The Book of Hours of Claude de Toulongeon | Cat. 88

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Claude de Toulongeon LXXXVIII Heribert Tenschert 2021

Das Stundenbuch des Claude de Toulongeon



Studien und Monographien, herausgegeben von Heribert Tenschert

Für Joost Ritman, brüderlich



Das Stundenbuch des Claude de Toulongeon Ein prachtvolles burgundisches Folio- Manuskript in Halbgrisaille in schönster Erhaltung – reich illustriert und mit schwarz-blauem und goldenem Textdekor

Eberhard König

Katalog lxxxviii Heribert Tenschert 2021


Heribert Tenschert Antiquariat Bibermühle AG Bibermühle 1–2 · 8262 Ramsen · Schweiz Telefon: +41 (52) 742 05 75 · Telefax: +41 (52) 742 05 79 E-Mail: tenschert@antiquariat-bibermuehle.ch www.heribert-tenschert.com

An English abstract of the description is available upon request

Autor des Katalogs: Prof. Dr. Eberhard König, mit Beiträgen von H. T. Layout, Redaktion, Lektorat, Einband: Heribert Tenschert Mitarbeit Maria Danelius; Photos: A. Nalbanti Satz und PrePress: LUDWIG:media Gmbh, Zell am See Druck und Bindung: Passavia GmbH & Co. KG, Passau ISBN: 978-3-906069-36-4


Size matters

(Amerikanische Volksweisheit) In der Bibliophilie – der Liebe zu den schönen Büchern – lohnt es sich, die Alten zu lesen. Was in diesem Fall den Herrn mit dem unausdenkbaren zweiten Vornamen meint, Reverend Thomas Frognall Dibdin. Dieser Geistliche mit sehr weltlichen Vorlieben, Verfasser einer Vielzahl unvermeidlich mehrbändiger Werke, aus denen klassentreue Liebedienerei ebenso trieft wie eine offen zur Schau gestellte Laxheit im Umgang mit Fakten, hat mindestens ein ganz und gar faszinierendes Buch geschrieben: „The Bibliographical Decameron, or, Ten Days Pleasant Discourse upon Illuminated Manuscripts, and Subjects connected with early Engraving, Typography, and Bibliography.” 1817. Drei Bände, 1750 Seiten, Hunderte Illustrationen, oft in Originalradierung. Die ersten 225 römisch paginierten Seiten gelten den schönsten illuminierten Manuskripten in englischem Privatbesitz, sie sind, für die damalige Zeit, schlaraffenmäßig illustriert. Als ich nach dem Erwerb der hier vorgelegten Handschrift (H. P. Kraus, späte achtziger Jahre) die Portrait-Miniatur darin sah, kam mir eine vage Erinnerung an den gerade durchgenommenen Dibdin. Die Nachprüfung zeigte, daß die Illustration auf Seite clxxii (Originalradierung, auf Chinapapier abgezogen und montiert) die Figur des kniefälligen Claude de Toulongeon von fol. 33verso der bewußten Handschrift aufnahm und mit entsagender Treue wiedergab. Diese Trouvaille (allen Vorgängern, von Sothebys über Christies zu hpk, entgangen) habe ich in einer Adnote zu Nr. 39 in meinem ersten Katalog „Leuchtendes Mittelalter” von 1989 bekannt gemacht, gefolgt von einer alttestamentarischen Verfluchung des damaligen Besitzers wegen der Zerstörung des originalen Guilebert-Einbands zugunsten eines schändlichen Beispiels „buchbinderischer Gottverlassenheit”. Das ellenlange Fußnoten-Gerede Dibdins über den Auftraggeber ist allerdings von der notorischen Tendenz zum altväterisch verbrämten Ungefähren. Dennoch: Wenn man die Gesellschaft bedenkt, in der unsere Handschrift hier verkehrt (Bedford-„Missal”, Isabella-Brevier – beide heute Kronjuwelen der British Library –, das Stundenbuch der Claude de France, gleichfalls in meinem Besitz: fünf Abbildungen in Kupferstich!) war das der verdiente Ritterschlag für ein denkwürdiges Gebilde, gefügt aus schneesamtenem Pergament, herrscherlicher Größe (270 mm Höhe), farblich einzigartiger Ertüfteltheit („Halbgrisaille”) und dem Miteinander dreier Künstler, von denen der überragende Kopf sich in die Qualitätshöhe der besten Zeitgenossen schraubt: Dresdner-, Edwards-, Maria von Burgund-Meister, Lieven van Lathem. Unverächtlich auch der zweite Maler, er bringt in die Geheimnislosigkeit Willem Vrelants – immerhin Hofmaler Philipps des Guten – einen Zug von überrumpelnder, schräger Psychologie, die seine Figuren bei allem Goldgeriesel der Säume kurios heutig erscheinen läßt, man sehe sich die geradezu chaplineske Verschmitztheit der Davids-Physiognomie an. –5–


Die künstlerischen Knittelverse der Kalenderbilder tun ihre Pflicht, mehr als sekundiert von den düster kletternden Bordüren mit ihrem müden Rosa und Blau und dem nicht umzubringenden Gold. Wie überhaupt die Farbwirkungen in dieser geisterhaften Handschrift ein Leben für sich führen – der erste Eindruck ist der eines solennen Trauerzugs, in dem sich Schwarz und Gold zu luziferischer Wirkung gruppieren, mit den Miniaturen als tapferen Lebenszeichen. Während die Grisaille einen selbstlosen Nebel über die Gewänder haucht, feuern Landschaft und Architektur mit eifersüchtigem Rot und Grün dagegen und enden wenn es hoch kommt in einem verlegenen Patt. Über die Initialen, sich wölbende Ordenszeichen aus Gold und schwarzer Emaille, wäre zu sagen, daß sie aus jeder Schriftseite allein die dritte Dimension saugend erschaffen, eine Wirkung, die in dieser Suggestivität allen mir bekannten Handschriften abgeht. Aber was will all das hochgemute Deliberieren besagen vor dem Erlebnis des Ganzen, das leider auch der sorgsamste Katalog nicht transportiert! Man nimmt, in Stundenbuchdingen an Duodezoder äußerstenfalls Oktav-Formate gewöhnt, den Folianten mit Ungläubigkeit in die Hand, zollt Devauchelles Pastiche-Einband fachlich vertretbaren Respekt, und öffnet ihn. Der unmittelbare Eindruck ist ein Gefühl herabsinkender Gnade und Dankbarkeit für eine „Zeitmaschine”, die 540 Jahre in einer straffen, immerwährenden Jugend kondensiert. Die köstlichen kleinen Wellungen des Pergaments gegen den Rand hin, wie leichtes Fieber. Der diensttuende KalenderÄlteste läßt seine Untergebenen heraustreten und zurück, ähnlich einem Glockenspiel mit Personal. Der Heilige Johannes auf Patmos, fast eine Patinir-Gestalt, beschwichtigt das farblich passende Attributs-Tier (einen Schrumpf-Adler), um dem höllischen Gast all den Fokus seiner perversen Wirkung zu gestatten. Die anderen Evangelisten, gezeichnet vom zehrenden Ernst ihrer Bestimmung; Matthäus als blühender Jüngling neben einem ausgereckten Engel. Wir müssen weiter. Also: der Beter – Claude de Toulongeon – unser Held, in seinem steinernen Gemach mit gemütlichen Sitzgelegenheiten, über ihm sein brodelndes Wappen, natürlich mindestens von einem Himmelsboten präsentiert. Eine Momentaufnahme aus dem 15. Jahrhundert, die in der Treffsicherheit ihrer Erscheinung, verbunden mit Signalen solventer Realität (Hündchen, Pfauen) uns unbestreitbar gegenwärtig anmutet, von einem humanen Atem, wie ihn die Portraits der großen Niederländer des Jahrhunderts ausströmen. Ihm gegenüber die Dreifaltigkeit in Form eines sich öffnenden Blütenkelchs, umschwebt von allerlei Engelsgelichter. Eigene Erwähnung verdienen die zehn kleineren Miniaturen, ebenfalls vom Hauptmaler. In ihnen ist die Kunst der großen Illuminatoren, der Meister der Margarete von York und der Maria von Burgund, des Dresdner Meisters auch, auf gedrängtestem Raum komprimiert und zum Kristall geschossen; vor allem hier wirkt die Grisaille unbeeinträchtigt ihren traumklaren Reiz, der das Craquelé unserer Erinnerung neu vermisst. Und zuletzt – was für eine Dramaturgie! – das Gemälde von Christus „in der Rast”, sitzend auf dem Kreuzesstamm, umgeben vom Geschäft des Todes und seinen Trägern. Sein Blick geht auf uns, durch uns hindurch, mit jahrtausendealtem Seufzen. Sein nackter Körper leuchtet. Wird er überstehen? Überstanden hat unsere Zimelie, a thing of beauty, kindlich schön, unbezwingbar ragend, eine Wonne für alle Zeit. Bibermühle 2021, im Lockdown. H. T. –6–


Inhaltsverzeichnis S. 9 Ein Brügger Stundenbuch für einen Ritter vom Goldenen Vlies aus Burgund Von Kennern schon seit zwei Jahrhunderten bewundert Claude, der dritte Ritter des Goldenen Vlieses aus der Familie Toulongeon In Brügge von Jean Guillebert gebunden und mit Brügger Kalenderbildern Geschrieben vom Brügger Dominikaner Hanskin de Bomalia? Ein Stundenbuch stolzen Formats, doch im Text für Brügge nicht typisch S. 23 Zum Marien-Offizium eine Art Diptychon mit Anbetung der Not Gottes Der Beter und die Gotteserscheinung als Ziel seiner Andacht Diptychen mit irreführend als Stifter bezeichneten Betern Ein um eine Generation älteres Brügger Beispiel Die Not Gottes als Vision des Beters S. 36 Ein eigenständiger Toulongeon-Meister? Der Meister Edwards IV. von 1479 Ein verwandter Blick in den Himmel Visionen: eine Spezialität des Meisters Edwards IV. S. 44 Bildphantasie in Landschaftsräumen mit erstaunlichem Kolorit Christus in der Rast: ein rares Bildmotiv in der Buchmalerei Johannes auf Patmos Die Bild-Initialen zu den Suffragien und den Gregorsgebeten

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S. 64 Der zweite Buchmaler Das Bild des Namensheiligen Claudius als Abt von Saint-Claude im Jura Für Bilder und Dekor verantwortlich? Architekturen des zweiten Malers Ein systematischer Blick auf Landschaft Eingriffe des Hauptmeisters in Miniaturen des zweiten Malers Zwei Arbeitskampagnen nacheinander? Der zweite Maler auch für den Dekor verantwortlich? Ein Resümee zum Arbeitsablauf S. 74 Grisaille als Ausdrucksform oder als künstlerische Herausforderung Grisaille in Schriftdekor und Bordüren Farbreduktion: ein Zeichen von Trauer und Buße oder von Exklusivität? Grisaille als Kostbarkeitsmetapher in Frankreich Grisaillen für die Burgunder von Philipp dem Guten bis Maria von Burgund S. 81 Mecheln 1491: Ein Blick über die Schultern der Ordensritter S. 85 Abbildung aller illuminierten Seiten des Manuskripts in Originalgröße S. 131 Beschreibung in Form eines Katalogeintrags S. 148 Allgemeine Bibliographie

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Ein Brügger Stundenbuch für einen Ritter vom Goldenen Vlies aus Burgund Schon seit 1817 war unser Manuskript Kennern von Bilderhandschriften geläufig. Die erste Stimme, die sich zu diesem Stundenbuch äußert, spricht noch von einem Missal und folgt damit einem gar nicht so törichten Sprachgebrauch, haben die stolzen Besitzer im späten Mittelalter doch solch ein Buch mit in die Messe genommen, um während der Zeremonie eifrig darin zu lesen.1 Wie die würdige Darstellung eines Ritters mit der Ordenskette des Goldenen Vlieses auf fol. 33v und das bescheidenere Bild desselben 1

Dibdin 1817, I, S. clxxi. Das eigene Beten sollte die Aufmerksamkeit auf fromme Andacht bannen, damit keine schädlichen Gedanken aufkamen, die dann beim Empfang der Kommunion nicht mehr gebeichtet werden konnten. Wie das bei einer Marienmesse aussah, wenn der Priester das Meßbuch, der Chor das Chorbuch, die vornehme Auftraggeberin und ihr Mann jeweils ihr eigenes Stundenbuch öffneten, zeigt beispielsweise der Boucicaut-Meister im Stundenbuch der Jeanne Bessonelle: Paris, BnF, lat. 1161, fol. 192, Millard Meiss, The Boucicaut Master, London 1968, Abb. 200.

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Herrn in der Obhut seines Schutzengels auf fol. 130 zeigt, gehörte das Stundenbuch einem Mitglied dieses berühmten Ritterordens, den Herzog Philipp der Gute von Burgund im Jahre 1430 gründete und der nach Teilung in einen österreichischen und einen spanischen Zweig noch heute fortlebt.2 Ein reizvoller Gedanke wäre sich einmal vorzustellen, wie unterschiedlich die Gebetbücher aussahen, mit denen die Ritter aus verschiedenen Regionen der lateinischen Welt zu den Ordenskapiteln anreisten, um dabei auch gemeinsam zur Messe zu gehen. Unser Stundenbuch hätte sicher auch die anderen hohen Herren in den letzten zwei Jahrzehnten vor 1500 beeindruckt.

Claude de Toulongeon in Dibdin 1817, I, S. clxxii

Von Kennern schon seit zwei Jahrhunderten bewundert Wer einen Sinn für das Schicksal eines einzelnen Buchs hat, kann sich nur freuen, daß ein Manuskript wie das stolze Stundenbuch, das hier ausführlich diskutiert werden soll, schon so früh Bewunderung erregte, obwohl um 1817 noch die von Raffael geprägte Renaissance als das Größte galt und die spätgotischen Züge unserer Buchmalereien manchen Kunstfreund eher befremdeten: Reverend Dibdin hat unser Manuskript bereits am ersten Tag seines Bibliographical Decameron als das Missal eines Ritters vom Goldenen Vlies ins imaginäre Gespräch über illuminierte Handschriften eingeführt.3 Seiner Lokalisierung und Datierung stimmen wir gern zu; denn für ihn wie für uns handelt es sich um eine flämische Arbeit aus der Zeit um 1480.

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Eine vollständige Liste der Mitglieder (bis zum Erscheinungsjahr 1962) und viel nützliches Material bietet der Ausst.-Kat. Brügge 1962. Dibdin 1817, I, S. clxxi–clxxiv; der Kupferstich mit dem betenden Auftraggeber auf S. clxxii eingeklebt.

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Treffend greift der Autor das Wesentliche auf, preist „the purity of its vellum and the soundness of its condition“ und erkennt die wichtigsten Bilder in ihrer Eigenart: Johannes auf Patmos mit dem Teufel, der das Tintenfaß umwirft, so daß die Tinte auf die Wiese fließt (fol. 13v), die ergreifende Darstellung von Christus auf der Rast (fol. 158) mit den üblen Charakterköpfen seiner Peiniger und das schon genannte große Bild des Auftraggebers, das Dibdin sogar als Ausschnitt in einem maßgleichen Kupferstich exakt und seitengleich reproduziert. Zwar fand er eine irreführende Angabe aus dem XVII . Jahrhundert, das Buch sei für einen Ritter vom Goldenen Vlies bestimmt gewesen, der von seiner Pilgerschaft ins Heilige Land nie zurückgekehrt war. Das aber tut nicht viel zur Sache; denn dessen Name hat Dibdin offenbar gar nicht interessiert, nur der Status im burgundischen Orden.

Karl der Kühne: Lüttich, Domschatz – Los Angeles, Getty Museum, Ms. 37, fol. 2

Claude, der dritte Ritter des Goldenen Vlieses aus der Familie Toulongeon Hätte Dibdin, dessen ungemein breite Kenntnis wir heute nur bewundern können, noch ein wenig nachgeforscht, dann wäre ihm aufgefallen, daß zu seiner treffsicheren Datierung um 1480 nur ein einziges Mitglied des Ordens vom Goldenen Vlies paßt, dessen Vorname auch das Stundenbuch verrät, indem es auf fol. 132v dem heiligen Claudius, Erzbischof von Besançon und Patron des Pilgerorts Saint-Claude im französischen Jura, als einzigem mit einem Suffragium angesprochenen Heiligen ein großes Bild widmet: Das von Dibdin reproduzierte Bildnis im Manuskript (fol. 33v) zeigt diesen Claude im Gebet als Ritter des Goldenen Vlieses.4 Wie Claude de Toulongeon in seiner Rüstung kniet und betet, den Helm neben sich abgelegt, gemahnt er an eine der kostbarsten Arbeiten für den Burgunderhof: Karl der Kühne 4

Deshalb wird die Miniatur auch von Van de Put im Burlington Magazine xliii, 1923 auf Taf. B abgebildet.

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hat im ersten Regierungsjahr, 1467, bei seinem Goldschmied und Kammerherrn Gerard Loyet ein mit 53 cm Höhe recht stattliches Votivbild aus reinem Gold bestellt, das er erst 1471 dem heiligen Lambert, Patron von Lüttich, stiftete.5 Der Herzog, der eine Reliquie, vermutlich des heiligen Adrian und nicht Lambert, darbringt, wird von Sankt Georg präsentiert, in einem autonomen Kunstwerk, dessen konkrete Zuordnung unklar bleibt. 6 Die goldenen Statuetten des Herzogs und seines Kriegspatrons Georg konnten schon bei der Schenkung an den Lütticher Patron Lambert nicht ohne konkreten Bezug auf Kriegsverbrechen in der Stadt verstanden werden, die Karl der Kühne schon 1466 gnadenlos heimgesucht und die er bei der wieder aufflammenden Revolte 1468 noch einmal geplündert hatte, wobei er sogar die Kathedrale und den Lambert-Schrein dort entweihte.7 Über der Rüstung trägt Claude de Toulongeon ein mit seinen Farben geschmücktes Wams; und über seinem Haupt präsentiert ein Engel das Wappen mit Helmzier, das aus Sennecey und Toulongeon zusammengesetzt ist: im 1. und 4. Viertel auf Rot drei waagerechte mit Silber gerahmte Leisten, im 2. und 3. auf Rot drei gewellte Fasces in Gold. Dabei ist das Rot im 1. und 4. Viertel mit Silber unterlegt und wirkt deshalb sehr viel dunkler. Th. Kren, weiland Getty Museum, Los Angeles lässt sich anlässlich des auf 1526 datierten Ms. LA 210 („Holford-Stundenbuch“) im Gulbenkian-Museum in Lissabon über das dort vorgeschaltete Portrait des Auftraggebers mit Wappen folgendermaßen verlauten: „This is the earliest Flemish portrait in a manuscript of a devotional book’s patron unaccompanied by any devotional figure.“ Unser von all derlei Beifiguren ebenfalls lediges Portrait des Claude de Toulongeon entstand gute 45 Jahre früher; siehe jetzt den Katalog der Manuskripte des Gulbenkian-Museum, 2020, Nr. 29. Man sieht immer nur, was man sehen will. Noch zu Lebzeiten der Maria von Burgund (Herzogin von 1477–1482) beim XIV. Ordenskapitel, das am 6. Mai 1481 in s’Hertogenbosch abgehalten wurde, hat der Habsburger Erzherzog Maximilian (1459–1519), der 1493 deutscher König, aber erst 1508 Kaiser wurde, Claude de Toulongeon gleichzeitig mit dem eigenen Sohn Philipp dem Schönen in den Orden vom Goldenen Vlies aufgenommen. Claude war das 96. Mitglied. In den beiden wichtigsten Bilderhandschriften, die alle bis dahin ernannten Ritter in Phantasieporträts mit ihren Wappen erfassen, kommt Claude noch nicht vor. Im Haager Manuskript8 erscheinen aber sein Vater Antoine de Toulongeon (1385–1432), der zu den ersten Rittern überhaupt gehörte, und sein Onkel André (1390–1432), den die Notiz in unserem Stundenbuch, und ihr folgend Dibdin, für den Besteller hielt: André wurde erst in seinem Todesjahr aufgenommen, kurz bevor er zur Pilgerschaft ins Heilige Land aufbrach, von der er nicht zurückkehrte. 5 6 7 8

Lüttich, Schatz der heute als Kathedrale dienenden Stiftskirche St. Lambert: Van der Velden 2000. Bei Loyet, der aus Dijon stammte und in Brügge auch als Münzmeister des Herzogs angesiedelt war, hat Karl der Kühne zumindest acht ähnliche Arbeiten bestellt. Van der Velden 2000, S. 6–8 und passim. Livre des Statuts et des Blasons de l’Ordre de la Toison d’Or: Den Haag, KBR , 76 E 10. Das Manuskript erfaßt die 70 ersten Ritter bis zu Philipp von Savoyen, Graf von Baugey, ernannt in Brügge 1468, mit späteren Ergänzungen: Ausst.-Kat. Brügge 1962, Nr. 32; Ausst.-Kat. Den Haag 1980, Nr. 50, mit dem Hinweis, Karl der Kühne, der mit dem Tod seines Vaters 1467 Herzog wurde, werde nur als Graf von Charolais bezeichnet.

