der zum Ein­sturz; eine nack­te Fi­gur des Mars stürzt ne­ben Jo­seph von ih­rer Säu­le. Das der Ma­rien­krö­nung (fol. 73) zu­grun­de lie­gen­de Raum­sche­ma ist denk­bar schlicht: eine halb­ho­he Mau­er be­grenzt eine Art Ter­ras­se vor blau­em Him­mel, auf die rechts ein Thron­bal­da­chin ge­stellt ist. Noch deut­li­cher prangt die mit gol­de­nen und ro­ten Flam­ men be­leb­te Son­ne im Bo­gen­schei­tel; dies­mal ge­hen von ihr Strah­len­bün­del aus, die den gan­zen blau­en Him­mel er­fas­sen. Die Licht­er­schei­nung wie auch die Be­span­nung des ro­ ten Bal­da­chins über Chri­stus mit gol­de­nen Ster­nen läßt auf ver­blüf­fen­de Wei­se an den Thron­be­hang Karls VII . den­ken, der vor we­ni­gen Jah­ren vom Lou­vre er­wor­ben wur­de. Da­mit wird Ma­ri­as Krö­nung von der hö­fi­schen Rea­li­tät aus ge­se­hen: Ein rot­ge­klei­de­ter En­gel schwebt wie in der Ta­pis­se­rie mit der Kro­ne her­ab, wäh­rend vier En­gel in Weiß die Stan­gen für ein matt­gol­de­nes Tuch hal­ten, das über der knien­den Mut­ter­got­tes als ein ei­ge­ner Bal­da­chin ein­ge­setzt ist. Der Got­tes­sohn, mit der Tia­ra ge­krönt, sitzt hin­ge­ gen auf ei­nem fe­sten Thron, die Spha­ira in der Lin­ken, die Rech­te zum Se­gen er­ho­ben. Die ein­drucks­vol­le Qua­li­tät die­ser Buch­ma­le­rei tritt be­son­ders beim Suff­ragium des hei­ li­gen Chri­stoph­orus (fol. 80) zu Tage, das auf das Mari­en-Of ­fi­zi­um folgt und als ein­zi­

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ger Text die­ser Art hier il­lu­mi­niert ist. Statt den Vor­gang zu schil­dern, wie der Hei­li­ge ei­nen Fluß durch­quert, läßt der Ma­ler den Rie­sen im Ge­wäs­ser in­ne­hal­ten und sich zu dem Chri­stus­kind auf sei­ner Schul­ter um­dre­hen. Da­hin­ter taucht der Ein­sied­ler, der ei­ gent­lich mit der La­ter­ne den Weg zei­gen müß­te, vor sei­ner Ka­pel­le auf. Sein Men­schen­ licht er­weist sich als schwa­cher Ab­glanz gött­li­chen Glan­zes, den auch hier eine rot und gol­den leuch­ten­de Son­ne im Bo­gen­schei­tel ver­kör­pert. Amü­san­te Zu­ga­be ist eine grü­ne Ech­se links un­ten, die ge­ra­de mit er­ho­be­nem Kopf den Be­reich des Hei­li­gen flie­hen will. Ge­le­gen­heit für Land­schafts­ma­le­rei bie­tet auch Da­vids Buße zu den Buß­psal­men (fol. 85): Der Raum ist wei­ter ge­faßt, mit ei­nem sil­ber­nen Bach und ei­ner Was­ser­müh­le im Mit­ tel­grund er­schlos­sen. Die Flach­land­schaft zwi­schen den Baum­grup­pen und hin­ter ei­ nem nach rechts an­stei­gen­den Fel­sen en­det etwa auf Au­gen­hö­he des knien­den Kö­nigs; da­hin­ter er­he­ben sich die auf­ra­gen­den Sil­hou­et­ten von vier Hü­geln. Der Him­mel setzt mit sehr viel hel­le­rem Blau an, ist un­ten von sil­ber­nen Wölk­chen durch­zo­gen und läßt dann im tie­fen Blau oben in Gold eine Got­tes­er­schei­nung se­hen. Zu ihr rich­tet sich Da­ vid auf, grö­ßer als die Fi­gu­ren in den bis­her be­trach­te­ten Mi­nia­tu­ren und im Ge­gen­satz zu ih­nen nicht der Le­se­rich­tung von links nach rechts fol­gend: Links vorn hat er sei­ne Har­fe ab­ge­legt. Sein Krumm­schwert und den mit Her­me­lin be­setz­ten Kron­hut trägt er je­doch noch, wie er sich stolz auf­rich­tet und mit ge­kreuz­ten Ar­men über der Brust zu Gott auf­schaut. Von be­son­de­rer An­mut in die­sem Stun­den­buch sind die Ma­don­nen­bil­der zu den Ma­ rien­ge­be­ten; sie wer­den auch auf un­ge­wohn­te Wei­se dem Text­block ge­recht, der sich an die Li­ta­nei und ihre Fol­ge­ge­be­te an­schließt: Das äu­ßerst sel­te­ne Ge­bet Sal­ve virgo virginum stel­la matu­ti­na wird mit ei­ner län­ge­ren ge­ reim­ten Ru­brik er­öff­net, die zu­gleich An­lei­tung für die Be­trach­tung des Bil­des sein will; und die­ses Bild er­staunt in der Tat: Vor blau­em Him­mel er­scheint die Mond­si­chel­ma­ don­na (fol. 110), von zwei En­geln ge­krönt, wäh­rend drei En­gel un­ter ihr mit Har­fen­spiel, Ge­sang und aus­ge­rech­net Sack­pfei­fen­mu­sik bei­tra­gen. Wie die mu­li­er ami­cta in sole der Apo­ka­lyp­se er­scheint Ma­ria, mit wei­ßem Man­tel über blau­em Kleid, das nack­te Kind in den Hän­den; sie steht auf der sil­ber­nen Mond­si­chel, vor 14 kräf­ti­gen Gold­strah­len der Son­ne, zwi­schen de­nen dün­ne­re Gold­strah­len er­schei­nen. Ganz in häus­li­che Sphä­ren hin­ge­gen ist das Ma­don­nen­bild zum O in­teme­rata ge­rückt; denn es zeigt die Hei­li­ge Fa­mi­lie (fol. 116v), frei­lich un­ter ei­nem mit Bro­kat aus­ge­schla­ ge­nen Bal­da­chin, von ei­nem Dia­phrag­ma-Bo­gen um­ge­ben, der ei­nen klei­nen zwei­ten Bo­ gen links zu­läßt, für ei­nem En­gel, der dort kniend die Har­fe spielt und zur Mut­ter­got­tes auf­schaut. Ma­ria gibt dem Chri­stus­kind ge­ra­de die Brust, wäh­rend Jo­seph von rechts zu­schaut, mit ei­ner gol­de­nen Ku­gel, wohl ei­ner Ras­sel, in der Rech­ten. Li­lien blü­hen im Blu­men­topf vorn rechts. Ei­nen be­son­de­ren Hö­he­punkt er­reicht die Ma­le­rei zum eben­so sel­te­nen Ge­bet Ave mundi spes ma­ria: Eine Zin­nen­mau­er schließt den Hortus co­ncl­usus (fol. 122v) nach hin­ten ab; da­vor ist eine Ra­sen­bank ein­ge­rich­tet. Dort hat Ma­ria vor ei­nem silb­ri­gen Bal­da­chin