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Antoine und André de Toulongeon in Den Haag, KBR , 76 E 10 – Antoine in Arsenal 4790

Wie in unserem Stundenbuch sind die Wappen von Claudes Vater Antoine und dem Onkel André im Haager Manuskript zusammengesetzt aus Toulongeon und Sennecey, jedoch seitenverkehrt; denn die Viertel sind vertauscht: Écartelé: aux 1 et 4, de gueules, à trois fasces ondées d’or (Toulongeon); aux 2 et 3, de gueules, à trois jumelles d‘argent (Sennecey). Die Helmzier mit silbernem und rotem Blattwerk und der Büste eines silbernen Leoparden stimmt in allen drei Fällen überein. Auch im Grand Armorial équestre de la Toison d’Or zeigt sich Claudes Vater Antoine als Marschall von Burgund zu Pferde mit den Farben von Toulongeon und Sennecey. Diese von der Gründung im Jahr 1430 bis 1461 angelegte Handschrift stellt die Ritter in voller Rüstung dar, aber wie ihre Rösser ganz von heraldischem Tuch bedeckt.9 Als nachgeborener Sohn des Antoine de Toulongeon, der im Amt des Maréchal de Bourgogne dem eigenen Bruder Jean II (1381–1427) nachgefolgt war, kam Claude de Toulongeon vor 1424 zur Welt.10 1453 wurde er zum Ritter geschlagen. Als Seigneur de la Bastie war Claude Kammerherr unter Philipp dem Guten.11 Im französischen Kernland des Herzogtums versuchte er, sofort nachdem Karl der Kühne am 5. Januar 1477 vor Nancy gefallen war, die burgundischen Stände gegen den französischen König Ludwig XI . in Chalon zu versammeln; im Juni desselben Jahres nahm er diese Stadt für kurze Zeit ein. Inzwischen gehörte er dem Rat der Maria von Burgund (1477–1481) an, die ihn 1479 mit Regierungsgeschäften in der Franche-Comté betraute. Gegen Frankreich stritt er erfolgreich um Besançon. Wappen und Besitztümer von Toulongeon und Sennecey fielen ihm erst nach dem Tod seines Mündels Philibert im selben Jahr 1479 zu. Doch in der Auseinandersetzung um das Grand Armorial équestre de la Toison d’Or: Paris, Arsenal, Ms. 4790, fol. 147: Schnerb 2000, Abb. 3. Eine Reproduktion davon findet sich bei Gaignières 1823: Pastoureau und Popoff 2001; Pastoureau 2017. Ein Bild von André de Toulongeon findet sich im erhaltenen Bestand nicht. 10 Siehe den Betrag von Jean Richard in der zweiten Auflage von De Smedt, vor allem S, 223. 11 Père Anselme, Histoire généalogique et chronologique de la maison royale de France, II , Paris 1726, S. 870. 9

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Herzogtum, das der französische König nach Karls Tod einziehen wollte, konnte er sich nur kurz in Burgund halten: 1480 konfiszierte Ludwig XI . seine Güter; 1481 bestrafte er Claudes Treue zu Maria und Maximilian, die ihn für den Orden des Goldenen Vlieses empfahl, indem er den Familiensitz im früheren Arrondissement Bourg-en-Bresse, an der Grenze der heutigen Départements Ain und Jura, zerstören ließ. Zwar hat man Claude schon 1482 seinen Besitz wieder offiziell zugesprochen; doch mußte er weiter darum prozessieren. Die Ordenskette des Goldenen Vlieses erhielt er nicht im Mai in s’Hertogenbosch, sondern am August 1481 in Brüssel aus der Hand des Lodewijk van Gruuthuse, Herrn von Brügge. Zehn Jahre später erhielt er selbst von Philipp dem Schönen den Auftrag, dem gerade in den Orden aufgenommenen englischen König Heinrich VII . Tudor die Kette nach England zu bringen, was am 16. Oktober 1491 bestätigt wird. Der Konflikt mit der französischen Krone blieb ungelöst; so erklärte ihn Karl VIII . 1489 zum „serviteur domestique de nostre ennemi d’Autriche“.12

Burgundisch, Claude de Toulongeon mit Claudius, Worcester Art Museum

Das Haupt des Beters in unserem Stundenbuch entspricht auffällig den noch jüngeren Zügen auf dem Fragment einer Altartafel im Worcester Art Museum, zu dem ein entsprechendes Fragment mit Claudes Gemahlin Guillemette de Vergy gehört.13 Einer unbekannten Gotteserscheinung oder der Madonna wurden beide – in diesem Falle wirklich als Stifter – von ihren Heiligenpatronen anempfohlen: Claude vom Bischof Claudius, Guillemette von Elisabeth von Thüringen. Diese Gemälde aus der Zeit zwischen der Eheschließung im Jahr 1470 und der Aufnahme in den Orden vom Goldenen Vlies 1481 hat ein ausgezeichneter anonymer Maler aus dem burgundischen Kernland oder aus der Freigrafschaft Burgund, aber sicher nicht aus den Niederlanden geschaffen.

Erst im XVIII . Jahrhundert wurde Alone südlich von Autun zum Sitz einer späteren Familie Toulongeon-Alone. 13 Ring 1949, Taf. 133–134; Nr. 136a–b; European Paintings in the Collection of the Worcester Art Museum 1974, S. 222–224.

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Claude hinterließ nach seinem Tod 1502 oder 1504 eine Tochter Charlotte. Nach deren Ableben gingen Titel und Wappen an Jacques de Vienne (gest. 1566), der in französischen Diensten unter Karl IX . stand. Er hat vielleicht auch das Stundenbuch geerbt, dessen Provenienz von da an bis in Dibdins Zeiten ungeklärt ist.14 Claude de Toulongeons Exemplar der Ordensstatuten ist erhalten.15 Der Froissart aus der Sammlung Hamilton in Berlin hat die Toulongeon-Wappen und gehörte offenbar Claude.16 Denkbar ist auch, daß Claude de Toulongeon und nicht, wie zuweilen gesagt wird, Baudouin II de Lannoy vom Meister Edwards IV. das Pariser Exemplar des Miroir d’humaine salvation ausmalen ließ, das in vielen Miniaturen einen nicht durch Wappen gekennzeichneten Ritter vom Goldenen Vlies zeigt und im Folgenden noch diskutiert werden soll.17

Beispiel für einen Einband signiert von Jean Guilebert

Zur neueren Provenienz siehe den Katalogeintrag am Ende dieses Bandes. 15 Paris, BnF, fr. 1281: Jacques Lemaire, Considérations codicologiques sur les manuscrits des Status de l’ordre de l Toison d’or, in: Cockshaw und Van den Pantens 1996, S. 24–30; Anne Korteweg, ebenda, S. 42. Zu Claudes Bücherbesitz: Wijsman 2010, S. 516, Anm. 36. 16 Berlin, SbPK , Hamilton 266: Dominique Stutzmann und Pjotr Tyllus, Les manuscrits médiévaux français et occitans de la Preussische Staatsbibliothek et de la Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz. 17 Paris, BnF, fr. 6275: zuletzt Wijsman 2007, S. 185-187. 14

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In Brügge von Jean Guilebert gebunden und mit Brügger Kalenderbildern So lebendig uns das Manuskript auch als ein Werk für einen Ritter vom Goldenen Vlies vor Augen steht, so stellt sich schließlich doch Bitternis ein, wenn man von Dibdin erfährt, das Manuskript sei im Jahr 1817nicht nur wie heute immer noch im Buchblock perfekt erhalten, sondern verfüge auch über seinen originalen Einband, dessen dunkles Kalbleder blind geprägt und sogar von Iohannes Gvillebert signiert sei. Den Namen des von 1467 bis 1489 in Brügge tätigen Buchbinder kennt man von manch anderem flämischen Manuskript.18 Guileberts damals noch intakten Einband hat Henry Broadley von Ferriby bei Hull, den Dibdin als Besitzer nennt, herunterreißen lassen. In Broadleys häßlichem braunen „roan“ gelangte der Band über unser Antiquariat19 an die Amsterdamer Bibliotheca Philosophica Hermetica. Joost Ritman hat sich dann nach 1989 an Alain Devauchelle in Paris gewandt. Dieser große Buchbinder unserer Zeit hat einen historisierenden Kalblederband geschaffen: Blindgeprägt auf Holz; in sehr schlüssiger spätgotischer Anmutung auf vier sichtbaren Bünden mit zwei Messingschließen. Devauchelle hat seine Arbeit aber sehr viel zurückhaltender signiert als einst Jean Guilebert das ärgerlicher Weise verlorene Brügger Original. Das Burgund der Herzöge reichte unter dem 1477 bei Nancy gefallenen Karl dem Kühnen von den Weinbergen um Mâcon im Süden bis zu den Westfriesischen Inseln im Norden. Das Herzogshaus war eine Nebenlinie der französischen Königsfamilie Valois. Es gab keine Hauptstadt; der Hof zog, wie die Städte zeigen, in denen die Ordenskapitel des Goldenen Vlieses abgehalten wurden, durch das Land.20 Große Entfernungen waren wie die zwischen dem Stammsitz der Toulongeon im Jura und der flämischen Metropole Brügge offenbar selbstverständlich. Französisch war die führende Sprache, auch wenn mehr als die Hälfte der Bevölkerung niederländische Dialekte als Muttersprache hatte. Burgundisch und flämisch wird in der Literatur zu Kultur und Kunst der Epoche oft allzu sorglos gleichgesetzt; in der Geschichte der Buchmalerei ist von Werken aus Burgund kaum zu sprechen und südniederländisch nicht mit nordniederländisch zu verwechseln. Burgundische Stundenbücher – für den Hof und seine Umgebung, für Bürger und später auch für den Export in den Mittelmeerraum – sind meist nur mit Mühe zu verorten. Wie unser Manuskript für Claude de Toulongeon folgen sie bevorzugt dem liturgischen Gebrauch von Rom. Die Kalender sind selten ausdifferenziert. Charakteristisch zur Erkennung sind eigentlich die Heiligenpatrone Bavo und Donatian; sie stehen für Gent und Brügge; und am liebsten spricht man gleich von Gent-Brügger Malerschule, vor allem wenn man an die Jahrzehnte um 1500 denkt. Delaissés Versuch, neben kennerschaftlicher Bestimmung

So hat Jean Guilebert auch die drei Bände der Fleurs des histoires von Jean Mansel signiert: Brüssel, KBR , ms. 21252–21253 und IV 669: Wijsman 2010, S. 579. 19 Siehe dazu Heribert Tenscherts treffendes Postscript zur Beschreibung des Buchs als Nr. 39 in Leuchtendes Mittelalter I, Rotthalmünster 1989, S. 241–243. 20 Bis zur Aufnahme von Claude de Toulongeon 1481 tagte man in Lille, zweimal Brügge, Dijon, Brüssel, zweimal Saint-Omer, Gent, Mons, Den Haag, Valenciennes und s’Hertogenbosch, unter dem Habsburger Philipp dem Schönen dann in Mecheln, Brüssel und Middelburg: Ausst.-Kat. Brügge 1962, S. 33–38. 18

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kodikologische Hinweise für eine präzisere Lokalisierung in acht verschiedene Städte zu nutzen, hat die Forschung angeregt, aber keine kunstgeographische Klarheit gebracht.21 Gern stellt man sich vor, Auftraggeber hätten angesichts der unüberschaubaren textlichen Vielfalt von Stundenbüchern ihre persönlichen Interessen eingebracht. Doch oft werden nicht einmal im Kalender die persönlichen Patrone der Auftraggeber angemessen verzeichnet. Am Namenstag von Claude de Toulongeon, dem 6. Juni, erscheint in unserem Stundenbuch statt des Bekenners Claudius, des Abts von Condat und Erzbischofs von Besançon, der englische „cutbert“. Doch findet sich am 3. Dezember ein heiliger Glaude; diesen Römer, der mit seiner Gemahlin Hylaria den Märtyrertod erlitt und auch als Glaudius vorkommt, hat der Schreiber für Claudes Namenspatron gehalten und sogar durch eine Versalie hervorgehoben. Da Korrekturen ausgeblieben sind, hat der Besitzer offenbar den durch und durch verderbten volkssprachlichen Kalender, der mit stark dialektal bezeichneten Heiligen für jeden Tag besetzt ist, nie benutzt. Der Schreiber mag gewußt haben, dass der aus dem Süden stammende Burgunder Claude de Toulongeon für Flandern charakteristische Heilige wie Bavo und Donatian nicht brauchte. Mit den Festen von Dionysius (9.10.) und Nicasius (14.12.) werden Paris und Reims angesprochen. Doch fehlen Hinweise auf das französische Kerngebiet von Burgund ebenso wie auf die Franche-Comté. Claudes Namensheiligen hat er nicht vergessen; denn im Text hat er ihn zweimal hervorgehoben: in der Litanei und den Suffragien.

Los Angeles, Getty Museum, Arenberg-Stundenbuch, Oktober und Vergleichsseite aus Toulongeon-Ms. 21

Nach acht Herstellungsorten hat Delaissé die Buchmalerei unter Philipp dem Guten in seinem Ausst.Kat. Brüssel 1959 geordnet.

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Trotz seiner hagiographischen Defizite hilft der Kalender, unser Stundenbuch als Arbeit aus Brügge zu erkennen; dort lebte bis 1481/82 der vermutlich aus Paris stammende und vielleicht über Rouen nach Flandern gekommene Buchmaler Willem Vrelant.22 Zwar kommt eine Zuschreibung der 24 quadratischen Bildfelder im Kalender an diesen Meister selbst keineswegs in Frage; doch verraten die Themen und die große Mehrzahl von Motiven des Zodiaks wie der Monatsarbeiten einen sehr engen Bezug ausgerechnet zu einem Hauptwerk Willem Vrelants, das nach englischem Brauch strukturierte ArenbergStundenbuch für den Gebrauch von Sarum, das mit der Sammlung Ludwig ins J. Paul Getty Museum gekommen ist.23 Dort stehen unter dem Text auf den Recto-Seiten jeweils Arbeit und Tierkreiszeichen in leicht hochrechteckigen Feldern nebeneinander. Deshalb hat Vrelant, der diesen Bildern offenbar besondere Aufmerksamkeit widmete, die Landschaften zuweilen aufeinander abgestimmt. Besonders auffällig ist die Metzgerei im Dezember, die dort wie in unserem Kalender trapezförmig angelegt ist: Durch schräge Seitenwände blickt man ins Freie; bildparallel schließt sich der Raum in der Mitte hinter dem Metzger; bei Vrelant wird er ein Schwein schlachten, im Toulongeon-Stundenbuch hingegen ein Rind. Bildfolge und Themenwahl stimmen insgesamt auf das Engste miteinander überein. Auch die jeweilige Richtung der Gestalten verbindet beide Zyklen. Doch wo sich Vrelant beispielsweise bei der Baumbearbeitung im Februar eine ungewohnte Drehung einfallen läßt, weicht unsere Miniatur ab, und statt die Zwillinge als zwei nackte Jünglinge zu begreifen, die im ArenbergStundenbuch wie zum Ringkampf aufeinander zugehen, trifft bei unserem Maler ein Jüngling auf ein Mädchen, wie es häufiger in zeitgenössischen Kalendern zu finden ist. Der Zyklus im Toulongeon-Stundenbuch geht also, was nicht weiter verwundert, kaum auf ein bestimmtes heute erhaltenes Exemplar, sondern eher auf Vorlagen aus Willem Vrelants Werkstatt zurück.

Zu diesem Maler siehe Farquhar 1976, der damit kämpfen mußte, ob sein „Loredan-Meister“ nicht doch der junge Vrelant war, der dann aus Paris über Rouen nach Brügge gekommen wäre, sowie den als Künstler-Monographie angelegten Brüsseler Ausst.-Kat. von Bernard Bousmanne aus dem Jahr 1997. 23 Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Ms. Ludwig IX 8: Plotzek 1982, Abb. 139–150; Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Nr. 15. 22

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Wie der ganze Bildschmuck für Claude de Toulongeon sind die Kalenderbilder in Grisaille ausgemalt. Der für sie verantwortliche Illuminator, der kein Bild im Buchblock beisteuerte, hielt sich strenger als die anderen an der Ausmalung beteiligten Künstler an den Farbverzicht. Er setzt kein Grün in der Landschaft ein und färbt Büsche und Baumkronen wie auch Wiesen grau; mit weißen Linien begleitet er schwarze Konturen. Tierkreiszeichen wie Monatsbilder sind vor Landschaftsausblicken gezeigt, denen Vrelants Vielfalt fehlt; denn sie folgen oft einem simplen Schema, bei dem das Gelände von links nach rechts abfällt. daß die Figuren recht kurz und stämmig sind, ist sicher der Aufgabe geschuldet, Landleute in niedrigen Bildfeldern bei der Arbeit zu zeigen. Physiognomisch orientiert sich der Maler an Vrelant; der Abstand zu diesem Meister bleibt jedoch markant. Unseren Kalender mag einer der Lehrlinge gemalt haben, die Vrelant ausgebildet hat.24 Seine Arbeit ist ordentlich, lebendig und einer guten Vorlage verdankt. Doch schon das bescheidene Format dieser 24 Bildchen hat uns davon abgehalten, das Toulongeon-Stundenbuch in den parallel konzipierten Katalog zu flämischen Monatsbildern aufzunehmen. Ausgeführt wurden sie von einem tüchtigen Gehilfen ohne künstlerische Ambitionen. Doch immerhin ist seine Mitarbeit neben dem heute verlorenen Einband ein wichtiger Hinweis auf Brügge. Geschrieben vom Brügger Dominikaner Hanskin de Bomalia? Geschrieben ist das Stundenbuch in einer burgundischen Bastarda, wie sie eher für Texthandschriften als für Stundenbücher verwendet wurde. Deshalb mag man unwillkürlich an Handschriften denken, wie sie Jean Miélot (1472 gestorben) oder David Aubert (tätig zwischen 1453 und 1479) geschaffen haben. Miélot hat als Autor, Übersetzer und Schreiber in Lille gearbeitet;25 Aubert, der als Autor der Cronicques et conquestes de Charlemaine26 hervorgetreten ist, war mit 43 von ihm signierten Manuskripten wohl der eifrigste Schreiber zu Zeiten Philipps des Guten und hat einige der großartigsten burgundischen Handschriften wie den Breslauer Froissart für den Großbastard Anton von Burgund geschrieben.27 Doch wird das Toulongeon-Stundenbuch eher von einem Spezialisten für Gebetbücher geschrieben sein: Wir denken an Hanskin de Bomalia, mit dem wir uns mehrmals auseinandergesetzt haben.28 Auch dieser Schreiber hat zuweilen seine Werke signiert:29 Erst im zweiten Jahrzehnt des XVI . Jahrhunderts entstand das von Simon Bening illuminierte 24 Zu Vrelants Werkstattsystem mit jeweils einem Lehrling für zwei bis drei Jahre hat Anne van Buren 1999 25 26

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wichtige Erkenntnisse veröffentlicht. Zu Miélot siehe z.B. das Buch von Wilson und Wilson 1984. Brüssel, KBR , ms. 9066–9068: Die gesamte Bebilderung bei Jacques de Gheyn S. J., Brüssel 1909. Siehe auch Danielle Quéruel (Hrsg.), Les manuscrits de David Aubert «escripvain» bourguignon, Paris 1999, mit einer Liste der Buchmaler in Handschriften von David Aubert auf S. 99 f.; siehe auch Richard Gay, Selected Scribe Biographies in: Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, S. 518 f. Berlin, Staatsbibliothek, Depot Breslau 1: Zenker 2018. Zuletzt im Katalog flämischer Kalender 2020, Nr. 5. W.H.J. Weale, Documents inédits sur les enlumineurs de Bruges, in: Le Beffroi IV, 1872/3, S. 318, 322, 329 und 332. Alfons W. Biermann, Die Miniaturenhandschriften des Kardinals Albrecht von Brandenburg (1514–1545), in: Aachener Kunstblätter 46, 1975, S. 15–310; hier S. 37, Anm. 147; Lieve de Kesel, Almost Restored. The Hours of the Archduchesse Isabella Clara Eugenia. Berlin, Kupferstichkabinett 78 B 15, in: Jahrbuch der Berliner Museen 2001, S. 110–141, bes. S. 113 f.; Gay 2006.

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Stundenbuch im Haager Museum Meermanno-Westreenianum, dessen Kolophon in Rot den Namen verrät: Per hanskin de bomalia.30 Ihm voraus ging in den Jahren 1502/03 das Wiener Stundenbuch Jakobs IV. von Schottland mit dem Eintrag Perf(ecit) Io(hannes) de Bomalia am Ende der Suffragien, die zunächst am Ende gestanden haben, dann aber offenbar nach Inselbrauch für den schottischen König im Buch weit nach vorn umgesetzt wurden.31 2008 konnten wir das in der Literatur zuvor schon nach älteren Besitzern als Rodocanachi-Stundenbuch bezeichnete dritte signierte Manuskript beschreiben und mit dem flämischen Talbot-Meister verbinden: Dort findet sich auf fol. 192v, dem wohl zunächst geplanten Textende, ein Explicit: Finis huius libri p(er) me/ Hanskin de Bomalia.32 Erst nach diesem Explicit hat Hanskin dort noch weitere Texte angefügt. Dieser Schreiber ist wohl mit dem „Thin Descender Scribe“ identisch und damit auch für das sogenannte Stundenbuch der Maria von Medici in Oxford verantwortlich gewesen.33 Ein „broeder Jan van Bomale“ ist seit 1489 in der Johannes- und Lukas-Gilde der Brügger Illuminatoren nachweisbar. Zwischen 1492 und 1495 firmierte er als „Ian Bomale“; in einem Vertrag von 1499 heißt er in einer Mischung aus Französisch und Flämisch „heer Ian de Bomalia presbitre religieux van sinte Dominicus ordene“. Der Gründer des Dominikanerordens ist am 8. August erwähnt, nicht aber Petrus Martyr am 29. April. Lieve de Kesel betont, daß unser Schreiber nicht vor 1477 nachgewiesen ist; wenn man die Zuschreibung an Hanskin de Bomalia akzeptiert, wird man die Entstehung des ToulongeonStundenbuchs deshalb am besten in die Jahre datieren, in denen Claude de Toulongeon in den Orden des Goldenen Vlieses aufgenommen wurde, also um 1481. Ein Stundenbuch stolzen Formats, doch im Text für Brügge nicht typisch Mit 171 Blatt Pergament ist der Band relativ schmal; doch von der Blattgröße her übertrifft das Toulongeon-Stundenbuch mit seinen 269 x 161 mm sogar die Bände, die man als Grandes Heures Philipps des Kühnen kennt.34 In Vrelants Œuvre findet man solche Maße kaum; am nächsten kommt das schon für den Kalenderzyklus zitierte Arenberg-Stundenbuch im J. Paul Getty Museum.35 Eine Generation früher hatte man derart stolze Formate für Stundenbüchern sehr viel entschiedener geschätzt: Das ungefähr maßgleiche Llangatock-

30 Den Haag, Museum Meermanno-Westreenianum, ms. 10 E 3: Ausst.-Kat. Utrecht 2018, Nr. 85. 31 32 33

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Wien, ÖNB , Cod. 1897, fol. 58: Faksimile und Kommentar von Franz Unterkircher, Graz 1987. Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge V, 2008, Nr. 25. Oxford, Bodl. Library, Douce 122: Faksimile und Kommentarband von Eberhard König, Luzern 2011. Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003. Nrn. 110 und 137. Zu Handschriften des „Thin Descender Scribe“ siehe Leslie Macfarlane, The Book of Hours of James IV and Margaret Tudor, in: The Innes Review 11, 1960, S. 3–21. So z. B. der auch von Vrelant bearbeitete Band in Cambridge, Fitzwilliam Museum, ms. 3–1954: 253 x 178 mm: Bousmanne 1997, S. 242–245. Größeres Format haben die in der BnF als Gruppe aufgestellten latin 9471–9474, deren erstes als Grandes Heures de Rohan (290 x 208 mm) und letztes als Grandes Heures d’Anne de Bretagne (299 x 195 mm) bekannt sind: Leroquais 1927, Nrn. 142 und 145. Plotzek 1982, S. 142: 275 x 171 mm; Bousmanne 1997, S. 272: 272 x 172 mm.

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Stundenbuch bei Getty36 und ein stilverwandtes Manuskript in Florenz37 stammen aus dem Jahrzehnt nach 1450. Hingegen ist zum Beispiel das Manuskript, das als das Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund bezeichnet wird und eher für deren Stiefmutter Margarete von York um 1470 geschaffen wurde, mit 177 Blatt etwa gleich dick, begnügt sich aber mit 170 x 120 mm. Zehn Jahre später vertritt das Berliner Stundenbuch, das Maria und Maximilian vor Marias Tod 1482 wirklich gehört hat, mit seinen 103 x 70 mm schon den Typ jener kleinen, dafür aber umfangreichen Bände, die fortan Mode sein sollten. Gegen den epochalen Wandel, den man seit Pächt 1948 mit der Regierungszeit der Maria von Burgund (1477–1482) verbunden hat, der in Wirklichkeit aber schon um 1470 einsetzte, behauptet das Toulongeon-Stundenbuch eine konservative Haltung. Während fortan Bilder am liebsten auf eingeschaltete Blätter gemalt wurden, gibt es dafür hier nur ein Beispiel. In den Bordüren stehen Akanthus und Blütenzweige auf Pergamentgrund, in dem der ältere Dornblattdekor in kleinen Punkten fortlebt. Wie das Format und der Verzicht auf jeglichen Streublumendekor verrät auch die Textfolge, wie stark das Toulongeon-Stundenbuch früherem Brauch verpflichtet ist. Hier ist man noch weit entfernt von jenen Handschriften, die wie die meisten um 1500 entstandenen flämischen Stundenbücher mit einer Vera Icon des Salvators zum Gebet Salve sancta facies einsetzen und bald danach mit der Marienmesse Salve sancta parens aufwarten. Für Auswahl und Abfolge der Texte mag auch die Herkunft des Autors aus dem französischen Burgund eine entscheidende Rolle gespielt haben. Älterer Pariser Tradition getreu setzt der Buchblock mit den vier Perikopen ein, die – ohne auf die Passion einzugehen – vom Beginn des Johannes-Evangeliums über die Verkündigung nach Lukas und die Weisen aus dem Morgenland nach Matthäus zu Christi Aufforderung an die Apostel nach Markus führen. Gegen französischen Brauch finden dann aber die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist zwischen den Perikopen und den Mariengebeten Obsecro te und O intemerata Platz, die ihrerseits wie in Paris vor dem Marien-Offizium stehen. Wer angesichts einer Beobachtung in einem Stundenbuch von einem absolut einzigartigen Phänomen schreibt, riskiert, bald selbst auf eine unerwartete Parallele zu stoßen. Doch nie habe ich in den mehr als drei Jahrzehnten, in denen ich das Toulongeon-Stundenbuch kenne, ein zweites Marien-Offizium gesehen, dem wie hier das Glaubensbekenntnis von Nicäa vorgeschaltet ist. In manchen Exemplaren steht dieser nach dem Incipit auch als Quicumque vult bekannte Text zwischen Toten-Offizium und Suffragien. Meist wird er als Symbolum Athanasii bezeichnet, hier heißt er auf eine nicht ganz so einzigartige Weise „psalmus sa(n)cti athanasii“.38

Los Angeles, J. Paul Getty Museum, ms. Ludwig IX 7: Plotzek 1982, S. 115: 264 x 184 mm; übereinstimmend Bousmanne 1997, S. 271. 37 Florenz, Laurenziana, Acq. e doni 147: Bousmanne 1997, S. 251 mißt 263 x 179; Mario Tesi kommt im Bildband zur Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz 1986, S. 244, zur post-eyckischen Verkündigung (Taf. CLXXX) auf 260 x 175 mm. 38 Als „psalme de la foy“ rubriziert ist der Text auf fol. 193v in latin 1181 der Pariser BnF (Leroquais 1927, Nr. 46, I, S. 124; „Psalmus de trinitate“ heißt er in latin 1401 ebenda (Leroquais 1927, I, S. 237). Auch im Fragment latin 1426A, fol. 36, ist von „pseaume“ die Rede (ebenda, S. 291). 36

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Das Marienoffizium ist mit den Psalmengruppen für verschiedene Wochentage in der Matutin textreich angelegt. Gegen weit verbreiteten Brauch genügt zu Beginn der Laudes (fol. 50v) eine aufwendig dekorierte bildlose Zierseite. Auf das Advents-Offizium nach der Komplet wird verzichtet. Es schließen sich wie gewohnt als weitere Haupttexte die Bußpsalmen mit der Litanei und das Toten-Offizium mit den Suffragien an. In der einen wie der anderen Heiligenauswahl wird Claudius jeweils hervorgehoben. Angeordnet sind die Heiligen nach gewohntem Schema, doch ihre Beschränkung ist bemerkenswert: Die Suffragien beginnen mit Michael und dem Schutzengel, verkürzen dann den an Johannes den Täufer gerichteten Text, verzichten auf Apostel, springen zu den als Pestheiligen verehrten Märtyrern Christophorus und Sebastian, greifen aus der Schar der Bekenner nur den Namensheiligen Claudius heraus und wenden sich dann – für einen Mann ungewöhnlich – an drei weibliche Heilige. daß Marias Mutter Anna am Anfang steht, paßt zum neu auflebenden Annenkult unter Sixtus IV. (Papst von 1471 bis 1484). Im Apollonia-Text wird ausdrücklich Zahnweh genannt. Einer gerade erst aufkommenden Mode folgt dann als letzter an Fürbitter gerichteter Text ein Suffragium an Susanna, die gar nicht als Heilige gelten kann, da sie in vorchristlicher Zeit lebte und nur aus den Daniel-Apokryphen bekannt ist. Ganz und gar ungewohnt ist schließlich das Suffragium an das Altarsakrament auf fol. 135. Wie die Suffragien bebildert sind auf fol. 157 die fünf statt der gewohnten sieben oder acht Gregorsgebete. Schon in den Texten wird auf den Beter in einer Weise persönlich Bezug genommen, wie man sie in Suffragien nur recht selten findet: Er soll im Text zum Schutzengel seinen Namen nennen (indignum famulum tuum .N.).39 Ausgerechnet bei Susanna, die eher in Handschriften für Frauen wie dem Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund40 zu finden ist, bezeichnet er sich im Maskulinum Gott gegenüber als famulum tuum. Während bei Apollonia nach den Zahnschmerzen am Ende doch auch die Hoffnung auf das Ewige Leben angesprochen wird, geht es beim Schutzengel darum, wie Gottes unwürdiger Diener Claude de Toulongeon seine Gegner übertreffen und ausschalten könne, bei Susanna aber nur um die Angst vor falscher Anklage. Unübersichtlich ist die Vielfalt, auf die man gerade in Übergangszeiten am Ende eines Stundenbuchs stößt. So finden sich hier Christusgebete in Französisch und Latein, mit Ablaßversprechen, gefolgt von den schon erwähnten Gebeten des Kirchenvaters Gregor. Nicht selten hat man erst am Ende eines solchen Manuskripts die vier auf den Kalender folgenden Perikopen durch die Passion nach Johannes ergänzt; das geschah auch hier, vielleicht wie so oft in einer Art Nachgedanken. daß auf diesen Auszug aus der Bibel noch Dabei gerät das Latein in bedenklicher Weise aus den Fugen, wenn es auf fol. 130v im an Gott gerichteten Schlußgebet heißt: „Deus qui michi (Dativ) indignum famulum tuum . N. (Akkusativ) angelum tuum custodem pugnare (ACI) dignatus es.“ 40 Berlin, Kupferstichkabinett SMpK, 78 B 12, fol. 341 f. mit anderem Text: König u. a. 1998, S. 105 f. Eine Generation älter ist das Stundenbuch für Marie de Rieux, das im Teilband von Blairs (Depot in der Edinburgher National Library) die Geschichte der beiden Alten bis zum Eingreifen des jugendlichen Daniel schildert (ebenda, Abb. 17, S. 116). Auf ein versprengtes frühes Beispiel hat mich Tony Deimling hingewiesen: das Giac-Stundenbuch im Royal Ontario Museum in Toronto, fol. 177v, aus dem frühen XV. Jahrhundert; siehe Inès Villela-Petit, Les Heures de Jeanne de Peschin, dame de Giac, art de l’enluminure 34, 2010, S. 2–63. Abb. 38. 39

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zwei Messen folgen, ist ebenso ungewohnt wie deren Thematik; denn sie sind dem Namen Jesu und dem Osterfest geweiht. Im Blick auf die Gesamtgestalt des Texts sind Grundzüge eines für Brügge typischen Stundenbuchs kaum zu spüren.41 Zum Marien-Offizium eine Art Diptychon mit Anbetung der Not Gottes Das Marien-Offizium als namengebender Haupttext eines Stundenbuchs, das man solider mit dem Begriff Horae Beatae Mariae Virginis bezeichnen müßte, genießt bei der Bebilderung solcher Handschriften immer entschiedenen Vorrang. Deshalb sucht jeder, der sich nur ein wenig auskennt, nach dem Bild zur ersten Marien-Stunde, der Matutin, und erstaunt, wenn nicht die dafür übliche Verkündigung als prächtigste Buchseite hervorgehoben ist. In Claude de Toulongeons Stundenbuch findet sich die Marienverkündigung selbstverständlich; sie eröffnet gutem Brauch folgend auch tatsächlich die Marien-Matutin; aber schon die Tatsache, daß sie als Kopfbild über dem Incipit auf einem Verso steht (fol. 38v), verblüfft. Zudem ist sie in der Dekorationshierarchie nicht angemessen hervorgehoben, sondern den anderen Marienstunden gleichgestellt. daß sie nicht dem führenden Buchmaler anvertraut wurde, erstaunt dann schon nicht mehr. Von der Lagenstruktur und der Gestaltung her beginnt das Marien-Offizium in unserer Handschrift gar nicht mit dem vertrauten Incipit der Matutin Domine labia mea aperies, sondern mit dem Glaubensbekenntnis des Konzils von Nikäa, in der Form des Symbolum Athanasii, das auf fol. 34 mit den Worten Quicumque vult salvus esse einsetzt. Gemeinsam mit der auf eingeschaltetem Blatt zu findenden Darstellung von Claude de Toulongeon als Beter entsteht auf fol. 33v/34 eine Art Diptychon, das als aufwendigste Bebilderung des ganzen Buchs die einzige textlose Miniatur und als Ziel seiner Andacht die Not Gottes über dem Incipit einander gegenüberstellt. Der Beter und die Gotteserscheinung als Ziel seiner Andacht In einer Komposition, die an bedeutende weltliche Miniaturen denken läßt, wie sie schon für Philipp den Guten geschaffen wurden, blickt man auf fol. 33v von einem Palastraum aus in den fürstlichen Hof. Das Interieur wird von einer Kaminwand abgeschlossen; davor steht eine Bank, deren Rücklehne von weißem Tuch mit zwei Kissen bedeckt ist – Dibdin meinte noch, man blicke auf ein Bett. Ähnlich arrangiert sind die Bänke, auf denen im Stilkreis des Meisters von Flémalle die Jungfrau Maria bei der Verkündigung vor ihrem Kamin sitzt (Brüssel und New York). In die Mitte des Raums gerückt ist ein mit goldenem Tuch bedecktes Betpult; ein edler Windhund schaut von rechts vorn zu seinem Herrn auf, der betend die Mitte des Bildes einnimmt. Als einzige Miniatur in diesem Stundenbuch ist dieses Bild von einem Binnenrahmen mit schlichtem Maßwerk umgeben; im Kielbogen oben schwebt ein Engel und hält Claude de Toulongeons leuchtend buntes Wappen mit der in Rot und Gold aufscheinenden Helmzier, die vom silbernen Leoparden bekrönt ist. Durch die breite Toröffnung links 41

Prinzipiell lohnt sich dazu ein Blick auf die große Zahl der mit Vrelants Miniaturen geschmückten Handschriften, die Bousmanne 1997 sorgfältig beschrieben hat.

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schaut man hinaus über Kiesel und Steine, die malerisch im Weg liegen; dort schlägt ein Pfau sein Rad, vor einem Pfauenweibchen. Eine Front schlichterer Backsteinbauten führt in die Tiefe des Bildraums. Die Perspektive und die Bewegung im Bild erwecken den Eindruck, der Beter sei gerade in voller Rüstung, an seinen Wappenfarben auf dem Wams erkennbar, von dort hereingekommen, habe seinen Helm abgelegt und sich dann vor seinem aufgeschlagenen Gebetbuch niedergekniet. Dieses Manuskript ist mit seinen auffälligen roten Initialen, wie sie in unserem Buch nirgendwo vorkommen, so gedreht, als sollten alle Betrachter der Miniatur zum Beten eingeladen werden. Der Unterschied zum aufwendigen Stundenbuch, in dem sich das Bild befindet, läßt an eine Parallele im sogenannten Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund denken, wo auch ein simpleres Gebetbuch im raffinierten Werk so gezeigt wird, als wolle der Maler den Wert seiner eigenen Arbeit betonen.42 Von entscheidender Bedeutung ist der Umstand, daß in dieser Miniatur nicht gezeigt wird, wem das Gebet gilt. Das unterscheidet diese Miniatur von auf den ersten Blick gut vergleichbaren Werken der Jahrzehnte um 1500, in denen beispielsweise Jakob IV. von Schottland43 oder der unbekannte Auftraggeber eines dreibändigen Stundenbuchs Wien, ÖNB , Cod. 1857, fol. 43v: Siehe meinen Beitrag: Zur Wirklichkeit im Fensterbild der Kreuzannagelung des Wiener Stundenbuchs der Maria von Burgund, in: Tributes in Honor of James H. Marrow: Studies in Painting and Manuscript Illumination of the Late Middle Ages and Northern Renaissance, hrsg. von Jeffrey F. Hamburger und Anne S. Korteweg, London 2006, S. 271–283. 43 Wien, ÖNB , Cod. 1897, fol. 24v: Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Br. 110, Abb. S. 372, in bemerkenswertem Gegenüber zur von anderer Hand gemalten Darstellung der Königin Mary Tudor, der auf fol. 243v die Madonna als Halbfigur in einer Gloriole erscheint. 42

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im Vatikan (Vat. lat. 3767–9)44 vor einem Altar beten, dessen Retabel im einen Fall den Salvator mit dem Apostel Andreas und im anderen das Ecce homo zeigen.45 In beiden Fällen folgen sehr ungewöhnliche Texte: bei Jakob IV. ein Christusgebet der heiligen Birgitta von Schweden; im vatikanischen Stundenbuch eine Protestacio pectoris coram Christo.

Wien, ÖNB , cod. 1897, fol. 24v

44 Brinkmann, in Ausst.-Kat. Köln 1992, Nr. 6 –63, datiert dieses Werk, das irrig mit Philipp dem Schönen

verbunden wurde, erst ins zweite Jahrzehnt nach 1500 und denkt wegen textlicher Eigenarten an einen Besteller aus dem Rheinland; die Wappen sind übermalt. 45 Scheel 2014, S. 247, spricht in diesem Zusammenhang von „Darstellungen …, die kein Element enthalten, welches als Andachtsgegenstand für den Betrachter zu werten ist“, und zeigt dann Gruuthuse vor einem erstaunlich differenzierten Kreuzigungsretabel (ihre Abb. 57 aus BnF, fr. 190, fol. 103). Ihrem Ansatz ist zu widersprechen, soweit das Bild im Bild als Ziel der vom Buchmaler dargestellten Andacht erkennbar bleibt. Wegen seiner Variationsbreite ist in diesem Zusammenhang Jean de Taverniers Stundenbuch Philipps des Guten in Den Haag, KB , 76 F 2, aufschlußreich: Abb. z. B. bei Scheel 2014, Abb. 28–31.

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Ziel der Andacht ist die Not Gottes im Kopfbild über dem Textanfang gegenüber und damit ein Motiv, das gerade in den beiden französischen Ländern Burgunds, dem Herzogtum und der Freigrafschaft, am Ende des Mittelalters in vielen Bildwerken veranschaulicht wurde.46 Diese Miniatur ist kleiner, aber nicht durch einen Binnenrahmen eingeschränkt; ihr Bildgegenstand ist auf den Beter bezogen, dann aber doch eigentümlich gedreht. Das Gottesbild ist also kein Gemälde an der Wand des Zimmers oder im Retabel auf einem nicht gezeigten Altar, sondern eine Erscheinung, die wie das Gebetbuch auf dem Pult stärker zum Betrachter vor der Doppelseite als zum Beter im „Diptychon“ bezogen ist. Diptychen mit irreführend als Stifter bezeichneten Betern Kaum eine Frau oder ein Mann, die in einem Manuskript beim Beten dargestellt sind, hatte die Absicht, das jeweilige Buch zu stiften. Wer an Besitzer nach dem eigenen Ableben dachte, hatte Kinder und Erben im Sinn. Deshalb blieben vor allem Stundenbücher, wenn sie nicht für Nonnen bestimmt waren und deshalb im Konvent an eine andere Schwester weitergereicht wurden, meist in der Familie. Sie wurden später gern benutzt, um aktuelle Familienereignisse zu notieren; so entwickelte sich vor allem im XVI . und frühen XVII . Jahrhundert eine Kultur des livre de raison.47 Echte Stifterbilder in Handschriften des späten Mittelalters sind selten; nicht mit Dedikationsbildern zu verwechseln, sehen sie genauso aus wie die uns hier interessierenden Darstellungen privater Andacht im persönlichen Gebetbuch. Doch bleibt die Abgrenzung zuweilen vage: In einem prachtvollen Brüsseler Chorbuch könnte man Philipp den Schönen im Gebet mit seinem Namenspatron, dem Apostel Philippus, und Johanna von Kastilien mit dem Täufer als wirkliche Stifter ansehen, wenn man nicht zweifeln müßte, ob ihre Bilder nicht, statt eine Stiftung zu dokumentieren, doch nur einen Prachtband für die eigene Kapelle schmücken. 48 Auch diese beiden Darstellungen sollten wie die meisten vergleichbaren die ewige Anbetung beschwören, also gleichsam die Porträtierten an den Tagen vertreten, an denen sie selbst weder zum privaten Beten noch zum Chorgebet kamen.49 Da das Wort Stifterbild, so kurz und prägnant es wirkt, in die Irre führt, sei auf diesen Begriff im nun Folgenden verzichtet.50

46 Zur Ikonographie des Gnadenstuhls siehe: Bœspflug 2000 (dt. 2001).

Ein bemerkenswertes frühes Beispiel, dessen Eintragungen schon der Besteller und Erstbesitzer vornahm, ist unser Provost-Stundenbuch mit einem livre de raison bereits aus der Mitte des XV. Jahrhunderts, dem die Monographie Illuminationen IV von 2002 gewidmet war. 48 Brüssel, KBR , ms. 9126, fol. 2: von Hanno Wijsman auf zwei Büchern abgebildet: auf dem Einband von Wijsman 2010 und auf dem von ihm im selben Jahr herausgegebenen Tagungsband: Books in Transition at the Time of Philip the Fair (Burgundica XV), Turnhout 2010. 49 Siehe dazu meinen Beitrag: La réalité du portrait dans les manuscrits enluminés, in: Le portrait individuel. Réflexions autour d’une forme de représentation. XIIe –XVe siècles, Actes du colloque sur le portrait au Moyen Age, Paris 2004, hrsg. von Dominic Olariu, Bern u. a. 2009, S. 167–189. 50 Scheel 2014, S. 17, sieht, „dass das «Stifterbild» … nicht zutreffend ist“, führt den Begriff dann aber doch in ihrem Titel – und das ist nicht der einzige Verzicht auf schlüssige Argumentation in diesem dicksten Buch zu unseren Fragen. 47

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Antwerpen, Koninklijk Museum, Meister von 1499: Diptychon des Dünenabts

Diptychen aus scheinbarem Stifterbild und Ziel der Andacht gab es in der Tafelmalerei in beträchtlicher Zahl.51 Nur selten zeigen sie die Besitzerinnen und Besitzer in Ganzfigur; gerade diese Beispiele sind in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse; denn so unterschiedlich sie sein mögen, gehören sie wie das Antwerpener Beispiel doch so gut wie alle zu der Gruppe von Diptychen, die Jan van Eycks Kirchenmadonna, also ein Brügger Gemälde aus der Zeit um 1440, variieren.52 Mit Claude de Toulongeons Bildnis stimmen zwei Varianten des Brügger Meisters von 1499 insofern überein, als sie Einblick in ein Gemach mit Kamin geben.53 Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch darin, daß man dort am Kamin vorbei, so wie Dibdin unsere Miniatur mißverstanden hat, wirklich auf ein Bett schaut. Während Claude de Toulongeon in hellem Licht betet,54 paßt in den beiden Tafelbildern aus der Zeit um 1499 zum Bett die eher nächtliche Stimmung, und die wiederum verbindet mit dem Gedanken an den Tod, der in unserer Miniatur noch ganz fern ist.55 51 52

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Ausst.-Kat. Washington und Antwerpen 2006–2007. Zu diesem Phänomen siehe zuletzt Stephan Kemperdick, Jan van Eycks Madonna in der Kirche und ihre Nachfolge, in: Ausst.-Kat. Gent 2020, S. 260–283 mit dem wichtigsten Beispiel, Antwerpen, Koninklijk Museum, das den Dünenabt Christiaan de Hondt in seinem Gemach betend zeigt (S. 268 f.). Im Ausst.-Kat. Washington und Antwerpen 2006–2007 wird dieses Beispiel als Nr. 21 behandelt; dazu ist dort auch das Diptychon der Margarete von Österreich im Genter Museum als Abb. 7 auf S. 11 zu finden; dort zeigt der Meister von 1499 die Madonna nach einem anderen Vorbild. Helles Licht bestimmt auch die Landschaft in Jan Gossaerts Diptychon in der Galleria Doria Pamphilij in Rom; es paßt zum Eremiten Antonius Abbas, der dort Antonio Siciliano der eyckischen Madonna in der Kirche empfiehlt – im einzigen Beispiel dieser Art mit Heiligenpatron (ebenda Nr. 13). Wer diesen Gedanken fortspinnt, findet rasch zu der befremdlichen Sterbeszene mit der großartigen Perspektive auf ein Bett im Madrider Hastings-Stundenbuch: Madrid, Fundación Lázaro Galdiano, Inv. 15503: Los Angeles und London 2003, Abb. 25b auf S. 155.