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am Bo­den Platz ge­nom­men, also im Sin­ne der Ma­don­na der De­mut. Der Kna­be hält ein Körb­chen mit ro­ten und wei­ßen Ro­sen, die ein En­gel für ihn pflückt, wäh­rend ein zwei­ ter En­gel Har­fe spielt. Wei­ße und rote Nel­ken blü­hen im Blu­men­topf vorn; auf die bei Nel­ken na­he­lie­gen­de As­so­zia­ti­on zu den Nä­geln des Kreu­zes ist hier ver­zich­tet. Das höchst un­ge­wöhn­li­che Kreuz­ge­bet Om­ni­bus co­nsideratis par­adisus voluptatis, das Lero­quais nur in ei­nem Stun­den­buch für Rouen und ei­nem ita­lie­ni­schen Ge­bet­buch auf­li­stet (lat. 1410 und lat. 10527: Lero­quais 1927, I, S. 247 und 321) er­öff­net mit ei­nem Kreu­zi­gungs­bild (fol. 129v), wie es sonst für die Horen des Hei­li­gen Kreu­zes ein­ge­setzt wird. Nach Prin­zi­pi­en, die sich zu je­ner Zeit ge­ra­de in den Bild­kün­sten an­kün­di­gen, sind Fi­gu­ren und Land­schaft so auf­ein­an­der ab­ge­stimmt, daß der zwar nicht kon­kret an­ ge­ge­be­ne, aber gut ahn­ba­re Ho­ri­zont un­ge­fähr auf Au­gen­hö­he der Ste­hen­den ver­läuft. Um Chri­stus, der in et­was klei­ne­ren Pro­por­tio­nen vor den Him­mel mit gol­de­nen Ster­ nen und sil­ber­nen Wölk­chen er­scheint, drän­gen sich links Ma­ria mit Jo­han­nes und zwei wei­te­ren hei­li­gen Frau­en, wäh­rend rechts der rö­mi­sche Centu­rio, fast die­sel­be bär­ti­ge Ge­stalt wie der Zu­schau­er in der Dar­brin­gung im Tem­pel, über ein gro­ßes Spruch­band zwei Sol­da­ten ver­kün­det, der Ge­kreu­zig­te sei wahr­haft Got­tes Sohn. Ei­nem viel­leicht vom Maza­rine-Mei­ster be­grün­de­ten Bild­sche­ma, das auch der BoucicautMei­ster ver­brei­tet hat, folgt das Bild des To­ ten­ of ­fi­ zi­ ums (fol. 140v): In ei­ner go­ti­schen Chor­ka­pel­le, die in ei­gen­tüm­li­cher Wei­se po­ly­go­nal ein­ge­rich­tet ist, steht der mit blau­em Tuch be­deck­te Ka­ta­falk, von Ker­zen um­ge­ben vor dem Al­tar, des­sen Ret­abel den Ge­ kreu­zig­ten zwi­schen Hei­li­gen zeigt. Links sit­zen zwei Pleurants in ei­nem Ge­stühl, für das rechts kein Platz ist, weil dort das gro­ße Pult steht für drei Geist­li­che, die das To­ten­ of ­fi­zi­um sin­gen. Schwarz wird wie­der­um stär­ker als sonst üb­lich ein­ge­setzt; denn nicht nur die Pleurants tra­gen die­se Far­be, son­dern auch ei­ner der Sän­ger; rote und blaue Tü­ cher als Be­span­nung der Wän­de ge­hört zu den Kenn­zei­chen un­se­res Ma­lers. Zu­schrei­bung, Lo­ka­li­sie­rung und Da­tie­rung: Mit sei­nem fun­keln­den Ko­lo­rit, der un­er­hör­ten Strahl­kraft vor al­lem des tie­fen Blaus er­staunt die­ses Buch. Es ge­hört zu den frü­he­ren Wer­ken des Mei­sters der Münch­ner Leg­enda Au­rea, des­sen na­men­ge­ben­des Werk, cod. gall. 3 der Baye­ri­schen Staats­bi­blio­ thek noch ganz in der Tra­di­ti­on der ein­fach auf­ge­bau­ten Sze­nen auf ei­nem Wie­sen­stück vor Mu­ster­grund oder best­irntem Him­mel steht. Der al­ter­tüm­li­che Cha­rak­ter der mag selbst­ver­ständ­lich auch durch die Bild­tra­di­ti­on des Texts eben­so mit­be­dingt sein wie durch die Tat­sa­che, daß man da­bei auf spal­ten­brei­te Bild­fel­der setz­te, die in den Ko­ lum­nen ver­streut und des­halb meist recht­eckig wa­ren. Von die­ser nicht ge­nau da­tier­ba­ ren frü­hen Pha­se, die noch vor 1420 lie­gen mag, geht der Ma­ler aus und be­hält zu­nächst das ein­drucks­vol­le dunk­le Blau bei. Noch in un­se­rem Ma­nu­skript ist es gern mit gol­de­ nen Ster­nen ge­mu­stert oder dann auch mit ei­ner strah­len­den Son­ne im Bo­gen­schei­tel der Mi­nia­tur be­setzt. Land­schaft wird mit kraft­voll dunk­len Tö­nen ge­malt und er­hält da­durch eine stark re­li­ef­haf­te Qua­li­tät. Ge­nau das zeigt sich in un­se­rem Ma­nu­skript.

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Noch fehlt die Be­weg­lich­keit, die der­sel­be Künst­ler in sei­nen ein­zi­gen ei­ni­ger­ma­ßen si­ cher da­tier­ba­ren Mi­nia­tu­ren bie­tet, auf den text­lo­sen Bild­sei­ten aus dem Al­ten Te­sta­ ment und Kö­nig Chlodwigs Ein­klei­dung, die dem so­ge­nann­ten Bed­ford-Stun­den­buch, Add. Ms. 18850 der Bri­tish Lib­rary hin­zu­ge­fügt wur­den, als man die Hand­schrift als ein Ge­schenk für Hein­rich VI . von Eng­land an­läß­lich sei­ner Krö­nung in Pa­ris 1430 ein­ rich­te­te. Da­mit steht un­ser Stun­den­buch zwi­schen den Mi­nia­tu­ren in Wal­ters 288 in Bal­ti­more, die Ro­ger Wie­ck in sei­nem Ka­ta­log Time Sanctified von 1988 ge­ra­de­zu als In­be­griff ei­nes Stun­den­buchs al­len Er­ör­te­run­gen vor­an­ge­stellt hat, und dem be­mer­kens­wer­ten Ma­nu­ skript Roth­schild 2535, das Lau­rent Un­ge­heu­er in Heft 56 von l’art de l’enlumi­nure be­ schrie­ben hat. In­di­zi­en für eine ge­naue­re Da­tie­rung feh­len. Hi­sto­risch wird man un­ser Buch mit der Be­set­zung von Pa­ris durch die Eng­län­der in den 1420er Jah­ren ver­bin­den. Noch hat­ten sich die Be­satz­er nicht ängst­lich nach Rouen zu­rück­ge­zo­gen; des­halb mag un­ser Ma­nu­skript durch­aus in der fran­zö­si­schen Haupt­stadt ent­stan­den sein. Ein ein­drucks­vol­les Mei­ster­werk ei­nes der wich­tig­sten Pa­ri­ser Buch­ma­ler der Zeit von 1420 bis nach 1460, den die Kunst­ge­schichts­schrei­bung als den Mei­ster der Münch­ner Leg­enda Au­rea kennt und in dem wir an­ge­sichts ei­ner No­tiz im na­men­ ge­ben­den Werk ei­nen sonst nicht do­ku­men­tier­ten Con­rad von Toul se­hen. Mit feu­ ri­gem Ko­lo­rit, le­ben­di­ger Dar­stel­lung, kost­ba­rer Wir­kung und ei­nem hin­rei­ßen­den Buch­de­kor er­weist sich die­ses Stun­den­buch für den Ge­brauch von Sarum als ein Haupt­werk des Ma­lers, der zu spät für das gro­ße Über­blicks­werk von Mill­ard Meiss ge­lebt hat und des­sen Kunst von Avril und Reynaud in der Pa­ri­ser Aus­stel­lung von 1993 nicht mehr be­rück­sich­tigt wur­de. LI­T E­R A­T UR:

Die Hand­schrift ist un­ver­öf­fent­licht.

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11 Das Stun­den­buch für Jean Trous­sier: ein rei­fes Haupt­werk des Mei­sters der Münch­ner Leg­enda Au­rea mit ei­ner er­grei­fen­den Mi­nia­tur des Du­nois-Mei­sters


11 • Stun­den­buch. Horae B. M. V. für den Ge­brauch von Pa­ris. La­tei­ni­sche Hand­schrift auf Per­ga­ment mit Ka­len­der und Ge­be­ten in Fran­zö­sisch, auf Per­ga­ ment, in brau­ner und ro­ter Tex­tura. Pa­ris, um 1425: Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea (Con­rad von Toul) und um 1450, viel­leicht schon 1444: Du­nois-Mei­ster (Jean Hain­celin) 20 gro­ße Mi­nia­tu­ren mit dreiz­ei­li­gen Dorn­blatt­in­itia­len, Zier­lei­sten und vier­sei­ti­gen Dorn­blatt­bor­dü­ren; alle Text­sei­ten mit drei­sei­ti­gen Bor­dü­ren und Zier­lei­ste au­ßen; ei­ ni­ge Ge­be­te mit drei- bis vierz­ei­li­gen In­itia­len in Blatt­gold auf Rosa und Blau mit aus­ strah­len­dem Ran­ken­werk links. Alle Psal­men­an­fän­ge und ähn­li­che Tex­te mit zweiz­ei­li­gen In­itia­len der­sel­ben Art, Psal­men­ver­se mit ein­zei­li­gen In­itia­len der­sel­ben Art. 168 Blatt Per­ga­ment, da­von zwei aus spä­te­rer Zeit; je drei Blatt Pa­pier des 18. Jahr­hun­derts als flie­gen­de Vor­sät­ze; fe­stes Vor­satz und äu­ße­res flie­gen­des Vor­satz mit Mar­mor­ierung. Ge­ bun­den vor­wie­gend in La­gen zu acht Blatt, da­von ab­wei­chend das spä­te­re Dop­pel­blatt vor­ ne und das schon kurz nach der Ent­ste­hungs­zeit hin­zu­ge­füg­te fol. 3, dann die Ka­len­der­la­ge 1 (12) so­wie vor Zä­su­ren die La­gen 11 (4) und 21 (4). Rot reg­liert zu 15, im Ka­len­der zu 17 Zei­len. Groß­ok­tav (216 x 160 mm, Text­spie­gel 110 x 72 mm). Voll­stän­dig und blen­dend er­hal­ten. Ge­bun­den in schwar­zes fran­zö­si­sches Ma­ro­quin des 17. Jahr­hun­derts mit Gold­prä­gung des Rückens und der Deckel so­wie der Steh- und In­nen­kan­ten. Pro­ve­ni­enz: Die Hand­schrift er­öff­net auf fol. 3 mit ei­nem der ein­drucks­voll­sten Bil­der vom Ge­bet ei­nes Be­sit­zers zur Gott­heit: Die zwei­stu­fi­ge Kom­po­si­ti­on ist dem obe­ren Teil des Gol­ de­nen Rössels von Alt­ötting ver­wandt; denn die Mi­nia­tur zeigt ei­nen vor­neh­men Herrn in Rü­stung vor sei­nem Bet­pult kniend, ne­ben dem sein Wap­pen mit ei­nem Wap­pen­weib­chen als Helm­zier prangt; de­ren Schrift­band trägt eine auch von Deuffic nicht voll ge­le­se­ne De­vi­se „… pour Ly g(…)“. Die Wap­pen aus bre­to­ni­schem Her­me­lin auf Sil­ber mit ei­nem ro­ten Lö­wen mit gol­de­ner Kro­ ne (d’herm­ines au lion de gueu­les co­uronné d’or) sind schon früh rich­tig iden­ti­fi­ziert wor­den; sie fin­den sich in Stein ge­hau­en am Man­oir von Gaptière oder bes­ser La Ga­be­tière bei SaintBrieuc, der heu­te als Fe­ri­en­do­mi­zil dient. Wie Jean-Luc Deuffic er­mit­teln konn­te, wird vor Ostern 1427 (Neu­en Stils) ein Guillaume Trous­sier in La Ga­be­tière er­wähnt; von ihm weiß man sonst nichts; des­halb kommt eher Jean Trous­sier (oder Trouxier), viel­leicht Guillaumes Sohn und selbst wohl Va­ter ei­nes zwei­ten Guillaume, als je­ner Herr in Fra­ge, den die gro­ße Mi­nia­tur zeigt. Jean war Pro­cureur général der Bre­ta­gne Gallo, also der fran­zö­sisch-sprachi­gen Bre­ta­gne, und Sene­schall von Lamb­alle. Deuffic zu­fol­ge ist er zwi­schen 1420 und 1450 nach­ge­wie­sen; doch be­zie­hen sich die von Deuffic 2014 do­ku­men­tier­ten Er­wäh­nun­gen prä­zi­ser auf die Zeit von 1412 bis 1444. Die frü­he­ste Quel­le spricht nur von ei­nem J. Jean Trous­sier. 1423 geht es um po­li­zei­li­che Maß­nah­men, da­nach bis 1444 im we­sent­li­chen um die Zäh­lung der Haus­hal­te für Steu­er­er­he­bun­gen.