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Die Buchmalerei hat einige Beispiele hervorgebracht, die man als „Diptychon“ bezeichnet: Am Anfang der wenigen, jedoch zu Recht berühmten Beispiele steht das textlose Doppelblatt mit Jean de Berry mit Andreas und Johannes dem Täufer im Brüsseler Stundenbuch.56 Nach wenigen Beispielen aus der Zeit um 1400 schließt sich um 1455 Étienne Chevaliers Gebet zur Madonna in Jean Fouquets Darstellung für dessen Stundenbuch an.57 Hier wie im entsprechend gestalteten „Diptychon“ mit Louis de Laval sind die beiden Bildseiten maßgleich und mit einer Schriftzeile unter dem Text verbunden.58 Daß solche „Diptychen“ in Stundenbüchern schon in Frankreich so selten und im strengeren Sinn in den südlichen Niederlanden nur im Umfeld eines Künstlers zu finden sind, mag schon daran liegen, daß in der flämischen Buchmalerei gegenüber textlosen Bildern auf dem Verso eingeschalteter Blätter, wenn überhaupt, nur eine kleinere Miniatur mit dem Textanfang stehen kann. Die bemerkenswerten Ausnahmen sind durchweg später entstanden: Am Anfang steht das ältere Bild der Johanna von Kastilien Add. 18852;59 die wichtigsten stammen vom Meister der Davidbilder im Breviarium Grimani; ihm verdanken wir die hinreißenden Darstellungen der Maddalena Negrone und der Orsa Pesaro, jeweils in Kopfbildern, noch dazu in dem modernen Close-Up als Halbfiguren gegenüber eingeschalteten textlosen vollfigurigen Miniaturen. 60 Das führt wie in unserem Toulongeon-Stundenbuch zu einem Konflikt, wenn Auftraggeber links auf dem größeren zum rechts dargestellten Ziel ihrer Andacht auf dem kleineren Bild beteten; eine Umkehrung kommt so gut wie nie vor. Schon die Verteilung von links und rechts verstößt aber gegen die traditionelle Wertung von dextre und senestre. Zugleich wird ein Kopfbild, selbst wenn es die Gottheit oder Heilige zeigt, durch seine bescheideneren Maße dem textlosen Bildnis von Auftraggebern im Manuskript hierarchisch untergeordnet.

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Brüssel, KBR 11060-61. Zugang zur überbordenden Literatur bietet Ausst.-Kat, Paris 2004, Nr. 45. Die in der Literatur beliebte Zuschreibung an den Bildhauer André Beauneveu ist ebenso problematisch wie der Versuch, von da aus Jacquemart de Hesdin zu bestimmen; siehe Gerhard Schmidt, Der Schmuck der Handschrift in: Heures de Bruxelles, Kommentar von Bernard Bousmanne u. a., Luzern 1996, S. 61–132, sowie unser Buch: Vom Psalter zum Stundenbuch. Zwei bedeutende Handschriften aus dem 14. Jahrhundert mit einem Versuch über das Phänomen Jacquemart de Hesdin (Illuminationen 22), Bibermühle 2015. Chantilly, Musée Condé, Ms. 70: Im Engelskreis der Auftraggeber, begleitet von seinem Namenspatron Stephanus, vor der Madonna auf einer von den Maßen und den Raumverhältnissen vereinheitlichen Doppelseite: siehe zuletzt meinen Beitrag: Étienne Chevalier als Auftraggeber Jean Fouquets, in: Stephan Kemperdick (Hrsg.), Jean Fouquet. Das Diptychon von Melun, Ausst.-Kat. Berlin, Petersberg 2017, S. 6069. Paris, BnF, latin 920, fol. 50v–51; siehe Avril in Ausst.-Kat. Paris 2003, Nr. 52 mit Abb. S. 392 f. sowie zuletzt Seidel 2017, bes. S. 53 ff. London, BL , Ms. Add. 18852, fol. 287v–288 mit Anbetung der Madonna, sowie fol. 25v–26 mit Anbetung des Erzengels Michael; siehe meinen Beitrag Books for Women Made by Men, in: Florence BrazèsMoly und Francesca Marini (Hrsg.), Medieval Charm. Illuminated Manuscripts for Royal, Aristocratic and Ecclesiastical Patronage, Pollestres 2016, S. 64–83, bes. ab S. 77, mit Abb. 10–11. Drei der hier interessierenden Beispiele auch abgebildet in Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, S. 386–389, zu Nrn. 114 und 115. Leuchtendes Mittelalter. Neue Folge 5, 2008, Nr. 26, mit Abb. 405–406 und 416; die Handschrift für Orsa Pesaro im Katalog zu niederländischen Kalendern, 2020, Nr. 9.

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Angesichts der schon erwähnten Bezüge zur Statuette Karls des Kühnen in Lüttich aus den Jahren 1467 bis 1471 verwundert nicht, daß Arbeiten für diesen Herzog, unter dem Claude de Toulongeon als Soldat und Höfling Karriere gemacht hat, für unser „Diptychon“ von größter Bedeutung sind. Soweit wir es überblicken, finden sich alle Parallelen in Miniaturen, mit denen Lievin van Lathem ein Gebetbuch für den Herzog schmückte, das erst seit der Erwerbung durch das J. Paul Getty Museum in Los Angeles zugänglich wurde: Drei Gegenüberstellungen von Beter und Andachtsziel finden sich dort; Antoine de Schryver spricht von „Andachtsdiptychen“. 61

Los Angeles, Getty Museum, Ms. 37, fol. 1v-2

Am engsten verwandt ist das erste der drei Beispiele: In der textlosen Miniatur auf Verso ist der Herzog durch eine Tür eingetreten, niedergekniet und betet, nach rechts gewendet, zum Antlitz Christi, das von Veronika im fast gleich großen Kopfbild über zwei Zeilen Incipit gehalten wird. Freilich trägt der Herzog hier ein langes Gewand in Goldbrokat und wird wie beim Lütticher Votivbild vom heiligen Georg präsentiert, der in Rüstung mit Lanze und dem gebändigten Drachen hinter ihm leicht ins Knie sinkt. Auch ein Wappenengel ist hinzugetreten; ursprünglich hielt er Wappen und Helm; doch hat ein späterer Besitzer das Wappen löschen lassen und alle konkreten Spuren von Heraldik getilgt, so daß der auf dem Boden stehende Engel nun wie ein Schutzengel wirkt – jenem ähnlich, der zu Beginn der Suffragien Claude de Toulongeon begleitet. Die beiden anderen Gegenüberstellungen im Gebetbuch Karls des Kühnen gehen sogar so weit, daß sie die eben erläuterte problematische Verteilung von dextre und senestre überwinden: Beide Male kniet der Herzog in Rüstung, einmal in einem kleinen Bild, mit ähnlichem Blick auf eine Bank im Hintergrund wie Claude de Toulongeon und mit entsprechend abgelegtem Helm, wieder von Georg präsentiert; so betet et zur Madonna im Kreise der Engel. 61

Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Ms. 37, fol. 1v–2, 5v–6, 67v–68: De Schryver 2007, S. 37–40 und 124–127. Zwei dieser Beispiele bereits bei Van der Velden 2000, Abb. 74 und 76 sowie Farbtaf. XIV– XV.

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Los Angeles, Getty Museum, Ms. 37, fol. 67v-68

Schließlich aber erscheint Karl der Kühne in einem Kopfbild über drei Zeilen Text, im Gebet zu Georgs Drachenkampf gewendet und von einem Engel begleitet, der im heutigen Zustand ganz sein Schutzengel ist, vielleicht zunächst auch Wappenengel war. daß Claude de Toulongeon im Gebetbuch des Herzogs von 1468 blättern durfte, wird man nicht annehmen – wohl aber, daß der Maler, der für ihn ungefähr ein Jahrzehnt später arbeitete, nicht nur eine Statuette wie die in Lüttich erhaltene, sondern auch Bildideen Lievin van Lathems kennen konnte. Doch zwischen dessen kleinteiligem Stil, der nicht nur vom minutiösen Format des Gebetbuchs für Karl den Kühnen bestimmt ist, und der Großzügigkeit des Raums, in dem Claude de Toulongeon kniet, besteht ein Abstand, der noch zu klären ist.

Petersburger Luxemburg-Stundenbuch, fol. 111v-112

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Ein um eine Generation älteres Brügger Beispiel Doch zunächst ist ein Blick zurück nötig: daß die für Karl den Kühnen und Claude de Toulongeon gewählte Form des Andachtsdiptychons eine gewisse burgundische Tradition hatte, beweist eine bemerkenswerte Parallele, meiner Kenntnis nach sogar die einzige ältere im südniederländischen Raum, die ein textloses Bild des Auftraggebers auf Verso einem Kopfbild über einem Incipit gegenüberstellt; sie findet sich im sogenannten LuxemburgStundenbuch in St. Petersburg. 62 Die Bezeichnung ist sichtlich unbegründet; und die Provenienz des stolzen Manuskripts, zu der eine Station im Besitz Philipps des Guten gehören soll, ist alles andere als schlüssig geklärt. Ein Wappen, auf Blau eine goldene Hirschkuh, wird in sehr eindrucksvoller Weise präsentiert: In der Bordüre tritt von links eine vornehme Dame auf einem Bodenstreifen zum Bild; sie ist größer als der Beter und hält dessen Schild mit der Helmzier, einer ruhenden Hirschkuh zwischen zwei Türmen. An ihrem Gürtel ist eine lange zierliche Kette befestigt, mit dem sie eine Hirschkuh aus einem Wäldchen führt. 63 Auch der Beter, ein bartloser Mann mit der charakteristischen schwarzen Haarkappe, die zeitweilig als Perücke am Hof Philipps des Guten vorgeschrieben war, ist von draußen eingetreten; sein schwarzes Chaperon über dem karminroten Gewand gleicht dem des gerade erwähnten französischen Schatzmeisters Étienne Chevalier, fällt aber über die rechte Schulter. Wie der Ritter Claude de Toulongeon kniet der auf diese Weise als Zivilist gekennzeichnete Mann vor dem Betpult, auf dem das Buch ähnlich schräg liegt, also auch für die Betrachter der Miniatur geöffnet ist. Die Tür zum Garten, der mit Palisaden gegen eine Wiese und Stadttürme abgegrenzt ist, steht offen. Geöffnet sind auch Fensterläden in der rechten Wand; und man könnte meinen, durch Scheiben solle der Beter erblicken, was in der Miniatur auf der rechten Seite gezeigt wird. Dieser Gedanke kommt uns, nachdem wir ein „Diptychon“ mit der Marienverkündigung beschreiben durften, in dem eine solche Trennwand mit Fenstern den von links genahten Erzengel von der Jungfrau in deren verschlossenen Gemach trennt: Paul von Limburg zog, als er unser Stundenbuch für Ludwig von Orléans und Valentina Visconti mit Zeichnungen ausstattete, zwischen Gabriel und Maria eine Trennwand, die man dort mit ihren kleinen Fenstern von Marias Raum aus sieht. 64 Die Andacht des Herrn mit der Hirschkuh im Wappen richtet sich auf ein reizendes Bild der Maria in der Stube: Elemente eines Interieurs, wie man sie auch von Bildern der Schreiber und Autoren kennt, sind anmutig angeordnet, jedoch vor einem Mustergrund aus goldenen, blauen und roten Karos.

St. Petersburg, Russische Nationalbibl., Rasn.O.v.I.6, fol. 111v–112: Woronowa und Sterlikow 1996, Abb. 147–157; die uns interessierenden Miniaturen als Abb. 154 f. 63 Als Wappen bezeichnet die goldene Hirschkuh auf Blau einen traditionsreichen Ortsteil von Albstadt im Zollernalbkreis; es ist der schon im Mittelalter wichtige Stammsitz der berühmten Brüder Schenk zu Stauffenberg, deren Wappen mit drei blauen Leoparden sieht freilich ganz anders aus. Wieso die russischen Kollegen in der Hirschkuh auf Blau an Luxemburg denken, deren Hauptzeichen ein steigender Löwe in Rot ist, bleibt rätselhaft. 64 Siehe unser Buch Das Genie der Zeichnung, 2016, S. 48–51. 62

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Wie bei Claude de Toulongeon sind die Bildformate nicht aufeinander abgestimmt: Der Bogenabschluß des Kopfbildes auf Recto widerspricht dem rechteckigen Zuschnitt des Bildes gegenüber. Licht und Farben sind ganz anders behandelt. Zudem waren für diese Doppelseite zwei Maler verantwortlich; und die Vermutung liegt nahe, daß das eingefügte Blatt erst in einer späteren Planung hinzukam; doch geschah das, wie die Bordüren bezeugen, noch im selben künstlerischen Umfeld. 65 Die Maria in der Stube hat wohl der Loredan-Meister gemalt, wie er von Doug Farquhar charakterisiert wurde, den Beter aber ein Maler aus der Brügger Goldranken-Gruppe. 66

Von hier aus könnte der Blick in unterschiedliche Richtung gehen: Sir John Donne ließ sich in voller Rüstung betend von Simon Marmion vor einem Retabel mit dem Bild des Erlösers auf dem Altar mit seinem Schutzengel darstellen. 67 Eine andere Traditionslinie mag bis in den frühen bebilderten Buchdruck führen; nicht als Einzelbild, sondern mit dem Ziel der Andacht, der Madonna mit Kind, unter einem Bogen vereint, findet sich ein Beter in einem gedruckten Stundenbuch von Gerard Leeu, das am 27. Juli 1489 erschienen ist. 68 Insgesamt drei vermutlich Brügger Maler waren beteiligt: Die Maria in der Stube gehört zum Stil des sogenannten Loredan-Meisters (Farquhar 1976), der die wichtigsten Miniaturen beigesteuert hat; hinzu kommt mit dem Davidbild und manch anderem eine wichtige Hand aus der Gruppe der Goldranken. Der Beter schließt sich zeitlich an, wird aber wie das gesamte Manuskript schon um 1450 gemalt worden sein. Etwas früher dürfte die erst nachträglich zum Diptychon aus Beter und Marienverkündigung gewordene Doppelseite in Vat. lat. 14935 (ehem. York 1), fol. 22v–23, entstanden sein: Dort hat der ältere TalbotMeister einen im Garten knienden Ritter auf einem eingeschalteten Blatt der älteren Verkündigung des Fastolf-Meisters gegenübergestellt: König und Bartz 1998, S. 23 mit Abb. 11. 66 Zum Loredan-Meister siehe Farquhar 1976. 67 Dieses zunächst mit Thomas Louthe verbundene Stundenbuch (damals ms. G 5 der UB Löwen) ist bei der Teilung der UB in die UCL von Louvain-la-Neuve gekommen; dort Ms. A.2: Brinkmann 1991, S. 153–159 und Abb. 135–144. Lorne Campbell (The Fifteenth Century Netherlandish Schools, London 1998, S. 382 und Anm. 25 auf S. 390) erkannte unter Übermalungen die Wappen des John Donne, den Hans Memling im Triptychon der Londoner Nationalgalerie dargestellt hat; zuletzt: Dubois 2014. 68 ILC 1208, fol. 40v aus dem Exemplar der Huntington Library, San Marino, abgebildet von Ina Kok, Een houtsnede in een handschrift, in: Manuscripten. Studies aangeboden aan Anne S. Korteweg, hrsg. von Jos 65

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Die Not Gottes als Vision des Beters Die Kombination aus textloser Miniatur und Kopfbild; die wie im Toulongeon-Stundenbuch nur dieses eine Mal eingesetzt wird, eröffnet im St. Petersburger Manuskript das Mariengebet Obsecro te. Es wurde wegen seiner Schlußformel besonders gern mit einem Bild der Beterin oder des Beters verbunden, weil der Text mit der Bitte endet, getreues Beten möge vor plötzlichem Tod schützen. 69 Solche Darstellungen sind hingegen beim Athanasianischen Glaubensbekenntnis, das bei weitem nicht so oft in Stundenbücher aufgenommen wurde, sonst so gut wie nie zu finden. Das Symbolum Athanasii als Meilenstein in der Trinitätslehre der römischen Kirche, die für Frankreich wegen der Bekehrung des Frankenkönigs Chlodwig von größter Bedeutung war, erklärt die einzigartige Konfrontation des Beters mit einem Bild der Trinität zur Eröffnung des Marien-Offiziums. Fast tausend Jahre nach Chlodwigs Taufe, die zwischen 497 und 505 stattfand, war zwar die Trinitätslehre, zu der sich die Franken als erste Germanen im Gegensatz zu den nach Italien eingedrungenen Goten und Lombarden bekannt hatten, in der gesamten lateinischen Welt anerkannt. Der spezifische Bezug auf die französische Krone war jedoch seit der Mitte des XIV. Jahrhunderts dadurch neu ins Bewußtsein getreten, weil die damals aufkommende Wappenform von France moderne mit den drei goldenen Lilien auf Blau als Symbol der Trinität Chlodwigs Bekenntnis beschwor.70 Da das Herzogtum Burgund einem Zweig der Valois zugefallen war, der sich Biemans, Zuthphen 2007, S. 231–242, als Abb. 3. 69 Eine Fassung dieses Texts, dessen entsprechende Passage oft von Inquisitoren getilgt wurde, da sie darin Aberglauben witterten, bei Leroquais 1927, II , S. 346–347 mit der Formel: „annuncies michi diem et horam obitus mei“. 70 Ausgerechnet zur Krönung Heinrichs VI . von England auch zum französischen König in der Pariser Notre-Dame wurde 1430 ins sogenannte Bedford-Stundenbuch, London, BL , Add. Ms. 18550, fol. 288v, eine Miniatur eingefügt, in der die Einsetzung des Wappens mit den drei Lilien durch Gottvater selbst beschworen wird: siehe mein Buch Die Bedford Hours, Darmstadt 2007, S. 126 f.

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in königlicher Tradition sah, entsteht in dieser Frage kein wirklicher Gegensatz; doch spielt die Trinität im französischen Kernland Burgunds um Dijon als Bildgegenstand eine sehr viel größere Rolle als in den nördlichen Regionen des Grand duc de l’Occident. Der Dreieinigkeit war die Kapelle der Kartause von Champmol gewidmet, in der sich Philipp der Kühne (1342–1404) bestatten ließ; doch hat man dort den bildlichen Bezug darauf in der Revolution zerstört.71 Aktueller für einen Ritter vom Goldenen Vlies war hingegen der in Wien erhaltene, mit Gold und Silberfäden gearbeitete Ornat des Ordens: Für den Altar verfügte er über Antependien, deren Frontale im Zentrum die mystische Vermählung der heiligen Katharina, also ein Madonnenbild, zeigte, dessen Retro-Frontale aber, das wie ein Retabel den Blick beherrschte, alle Aufmerksamkeit auf die Not Gottes richtete.72 Aus dem französischen Burgund dürfte sich auch die Neigung des sogenannten Meisters von Flémalle für Bilder der Trinität als Not Gottes oder Gnadenstuhl erklären.73 Im Toulongeon-Stundenbuch ist das zum „Diptychon“ gefügte Bildpaar – anders als im St. Petersburger Manuskript – fraglos von ein und demselben Maler entworfen und ausgeführt. Dieser Künstler, dessen raffiniertestes Werk wir hier betrachten, gibt sich keine Mühe, den irdischen Raum des Beters und den himmlischen der Dreieinigkeit anschaulich zu vereinen. Claude de Toulongeon wirkt sogar – mit Ausnahme von Kopf und Händen – etwas kleiner, als seien nicht einmal die Figurengrößen konsequent aufeinander abgestimmt. Doch so wenig koordiniert das Hier und Jetzt des Beters einerseits und die ewige Gottesschau andererseits auch auf den ersten Blick wirken, so verrät ihr Gegenüber ein künstlerisches Raffinement. Weit davon entfernt, die kleinere Miniatur wie im älteren St. Petersburger Beispiel einfach nur als selbständige Darstellung auf Betrachter und Leser des Buchs auszurichten, dreht der Maler den Engelskreis sacht zu Claude de Toulongeon. So sieht er die Gottheit nicht als Bild im Bild auf einem Altar-Retabel oder als Erscheinung in der Art der Gregorsvision, sondern nimmt sie in einer inneren Schau wahr, die er mit denen, die die Doppelseite im Stundenbuch sehen, teilt. Über einer blauen Wolkenbank öffnet sich der Blick zur Erscheinung des dreieinigen Gottes, die von zwei Bögen aus Engeln, die inneren blau wie Cherubim und die äußeren rot wie Seraphim, gerahmt wird, jedoch so zum Beter gedreht, daß von den roten Engeln nur die Seite zur Rechten Gottes, im Bild also an der linken Kante, gezeigt werden kann. Anders als beim sogenannten Gnadenstuhl, bei dem der greise Gottvater auf seinem Thron den Sohn als Kruzifix präsentiert, und auch anders als im Hauptfeld des Ordensornats braucht Gottvater hier keinen Thron,74 sondern steht aufrecht auf einer goldenen Platte vor Goldgrund. So hält er nicht das Kreuz, sondern den Schmerzensmann in seinen Mantel geborgen, und wird von zwei jugendlichen Engeln zu seiner Rechten angebetet. Diesen oft übersehenen Aspekt habe ich betont in meiner Rezension von: Michael Grandmontagne, Claus Sluter und die Lesbarkeit mittelalterlicher Skulptur. Das Portal der Kartause von Champmol, Worms 2005, in: Kunstchronik 60, 2007, S. 241–246. 72 Wien, Kunsthistorisches Museum, Weltliche Schatzkammer: Schmitz von Ledebur 2009, S. 94–96; siehe auch Ausst.-Kat. Brüssel 1987, S. 28–29. 73 Zu diesem Zusammenhang siehe Bœspflug 2000 (dt. 2001), Abb. 8–18. 74 Im Gegensatz beispielsweise auch zum Diptychon des Meisters von Flémalle in St. Petersburg: Ausst.Kat. Washington und Antwerpen 2006, Nr. 6. 71

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Hugo van der Goes, Bonkil-Tafeln, Edinburgh, NG , Royal Collection

Unter der Erscheinung der vor dem Goldgrund nach links fliegenden Taube des Heiligen Geists ist das Haupt des Erlösers, dessen Füße auf der Kugel mit dem Erdkreis ruhen, für den Betrachter nach links, also zu Claude de Toulongeon gedreht, während der Vater mit einem Ausdruck unerhörten Schmerzes nach rechts ins Weite schaut. Diese für Buchmalerei höchst ungewohnte Ausrichtung findet man zuweilen in der Skulptur; Michael Baxandall hat in diesem Zusammenhang vom „arc of adress“ gesprochen und damit die Weite gemeint, in der solche Gotteserscheinungen die Gemeinde ansprechen können.75 Nicht ganz so weit greift Hugo van der Goes im wichtigsten Vergleichsbeispiel aus der niederländischen Tafelmalerei. Zu nicht unbestrittenem Zeitpunkt, vielleicht fast gleichzeitig mit unserem Stundenbuch, ließ der 1482 verstorbene Genter Meister die fast 2 m hohen Tafeln in Edinburgh unvollendet, deren Stifter Edward Bonkil vor einer von Engeln gespielten Orgel in einer hohen gotischen Kirche kniet und zum Gnadenstuhl betet.76 Hier wird Rechts und Links angemessen eingesetzt; und der Thron der Trinität bildparallel gestellt, so daß man beim Betrachten des Gemäldes die Gottheit besser sieht, als der Stifter in seinem Blick von rechts. Michael Baxandall, Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoß & ihre Zeitgenossen, München 2004. 76 Edinburgh, Nationalgalerie, aus der Royal Collection entliehen; nicht von Hugo gemalt sind die Gesichter des schottischen Königspaars Jakob III . und Margarete von Dänemark, das um eine nicht definierte Mitteltafel wie Stifter mit Heiligenpatronen kniet, während der für den Auftrag zahlende Stifter wohl auf der Außenseite mit der Dreieinigkeit gezeigt wurde: Friedrich Winkler, Das Werk des Hugo van der Goes, Berlin 1964, S. 63, 68–75; Jochen Sander, Hugo van der Goes, Mainz 1992, passim, mit Datierung in der mittleren Schaffenszeit 1472-1477; Élisabeth Dhanens, Hugo van der Goes, Antwerpen 1998, S. 302–325, mit Datierung in die Spätzeit 1477–1482 und der Annahme, es handele sich um Orgelflügel, jedoch vielen irrigen Angaben zu Jakob III . und IV. u. v. a. Freundlicher Hinweis von Tony Deimling. 75

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BnF, fr. 192, Jouvencel, fol. 1

Ein eigenständiger Toulongeon-Meister? Seit wir im ersten Band der Serie Leuchtendes Mittelalter 1989 das Toulongeon-Stundenbuch als Nr. 39 zum ersten Mal vorgestellt haben, hat sich die Kenntnis der flämischen Buchmalerei in bemerkenswertem Umfang verbessert. Deshalb fiel es schon 1991 in dem allein der niederländischen Buchmalerei gewidmeten dritten Band der Serie nicht schwer, beim knappen Rückblick auf das Manuskript unter Nr. F von der vagen und unzutreffenden Bestimmung abzurücken. Inzwischen hatte Bodo Brinkmann das Manuskript bei uns gesehen, war davon überzeugt, die Hauptminiaturen mit dem „Diptychon“ aus Beter und Trinität seien vom Meister Edwards IV. gemalt; so legte er sich dann auch in der Werkliste fest, die er in seinem Buch von 1997 veröffentlichte, ohne weiter ins Detail zu gehen.77 Wir waren 1989 schon auf dieser Spur; denn wir haben als ein überzeugendes Beispiel Gruuthuses Jouvencel benannt.78 Die dort als Ritter ins Zentrum des Frontispizes gestellte Figur gleicht von den Gesichtszügen wie auch von der Gestalt her unserem Beter. Freilich sind die Miniaturen des Jouvencel von sehr viel kräftigerem Kolorit; zudem gehört das Manuskript bereits zu jenen flämischen Werken, die mit vollfarbigen Bordüren versehen sind, wie sie zwar schon um 1468 vorkamen,79 aber erst in den 1480er Jahren weit verbreitet waren. 1989 haben wir schon mit dem Gedanken an den Meister Edwards IV. 77 Winkler 1925, S. 137; Brinkmann 1997, S. 397–398 und passim.