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Das Bild steht auf ei­nem nach­träg­lich ein­ge­füg­ten Blatt mit ei­ner für ei­nen Mann be­stimm­ten Ver­si­on von Sal­ve re­gi­na. Eben­falls nach­träg­lich hin­zu­ge­kom­men ist auf fol. 167 eine Dar­stel­ lung der Höl­le von an­de­rer Hand, die ein eben­falls nicht zum Grund­be­stand ge­hö­ren­des la­ tei­ni­sches Buß­ge­bet er­öff­net, das nun aber für eine Frau kon­zi­piert wur­de. Es liegt nahe, die­se Er­gän­zung erst nach dem Ab­le­ben von Jean Trous­sier, also wohl kurz nach 1444 an­zu­set­zen. Im 17. Jahr­hun­dert wur­de das Buch mit neu­em Wap­pen und Mo­no­gramm, viel­leicht der Ro­ sa­inville oder der Cursay, auf dem da­mals an­ge­füg­ten Dop­pel­blatt vorn ver­se­hen (zwei gol­ de­ne Her­zen, ent­flammt, durch ei­nen Pfeil durch­bohrt, über sil­ber­ner Mond­si­chel auf Blau; zu­nächst nur die­ses Wap­pen, das zwei­te als Al­li­anz­wap­pen drei­ge­teilt: oben zwei Flie­gen auf Rot, eine rote Rose auf Gold und dar­un­ter ein gol­de­nes Rad auf Blau). Be­sitz­ein­trag ei­nes Au­ bert de Ro­sa­inville auf dem er­sten hin­zu­ge­füg­ten Blatt. Im Vor­der­deckel Ex­li­bris von Hel­mut N. Friedlaen­der (Auk­ti­on Chri­stie’s, Lon­don, 28.11.1990, lot 9). Der Text fol. 1-2v. text­lo­se he­ral­di­sche Ma­le­rei. fol. 3: Nach­träg­lich auf ein ein­ge­füg­tes Ein­zel­blatt ge­schrie­be­nes Ma­rien­ge­bet: Sal­ve re­ gi­na mi­se­ri­cor­die, vita, du­lcedo et spes nostra, für ei­nen Mann re­di­giert: fa­mulo tuo pecca­ tori (fol. 3v). fol. 4: Ka­len­der in fran­zö­si­scher Spra­che, je­der Tag be­setzt, gol­de­ne Zahl und Fe­ste in Rot, ein­fa­che Sonn­tags­buch­sta­ben und Hei­li­gen­ein­trä­ge in Braun, die rö­mi­sche Ta­ges­ zäh­lung rot und blau, die Sonn­tags­buch­sta­ben A gol­den auf ro­sa­far­be­nen und blau­en Flä­chen. Die Hei­li­gen­aus­wahl folgt Pa­ri­ser Brauch, die Or­tho­gra­phie ist dia­lekt­ge­färbt: mahieu und mo­ri­sce (21. und 22.9). fol. 16: Per­ik­open: Jo­han­nes (fol. 16), Lu­kas (fol. 17v), Mat­thä­us (fol. 19), Mar­kus (fol. 20v) – die aus­führ­li­chen Ru­bri­ken je­weils in Schwarz, mit ein­zei­li­ger Flä­chen­in­ itia­le. fol. 21v: Ma­rien­ge­be­te, für ei­nen Mann re­di­giert: Ob­secro (fol. 21v) O in­teme­rata (fol. 25). fol. 29: Mari­en-Of ­fi­zi­um für den Ge­brauch von Pa­ris: Matutin mit drei Nok­tur­nen (fol. 29), Lau­des (fol. 51), Prim (fol. 62), Terz (fol. 68), Sext (fol. 72v), Non (fol. 76v), Ves­ per (fol. 80v), Komplet (fol. 87). fol. 92: Buß­psal­men und Li­ta­nei (fol. 103v), die Hei­li­gen­aus­wahl wie­der pa­ri­se­risch mit Ger­vasius, Pro­thasius, Dio­ny­si­us, Germ­anus, Gen­ovefa und Op­por­tuna. fol. 109v: Horen: des Hei­li­gen Kreu­zes (fol. 109v), des Hei­li­gen Gei­stes (fol. 113). fol. 116: To­ ten-Of ­fi­ zi­ um für den Ge­brauch von Pa­ris. fol. 159: XV Joyes. fol. 164: VII Requ­estes.

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fol. 167: wohl nach 1444 oder um 1450 hin­zu­ge­füg­tes Ge­bet zur Ver­mei­dung ewi­ger Höl­ len­stra­fen (Oracio ad ev­itandum et­er­na supplicia): Deus qui non vis mor­tem peccato­rum, für eine Frau re­di­giert: in­digne fa­mule tue (fol. 167). fol. 167v: Texten­de. Schrift und Schrift­de­kor Der Codex ist durch­weg in Tex­tura ge­schrie­ben mit wech­seln­der Tin­ten­stär­ke. Auf­fäl­lig­ er­wei­se ist die Schrift auf Bild­sei­ten oft sorg­fäl­ti­ger und mit dunk­le­rer Tin­te ge­schrie­ben. Der Schrift­de­kor ver­wen­det be­vor­zugt gol­de­ne Zier­buch­sta­ben auf Flä­chen in Rosa und Blau, die mit kräf­ti­gen wei­ßen Li­ni­en ge­schmückt sind. Von ho­hem An­spruch zeugt die Aus­stat­tung al­ler Text­sei­ten mit drei­sei­ti­gen Ran­ken­klam­mern au­ßen, die von senk­rech­ ten Dop­pel­stä­ben aus­ge­hen. Die waa­ge­rech­ten Ran­ken ent­sprin­gen die­sem Stab. Der Rand­schmuck au­ßen ent­sprießt in der Re­gel ei­nem Blatt­gold­punkt, der mit­tig an den Dop­pel­stab an­ge­fügt ist; des­halb ent­fal­tet sich die Ran­ke meist sym­me­trisch von der Sei­ ten­mit­te aus. Das schwar­ze Tin­ten­werk ist un­re­gel­mä­ßig, in ein­zel­nen Ar­beits­etap­pen: Von fol. 16 und fol. 116 an wirkt es be­son­ders dicht, sehr über­sicht­lich hin­ge­gen in der Par­tie von fol. 80 bis 115. Die bei­den vorn und hin­ten an­ge­füg­ten Tex­te sind in recht ähn­li­cher Art wie der Text­ block, je­doch 18zei­lig ge­schrie­ben. Auf fol. 3v wer­den die Ver­sa­li­en rot mar­kiert, auf fol. 167v gar nicht be­han­delt. Sonst bleibt der De­kor im glei­chen Rah­men, wirkt aber et­was le­ben­di­ger und sorg­fäl­ti­ger. Die Bil­der fol. 1-2v: Hin­zu­ge­füg­te Wap­pen­ma­le­rei­en je­weils in brei­tem Lei­sten­rah­men aus von zwei glän­zen­den Blatt­gold­lei­sten ge­rahm­ten Matt­gold­stä­ben: fol. 1: Auf blau­em Grund ein sil­ber­ner Halb­mond, der zwei gol­de­ne, rot ent­flamm­te Her­zen um­fängt, die von ei­nem Pfeil durch­bohrt sind; der Schild von Akanthus­laub mit Ohr­mu­schel­ornamentik, in den vier Far­ben des Wap­pens, also sil­bern und gol­den, blau und rot, um­ge­ben. fol. 1v: Ver­schlun­ge­nes gol­de­nes Mo­no­gramm, viel­leicht zu­sam­men­ge­setzt aus M und A; um­rahmt von Pal­men­zweig links und Lor­beer­zweig rechts, die durch Bän­der oben und un­ten zu­sam­men­ge­hal­ten wer­den, das obe­re in Lila, das un­te­re in Rosa. fol. 2: In ent­spre­chen­der Rah­mung Al­li­anz aus dem Wap­pen von fol. 1 mit ei­nem drei­ ge­teil­ten Wap­pen: oben zwei Flie­gen auf Rot, in der Mit­te rote Rose auf Gold, un­ten gol­de­nes Rad auf Blau. fol. 2v: Der brei­te Gold­rah­men wie bei den an­de­ren Blät­tern aus­ge­führt, Blau be­reits vor­be­rei­tet, un­fer­tig be­las­sen; von der Ge­gen­sei­te zeich­nen sich die Zwei­ge ab.

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fol. 3: Zum hin­zu­ge­füg­ten Ge­bet eine Mi­nia­tur des Ma­lers, der auch die mei­sten an­de­ ren Bil­der in die­ser Hand­schrift ge­schaf­fen hat, die je­doch grö­ßer und auf­wen­di­ger ge­ stal­tet wur­de: Als Haupt­mo­tiv die Pi­età mit dem to­ten Chri­stus auf Ma­ri­as Schoß, des­ sen Kör­per Jo­han­nes von links hält, wäh­rend von rechts zwei Frau­en Hand und Fuß des To­ten küs­sen; eine von ih­nen ist Mag­da­le­na. Da­hin­ter ste­hen zwei wei­te­re hei­li­ge Frau­en im Ge­spräch. Dra­sti­sche Ge­füh­le be­herr­schen das Bild: Ma­ri­as Ge­sicht ist vom Man­tel weit­ge­hend ver­deckt, Mag­da­le­na kau­ert auf dem Bo­den. In er­staun­li­cher Ana­lo­gie zum Auf­bau des so­ge­nann­ten Gol­de­nen Rössls von Alt­ötting, ei­ner Gold­schmie­de­ar­beit, die Kö­nig Karl VI . im Ge­bet zur Ma­don­na dar­stellt, ist dem Haupt­mo­tiv ein Be­ter vor­ge­schal­tet: Auf der Wie­se un­ter­halb der Pi­età wird Jean Trous­ sier, Herr von La Ga­be­tière im Har­nisch mit sei­nem Wap­pen­rock (ro­ter Löwe stei­gend nach links auf dem Her­me­lin der Bre­ta­gne) ge­zeigt, wie er auf blau­em Kis­sen kniet, vor ei­ner Bank mit of­fe­nem Ge­bet­buch (die zwei Sei­ten mit vierz­ei­li­gem Text zwar mit ech­ ten Buch­sta­ben, aber of­fen­bar doch nicht les­bar ge­meint). Dem Be­ter steht das Wap­pen mit Helm und Helm­zier ge­gen­über; als Helm­zier dient ein rot ge­klei­de­tes Wap­pen­weib­ chen, das ein Spruch­band mit den Wor­ten pour Ly g. hält und auf den er­sten Blick so wirkt, als sei hier die Ehe­frau des Stif­ters ins Bild hin­ein­ge­malt. fol. 16: Den Per­ik­open sind Bil­der der vier Evan­ge­li­sten vor­aus­ge­schickt, die je­weils auf mo­nu­men­ta­le Wir­kung der mäch­ti­gen ge­drun­ge­nen Fi­gu­ren set­zen. Raum­an­ga­ben wer­ den kunst­voll knapp ge­hal­ten; sie be­we­gen sich zwi­schen äl­te­ren Mu­stern und dem für die spä­te Buch­ma­le­rei vor al­lem in Rouen üb­li­chen Sche­ma, das auf Flie­sen­bo­den den thron­ähn­li­chen Sitz des Evan­ge­li­sten an die eine Sei­te des Bil­des ge­rückt zeigt und ge­ gen ge­mu­ster­ten Hin­ter­grund den Raum durch eine Mau­er oder ein Tuch ab­grenzt (vgl. Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter I, Nr. 76, Abb. S. 543; und II , Nr. 46, Abb. S. 535). At­tri­but­stie­re und die als Au­to­ren schrei­ben­den Evan­ge­li­sten sind ein­an­der ge­gen­über­ge­stellt. Das Jo­han­nes­bild (fol. 16) weicht als Zen­tral­kom­po­si­ti­on ab; der Evan­ge­list sitzt en face, auf Patmos, ei­ner win­zi­gen In­sel, vor wei­ter Land­schafts­ku­lis­se. Lu­kas mit dem Stier folgt dem üb­li­chen Sche­ma (fol. 17v). Mat­thä­us liest in ei­nem Buch, sein En­gel be­tet (fol. 19). Mar­kus wird mit dem Lö­wen, der ihm das Schreib­zeug hält, dar­ge­stellt, kühn im ver­lo­re­nen Pro­fil (fol. 20v). fol. 29: Das Mari­en-Of ­fi­zi­um il­lu­striert der üb­li­che Zy­klus aus der Kind­heits­ge­schich­te Chri­sti mit ab­schlie­ßen­der Ma­rien­krö­nung; wie­der sind die Fi­gu­ren mo­nu­men­tal her­ aus­ge­ar­bei­tet und be­herr­schen die ge­sam­te Sze­ne­rie: Bei der Ma­rien­ver­kün­di­gung zur Matutin (fol. 29) kommt Ga­bri­el, wie schon oft beim Bed­ford-Mei­ster (Nrn. 3 und 4) von rechts. Die Sze­ne spielt in ei­nem Kir­chen­raum mit rund­bo­gi­gen Fen­stern und ei­nem Bal­da­chin links über Ma­ria und ist nach hin­ten von ei­nem Bro­kat­tuch ab­ge­schlos­sen. Die Jung­frau un­ter­bricht ihr Ge­bet und wen­det sich sacht nach rechts, dem Erz­en­gel zu, des­sen Spruch­band lau­tet: aue gracia ple­na, domi­nus tecum, benedicta…