Paris, BnF, fr. 192: Jean de Bueil, Le Jouvencel; Vorbild des einzigen weiteren Exemplars aus den südlichen Niederlanden, das 1486 von Jan van Kriekenborch für Philipp von Kleve vom Meister des GruuthuseBoethius gestaltet wurde (Wijsman 2007, S. 255, 261–264, 274–275 und Abb. 4-5). Das hier interessierende Exemplar für Loedewijk van Gruuthuse wurde sorgfältig analysiert von Hans-Collas und Schandel 2009, Nr. 57; noch nicht von Winkler erwähnt, später auch nicht im Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003. Durrieu 1927, Taf. LXII ohne Vorschlag zur Zuschreibung; in der Werkliste des Meisters Edwards IV. bei Brinkmann 1997, S. 398. 79 So im Gebetbuch Karls des Kühnen im J. Paul Getty Museum, Los Angeles, Ms. 37: De Schryver 2007. 78

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gespielt, waren uns aber noch nicht sicher. Die 1991 geäußerte Zurückhaltung ist aber keineswegs ausgeräumt; denn noch immer gilt für das Toulongeon-Stundenbuch, was wir damals formulierten: „Die schönsten Bilder überschreiten fast die Kompetenz des Meisters, sind sie doch subtiler und zugleich treffender gemalt als die anerkannten Bilder des Meisters Edwards IV.“80 Der Meister Edwards IV. von 1479 Friedrich Winkler war 1925 vom ersten Band einer zweibändigen Bible historiale ausgegangen, die 1479 wohl in Brügge für den englischen König Edward IV. aus dem Hause York während dessen Exil auf dem Festland geschaffen wurden. 81 Zu den acht Handschriften, in denen Winkler den Meister Edwards IV. erkannte, kamen bis zu Brinkmanns Buch über den Dresdener Gebetbuchmeister von 1997 fast 40 weitere hinzu; dabei kannte er weder die Einzelblätter in Baltimore noch das von uns schon 1987 vorgestellte Manuskript. 82 Im Katalog der Ausstellung von 2003 hat Scot McKendrick, der am besten mit den Beständen der Royal Library vertraut ist, 83 dem Meister Edwards IV. zwei eigene Abschnitte gewidmet, aber ohne unsere speziellen Fragen zu berühren: Die Arbeiten des Malers sind vom Randschmuck her unterschieden: In den 1470er und 1480er Jahren gestaltete er noch, wie McKendrick meint, eigenhändig das Zusammenspiel aus Akanthus und stilisierten Blütenzweigen, das auch unser Manuskript prägt; in den Jahrzehnten um 1500 finden sich seine Miniaturen dann in Randschmuck aus Streublumen. 84 Der Maler hat zwar auch Stundenbücher illuminiert, darunter eines in Blackburn;85 doch liegt das Schwergewicht auf Großformaten, deren zuweilen erstaunliche Bebilderung von einer intensiven Auseinandersetzung mit christlichen Inhalten zeugt. McKendrick schließt sich Brinkmanns Vorschlag an, der Meister Edwards IV. sei zunächst eine Art Juniorpartner des in Brügge tätigen Meisters des Soane-Josephus gewesen, mit dem er beispielsweise in der Bible historiale für Edward IV. zusammengearbeitet hat. Juniorpartner blieb der Buchmaler, den Winkler als „Meister Edwards IV. von 1479“ genannt hat, in allen Manuskripten für den englischen König, an denen er beteiligt war; deshalb ist diese Bezeichnung unglücklich; man sollte den Begriff Meister nur für Mitarbeiter verwenden, die in den namengebenden Werken die Hauptrolle spielten. Künstlerisch sei er aber in den Jahren 1479 bis 1482 bereits selbständig gewesen. 86

80 Leuchtendes Mittelalter III , Rotthalmünster 1991, S. 268. 81 82 83 84 85

86

London, BL , Royal Ms. 18 D ix–x: Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Nr. 83. Winkler 1925, S. 137; Brinkmann 1997, S. 397–398 und passim. Siehe seinen mit John Lowden und Kathleen Doyle herausgegebenen Ausst.-Kat. London 2011 Los Angeles und London 2003, S. 295–305 und 335–343. Blackburn Museum and Art Gallery, Hart 20884: Los Angeles und London 2003, Nr. 98; siehe auch Cynthia Johnston und Sarah J. Biggs, Blackburn’s „Worthy Citizen“: The Philanthropic Legacy of R.E. Hart, London 2013, Nr. 9, mit weiteren Literaturangaben S. 52 f. Brinkmann 1997, S. 295; Los Angeles und London, S. 297. Der Josephus in London, Sir John Soane’s Museum, Ms. 1, erscheint dort unter Nr. 81, mit biographischen Notizen zum Meister S. 292.

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Dabei sollten wir nicht außer Acht lassen, daß Claude de Toulongeon genau in diesem Zeitraum, Mai 1481, die Ordenskette mit dem Goldenen Vlies erhalten hat, die er in unserem Manuskript stolz trägt. Doch ob nun der Meister Edwards IV. unser „Diptychon“ ausgeführt hat oder ob es nicht vielmehr neben diesem Brügger Maler einen ToulongeonMeister gab, ist nicht mit letzter Sicherheit zu klären.

Baltimore, Walters Art Gallery, W.443f

Ein verwandter Blick in den Himmel Die Eigenart unseres „Diptychons“ von Claude de Toulongeon in Anbetung der Not Gottes wird besonders schlüssig im Vergleich mit einer eng verwandten Einzelminiatur aus einem verschollenen Stundenbuch in Baltimore: Dort hat ein vorzüglicher Maler im Stil des Meisters Edwards IV. die Marienkrönung dargestellt. 87 Über die Wolken ist die

87

Baltimore, Walters Art Museum, Ms. 443 f; Randall Nr. 282, Bd. II , 1997, Abb. 529; auch abgebildet in Los Angeles und London 2003, Abb. 26 auf S. 51.

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jugendlich wirkende Jungfrau vor bestirntes Blau erhoben, wo ein Engel auf einer Stufe des Gottesthrons dabei ist, ihr eine Krone auf das Haupt zu setzen. Maria kniet im einheitlichen Himmelsraum vor der goldenen Sphäre der Gottheit wie vor einem Tor, das sich schräg vor ihr öffnet mit einem Engelskranz in Steingrau, der also weder Seraphim noch Cherubim bezeichnet und sich wie bei Toulongeon als der linke Bogen einer Mandorla spannt. Da der krönende Engel mit der Muttergottes und unter der Erscheinung der Heiliggeisttaube die Personen der Trinität – der Schmerzensmann ohne Dornenkrone und der weltlich gekrönte Gottvater – sehr nahe zusammenrücken, tritt in dieser Miniatur stärker als in unserem „Diptychon“ zu Tage, wie wenig die Blickrichtung der knienden Gestalt im Gebet auf die Haltung der Gottheit ausgerichtet ist. Statt einander anzuschauen, sind beide Figurenpaare im hier gemeinsamen Bild sacht zum Betrachter der Miniatur gedreht, genauso wie Claude de Toulongeon, jedoch – in stärker variierter Weise – die beiden Engel und die Personen der Trinität in unserer Not Gottes. Sicher ist die Miniatur in Baltimore mit unserem „Diptychon“ stilistisch verwandt: Der Blick auf die Gottheit folgt der gleichen Grundidee mit der schräg gesehenen Mandorla, die sich wie noch 150 Jahre später in Poussins Berliner Helios und Phaeton als Bogen aus Engeln wie eine Pforte um den Gottesthron öffnet. Das sieht man über blauen Wolken, die sich von rechts und unten ins Bild schieben. Auch wenn die Physiognomien unverkennbar ähnlich sind, unterscheidet sich die Modellierung von Gesicht und Körper, die wie die der Draperien in der Marienkrönung von Grautönen bestimmt ist. Besonders beim Schmerzensmann tritt der Unterschied zu Tage: In Baltimore sind die Haare dunkler und fülliger; der Bart grenzt das Antlitz stärker ein. Dadurch wirkt vor allem Christus im Toulongeon-Stundenbuch heller, zarter und weniger plastisch greifbar. Lichte Helligkeit bestimmt nicht nur das Bild der Trinität, sondern auch den Raum um den Beter. So bleibt erst einmal ungeklärt, ob die Marienkrönung wirklich von derselben Hand gemalt wurde wie das „Diptychon“ mit Claude de Toulongeon. Die Miniatur in Baltimore wird in der Literatur nicht ganz einheitlich bewertet: Während Ainsworth und Kren 2003 sie ohne Zögern dem Meister Edwards IV. zuschrieben, versteckte sich die bei solchen Bewertungen vorsichtigere Lilian Randall hinter Roger Wiecks Urteil, das in dieselbe Richtung geht, verwies aber auf ein stilverwandtes Stundenbuch, das wir in Illumination und Illustration 1987 mit vorsichtiger Annäherung an diesen Maler vorgestellt haben, ohne die Ausmalung dem Meister Edwards IV. geben zu können. 88 Die Marienkrönung diente, wie Ainsworth und Kren in ihrem gemeinsamen Beitrag über Illuminators and Painters im Ausstellungskatalog von 2003 meinten, als Anregung für eine breiter angelegte und stärker vereinheitlichte Komposition von Michel Sittow (1469–1525/26) für Isabella die Katholische. In Brügge, wo der aus Reval/Tallinn stammende Tafelmaler wohl bei Hans Memling gearbeitet hat, ehe er nach Spanien ging, um schließlich ins Baltikum zurückzukehren, habe er die Komposition kennen gelernt. 89 88 Randall 1997, Bd. II , S. 437, bezogen auf unseren Katalog XX , Rotthalmünster 1987, Nr. 14. 89

Paris, Louvre, inv. RF 1966-11: Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Abb. 24 auf S. 50. Zustimmend auch Matthias Weniger, Sittow, Morros, Juan de Flandes. Drei Maler aus dem Norden am Hof Isabellas von Kastilien, Kiel 2011, S. 130–132.

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Wien, ÖNB , cod. 1576, fol. 150

Visionen: eine Spezialität des Meisters Edwards IV.? Besondere Sensibilität für die Begegnung des Menschen mit der Gottheit beweist der Meister Edwards IV. in verschiedenen Manuskripten, deren Zuschreibung unstrittig ist. Für Baudouin II de Lannoy, der bei demselben Ordenskapitel wie Claude de Toulongeon das Goldene Vlies erhielt, hat der Maler verschiedene fromme Texte bebildert, darunter ein erstaunliches lateinisches Exemplar der Imitatio Christi von Thomas a Kempis in Wien.90 Zum Autorenbild zu Beginn von Buch I kommen nur drei Miniaturen hinzu, alle von seiner Hand; sie stellen jeweils einen frommen Mann, den Johanna Scheel als Stifter mißversteht, im Gebet dar. Von der Robe, aber nicht den Farben her könnte der Beter zu Buch II und III denselben Herrn bezeichnen, der dann zum letzten Buch sein Chaperon abgelegt hätte. In bemerkenswerter Abfolge würde sich dann der Zugang dieses einen Beters (und seiner Seele) zu Christus steigern, dessen Imitatio ja der Text befördern will: Zuerst ist er wie Claude de Toulongeon bei Tage aus einem Garten in einen Raum eingetreten, um leicht zum Betrachter der Miniatur gewendet zu beten. Das geschieht vor einem schlichten Gemälde der Kreuzigung mit Blick auf zwei Fenster, in die einzelne Heiligengestalten eingefügt sind. Beim zweiten Bild ist der Raum stark verdunkelt; über dem Kamin steht eine Statuette sicher auch eines Heiligen. Der Beter kniet wieder links, nun aber in die Bildtiefe gewendet; ihm erscheint Christus im ungenähten Rock, mit den Wundmalen als 90 Wien, ÖNB , Cod. 1576: Pächt und Thoss 1990, S. 101–103 mit Abb. 201–204; Los Angeles und London

2003, Nr. 95, und Scheel 2014, Abb. 53–55; Scheel S. 244, betont, daß auch Jean Gersons De Meditatione Cordis enthalten ist; dieser auf fol. 184–194v angefügte Text blieb unbebildert und wirkungslos.

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der Auferstandene und weist auf sein Herz, von Licht umgeben, über dem Fliesenboden schwebend. Im letzten Bild aber steht Christus, der eben noch als Ziel der Leserichtung rechts erschien, links, in gleicher Weise erkennbar, auf dem glatten Estrich eines kleinen Kapellenraums; zu ihm betet von rechts vielleicht derselbe Mann. Sein Gesicht ist wie das Antlitz Christi zum Bildbetrachter gedreht; ihm erläutert Christus offenbar die Hostie; denn zwei Engel fliegen über den Köpfen und halten eine Hostienmonstranz. Das Bild an der Wand in der ersten Miniatur, die von Licht umgebene schwebende Erscheinung in der zweiten und die in die Kapelle eingetretene Gestalt des lehrenden Christus als sich wandelndes Ziel der Frömmigkeit beschwören die Wirkung des Texts auf den Beter. Nicht er, sondern nur sein Wappen am Schluß des Bandes trägt Kette und Anhänger des Goldenen Vlieses. Da dieses Zeichen in der Initiale zur ersten Miniatur fehlt, mag das Manuskript noch vor Mai 1481 entstanden sein; dann hätte man es erst mit dem Orden versehen, als sich Baudouin II de Lannoy auf derselben Seite fol. 194v als Besitzer eintrug.91

Paris, BnF, fr. 6275, fol. 48v

Mit dem Visionären, das im Verhältnis von Claude de Toulongeon und seiner Schau der Trinität erprobt und in den drei Miniaturen der Wiener Imitatio Christi differenziert wird, verbinden sich Bildfolgen in einem Pariser Exemplar der französischen Übersetzung des Heilsspiegels von Jean Miélot. Die von der Literatur wenig beachtete Handschrift dieses Miroir d’humaine salvation folgt im Text exakt der Minute, wie sie im Brüsseler ms. 9249– 50 erhalten ist, und wiederholt sogar deren Datierung 1449, obwohl Schrift und Bebilderung deutlich später sind.92 Für Pächt und Thoss ebenso wie für McKendrick im Ausst.-Kat. 2003 (wie vorige Anm.) entstand das Buch erst nach Aufnahme in den Orden; die letzte Miniatur ist auch abgebildet bei Wijsman 2010, Abb. 39, der auf S. 419 f. in den Bildern des Beters Baudouin II de Lannoy erkennen möchte. 92 Paris, BnF, fr. 6275, fol. 44v–48: Jules Lutz und Paul Perdrizet, Speculum Humanae Salvationis. Les sources et l’influence iconographique principalement sur l’art alsacien du XIVe siècle, 4 Bde., Mühlhausen und Leipzig, französisch 1907, deutsch 1909, Taf. 128–136; die hier interessierenden Miniaturen auf Taf. 136. Die über hundert Jahre alte Untersuchung von Lutz und Perdrizet bietet immer noch die beste Darstellung dessen, worum es im Speculum geht; siehe zu den drei Endkapiteln dort, Bd. I, 2. und 3. Partie, S. 236– 240. Siehe auch Wilson und Wilson 1984, S. 60–61. Die hier angesprochenen Miniaturen besser lesbar 91

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Wijsman würde dieses Exemplar am liebsten auch mit Baudouin II de Lannoy als Auftraggeber verbinden;93 denn in den abschließenden drei Bilderserien tritt ein Beter auf, der – anders als in der Wiener Imitatio Christi – das Goldene Vlies trägt.94 Die im Gegensatz zu den ersten 42 Kapiteln nicht mehr vierteilig, sondern achtteilig aufgebauten Kapitel XLIII–XLV zeigen diesen Beter vierzehnmal als Halbfigur und einmal kniend als Ganzfigur. Auf eine bebilderte Einleitung folgen jeweils sieben Abschnitte, in denen die Sieben Stationen von Christi Passion sowie die Sieben Schmerzen und die Sieben Freuden Mariä betrachtet werden. Am Beginn von Kapitel XLIII erscheint der kreuztragende Christus einem Bärtigen im Traum; Kapitel XLIV eröffnet mit dem Bild eines namenlosen Dominikaners, der zwar von Mariens Schmerzen wie durch ein Schwert getroffen ist, hier aber sehen darf, wie die Muttergottes neben Christus im Himmel thront. Beide Folgen verstehen sich im Pariser Manuskript als Träume. Sie gleichen Visionen, wie sie in demselben Manuskript schon die Tiburtinische Sibylle im 4. Bild des X. Kapitels erlebte. Die Umrandung der jeweils nur als Ausschnitt gegebenen lichtdurchfluteten Szenen mit Holzmaserung verdeutlicht jedoch, daß die Stationen der Passion wie auch die Schmerzen Mariä nicht als vage Lichterscheinungen zu verstehen sind, sondern in einem runden Konvexspiegel reflektiert werden – abgestimmt auf das Konzept des Spiegels, das im Titel Miroir oder Speculum den vier entsprechenden Schriften des Vincent von Beauvais entlehnt ist. Diese einzelnen Stationen schaut in den Miniaturen von fr. 6275 der Ritter des Goldenen Vlieses; es ist immer derselbe Mann und keinesfalls jener Bärtige, dem der kreuztragende Christus im Traum erscheint. Bartlos, mit breitem Pelzkragen, porträthaft, mit dem Vlies ohne Ordenskette erweist er sich als Zeitgenosse des Malers und erblickt als Reflektionen in einem imaginären Spiegel jene „miracles“, die lange Zeit vor ihm andere Menschen erlebt haben. Wijsman meint, es handele sich um Baudouin II de Lannoy.95 Auch Claude de Toulongeon könnte gemeint sein; dann allerdings müßte ein gewisser Zeitraum zwischen unserem Stundenbuch und dem Miroir de Salvation humaine verstrichen sein; denn dort sind Altersspuren unverkennbar. Entsprechend wird auch zu Beginn der letzten Bildfolge, Kapitel XLV, zwischen einer weit zurückliegenden Traumerscheinung und zeitgenössischem Gebet unterschieden. Die ersten beiden Miniaturen, auf fol. 48, hat noch der bis zu dieser Stelle im Buch tätige Meister Edwards IV. gestaltet. Zur Einleitung von Kapitel XLV zeigt sich die Muttergottes mit abgebildet in Scheel 2014, S. 438–447 mit Abb. 113–121; die Autorin insistiert auf der Spiegel-Eigenschaft der in den Miniaturen gezeigten Visionen, fragt sich aber nicht, warum ein jeweils im Bild gezeigter Beter (nicht Stifter!) im Spiegel nichts Gespiegeltes, sondern Visionen sieht; dabei stellt sie das Verhältnis der an der Ausmalung beteiligten Maler zueinander und ihre Anteile irrig dar; tatsächlich hat Jean de Tavernier die letzten drei Blätter bearbeitet. Siehe auch Bert Cardon 2006, vor allem S. 134 f., dort übrigens als Taf. 6 eine Farbabb. 93 Wijsman 2010, S. 419 auf S. 418 gibt Wijsman eine Liste von zehn frommen Schriften aus dem Besitz des Baudouin II de Lannoy, zu der er noch den Miroir d’humaine salvation und eine Einzelminiatur in der Sammlung Wildenstein, heute Musée Marmottan-Monet in Paris hinzufügt; siehe auch seine Abb. 38 und 40. 94 Man wird Scheel 2014 widersprechen müssen, die meint, man sehe auch die Ordenskette. 95 Wijsman 2010, S. 187.

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dem Jesuskind einem Tonsurierten, der sich im Bett betend aufrichtet. Zur ersten Freude Mariens kniet dann aber noch einmal derselbe Ritter vom Goldenen Vlies, der bisher als Halbfigur gezeigt wurde, nun als Vollfigur vor seinem Betpult. Entrückt erscheint ihm die Madonna thronend in einem Rund, das immer noch wie ein Spiegel gerahmt ist, aber überdimensional vor ihm schwebt, also visionär. Die letzten sechs Freuden Mariä hatte offenbar sehr viel früher Jean le Tavernier übernommen; er verzichtet in den nun die ganze Fläche füllenden Szenen auf den visionären Spiegel ebenso wie auf den zeitgenössischen Betrachter im Bild.

Paris, Arsenal, Ms. 5206, fol. 174

Ein letztes Beispiel einer Vision vom Meister Edwards IV. führt uns noch einmal zurück zu den Erscheinungen der Trinität und zu den Fragen, wie Gottesschau und das Leben auf Erden in solchen Miniaturen einander begegnen können. Ein Traktat des heiligen Bonaventura eröffnet in Arsenal 5206, einer Sammelhandschrift für Baudouin II de Lannoy, im dritten Abschnitt ein hinreißendes Bild des Wunders der Erschaffung der menschlichen Seele:96 Mit großem Verständnis für Interieur und nächtliches Licht schildert der Maler ein vornehmes Schlafzimmer, in dem ein Ehepaar züchtig im Bett liegt – jedoch offenbar mit dem Ziel, ein Kind zu zeugen. Da schickt die Dreieinigkeit, die der Maler in einer Vision links neben dem Kamin zeigt, die Seele des erwünschten Kindes aus. Das geschieht so, wie man das von manchen Bildern der Verkündigung an Maria kennt, im

96 Paris, Arsenal 5206, fol. 174: Los Angeles und London 2003, Nr. 97 mit Abb. S. 341.

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Bild eines nackten Säuglings aus, der zur Frau fliegt und dabei die Flamme der einzigen angezündeten Kerze bewegt. Angesichts dieser großartigen Miniatur, in der zumindest das Ehepaar unserem „Diptychon“ recht nahekommt, wäre es kein Schaden, wenn man Claude de Toulongeon und seine Schau der Not Gottes dem Meister Edwards IV. zuschreibt. Es bleibt das Problem, daß Winklers Bezeichnung des Künstlers unglücklich ist; denn in den Manuskripten für den englischen König, der bei Lodewijk van Gruuthuse zu Gast war, durfte unser Maler niemals die Position einnehmen, die man vom Meister erwartet: So schön seine Miniaturen für Edward IV. auch sind, so besetzen sie doch nie die Frontispize, die in der Hierarchie dieser Bücher dem Meister zufallen. Der von ihm jetzt geschiedene Toulongeon-Meister verdient diesen eigenen Namen also in mehr als einer Hinsicht. Bildphantasie in Räumen mit erstaunlichem Kolorit Auf der Suche nach Vergleichbarem, mit dem sich die Malereien des „Diptychons“ mit Claude de Toulongeon und der Trinität einordnen ließen, wurde bereits deutlich, daß der verantwortliche Buchmaler recht ungewöhnliche Bildphantasie entwickelte: Weder für den Beter in seinem Interieur noch für den Thron Gottes in einer schräg gesehenen Mandorla, die aus Engeln gebildet wird, konnten wir auch nur ein einziges exakt entsprechendes Beispiel finden, wohl aber jeweils eine vage Entsprechung für jedes der beiden Bilder: den Beter im eine Generation früheren Sankt Petersburger Stundenbuch und die Marienkrönung in der Einzelminiatur in Baltimore. Das muß in einer Kultur, die gern auf verläßliche Bildmuster zurückgriff, erstaunen; denn solche Rückgriffe waren ebenso im Interesse des Buchmalers, der sich nicht immer wieder etwas Neues einfallen lassen mußte, wie der Auftraggeber, die, wenn sie Vorlagen gesehen hatten, von vornherein wußten, womit sie zu rechnen hatte. Für das Interieur mit Claude de Toulongeon, das sich zum Hof öffnet, bot kaum ein Gebetbuch eine Parallele. Nachdem wir bis zu diesem Punkt nur nach frommen Visionen, Gotteserscheinungen und Betern geschaut haben, lohnt ein Blick in weltliche Handschriften größeren Formats aus dem dritten Viertel des XV. Jahrhunderts: In manch einer treten Figuren auf, die von weither gekommen und aus einem Hof in einen Empfangssaal getreten sind, um in der Regel niedergekniet Botschaften, Briefe oder auch Bücher zu präsentieren. Besonders schön verbindet sich Innen und Außen bei Lievin van Lathem; in manch einer seiner als Breitformat angelegten Miniaturen verläuft die durch Türen und Fenster geöffnete Außenwand perspektivisch schräg in die Tiefe; ein paar Stufen führen herauf – wir blicken also nach unten ins Freie.97

97 Zu nennen wären die Frontispize der Sammelhandschrift mit Secret de Secrets von Pseudo-Aristoteles

(Paris, BnF., fr. 562) und Histoire de Jason von Raoul Le Fèvre (Paris, BnF, fr. 331), sowie in Liédets Stil das Frontispiz von Jean Boutilliers Somme rural (Paris, BnF, fr. 201) abgebildet bei Zenker 2018, Abb. 61, 72 und 84.

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Berlin, SbPK , Depot Breslau 1, Bd. III , fol. 1 - Breslauer Froissart

Als selbständige Miniaturen kommen solche Bildelemente jedoch selten oder nie vor; oft machen sie nicht einmal die Hälfte des Bildes aus – und nie dessen Hauptsache. Im Breslauer Froissart benutzt Lievin van Lathem dieses Mittel zur Rhythmisierung der Komposition von Miniaturen unterschiedlicher Größe: Die Eröffnung des künstlerisch herausragenden dritten Bandes mit dem Empfang Froissarts durch Gaston de Foix ist das schönste Beispiel von dicht mit Personen gefüllten Interieurs und einem Blick ins Freie, dem zwar nicht die Hälfte, aber doch eine ganze Kolumnenbreite gewidmet ist. Manche spaltenbreiten Bilder sind ähnlich eingerichtet, der Bal des Ardents mit einem schlichten Ausblick, andere meist mit genrehafter Ergänzung, zuweilen aber auch mit Nebenszenen.98 Ein bemerkenswertes Motiv im Hof hinter Claude de Toulongeon bilden die Pfauen; sie hat Lievin van Lathem in einer Serie von Miniaturen eines Gastmahls im Livre des conquêtes et faits d‘Alexandre auf sehr ähnliche Weise in den Hof gestellt – ohne knienden Boten.99 Die Darstellung mit Claude de Toulongeon als Beter ist also aus einem Bildtyp ausgeschnitten, der in profanen Handschriften beliebt war. Für den Maler ist ein solcher Bezug zur Bebilderung großer Formate charakteristisch; er war nicht in erster Linie ein Spezialist für Stundenbücher, sondern künstlerisch in der großen Buchmalerei jener Zeit verankert, in der das Haus Valois das Herzogtum Burgund über Flandern und Brabant bis nach Seeland ausgedehnt hatte. Das war die Zeit, in der große Adelige es den Herzögen gleich 98 Zenker 2018, Taf. 164, 209, 211, 221 u. a 99 Paris, Musée du Petit Palais, Coll. Dutuit, Ms. 456, fol. 87v–88 und mehr: Abb. Zenker 2018, Abb. 84–-

85; zur gleichen Art von Komposition gehört auch der Auftritt Medeas, die Jasons Sohn tötet in dem schon zitierten fr. 331, fol. 59: Los Angeles und London 2003, Abb. S. 244.

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tun wollten, indem sie Bibliotheken mit eindrucksvollen Folianten anlegten.100 Baudouin II de Lannoy, der bei demselben Ordenskapitel wie Claude de Toulongeon im Mai 1481, also im letzten Jahr der burgundischen Valois, in den Orden vom Goldenen Vlies aufgenommen wurde, zeigt dann allerdings, daß prachtvolle große Bücher für einzelne Auftraggeber auch durchweg religiösen und spirituellen Inhalts sein konnten.101 Unser Manuskript ist für ein Stundenbuch um 1480 ungewöhnlich groß. Das wichtigste Bildnis im Manuskript steht in einer älteren flämischen Tradition, greift offenbar bewußt auf prominente Werke für Karl den Kühnen zurück und entlehnt das Zusammenspiel von Interieur und Ausblick aus profanen Miniaturen, während die Not Gottes als Trinitätsbild ein Motiv aus dem Kernland Burgunds beschwört.

Christus in der Rast: ein rares Bildmotiv in der Buchmalerei Wie schon Dibdin 1817 bemerkt hat, gipfelt die Bebilderung des Stundenbuchs für Claude de Toulongeon in einer erstaunlichen Miniatur zur Johannespassion (fol. 158). Im Anschluß an die Überlegungen zum „Diptychon“ wollen wir mit der Betrachtung dieses Bildes fortfahren, da in ihm die Eigenart des Künstlers und sein Verständnis von Text und Spiritualität klarer als in den anderen Buchmalereien zu Tage tritt. Zugleich werden kunstgeographische Bezüge greifbar, die unsere bisherigen Ergebnisse durch bemerkenswerte Facetten ergänzen: Das Toulongeon-Stundenbuch ist ohne Zweifel – unabhängig davon, ob wir die besten Miniaturen einem nach ihnen benannten 100 Dieser Aspekt ist bei Zenker 2018 weit wichtiger als die monographische Aufgabenstellung ihres Buchs. 101 Siehe die zehn Bilderhandschriften, die als Aufträge von Baudouin II de Lannoy nachgewiesen sind:

Wijsman 2010, S. 418, und dort die Ausführungen S. 417–427; sie enden mit dem Hinweis auf unser geplündertes Stundenbuch Leuchtendes Mittelalter Neue Folge V, 2008, Nr. 18 mit Abb. 41–43.

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Toulongeon-Meister geben oder als herausragende Arbeiten vom Meister Edwards IV. ansehen – in Brügge für einen Auftraggeber entstanden, dessen Familiensitz im Grenzgebiet des Herzogtums und der Freigrafschaft Burgund liegt, von den großen flämischen Städten weit entfernt, jedoch recht nahe zu Schweiz und Oberrhein. Mit Christus in der Rast auf fol. 158 assoziiert der Maler auf eigenwillige Weise ein beliebtes Motiv aus der Welt der spätmittelalterlichen Andachtsbilder,102wie es beispielsweise mit Maria und Johannes auf einem Wiener Täfelchen aus der Zeit um 1400 der Berliner Gemäldegalerie oder einem elsässischen Bild aus der Zeit um 1470 im Bostoner Museum of Fine Arts zu finden ist.103 Am bekanntesten sind Holzskulpturen, die den Schmerzensmann als einen zweiten Hiob zeigen: erschöpft, geradezu hoffnungslos allein gelassen. Entkleidet und schon von den Stigmata, also vom Tod am Kreuz gezeichnet wurde er von Hans Leinberger in der Statue des Berliner Bode-Museums gefaßt. Albrecht Dürer schuf mit dem Titel seiner Kleinen Holzschnitt-Passion die wohl am weitesten verbreitete Bildformel.104

Dürer, Kleine Holzschnittpassion

102 Der moderne Begriff, der vielleicht zum ersten Mal in Goethes Faust als Regieanweisung zur Szene mit

Margarete im Zwinger („vor einem Andachtsbilde der Mater dolorosa“) gedruckt wurde, wurde 1927 von Erwin Panofsky, im Rückgriff auf Dehio und Pinder, in die Kunstgeschichtsschreibung eingeführt (Imago Pietatis, in: Festschrift für Max J. Friedländer zu seinem 60. Geburtstage, Leipzig 1927, S. 261–300). Einen Überblick der älteren Literatur gibt Karl Schade, Andachtsbild. Die Geschichte eines kunsthistorischen Begriffs, Weimar 1996. Siehe auch Thomas Noll, Zu Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbildes im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67, 2004, S. 297–308. Christus in der Rast ist selten so qualitätvoll gestaltet worden wie z. B. die inbegrifflichen Andachtsbilder der Christus-Johannes-Gruppen; siehe dazu: Reiner Haussherr, Über die Christus-Johannes-Gruppen. Zum Problem ‚Andachtsbilder‘ und ‚deutsche Mystik‘, in: Festschrift für Hans Wentzel zum 60. Geburtstag, Berlin 1975, S. 79–103 103 Beide Tafeln ohne narrativen Bezug; zum Bostoner Bild (und zum Thema) siehe Johann Eckart von Borries, Abrecht Dürer. Christus als Schmerzensmann, Karlsruhe 1972, Abb. 10. Zum Berliner Bild siehe Stephan Kemperdick in: Gemäldegalerie. 200 Meisterwerke der Europäischen Malerei, hrsg. von Michael Eissenhauer, Leipzig 2019, S. 52–53. 104 Die Anfänge in Deutschland gehen ins späte XIV. Jahrhundert zurück, zu Werken wie der bemerkenswerten Statue im Braunschweiger Dom.

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In unserer Miniatur ist Christus jedoch anders als in den meisten isolierten Andachtsbildern noch nicht vom Tod am Kreuz gezeichnet. Nach Panofsky gehört zum Wesen des Andachtsbildes die Herauslösung eines Motivs aus erzählerischem Zusammenhang. In diesem Sinne hätte man sich bei Christus in der Rast in die Passionsgeschichte versetzt und einen Moment ersonnen, von dem die Evangelien nicht berichten. Der deutsche Begriff in der Rast, der sehr viel anschaulicher und deshalb auch stärker irreführend ist als die in den Nachbarsprachen geläufigen Bezeichnungen von Christus im Elend,105 erweckt den Eindruck, der gemarterte Christus habe sich auf dem Kreuzweg hinauf zum Berg Golgatha erschöpft und verzweifelt zur Rast, also zum Atemholen niedergesetzt. Irreführend ist diese Vorstellung, weil kein Bild aus Mittelalter oder früher Neuzeit den Dulder in der Rast noch im Rock zeigt, in den er bei der Kreuztragung gehüllt ist. Deshalb paßte die Rast nicht in den Kanon der Kreuzwegstationen, bei denen Jesus dreimal stürzt – auch nicht, als man von den sieben Episoden, die wie im Bamberger Beispiel von 1503 zunächst galten, um 1600 auf zwölf und seit 1625 auf vierzehn Szenen kam. Passions. spiele werden zuweilen ins Spiel gebracht; doch wo fänden wir diese Szene?106 In den Hymnen der Kreuzes-Horen ist davon ebenso wenig die Rede wie in den viel selteneren Offizien von Marias Klage, die wohl von Bonaventura stammen.107 Von einem für unsere Bilder entscheidenden Grundmotiv aus geht das Abschlußgebet zur Sext des mit Psalmen ausgestatteten Passions-Offiziums aus, dessen Grundstruktur und Hymnen von Bonaventura stammen. Das geschieht unter anderem im wichtigsten lateinischen Beispiel aus den nördlichen Niederlanden, dem um 1435/40 entstandenen Stundenbuch der Katharina von Kleve in New York108: Jesus wird als der angesprochen, der vor dem Kreuz entblößt und

105 Unter diesem Lemma hat Gert von der Osten das Motiv im Reallexikon zur deutschen Kunst 3, S. 644–

656, behandelt. 106 Das ist ein Grundgedanke von Gorissen 1973, zu unserem Thema S. 347–351. 107 Zu Bonaventuras Anteil an den Texten, vor allem seinen beiden Passions-Offizien siehe Marrow 1979, S. 10 ff. Als Lamentationes in den Petites Heures des Herzogs von Berry: Paris, BnF. Latin 18014, fol. 155– 165v. Dieser Text war auch in den Très Belles Heures de Notre-Dame, im verbrannten Turiner Teil zu finden, wo die Buchmaler übersehen haben, daß sie etwas Ungewohntes bebilderten. Nur zwei Bilderzyklen orientieren sich am Text, jener in Berrys Petites Heures und ein zweiter im Stundenbuch der Françoise de Dinan, das für ihre Mutter Catherine de Rohan angelegt wurde; Rennes, BM , Ms. 34, fol. 34v–65v (der Charakter dieses Texts ist nicht erkannt in der ausführlichen Beschreibung von: Deuffic 2019, S. 210, der von diesem Text statt der sonst von ihm oft zitierten Hymnen nur die Eingangsformeln Domine labia mea, fünfmal Deus in adiutorium und Converte nos notiert). 108 Die auf Bonaventura zurückgeführten Hymnen stimmen in den meisten von uns überprüften Versionen überein. Die Kapitel und die Endgebete unterscheiden sich ebenso wie die Auswahl der Psalmen; das gilt sogar für Manuskripte für denselben Auftraggeber wie Jean de Berry, dessen Petites Heures, Paris, BnF, lat. 18014, andere Texte als seine Belles Heures in den New Yorker Cloisters haben. Dem Hymnus Crucem pro nobis subiit et stans in illa situit zufolge müßte Christus vor dem Kreuz stehen, wie das Bonaventura und Birgitta von Schweden beschreiben (Gorissen 1973, S. 347 f.) und wie es nur ein einziges Mal – jedoch zur Terz der Lamentationes in Berrys Petites Heures (Meiss 1967, Abb. 141; darauf weist auch Gorissen, S. 349, ohne den Text zu bedenken) dargestellt wurde; tatsächlich ist dann im Hymnus von der Kreuzannagelung die Rede (Franz Joseph Mone, Lateinische Hymnen des Mittelalters, Freiburg 1853, S. 115). Als Kunsthistoriker hat sich James H. Marrow, Passion Iconography, Kortrijk 1979, S. 10 f., mit diesem Text auseinandergesetzt.

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New York, Morgan Library, M. 945: Stundenbuch der Katharina von Kleve, fol. 63v/64

seiner Kleider beraubt war; doch nach dieser Aussage in Partizipien des Perfekts109 geht es im Hauptsatz wie vorher schon im Hymnus um die Annagelung. Der Text liefert keine konkrete Anregung für eine gesonderte Szene; aber man könnte meinen, der bedeutendste holländische Buchmaler des XV. Jahrhunderts habe sich wirklich vom lateinischen Gebet anregen lassen, in seinem Hauptwerk auf die in den Texten angesprochene Annagelung zu verzichten und stattdessen Christus in der Rast als Kopfbild über dem Text zu zeigen. Aus diesem Grunde sitzt dort der Dulder, dessen Rock über den Kreuzstamm geworfen ist, neben dem Kreuz, das noch von zwei Schergen bearbeitet wird, während die Muttergottes fassungslos zuschaut.110 Doch schon das vorgeschaltete Hauptbild, die textlose Kreuztragung, von der in der Sext keine Rede ist, läßt zweifeln, daß solche Buchmalereien überhaupt aus dem Text entspringen. Diese Szene von Christus in der Rast, die zuerst – mit Männern statt Maria als Zuschauern – im Hoya-Missale111 vorkommt, gehört zu den Vorlagen des Meisters der Katharina von Kleve, der sie um 1440 im Leidener Stundenbuch der Elyzabeth van Zaers als textloses Vollbild zur diesmal ganz anders formulierten Sext in der Volkssprache verwandte.112 Delaissé hat zu Recht darauf hingewiesen, daß man diese Szene so gut wie nie in französischen Stundenbüchern findet, und die Art, wie Christus „the focus in the picture“ ist, mit der Devotio moderna erklären wollen.113 109 „Domine ihesu xpriste qui in hora sexta nudatus. vestibus tuis spoliatus …“ lautet die Stelle im Stundenbuch der Katharina von Kleve, New York, PML , Morgan 917, fol. 65v. 110 New York, PML , Morgan 917 (bei Plummer 1966 und im Faksimile mit Morgan 945 vereint), fol. 64: Plummer

1966, Nr. 25; Gorissen 1973, S. 347–350; Das Stundenbuch der Katharina von Kleve, Kommentarband mit Beiträgen von Rob Dückers u.a. , Luzern 2009, S. 185; Ausst.-Kat. New York und Nimwegen 2009, Nr. 41–133. 111 Münster, ULB , Ms. 12, fol. 180 (zu De sancta cruce: Nos autem gloriari oportet): Darauf weist bereits Gorissen 1973, S. 350, hin; siehe Betram Haller, Ein gotisches Prachtmissale aus Utrecht (Kostbarkeiten aus westfälischen Archiven und Bibliotheken 5), Münster 1996, S. 46 und Abb. S. 47. Ein frühes Beispiel ist auch das Haager Stundenbuch aus der Werkstatt des Zweder van Culemborch 79 K 2, mit Kreuztragung als Vollbild und Christus in der Rast als historisierte Initiale auf fol. 159v und 160 (unkommentiertes Faksimile Den Haag 1999). 112 Leiden, UB , ms. B.P.L. 224, fol. 134v: In diesem mit Utrechter Grisaillen ausgestatteten Manuskript sind acht vollfarbige Passionsszenen im Stil des Kleve-Meisters als eigener Block eingefügt: A. W. Byvanck, La miniature dans les Pays-Bas Septentrionaux, Paris 1937, S. 71, Abb. 141; auch Delaissé 1968, Abb. 81; zu dem Manuskript zuletzt Ausst.-Kat. Nimwegen 2009, Nr. 25. 113 Delaissé 1968, S. 39. Dabei ist ihm jedoch entgangen, daß Robinet Testard die weiter unten diskutierte Passionsfolge von Israhel van Meckenem im Stundenbuch des Charles d’Angoulême, Paris, BnF, lat. 1173,

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New York, Morgan Library, M. 868, fol. 41v – Einblattholzschnitt, ehemals Amsterdam, BPH 81

Wenn wir noch weiter fragen wollen, wie weit die Themen der Buchmalerei dem Brauch der Maler oder nicht doch auch dem Blick in die Texte verdankt werden, dann müssen wir den Spiegel van den Leven Ons Heren einbeziehen, der dasselbe Motiv enthält. Nach dem Titel „van dat ihesus tot calvarie gebrocht ende naict gemacht“ springt der zugehörige Abschnitt gleich zu Joseph und seinen Brüdern in der Genesis. Noch mehrfach wird Nacktheit benannt und als scandalic ende iammerlic bezeichnet; doch alles Anschauliche bietet dann nur der Buchmaler mit seiner nicht sehr bedeutenden Arbeit.114 Sehr viel beeindruckender, aber sicher auch mehr als eine Generation jünger ist ein niederländischer Einblattholzschnitt.115 Dieses Beispiel mit seinen zwei kurzen Gebetsformeln bestätigt, daß die Bilder Formeln bieten, die zum Beten anregen sollen, nicht aber selbst narrativ sein wollen. Die wenigen Beispiele aus dem Utrechter Raum, in dem man heute auch den Meister der Katharina von Kleve ansiedelt, weisen auf einen größeren Zusammenhang im niederdeutschen Bereich. Gorissen, der unser Thema gegen die Evidenz der von ihm besprochenen Buchmalerei als Christus auf dem Stein bezeichnet, weist auf einen auf sieben Horen fol. 97v, eingesetzt hat. 114 New York, PML . 868, fol. 41v, das Bild von einem Gebet auf fol. 42v: Spiegel van den Leven Ons Heren, Historical and Philological Introduction W.H.Beuken, Essay on the Miniatures von James H. Marrow, Doornspijk 1979, auch mit Hinweis auf ein weiteres Beispiel: Getijdenboek in Den Haag, KB , Ms. 131 G 3: Abb. 15 (neben dem Bild aus dem Stundenbuch der Katharina von Kleve, Abb. 14). 115 Schreiber 908a: zweimal im Verbund mit der völlig anders gearteten Großen Kupferstich-Passion des I srahel van Meckenem, so als Deckblatt vorgeschaltet im textlosen Album des New Yorker Metropolitan Museums (Inv. Nr. 2003, 376), aber auch in der niederländischen Handschrift BPH 81: Schuppisser 1991.