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Die Heim­su­chung zu den Lau­des (fol. 51) ver­eint Ma­ria und Eli­sa­beth in wei­ter Land­ schaft, vor ei­ner um­mau­er­ten Stadt im Hin­ter­grund; Ma­ria er­scheint wie bei der Ver­ kün­di­gung fast en face, Eli­sa­beth wie Ga­bri­el im Pro­fil. Die von links hell er­leuch­te­ten Fel­sen stei­gen ähn­lich schroff wie in un­se­ren Mi­nia­tu­ren des Bed­ford-Mei­sters nach rechts an und en­den in Spit­zen. Die Baum­grup­pen ha­ben an Vo­lu­men ge­won­nen. Die Ge­burt Chri­sti zur Prim (fol. 62) spielt un­ter dem Stern von Beth­le­hem im schräg­ge­ stell­ten Stall, der die gan­ze Bild­flä­che ein­nimmt, mit Pfo­sten, die die senk­rech­ten Bild­ rän­der be­glei­ten und dem Dach im Bo­gen­feld. Wie in den ent­spre­chen­den Mi­nia­tu­ren un­se­rer frü­hen Pa­ri­ser Stun­den­bü­cher liegt Ma­ria im Bett; doch sind Ochs und Esel eben­so wie die Krip­pe aus dem Raum ver­bannt. Das Bett ruht auf Pfo­sten, wie das bei den fort­schritt­li­che­ren Ver­sio­nen der Fall war; es ist nicht rot aus­ge­schla­gen, son­dern mit grü­ner Decke un­ter blau­em Bett­him­mel, der an der Sei­ten­wand des Stalls und in der Dach­schrä­ge an­ge­bracht ist. Die Mut­ter­got­tes hält das Wickel­kind über der Bett­decke und wird von ei­ner ne­ben dem Bett sit­zen­den Heb­am­me links vorn be­ob­ach­tet. Jo­seph sitzt an der rück­wär­ti­gen Längs­sei­te des Bet­tes. Das Bild ist also of­fen­bar eher nach dem Mu­ster von Mari­en- und Täu­fer-Ge­burt ge­stal­tet; auf den Stall spielt der Flecht­zaun hin­ter Jo­seph an, der vor ei­ ner so­li­den Wand ge­spannt ist; über­dies sind Äh­ren auf dem Bo­den ver­streut. In Stun­ den­bü­chern fin­det man sol­che Ikon­ographie sel­ten. Die Hir­ten­ver­kün­di­gung zur Terz (fol. 68) geht von der Er­schei­nung ei­nes En­gels im Bo­ gen­feld aus, die ganz in blau­em Ca­maïeu mit gol­de­nen Strah­len ge­stal­tet ist. Sie rich­tet sich an ei­nen auf­recht ste­hen­den Mann, der sei­ne Au­gen mit der er­ho­be­nen Lin­ken vor der himm­li­schen Vi­si­on schützt, wäh­rend ein an­de­rer un­ter ei­ner Baum­grup­pe rechts hockt. In ein­drucks­voll pla­sti­scher Ma­le­rei sind die kur­zen Ge­wän­der und die rund­li­ chen Scha­fe wie­der­ge­ge­ben. Die An­be­tung der Kö­ni­ge zur Sext (fol. 72v) fin­det ei­gen­ar­ti­ger­wei­se in ei­nem mit Wand­ spie­geln ver­se­he­nen Stein­haus statt. Durch des­sen rund­bo­gi­ges Fen­ster scheint vor dun­ kel­blau­em Him­mel der Stern von Beth­le­hem. Ma­ria sitzt links auf ei­nem Thron un­ter ei­nem grü­nen Bal­da­chin; hin­ter ihr er­blickt man Jo­sephs Kopf im Pro­fil; vor ihr sam­meln sich die drei Kö­ni­ge in der üb­li­chen Al­ters- und Rang­fol­ge; sie sind durch die rund­bo­gi­ ge Tür rechts hin­ten ein­ge­tre­ten. Die Dar­brin­gung zur Non (fol. 76v) ver­steht den Tem­pel als ei­nen vom Dia­phrag­ma-Bo­ gen ge­rahm­ten sa­kra­len In­nen­raum, der nur frag­men­ta­risch ge­ge­ben ist und durch ein Bro­kat­tuch nach hin­ten fast ganz ver­deckt wird. Links vor dem Al­tar kniet Ma­ria, um Simeon das Wickel­kind zu rei­chen, wäh­rend die zur Hei­li­gen er­klär­te Magd der Jung­ frau, die wohl als Han­nah miß­ver­stan­den ist, mit ei­ner Ker­ze und dem Tau­ben­körb­chen hin­ter ihr steht; die bei­den Frau­en sind mit Blatt­gold-Nimben aus­ge­zeich­net, Simeon hin­ge­gen nur mit Mi­tra. Bei der Flucht nach Ägyp­ten zur Ves­p er (fol. 80v) soll ge­zeigt wer­den, wie die Hei­li­ge Fa­mi­lie ge­ra­de aus ei­nem Wald in die kah­le ber­gi­ge Land­schaft tritt. Dazu er­hebt sich

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als Repoussoir links vorn ein ge­schich­te­ter Hü­gel mit ei­ner Baum­grup­pe; sie deu­tet den Wald­rand an. Da­hin­ter taucht der Esel auf, mit der auf ihm thro­nen­den Ma­ria, die das Wickel­kind hält; nach rechts, hin­ter Hals und Kopf des Esels sicht­bar, schrei­tet Jo­seph mit dem Bün­del vor­aus. Eben wen­det er sich zu Ma­ria zu­rück; trotz sei­ner leuch­tend ro­ ten Müt­ze wirkt er eher als Ge­gen­ge­wicht zum Land­schafts­mo­tiv links, ist also gleich­ sam Teil der Rah­mung. Bei der Ma­rien­krö­nung zur Komplet (fol. 87) sit­zen Mut­ter und Sohn ge­mein­sam auf ei­nem Thron. Der steht in leuch­ten­dem Zin­no­ber vor Ka­ro­mu­ster, des­sen groß­formige Ge­stal­tung deut­lich macht, wie weit man hier schon von äl­te­ren Pa­ri­ser Kon­zep­ten für sol­che Hin­ter­grün­de ent­fernt ist; das Gold liegt flach auf der Mal­flä­che und glit­zert des­ halb we­ni­ger. Ma­ria, den Kopf im Ge­bet zu Chri­stus ge­neigt, wird von die­sem ge­seg­net, wäh­rend ein klei­ner En­gel aus ei­ner Wol­ke heraus­fliegt, um ihr die Kro­ne aufs Haupt zu set­zen. Zu den Buß­psal­men ist Da­vid im Ge­bet zu Gott dar­ge­stellt (fol. 92); das ist ein be­son­ ders macht­vol­les Bild in der Tra­di­ti­on der bei­den Mi­nia­tu­ren des Bed­ford-Mei­sters in Nrn. 3 und 4 un­se­res Ka­ta­logs 66 (Das Pa­ri­ser Stun­den­buch um 1400, S. 229 und 249). Wie­der setzt die Dar­stel­lung mit ei­nem baum­be­krön­ten Hü­gel links vorn ein; hin­ter die­sem Repoussoir taucht der Kö­nig auf und rich­tet sein Ge­bet an Gott, der als voll­far­ big ge­stal­te­te Bü­ste über ei­ner Stadt er­scheint und den tief­blau­en Him­mel mit gol­de­nen Strah­len er­füllt. Farb­lich bleibt un­se­re Mi­nia­tur im Rah­men der bei­den ge­nann­ten Mi­ nia­tu­ren des Bed­ford-Mei­sters, die eben­falls ganz aus Erd­tö­nen und Grün ge­stal­tet sind. Die Horen er­öff­nen die bei­den üb­li­chen Dar­stel­lun­gen, je­doch in un­ge­wöhn­li­cher Emo­ ti­on: Bei der Kreu­zi­gung (fol. 109v) hängt Chri­stus zwi­schen Ma­ria und Jo­han­nes. Der Grund ist mit Schä­del und Kno­chen be­deckt und da­mit als Golgatha be­zeich­net, am Him­mel zeich­nen sich Son­ne und Mond als klei­ne Er­schei­nun­gen zwi­schen Ster­nen in Pin­sel­gold ab. Ma­ri­as Au­gen sind wie schon auf fol. 3 als Ge­ste des Schmer­zes von ih­rem Man­tel fast ganz ver­deckt. Jo­han­nes schaut mit er­ho­be­ner rech­ter Hand zu­gleich zu ihr und zum to­ten Chri­stus auf. Der kräf­ti­ge Ein­satz von Rot an den Wun­den zeugt von der Be­deu­ tung des Kults um die Wun­den des Er­lö­sers. Sei­ne Hal­tung mit der son­der­ba­ren bo­ gen­för­mi­gen Span­nung des Lei­bes von Ma­ria weg, wäh­rend sich das Haupt zu ihr wen­ det, läßt an west­fä­li­sche Kreu­zi­gun­gen in der Nach­fol­ge des Kon­rad von Soest den­ken. Das Pfingst­wun­der (fol. 113) spielt vor dun­kel­blau­em Grund und ist dy­na­misch ge­stal­ tet: Die Apo­stel sit­zen in ei­ner Art Halb­kreis. Da­hin­ter er­scheint, nach links ver­setzt, Ma­ria, wäh­rend die Tau­be rechts, aus der Mit­te ver­scho­ben, ihre gol­de­nen Strah­len aus­ sen­det. Vorn tref­fen, kon­trast­reich ge­gen­über­ge­stellt, die Pro­fil­fi­gur ei­nes grau­bär­ti­gen Apo­stels – wohl Pe­trus – ganz in Weiß links und Jo­han­nes rechts en face zur Mit­te ge­ wen­det, auf­ein­an­der. Der Lieb­lings­jün­ger kniet zum Be­trach­ter ge­wen­det, hebt fas­sungs­ los die Hän­de und wagt kaum, sich zu Ma­ria und der Him­mels­er­schei­nung um­zu­dre­ hen, von der er aber ah­nungs­voll er­füllt scheint. Die Fi­gu­ren sind weit vom Vor­der­grund