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eingerichteten Altar aus der Zeit um 1410 im Lübecker Dom.116 Diese Horentafel nimmt Thomas Lentes zum Anlaß, eine führende Rolle der Liturgie und des Stundengebets für die Ikonographie zu postulieren. Er bildet die uns interessierende Szene zur Sext ab, ohne zu beachten, daß als Legende darunter die erste Heilandsklage aus der gregorianischen Karfreitagsliturgie steht, der Text also gar nicht aus den Horen stammt, während andere Bilder des Zyklus eher narrativ beschriftet sind.117 daß Christus in Lübeck in seiner Nacktheit sogar ohne Lendentuch auskommen muß, ist eine Sonderform, die in einer erschütternden Skulptur des Annenmuseums aus dem frühen XV. Jahrhundert gipfelt.118 Besonderen Rang erhält das Motiv im Zyklus des Lebens Jesu auf der Lüneburger Goldenen Tafel in Hannover119 aus der Zeit um 1420: Christus in der Rast nimmt die Mitte im unteren Register der Innenseite ein; zwischen den sehr viel vertrauteren Szenen der Kreuztragung und der Kreuzigung „bietet der hoch thronende Christus mit den ihm beigeordneten Passionswerkzeugen in der Mitte ein Motiv, das zum verharrenden Nachvollzug seines Leidens einlädt.“120 Den Streit um seine Kleidung und das Würfeln um den ungenähten Rock verfolgt Christus im Profil nach links sitzend. Er ist nackt, hat nicht einmal ein Lendentuch, um seine Scham zu bedecken; formal besteht kein Bezug zu unserer Miniatur. Entsprechend dargestellt ist der Dulder nur in wenigen Skulpturen, die Émile Mâle als eine auf Frankreich beschränkte Sonderform zusammengestellt hat.121 Sie zeigen Christus noch lebend, mit der Dornenkrone auf dem Haupt, meist auf dem ungenähten Rock thronend, an den Händen, zuweilen auch den Unterschenkeln gefesselt. Solche Bildwerke werden noch heute als Ecce homo angesprochen. Mâle hat jedoch zu Recht darauf hingewiesen, daß Christus nicht zum Spott im Prätorium des Pilatus, sondern, wie Totenschädel beweisen, auf der Schädelstätte Golgatha thront. Seine Abbildungen betitelt Mâle mit „Le Christ assis attendant le supplice“; und diesen Begriff variierte auch Leroquais 1927 anläßlich des einzigen uns bekannten Vergleichsbeispiels in einem Stundenbuch.122 Französische Beispiele stammen meist aus dem XVI . Jahrhundert; doch schon 1475 ist Mâle zufolge das früheste datiert: ein Relief, in Guerbigny, Somme, südlich von Amiens, das Christus vor dem Kreuz sitzend zeigt, neben dem Rock, auf dem die Würfel liegen.123

116 Gorissen 1973, S. 350: Inzwischen ist diese Horentafel in den Dom zurückgekehrt. 117 „Popule meus, quid feci tibi“; der Text stimmt recht genau mit dem Graduale Romanum von 1973 überein:

Thomas Lentes, „As far as the eye can see …“ Rituals of Gazing in the Middle Ages, in: The Mind’s Eye. Art and Theological Argument in the Middle Ages, hrsg. von Jeffrey F. Hamburger und Anne-Marie Bouché, Princeton 2006, S. 360–373, bes. S. 367. 118 Aus dem Heilig-Geist-Hospital: die Figur 63 cm hoch, auf Felsgrund sitzend: Max Hasse, Lübeck. St. Annen-Museum. Die sakralen Werke, 2. Auf. 1970, Nr. 28. 119 Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum, siehe den von Anje-Fee Köllermann herausgegebenen Ausst.-Kat. Hannover 2020, Nr. 1, vor allem S. 37. 120 Zitat Köllermann, nach Gert van der Osten, Artikel „Christus im Elend“, Reallexikon zur deutschen Kunst 3, S. 644–658. 121 Mâle, 5. Ausgabe, 1949, S. 94–96. 122 Leroquais 1927, S. 108, zu latin 1173, einem Stundenbuch, auf das wir unten zurückkommen. 123 Mâle 1949, S. 95: Ob das Relief die Zerstörungen des Ersten Weltkriegs in Guerbigny überlebt hat (Mâle veröffentlichte sein Buch 1908), ist mir unbekannt.

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Mâle bildet ein spätes Beispiel in Vénizy, Yonne, ab.124 Auch im burgundischen Département Côte ďOr kommt die Bildformel vor; doch sofort verwirren Fragen der Zuschreibung die Kunstgeographie; denn die bedeutende Statue im Hôtel Dieu in Beaune, die Christus ebenfalls auf seinem Rock sitzen läßt, hält Marrow für niederländisch.125 Solche Zweifel spielen hingegen bei einem Glasfenster in Maizières, Aube, also in der Region Grand-Est, keine Rolle. Im Gegensatz zu den sehr viel früheren Beispielen aus Utrecht, Lübeck und Lüneburg zeigt ein grober Pariser Holzschnitt aus der Zeit der ersten gedruckten Stundenbücher Christus vor dem Kreuz, das von zwei Schergen unter Aufsicht eines Bärtigen bearbeitet wird.126 Wie in diesen französischen und nordniederländischen Beispielen ist Christus im Toulongeon-Stundenbuch an Händen und Füßen noch unversehrt. Am Körper sogar ganz ohne Spuren der Geißelung, blutet er nur aus den Wunden der grünen Dornenkrone, die er auf dem Haupt trägt. Er ruht sich nicht auf einer Station des Kreuzwegs aus, sondern sitzt – im Gegensatz zu Mâles Beispielen – auf dem Kreuz, das er schon nach Golgatha geschleppt hat, wo jedoch kein Schädel liegt. Mit der Vorstellung von Christus in Erwartung seiner Hinrichtung stimmt überein, daß er sich selbst keinesfalls so hätte hinsetzen können; denn er ist bis auf das Lendentuch nackt. Im Gegensatz selbst zu den Statuen ist jedoch vom ungenähten Rock nichts zu sehen, und das Kreuz ist Christi Thron. Statt grober Zugriff der Schergen zu sein, steigert die Entblößung noch die Würde des Heilands. daß Christus nach der Entkleidung, die in Bilderserien der Passion eine Station für sich sein kann, an Armen und Beinen gefesselt ist, als müsse man ihn an der Flucht zu hindern, steht im Widerspruch zu der Ergebenheit, mit der er geduldig abwartet, bis die Löcher für die Nägel gebohrt sind, die ihn ans Kreuz heften sollen. So thront der Erlöser mit der Dornenkrone – analog zu den biblisch verbürgten Szenen der Verspottung im Prätorium des Pilatus ein zweites Mal als Ecce homo, jedoch auf Golgatha; und nun ist für ihn als König der Juden das Kreuz sein Thron. Ungewohnte Bildphantasie als eine eigenständige Dimension, Christi Passion zu meditieren, beweist der Buchmaler ebenso durch die Figuren um den Dulder: Um das Paradox von Entwürdigung und Größe zu steigern, setzt er Christus kleiner als die Männer um ihn herum ins Bild. Links zeigt er einen bizarren Glatzkopf, der gerade den Bohrer ansetzt, um den Nagel für die Füße zu platzieren, läßt ihn von der Arbeit aufblicken, in Verwunderung über die Leidensfähigkeit des Opfers. Auch der zweite Scherge schaut auf, während er das Loch für die rechte Hand einschlägt. Von rechts, noch ganz am Bildrand, tritt als zweite Hauptfigur dieser einzigartigen Miniatur ein würdiger Herr in langem Gewand herzu, mit wallendem braunen Bart und Haar, einen langen Befehlsstab in der Rechten. Pontius Pilatus dürfte gemeint sein, der ja auf Golgatha war, um den Titulus INRI am Kreuz anbringen zu lassen. Doch die Inschrift, die nur im hier folgenden Text aus dem Johannes-Evangelium erwähnt wird 124 Mâle 1949, Abb. 44. 125 Marrow 1979, Abb. 122. 126 Mâle 1949, Abb. 45. In Randzyklen gedruckter Stundenbücher kommt das Motiv in den Jahrzehnten um 1500 vor: siehe HORAE .

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(Joh. 19, 19–-22), kann nicht gemeint sein; denn weder Schild noch Schreibmaterial steht zur Verfügung. Stattdessen faßt die Miniatur auf Golgatha, also am falschen Ort, noch einmal das Gespräch des römischen Statthalters mit dem zu Unrecht Angeklagten zusammen. In dieser Zwiesprache, von der kein Evangelist berichtet, geht es offenbar noch einmal um die Frage, ob Jesus – nun mit Spottkrone auf dem Kreuzesbalken – wirklich der König der Juden ist. Intellektuell paßt diese künstlerische Wendung besonders gut zur Johannespassion. Erzählerisch führt sie aber ebenso in die Irre wie der links aufgetürmte Felsen, vor dem Soldaten und ein Zivilist mit untergeschlagenen Händen, vielleicht einer der Priester im Mittelgrund, ins Bild getreten sind. Golgatha ist hier kein Hügel, sondern unter diesem Felsen ein Fleck Wiese, die auf die mächtigen Türme von Jerusalem im Hintergrund hinführt. Figur und Landschaft sind so sacht miteinander verbunden, daß man die Männer vor dem Felsmassiv links fast übersehen könnte. Unsere Überlegungen zu den frühen Beispielen aus dem Umfeld des Meisters der Katharina von Kleve widersprechen einer Vorstellung, die sich seit 1983 in der kunsthistorischen Literatur hält und meint, Buchmalerei sei eine erzählende Kunst, deren Bilder als Emanationen aus dem Text zu verstehen sind.127 Das Geschehen steht in unserer Miniatur still; nicht einmal der Rock, den die früheren Bilder zeigen, ist zu sehen. Zur Entkleidung finden sich Gebete, beispielsweise in einem etwa zeitgleichen kölnischen Gebetbuch in Sankt Petersburg, in dem Christus angesprochen wird, er habe sich vor dem Kreuz entkleiden und entblößen lassen; deshalb solle er denen, die den Text beten, helfen, seinem Kreuz nackt zu folgen.128 Die Entkleidung hatte im XV. und frühen XVI . Jahrhundert zwar so gut wie keinen Platz in der Buchmalerei, wenn man von dem gerade genannten St. Petersburger Beispiel aus Köln absieht, wohl aber auf mehrszenigen Passionsaltären. Aus dem Elsaß stammt die berühmte Karlsruher Passion.129 In Zusammenhang mit diesem Werk ist Dietmar Lüdke den Vorläufern bis zu Petro Cavallini in Neapel und Beispielen in Nürnberg, der Schweiz und am Rhein bis hin zu dem bedeutenden Bilderheft in Brüssel nachgegangen, das früher dem Niederrhein zugeordnet wurde, heute aber als bayerisch gilt.130 Zwar spricht kein Evangelist expressis verbis von der Entkleidung; in allen vier Texten aber würfeln die Soldaten 127 Entwickelt wurde dieser Gedanke im Buch von Hans Belting und Dagmar Eichberger, Jan van Eyck als

Erzähler, Worms 1983, – leider an einem unbrauchbaren Beispiel: den Passionsszenen aus dem verbrannten Turiner Gebetbuch, bei denen auch Jan van Eyck und seine Leute schlicht vergessen hatten, den Text anzuschauen; sie begleiten die extrem seltenen Horen der Lamentationes Mariae mit einem Zyklus, den sie von den Heilig-Kreuz-Horen kennen; siehe dazu mein Buch Die Très Belles Heures de Jean de France duc de Berry, München 1998, S. 105 ff. 128 St. Petersburg, Russische NB , Ms. Lat.O.V.I.206, fol. 58: Siehe Faksimile-Ausgabe mit Kommentarband: Logutova und Marrow 2003, S. 74–75, mit dem Nachweis, daß fast derselbe Text in Johannes de Quedlinburg, Articuli passionis, Basel 1492, Ad articulum 45, vorkommt. 129 Karlsruhe, Kunsthalle: Ausst.-Kat. Die Karlsruher Passion. Ein Hauptwerk Straßburger Malerei der Spätgotik, von Dietmar Lüdke und Stefan Roller, Karlsruhe, Ostfildern-Ruit 1996, vor allem S. 90–100.130 Brüssel, KBR , Ms. IV, 483: Rosemarie Bergmann, Eine Bilderfolge en miniature, in: Vor Stefan Lochner. Die Kölner Maler von 1300–1500. Ergebnisse der Ausst. und des Colloquiums Köln 1974, Köln 1977, S. 81– 97. Im Karlsruher Kat. wird das Bilderheft noch für niederrheinisch gehalten (Abb. 70, S. 95); für Marrow (Logutova und Marrow 2003, S. 129) ist es dieser Szene wegen kölnisch; Antje-Fee Köllermann hat

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auf Golgatha um den Rock, den man dem Erlöser wieder angezogen hatte; das aber erforderte eine Entkleidung unter dem Kreuz.131 Am ausführlichsten geht Johannes darauf ein, daß der Rock verlost werden muß; dazu zitiert er Ps. 12,19 aus dem Alten Testament. Schon bei der Entkleidung fällt auf, daß dieses Thema, das bereits im italienischen Trecento eine gewisse Rolle spielt, im Norden räumlich beschränkt war: Beispiele aus dem Rheingebiet sind vertraut; Köln spielt eine entscheidende Rolle, jedoch mit Bildern, die nur einer einzigen Formel verpflichtet sind: Jesus wird nach rechts gedrängt und steht jämmerlich gebeugt da, wie man ihm den Rock über den Kopf zieht oder bereits gezogen hat.132 In Augsburg findet man Varianten dieses Bildgedankens.133 Frankreich und die Niederlande spielen dabei keine große Rolle. Eine überzeugende Parallele zur Darstellung im Toulongeon-Stundenbuch bietet ein stattliches Tafelbild aus Straßburg, wohl aus dem zweiten Jahrzehnt des XVI . Jahrhunderts, in Frankfurt.134 Angelegt wie Tintorettos sehr viel späteres Panorama der Kreuzigung in der Sala del Albergo der Scuola di San Rocco in Venedig, zeigt die Komposition drei Kreuze, jedoch anders als dort nicht die Schächerkreuze mit Jesus in der Mitte, sondern simultan das Kreuz des Erlösers dreimal in unterschiedlichen Momenten: Gegen die Leserichtung beginnt der Zeitablauf rechts; dort liegt das Kreuz noch am Boden, links wird Jesus an das zum zweiten Mal gezeigte Kreuz genagelt, in der Mitte aber wird das zum dritten Mal gezeigte aufgerichtet.135 Mit unserer Miniatur stimmt in dieser Kreuzbereitung mit rastendem Christus, Kreuzannagelung und Kreuzaufrichtung, um den gültigen Bildtitel zu benutzen, nur das rechte Viertel überein, das die zeitliche Abfolge eröffnet. Wie beim Interieur mit dem betenden Claude de Toulongeon hat der Buchmaler für sein Bild also nur den rechten Streifen einer größeren Komposition übernommen. Auch hier tritt ein würdiger Alter mit langem Bart und Befehlsstab auf; mit Christus spricht jedoch einer der Schergen; er hat sich hinter ihn auf den Kreuzesstamm gesetzt und zeigt zur Mitte, als wolle er ihn auf das furchtbare Ende hinweisen. Die Frankfurter Tafel ist eine Generation jünger, kommt somit nicht selbst als Vorbild für unser Toulongeon-Stundenbuch in Frage; sie führt aus Straßburg noch weiter nach Osten, nach Augsburg, wo die beiden Hans Holbein herstammten, die schließlich beide an den

es nach Bayern versetzt in: Till-Holger Borchert (Hrsg.), Van Eyck bis Dürer, Ausst. Brügge 2010–2011, Nr. 181, ohne Diskussion des hier interessierenden Blatts. 131 Mt 27,35; Mk 15,24; Lk 23,34; Joh 19,23–24. 132 Marrow (Logutova und Marrow 2003, S. 129 mit Anm. 85–88, Abb. 7, 22 und 32) zitiert nur Beispiele aus Köln, darunter eines in der Josephskapelle in Scheuren, vielleicht aus St. Laurenz in Köln, um 1460. Abweichend ist eine Variante des Themas im Altar der Felsenkirche von Idar-Oberstein gestaltet: Es geht um die erste Entblößung und Verspottung Christi vor Pilatus: Brinkmann und Kemperdick 2002, Abb. 115, S. 135. 133 Siehe die Tafel des Augsburger Meisters von 1477 in der Stuttgarter Staatsgalerie: Stuttgart 2010/11, Nr. 103. 134 Frankfurt, Historisches Museum Inv. Nr. B 952, deponiert im Städel als HM 43: In diesem Zusammenhang muß ich Dieter Röschel danken, der mich auf dieses Werk hingewiesen hat. 135 Brinkmann und Kemperdick 2002, S. 401-412.

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Frankfurt, Städel, Historisches Museum 43, dort Inv.Nr. B 952 (Ausschnitt)

Oberrhein gingen.136 Im Werk des älteren Holbein hat Christus in der Rast einen festen Platz: Eine Tafel der Grauen Passion zeigt den Dulder unbewegt in seinem Schmerz, umgeben von Schergen, die das Kreuz zubereiten, und solchen, die ihn verspotten, während Pilatus mit dem Hauptmann spricht und auf Christus weist.137 Dem auf dem Kreuz sitzenden Christus in der Rast hat Hans Holbein der Ältere auf einem kleinen Andachtsbild die Schmerzensmutter gegenübergestellt.138 Hier lebt der mit der Dornenkrone gekrönte noch, ist bis auf das Lendentuch entkleidet, am Körper nicht von der Geißelung entstellt; so blickt er zu uns. In dieser Gegenüberstellung entsteht kein Gespräch zwischen Mutter und Sohn, eher regt Christus an, mit Maria die Passion zu begreifen. Weit östlich von den Niederlanden und dem französischen Burgund sind diese Beispiele entstanden; die wichtigsten sind später als unser Stundenbuch, bieten also nur Hinweise, daß es in Augsburg und im Elsaß verwandte Bildgedanken gegeben haben muß, auch bevor sich der ältere Holbein mit dem Thema auseinandersetzte. Von ihm führt eine Spur zurück ins Rheinland, zu Israhel van Meckenem und damit in die Entstehungszeit des

136 Hans Holbein d. Ä. ist 1524 in Isenheim gestorben – oder in Basel, wo Hans d. J. lange Zeit lebte. Einen

vorzüglichen Überblick bietet der Ausst.-Kat. Stuttgart 2010/11. 137 Ausst.-Kat. Stuttgart 2010/11, Nr. 48. 138 Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum: Ausst.-Kat. Stuttgart 2010/11, Nr. 57.

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Toulongeon-Stundenbuchs. Israhel der Jüngere, dessen Familie aus Meckenheim bei Bonn139 stammt, war ein Meister aus der zweiten Generation des im Elsaß entwickelten Kupferstichs; um 1465 arbeitete er in Kleve und 1503 wurde er in Bocholt am Niederrhein begraben. In seiner Passion aus der Zeit um 1480 hat er eine Version des Themas geschaffen, die eine entscheidende Voraussetzung für unsere Miniatur ist.140 Sehr schnell haben sich diese zwölf Kupferstiche verbreitet.141 Schon 1482/85 hat Robinet Testard mit der Serie einen einzigartigen französischen Passionstext im Stundenbuch für Charles d’Angoulême, den Vater des Königs François Ier, bebildert und sehr sensibel koloriert.142 Von besonderem Interesse für die Frage nach der Spiritualität ist der Einsatz der gesamten Passionsfolge in einer Handschrift der Amsterdamer Bibliotheca Philosophica Hermetica, die sicher aus einem Augustiner-Kloster, vielleicht Groenendael bei Brüssel, stammt.143 Darin wird eine mittelniederländische Fassung des Passion aus den Meditationes Vitae Christi des Pseudo-Bonaventura mit den Kupferstichen bebildert. In Frankreich hat man den Passionszyklus nicht nur das eine Mal verwendet. Der als Pariser Verleger berühmt gewordene Anthoine Vérard hat die Drucke im Ms.fr. 1686 der Pariser Nationalbibliothek so geschickt auf Pergament aufgezogen und mit schwarzgrundiger Bordüre umgeben, daß, Schuppisser noch 1991 glaubte, er habe sie auf Pergament gedruckt. Dazu lieferte Vérard das eine eigene in Versen geschriebene Fassung der zugrunde liegenden französischen Prosapassion von 1398 als Handschrift enthält.144 War man zunächst überzeugt, dieser schmale Band sei für die Königin Anne de Bretagne bestimmt gewesen, so gilt er heute als ein Geschenk Vérards an die 1496 verwitwete Louise 139 Gern hat man das Toponym mit Mecheln verbunden (so schon Joachim von Sandrart); Jutta Schnack (in Neue Deutsche Biographie 16, 1990, S, 587 f.) dankt an Megchelen bei Bocholt). Für den Pariser Ausst.-Kat. 1993, S. 405, stammt der Kupferstecher aus den Niederlanden; das Metropolitan Museum gibt im Internet https://www. Metmuseum.org/ art/collcetion/search als fiktiven Geburtsort ein niederländisches „Meckenem“ an. Das Gesamtwerk wurde zuletzt von Tilmann Falk und Fritz Koreny in einem Band des Hollstein, Amsterdam 1986, erfaßt. Zu den uns hier interessierenden Fragen siehe Schuppisser 1991, im Netz: http://fschuppisser.ch/1kunst/bocholt.htm. 140 Die gesamte Passion, aus Leihgaben verschiedener Sammlungen zusammengesetzt, ist abgebildet in

Ausst.-Kat. Stuttgart 2010/11, S. 320–327; das uns interessierende Blatt als Leihgabe aus dem Louvre Nr. 92, S. 326. Im Internet abrufbar ist ein bemerkenswertes Heft im Metropolitan Museum, Inv. 2003, 476, das hier auch als Abb.-Vorlage dient. Welchen Stellenwert Christus auf der Rast hat, zeigt dieses Beispiel durch die frühe Hinzufügung eines Einblattholzschnitts, vermutlich aus den Niederlanden mit einer weiteren Variante des Themas. 141 Vor allem Schnack 1979 und Schuppisser 1991; siehe auch Klara Broekhuijsen, The Bezborodko Masters and the Use of Print, in: Koert van der Horst und Johann-Christian Klamt, Masters and Miniatures, Gent 1991, S. 403–410. 142 Paris, BnF, latin 1173, fol. 60.115; das hier interessierende Blatt ist fol. 97v: Leroquais 1927, Nr. 38, Bd. I, S. 104–108; Ausst.-Kat. Paris 2003, Nr. 229; inzwischen gibt es ein Faksimile des Verlags Moleiro. 143 BPH 81: Papierhandschrift einer mittelniederländischen Fassung der Passionstexte aus den Meditationes des Pseudo-Bonaventura, mit Randglossen, dazu einer Version der hondert Articulen der passien von Seuse sowie zwei unterschiedlichen Kalendern, die jeweils Ruysbroeck nennen. Das Format der sehr eng beschriebenen Blätter wurde offenbar von der Größe der Kupferstiche bestimmt, die mit leeren Rückseiten auf eigenen Blättern eingebunden sind: Schuppisser 1991. Unter dem Titel The Groenendaal Passion wurde das Manuskript angeboten in der Auktion Old Master, Contemporary and Modern Prints, Sotheby’s London, 1. 7. 2003. 144 Mit dem Manuskript haben sich Schuppisser 1991 und Mary Beth Winn, Anthoine Vérard. Parisian Publisher. 1485 – 1512, Genf 1997, S. 404 – 409, beschäftigt.