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nach hin­ten ge­scho­ben; vor ih­nen liegt auf dem Flie­sen­bo­den ein mäch­ti­ges zin­no­ber­ro­ tes Buch, das man, wie es aus­ge­rich­tet ist, auf Jo­han­nes be­zie­hen soll­te. ­fi­zi­um ist ein Bild vom Be­gräb­nis (fol. 116), also der Ein­seg­nung ei­nes Dem To­ten-Of Leich­nams wäh­rend der Bet­tung in der Erde vor­ge­schal­tet: Vor ei­ner Fried­hofs­mau­ er, die den Bild­raum strikt auf Kämpf­er­hö­he des Bo­gens ge­gen ei­nen Gold­grund mit Akanthus­zeich­nung ab­schließt, ist rechts ein Grab aus­ge­ho­ben. Hin­ein ist ein vor­nehm ge­klei­de­ter Mann ge­stie­gen, der ei­nen in wei­ßes Lei­nen ein­ge­näh­ten Leich­nam hält. Ein Prie­ster, vom Mi­ni­stran­ten be­glei­tet, seg­net den Ver­stor­be­nen ein, wäh­rend links die Pleurants ge­drängt ste­hen. Zwi­schen den Prie­stern und dem To­ten ver­mit­telt ein gro­ ßes Buch, das so auf­ge­schla­gen ist, als sol­le es eher ihm und uns ein Zei­chen sein als den Geist­li­chen die Li­tur­gie ver­mit­teln. Zu den fran­zö­si­schen Ge­be­ten am Schluß fol­gen zwei ver­trau­te Dar­stel­lun­gen, die er­ste von au­ßer­or­dent­li­chem Charme: Auf ei­ner Wie­se thront die Ma­don­na zu den XV Freu­den (fol. 159) un­ter ei­nem Bal­ da­chin mit dem Kind auf dem Schoß; ne­ben ihr sitzt im Gras ein En­gel mit Har­fe; ein Bro­kat­tuch grenzt den Schau­platz nach hin­ten ab; ge­gen den tief­blau­en Hin­ter­grund, der kaum die Wir­kung ei­nes Him­mels hat, er­hebt sich eine Baum­grup­pe. Man könn­ te hier an Wir­kun­gen den­ken, die an ganz an­de­rer Stel­le um 1440 be­wun­dert wer­den konn­ten: So hat Fra An­gel­ico Bäu­me hin­ter ei­nem Vor­hang auf­tau­chen las­sen, vor dem er die Sacra Con­versa­zi­one für den Hoch­al­tar von San Marco in Flo­renz stell­te (Mu­seo di San Marco). Den Ab­schluß bil­de­te zu­nächst die Auf­er­ste­hung der To­ten beim Jüng­sten Ge­richt zu den VII Kla­gen des Herrn (fol. 164): Hier ist über ei­nem kah­len Hü­gel statt des Him­mels Blatt­gold ge­legt, auf das wie beim To­ten­bild und da­mit gleich­sam in ei­ner in­tel­li­gen­ten ge­dank­li­chen Fort­set­zung zu dem dort Ge­zeig­ten Akanthus­for­men mit schwar­zer Fe­ der ein­ge­tra­gen sind. Sie er­in­nern von fern noch an den Hin­ter­grund der Mi­nia­tur des Maza­rine-Mei­sters zu den Buß­psal­men in Nr. 5 von Ka­ta­log 66 (S. 269). Ma­ria und Jo­ han­nes der Täu­fer fle­hen als Für­bit­ter zu Chri­stus, der auf dem Re­gen­bo­gen thront und den zwei blaue Che­rub­im mit den sil­ber­nen Po­sau­nen des Jüng­sten Ge­richts flan­kie­ren. Die nach­träg­lich hin­zu­ge­füg­te Mi­nia­tur zeigt die Höl­len­qua­len (fol. 167): Im weit auf­ ge­ris­se­nen Höl­len­ra­chen ein gro­ßer Bot­tich, in dem See­len ge­sot­ten wer­den; da­hin­ter sind ver­schie­de­ne Mar­tern in wei­cher Ma­le­rei an­ge­deu­tet (wo­bei die Fi­gur links von der Höl­len­lei­ter auf­fal­lend an Dar­stel­lun­gen des bö­sen Schäc­hers er­in­nert). Die Buch­ma­ler: Ohne Mühe sind zwei un­ter­schied­li­che Hän­de aus­zu­ma­chen: Groß­formig und mit ent­ schie­de­nem Sinn für das Mo­nu­men­ta­le ar­bei­tet der Mei­ster, der den ei­gent­li­chen Buch­ block und die vorn hin­zu­ge­füg­te Mi­nia­tur mit dem Herrn von La Ga­be­tière ge­stal­tet hat. Der Künst­ler wird nach ei­nem Ex­em­plar der Legenda Aurea des Ja­co­bus de Vora­ gine in der fran­zö­si­schen Über­set­zung von Jean de Vignay, Cod. gall. 3 der Baye­ri­schen

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Staats­bi­blio­thek in Mün­chen als Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea oder Maître de la Lég­en­de dorée de Mun­ich be­zeich­net, nach­dem er lan­ge im Um­feld des Bed­ford-Mei­ sters ge­or­tet wur­de. Un­se­re Mi­nia­tu­ren zei­gen den Künst­ler etwa in dem Ent­wick­lungs­ stand, den er auch im na­men­ge­ben­den Codex ein­nimmt. An­ders als in man­chen Stun­den­bü­chern mit Mi­nia­tu­ren sei­ner Hand sind die Bil­der hier kom­pakt, von gro­ßen Fi­gu­ren be­stimmt. Ge­ra­de die re­la­tiv kurz­wüchsi­gen Evan­ge­li­sten mit ih­ren mäch­ti­gen Häup­tern las­sen an je­nes Mar­kus­bild im Münch­ner Codex den­ken, auf dem sich wahr­schein­lich die Si­gna­tur des Künst­lers fin­det: Dort schreibt der Evan­ ge­list (mit den üb­li­chen Ab­kür­zun­gen) er­staun­li­cher Wei­se: „domi­nus co­nradus toliensis fecit“. Des­halb glau­ben wir, von ei­nem Con­rad von Toul spre­chen dür­fen, dem wir ein Œuvre, aber noch kei­ne nach­voll­zieh­ba­re Bio­gra­phie und Ge­stalt ge­ben kön­nen. Ver­ wun­dern mag die Be­zeich­nung domi­nus, die oft auf ei­nen Prie­ster hin­deu­tet. Als zwei­ter war der Du­nois-Mei­ster mit nur ei­ner Mi­nia­tur, die am Schluß nach­ge­tra­ gen wur­de, an un­se­rem Ma­nu­skript be­tei­ligt. Lan­ge mit dem Bed­ford-Mei­ster für ein und die­sel­be Per­son ge­hal­ten, die man schon seit Perls 1935 mit Hain­celin de Haguenau ver­band, steht die­ser Mi­nia­tor nun ei­gen­stän­dig da. Man be­stimmt sein Werk vom Stun­ den­buch für den Halb­bru­der des Charles d’Orlé­ans, den Ba­stard von Orlé­ans, Jean de Du­nois, aus, das als Ms. H. Y. Thompson 3 zu den Schät­zen der Bri­tish Lib­rary ge­hört und von Châtelet in ei­nem Heft der Art de l’enlumi­nure 2008 zu­gäng­lich ge­macht wur­ de. Un­ser Bild ver­ab­so­lu­tiert ei­nen Teil der Höl­len­dar­stel­lung, die im Lon­do­ner Ma­nu­ skript – nur als Bor­dü­re! – mit ei­ner Mi­nia­tur ver­bun­den ist, in der Du­nois vor sol­chen Qua­len durch sei­nen Schutz­en­gel be­wahrt wird. Wer den Bed­ford-Mei­ster für Hain­celin de Haguenau hält, muß folg­lich in dem eng mit dem äl­te­ren Künst­ler ver­bun­de­nen Du­nois-Mei­ster des­sen Sohn Jean Hain­celin er­ ken­nen. Der hät­te dann bis zum Er­lö­schen des Du­nois-Stils 1466 ge­lebt, als der hier als Con­rad von Toul an­ge­spro­che­ne Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea nicht mehr ver­füg­bar war. Ein groß­for­ma­ti­ges, voll­stän­dig er­hal­te­nes rei­fes Werk vom Mei­ster der Münch­ner Legenda Aurea, den wir hier mit al­ler Vor­sicht als Con­rad von Toul an­spre­chen, mit ei­ner ein­drucks­vol­len Mi­nia­tur des Du­nois-Mei­sters, also ein Bei­spiel für Ne­ben­ein­ an­der bei­der Künst­ler in Pa­ris, de­ren Mi­nia­tu­ren die bei­den wich­tig­sten Stil­trends in der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei des zwei­ten Vier­tels des 15. Jahr­hun­derts ver­tre­ten. Von Text und Ge­stal­tung her ein Pa­ri­ser Ma­nu­skript, das je­doch in dem Mo­ment, da es in bre­to­ni­sche Hän­de ge­riet, vom ver­ant­wort­li­chen Haupt­ma­ler noch sei­ne be­ste Mi­nia­tur er­hielt, die zu­gleich in er­staun­li­cher Wei­se per­so­na­li­siert ist und auf den Be­sit­zer, Jean Trous­sier aus der Ge­gend von Saint-Brieuc ein­geht. Durch die­ses hin­zu­ge­füg­te Blatt mit dem bre­to­ni­schen Pro­cureur und Sene­schall Jean Trous­sier ist das statt­li­che Ma­nu­skript zu­gleich ein Bei­spiel für die weit­rei­chen­ de Wir­kung der Pa­ri­ser Buch­ma­le­rei je­ner Zeit. Mit groß­ar­ti­gen, zum Teil er­grei­

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fen­den Kom­po­si­tio­nen, von de­nen man­ches Bild das in Stun­den­bü­chern Ge­wohn­te über­trifft. In ih­rer Ein­fach­heit schlie­ßen die groß­fig­uri­gen Sze­nen an die Bil­der der Münch­ner Legenda Aurea selbst an. Mit ein­drucks­vol­len Ar­bei­ten zwei­er Buch­ma­ler, die je­doch nicht von ei­ner Zu­sam­ men­ar­beit zwi­schen den bei­den Il­lu­mi­na­to­ren zeu­gen, son­dern zwi­schen bei­den ei­ nen zeit­li­chen Ab­stand set­zen, den die bei­den durch die Bil­der er­öff­ne­ten hin­zu­ ge­füg­ten Ge­be­te er­hel­len: Das präch­ti­ge Bild­nis des Jean Trous­sier, Herrn von La Ga­be­tière, stammt aus des­sen Leb­zei­ten, viel­leicht aus dem er­sten Jahr­zehnt sei­ner lang­jäh­ri­gen Tä­tig­keit für die bre­to­ni­schen Her­zö­ge. Vom Du­nois-Mei­ster hin­ge­ gen wur­de ein Ge­bet be­bil­dert, das eher für des­sen Wit­we die­nen soll­te und des­halb sehr viel spä­ter ent­stan­den sein wird; das mag ein Schlag­licht auf die Ge­schich­te der Pa­ri­ser Ma­le­rei im zwei­ten Vier­tel des 15. Jahr­hun­derts wer­fen. In un­se­rem Ka­ta­log bleibt es bei der viel­leicht et­was ir­re­f üh­ren­den Be­nen­nung Gaptière-Stun­den­buch; der Name ist durch un­se­re frü­he­ren Ka­ta­lo­ge ein­ge­führt und hat sich in der kunst­hi­sto­ri­schen Li­te­ra­tur un­se­rer Tage ge­hal­ten; selbst Jean-Luc Deuffic, der den eher an­ge­mes­se­nen Hin­weis auf La Ga­be­tière ein­ge­bracht hat, ist da­von nicht ab­ge­wi­chen. LI­T E­R A­T UR: Leuch­ten­des Mit­tel­al­ter V, 1993, Nr. 15, S. 244-263. Das Pa­ri­ser Stun­den­buch um 1400 (Il­lu­mi­na­tio­ nen 15, Ka­ta­log 66), 2011, Nr. 6, S. 281-306. Deuffic 2014, S. 221-228.

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LXXX Heribert Tenschert 2017


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