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Israhel van Meckenem, Kupferstich aus der Passionsfolge – Paris, BnF, latin 1173, fol. 97v

von Savoyen.145 Damit verbindet sich das Manuskript mit dem Stundenbuch von Louises Ehemann Charles d’Angoulême. Da in diesem Fall der Text auf die Bilder abgestimmt war, erhalten Vérards Verse als eine nur wenig spätere Äußerung zur Komposition Gewicht: „Et suspensif uoit crist leure aproucher /Le pas de mort est ung dangereux pont”.So zitiert Schuppisser 1991 und übersetzt: „Und nach kurzem Aufschub sieht Christus seine Stunde nahen./ Der Übergang zum Tod ist eine gefährliche Brücke. Die ungemein wichtige Rolle des uns interessierenden Kupferstichs ergibt sich schon aus dem Umstand, daß Israhel van Meckenem in seinem zwölfteiligen Passionszyklus nur hier die Kreuzigung zeigt und dem Christus in der Rast unterordnet. Mit Vérards Versen und dem Kupferstich kehren wir zur von Émile Mâle umrissenen und für Frankreich charakteristischen Grundidee zurück; denn Israhel van Meckenem zeigt wirklich, wie Christus auf die Kreuzigung wartet. Gegen jede räumliche Logik stehen im Ausblick hinten die drei Kreuze von Golgatha; und erst in einer weiteren Raumschicht erheben sich die Türme von Jerusalem.

145 Ausst.-Kat. Trésors royaux. La bibliothèque de François Ier, hrsg. v. Maxence Hermant mit Marie-Pierre Laffitte, Blois 2015, Nr. 21; Sheila Edmunds und Mary B. Winn, Vérard, Meckenem, and B.N. Ms. FR .

1686, in: Romania 108, 1987, S. 288–344.

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Unser Buchmaler hat diesen Fernblick auf Jerusalem herangerückt und die volkreiche Kreuzigung ganz gestrichen. Ebenso verzichtet er auf die Würfler, die sich im Kupferstich rechts unten über Christi Rock in die Haare geraten. Daß der Kupferstich tatsächlich für unsere Miniatur eine Rolle spielte, zeigt der stolze Felsen links; auch von dort drängen Soldaten ins Bild, angeführt von einem korpulenten Zivilisten; doch sie sind ganz nah zu Christus gerückt. Das Kreuz liegt in unserer Miniatur mit den Querbalken in der Bildtiefe. Die räumliche Leere um Christus nimmt zu, so daß anders als im Kupferstich eine gespenstische Ruhe eintritt, auf die es dem Buchmaler ankam. Darin liegen seine Sensibilität und seine erstaunliche Größe. Der umständliche Weg, der uns Varianten eines wichtigen Andachtsmotivs vor Augen geführt hat, macht schließlich klar, welch eine faszinierende Bildauffassung unsere Miniatur entwickelt: Der Buchmaler hat ein für seine Kunst ganz neues Motiv aufgegriffen, das zwar im Norden zwischen 1410 und 1440 auf andere Weise gepflegt wurde, aber erst seit wenigen Jahren – in Frankreich seit 1475 – künstlerisch neu durchdacht wurde und in der Entstehungszeit des Toulongeon-Stundenbuchs um 1480 weithin die Geister beschäftigte. Er hat sich an einer Passionsfolge orientiert, die gerade um das Jahr 1480 frisch gedruckt war und in den folgenden Jahren viel Aufmerksamkeit fand. Das Blatt, das ihn interessierte, hat er jedoch nicht wie unter Buchmalern üblich einfach „abgekupfert“, sondern idiosynkratisch durchdacht und vereinfacht. Während die im Hintergrund dargestellte Kreuzigung bei Israhel von Meckenem eigentlich Hauptgegenstand ist, verzichtet unser Buchmaler ganz darauf, konzentriert sich nur auf die vermeintliche Nebenszene vorn, die er durch radikale Reduktion vom Anekdotischen und Pittoresken befreit: In der gespenstischen Ruhe, die nicht vom Streit um Christi Rock gestört wird, geht es schließlich nur um das Paradox von Entblößung und Würde, durch das der König der Juden mit seinem ergebenen Gleichmut die derben Schergen verblüfft und gegenüber dem römischen Statthalter Pilatus in seiner wahren Größe zeigt. Aus der Erzählung als künstlerische Aufgabe, wie sie Israhel van Meckenems zweiszenig aufgebauter Kupferstich mustergültig meistert, löst sich die Miniatur für Claude de Toulongeon, um uns in eine Spiritualität zu versenken, die gerade in den Grenzgebieten zwischen Frankreich, dem deutschen Reich und den Niederlanden am Übergang zur Neuzeit blühte und uns noch heute immer wieder beeindruckt. Zugleich versteht man, warum diese Miniatur angesichts unbedeutender (neuerdings gemilderter) Farbverluste offenbar sehr viel häufiger angeschaut wurde und welch kostbaren Wert dieses Stundenbuch in der Amsterdamer Bibliotheca Philosophica Hermetica hatte, die nicht der äußeren Pracht, sondern der Spiritualität verpflichtet ist.

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Johannes auf Patmos

In eine ganz andere Richtung zielt die wiederum erstaunliche Bildphantasie des Meisters bei der ersten großen Miniatur von seiner Hand im Toulongeon-Stundenbuch. Sie eröffnet den Textblock (fol. 13) und wurde ebenfalls von Dibdin brillant begriffen: Zu Beginn der Johannes-Perikope wird wie in den meisten Stundenbüchern nicht der Evangelist in seiner Schreibstube, sondern der Apokalyptiker Johannes auf der Insel Patmos gezeigt. So weit verbreitet diese Ikonographie auch war, so ausgefallen ist dann doch diese Miniatur: Von links schiebt sich ein kraftvoll mit dunklem Blaugrau modellierter Felsen ins Bild; ihm antwortet rechts ein zweiter Felsen in hellerem Grau. Ein Fluß trennt beide; und man gewinnt den Eindruck, Dunst über der Wasserfläche solle die Entfernung andeuten. Wie so oft ist Patmos, wo Johannes ausgesetzt wurde, nicht als von Wasser umspülte Insel begriffen. Selbst auf die Kulisse der meist im Hintergrund angedeuteten Stadt Ephesus, in der Johannes mit der Muttergottes gelebt hatte, wird hier verzichtet. Gerade noch – 59 –


das Boot, auf dem man ihn hergeschafft hat, blitzt in goldenem Sonnenlicht in der Bildmitte, aber schon weit entfernt, auf. Das Gelände ist karg; die Bäume auf den Felsen sind kahl; doch zum Horizont hin bestimmen grüne Büsche und Bäume die menschenleere Landschaft. Von rechts ist ein groteskes menschenähnliches Wesen herangeschlichen, vom Kopf her in den gleichen Proportionen wie Johannes, jedoch geduckt und mit kürzeren Beinen. Rücken und Arme sind mit spitzen Sägezähnen besetzt, die vom goldenen Licht geschärft wirken; sie setzen kompositionell die Schräge des Geländes fort, das von links oben nach rechts unten zum felsigen Ufer abfällt. In der von rechts ins Bild tretenden Gestalt verkehrt sich die Beleuchtung: Dieses Monster leuchtet von unten und von innen heraus, rot glühend an Füßen und Händen sowie Brüsten, hellgelb am Leib und im Gesicht und schließlich einer grüngrauen Tönung bestimmt, die an Krokodilshaut denken läßt: Dieses Wesen glüht also von der Erde aus und verfinstert sich zum Himmel hin. Anthropomorph sind die Gesamtgestalt und der Kopf, der um den kegelförmigen Schädel spitze Hörner und tierische Ohren hat. Unverkennbar sind die bizarren weiblichen Formen mit großen hängenden Brüsten; sie bilden einen skurrilen Gegensatz zur zarten, ihrerseits auffällig femininen Gestalt des Evangelisten mit den langen blonden Haaren und dem wie vom Wind aufwehenden Mantel, der nach links hochwirbelt und in seiner Bewegung festgehalten wird. So bleibt das Tuch im Bild über dem kleinen Adler stehen, der ruhig nach rechts schaut. Gleich sollte der Vogel sich bewegen und einschreiten; doch das bizarre Wesen rechts hat die Tinte bereits ausgeschüttet; das Futteral für Federn und Federmesser liegt hingegen noch ruhig auf dem Boden. Gemeint ist der Teufel in der im Spätmittelalter weit verbreiteten und durch die kleine Berliner Johannestafel von Hieronymus Bosch allgemein bekannten Bildformel „Der Teufel stiehlt dem Evangelisten das Tintenfaß.“146 In Brügge war das Thema vor unserem Manuskript bekannt, beherrschte aber keineswegs die Ikonographie. So hat Willem Vrelant im Brevier Philipps des Guten zwei Fassungen von Johannes auf Patmos eingesetzt: Zunächst schaut Johannes auf zum Engel, der mit einem Buch im Himmel erscheint; im zweiten Bild beugt er sich konzentriert und schreibt – und da taucht dann der Teufel auf und hat im Fluge hinter dem Rücken des Apokalyptikers das ganze Schreibzeug gestohlen. Ohne sich zu rühren, nimmt das der Adler wahr, der im ersten Bild nur ruhig zuschaute.147 Meist beschränken sich flämische Buchmaler darauf, den Adler brav mit dem Schreibzeug des Evangelisten im Schnabel zu zeigen.

146 Jan Gerrits de Gelder, Der Teufel stiehlt das Tintenfaß, in: Artur Rosenauer und Gerold Weber (Hrsg.),

Kunsthistorische Forschungen Otto Pächt zu seinem 70. Geburtstag, Salzburg 1972, S. 173–188. Solche Darstellungen waren eine wichtige Bildquelle für die Berliner Dissertation von Claus Maywald-Pitellos, Das Tintenfaß. Die Geschichte der Tintenaufbewahrung in Mitteleuropa, Berlin 1997. 147 Brüssel, KBR , Ms. 9511, fol. 199v (feria III prime ebdomade, Lectio Apocalypsis) und 428 (De sancto Iohanne): J. van den Gheyn, S.J., Le Bréviaire de Philippe le Bon, Brüssel 1909, Taf. IX und XXV. Victor Leroquais, Le Bréviaire de Philippe le Bon, Paris 1929, S. 195 und 202.

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New York, Morgan Library M. 87, fol. 107 – Wien, ÖNB , cod. 1857, fol. 27

Wo der Teufel auftritt, fliegt er meist mit Fledermausflügeln, ist von kleiner Gestalt, meist schwarz. Im Egmont-Brevier noch vor der Jahrhundertmitte bleibt der Teufel ungestört, wie er hinter dem Evangelisten das Schreibzeug von der Wiese stiehlt.148 Selten sind in frühen Beispielen Teufel und Adler einander wie im Isabella-Stundenbuch im Madrider Palacio Real gegenübergestellt.149 Im Stuttgarter Sachsenheim-Gebetbuch, das in den 1450er oder 1460er Jahren entstanden sein dürfte,150 ist hingegen vom Teufel keine Spur; mit ausgebreiteten Schwingen hält dort der Adler das Tintenfaß links neben Johannes, wo sonst der Teufel steckt. Das Motiv kehrt sich um in dem deutlich späteren Johannesbild eines stilverwandten, aber nicht eindeutig bestimmten Malers im Cod. 1857 der ÖNB , das als Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund berühmt ist, aber nicht für diese von 1477 bis 1482 regierende Herzogin, sondern eher für ihre Stiefmutter Margarete von York schon um 1470 entstanden ist.151 Dort verzichtet das Johannesbild auf den Adler. Stattdessen 148 New York, PML , Morgan 87, fol. 107: James H. Marrow, Dutch Manuscript Painting in Context: En-

counters with the Art of France, the Southern Netherlands and Germany, in: Koert van der Horst und Johann-Christian Klamt (Hrsg.), Masters and Miniatures, Gent 1991, S. 53–88, Abb. 26. 149 Als textlose Miniatur auf fol. 13v: Bei Farquhar 1976, S. 144–147 als Hours of Juana Enriquez; siehe Ana Domínguez Rodriguez, Libro de Horas de Isabel la Catolica, Madrid 1991, S. 43. Freundlicher Hinweis von Dieter Röschel. 150 Stuttgart, WLB , cod., brev. 162, fol. 16: Eva Wolf, Das Bild in der spätmittelalterlichen Buchmalerei: Das Sachsenheim-Gebetbuch im Werk Lievin van Lathems, Hildesheim 1995, S. 43–45 und passim, ohne jede konkretere Festlegung zur historischen Stellung. 151 Wien, ÖNB , Cod. 1857, fol. 27: Eric Inglis, The Hours of Mary of Burgundy, London 1995; Pächt und Thoss 1990, S. 69–85; Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Nr. 19. De Schryver hat im Kommen-

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betritt ein jugendlicher Engel das Eiland, das wie im Sachsenheim-Gebetbuch von Wasser umgeben ist; damit wird der Bezug zur Apokalypse noch sehr viel intensiver als in den meisten Buchmalereien zur Johannes-Perikope. Uns interessiert diese Miniatur aus verschiedenen Gründen: Der Teufel, der hier – ungestört wie im Egmont-Brevier – von links herantritt, taucht aus dem Wasser auf, hat keine Flügel und wirkt trotz seiner Krallen anthropomorph; mit einer langen Gabel hat er das Tintenfaß umgekippt. Hinter ihm ragt zudem ein Felsmassiv auf, das in unserer Miniatur wiederkehrt. Von hier aus ließe sich das Eröffnungsbild des Textblocks im Toulongeon-Stundenbuch so verstehen: Die um die Jahrhundertmitte bis hin zu Jean Fouquets Stundenbuch des Étienne Chevalier beliebte Darstellung der Insel Patmos als Eiland im Wasser, dessen Rund bis in die modernen Insel-Witze überleben sollte, wird aufgegeben: Der Meister weiß, daß er, wenn er vernünftig nah an Johannes heranrücken will, nur ein Ufer erfassen kann, das Ägäische Meer also zum breiten Fluß machen muß. Er läßt sich von Lievin van Lathem anregen, setzt den auch in Stuttgart aufragenden Felsen auf die Insel Patmos, senkt von ihm die Uferschräge nach rechts und muß deshalb den Teufel anders als in der Wiener Miniatur von dort herankommen lassen. Das karikaturhaft Kleine ist nicht die Sache unseres Meisters: Er gibt dem Widersacher des Evangelisten ein erstaunliches Gewicht und spielt dabei mit der mädchenhaften Unschuld des nicht alternden Johannes und der teuflischen Geilheit, der er verbrauchte weibliche Züge gibt. So schuf er eine einzigartige Miniatur!

Die Bild-Initialen zu den Suffragien und den Gregorsgebeten Statt nun im Manuskript einfach weiterzublättern, lohnt es sich, zunächst einmal die anderen ganz und gar vom Meister Edwards IV. alias Toulongeon-Meister gestalteten Bilder anzusehen. Dafür müssen wir noch einmal ans Ende des Stundenbuchs gehen; denn von derselben Zartheit und demselben Sinn für Atmosphäre in der Grisaille-Malerei sind die auch eng mit dem Auftraggeber verbundenen und künstlerisch hinreißenden kleinen Bilder in den Initialen zu den Suffragien von fol. 130 an, denen sich auf fol. 157 noch die Gregorsmesse anschließt. tar zum Faksimile, Graz 1969, S. 153, eine Zuschreibung an den von ihm als Louthe-Meister bezeichneten Maler der Marmion-Gruppe vorgeschlagen. Dieses Buch wird inzwischen als Donne-Hours bezeichnet und zwischen Marmion und dem Dresdner Gebetbuchmeister geteilt; zuletzt: Dubois 2014.

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Dem ungewohnt expliziten Bezug zum Auftraggeber in den Texten entsprechen dann auch die Bilder: Claude de Toulongeon wird auf fol. 130 unten – mit dem goldenen Anhänger ohne die Ordenskette, also wie der Beter in fr. 6275 – als Ritter vom Goldenen Vlies bezeichnet, der vom Schutzengel geleitet wird. Auf Rüstung ist hier ebenso verzichtet wie im Bild zum Suffragium zum Altarsakrament auf fol. 135, wo Claude jedoch kein Ordenszeichen trägt. Auf Claude angespielt wird zweifellos trotz des bischöflichen Ornats beim heiligen Claudius auf fol. 132v. Die kleinen Miniaturen sind von erstaunlicher Zartheit. Wie in den Landschaften der großen Miniaturen mit Johannes und Christus in der Rast beeindruckt der Meister mit seinem Sinn für Atmosphäre. Er setzt die Grisaille auf eine geniale Weise ein; denn man erhält den Eindruck, sie entstehe aus dem Blick in dunstige Landschaften mit weichen Übergängen. Den Grauwerten fehlt ganz und gar der bewußte und damit künstlich wirkende Verzicht auf Farbe. Aus dem leicht verhangenen Himmel erklärt sich die Tönung von Landschaft und Interieur, die des Künstlers Sinn für Licht verrät. Michaels Sieg über den Teufel findet vor einem mit Goldtupfen besetzten neutralen Grund statt. Beim Schutzengel wird das Motiv des Eintretens in einen Raum wiederholt, das im „Diptychon“ viel mehr Platz hatte.152 Köstlich ist die Ausstattung von fol. 131 mit zwei Landschaften in Initialen: Der Täufer sitzt auf einer Wiese, die von Büschen und Bäumen gerahmt wird. Christophorus gibt dem Buchmaler Gelegenheit, seine schon bei Johannes auf Patmos bewiesene Meisterschaft in der Wiedergabe von Wasser und Felsen noch einmal zu zeigen. Die durch das zu kleine Bildformat erzwungene Enge wird bei Sebastians Pfeilmarter klug gemeistert. Da der Meister dem Stein bei den Interieurs keine entschiedene Plastizität zugesteht, sind die fünf letzten Bild-Initialen lichte Blicke in offene Räume. Das Motiv des Eintretens von links, das uns vom „Diptychon“ her vertraut ist, wird mehrfach variiert. Auf erstaunliche Weise geschieht das bei Susanna: Während fast zur selben Zeit der Berliner Meister der Maria von Burgund (im englischen Slang einer der Ghent Associates153) seine berühmte Darstellung einer noch voll bekleideten vornehmen Frau schuf, die sich gerade anschickt, ihre Füße im Bade zu benetzen, mißversteht unser Meister die Situation – und zwar auf eine Weise, die wieder beweist, wie viel wichtiger ihm die Frömmigkeit als das Anekdotische war; denn er zeigt gegen jede Texttreue, wie sich Susanna dem Bade verweigert und vor ihrem Gebetbuch kniet, das sie auf dem breiten Sockel der Fontaine aufgeschlagen hat. Hinter der Mauer ihres Gartens lauern die beiden Alten, deren Ruchlosigkeit sich nun gegen eine Frau richtet, die sich noch frommer verhält als in der biblischen Apokryphe, wo sie immerhin entkleidet ist.

152 Besondere Rolle spielen die Engel auch im Donne-Stundenbuch (alias Louthe-Stundenbuch, Louvain-LaNeuve. UCL , A.2), in dem der Besteller in voller Rüstung vor einem Altar kniet, um von seinem Schutz-

engel im Gebet unterwiesen zu werden (Dubois 2014, Abb. 1). 153 Den Begriff hat Anne van Buren unglücklicherweise durch ihren ansonsten sehr bemerkenswerten Aufsatz über des Berliner Stundenbuchs der Maria von Burgund 1975 geprägt; mit Bodo Brinkmann habe ich 1998 eine der Bedeutung des dafür verantwortlichen Malers entsprechende Benennung als Berliner Meister der Maria von Burgund versucht, die jedoch von den Autoren des Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003 nicht aufgegriffen wurde.

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Das atmosphärische Licht und die Neigung zu leicht verschwommenem Blick in die Ferne verbinden sich beim Meister unseres Stundenbuchs mit strikter Zurückhaltung bei kräftigeren Farben. Daß er auch starke Akzente setzen konnte, zeigt der Künstler in der Rüstung und den heraldischen Elementen des Haupt-Porträts, im blitzenden Spaten, mit dem das Loch für das Kreuz gegraben wird, oder auch durch die irritierenden Rottöne bei den weiblichen Formen der Teufelsgestalt auf Patmos. Stärker zeichnerisch, mit einzelnen Partien von nicht modellierter, zuweilen satter Farbe und einem Vorrat an älteren Bildelementen für Möbel und Architektur sind die übrigen Miniaturen gestaltet; sie verraten einen zweiten Maler.

Der zweite Buchmaler Das Bild des Namensheiligen Claudius als Abt von Saint Claude im Jura Mitten in der Serie der Bild-Initialen zu den Suffragien wird der Namensheilige des Bestellers durch ein Kopfbild geehrt, das über sieben Zeilen Text steht, also 13 Zeilen einnimmt und vom üblichen flachen Bogen bekrönt wird. Der Name Claude leitet sich im Französischen nicht wie der deutsche Vorname Klaus von Nikolaus ab.154 Ursprung des Namens ist zwar der römische Kaiser Claudius (Kaiser von 41–54); doch christliche Namensgebung verlangte einen Heiligenpatron, jenen Erzbischof von Besançon, der als Abt von Condat am 6. Juni 698 oder 700 starb; um diese Abtei entstand der heute noch

154 Daß Klaus Schäfer aus Breslau über Montréal, Tours und Paris zum Fouquet-Forscher Claude Schaefer

geworden ist, ist der Verfolgung und Flucht geschuldet.

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sehr rege Pilgerort St.-Claude im Jura, nicht weit vom Stammsitz der Toulongeon. daß von seinem Kult ausgehend Kinder diesen Namen erhielten, zeigt sich am klarsten an der ersten prominenten weiblichen Namensträgerin, Claude de France, deren Mutter, Anne de Bretagne, bei einer Wallfahrt nach Saint-Claude gelobte, ihr dort erhofftes Kind nach dem Heiligen zu nennen.155 Für die christliche Ikonographie ist der Prälat, der 92 Jahre gelebt haben soll, nicht sehr markant. Aus Leben und Legende ergeben sich zwar Parallelen zum heiligen Leonhard – beide sollen Gefangene befreit haben; doch wird man in Bildern mit betenden Gefangenen eher Leonhard erkennen.156 So steht der heilige Claudius, bartlos wie Claude de Toulongeon und seine Zeitgenossen, im Ornat aus Chormantel und Dalmatik über der Albe, mit einer weißen Mitra und der recht langen Krümme als Prälat, nicht unterscheidbar ob Abt oder Erzbischof, und hält ein aufgeschlagenes Buch, eher das Evangelium als die Bibel. Ein nicht ganz bis zur Schulterhöhe reichendes Ehrentuch mit rosafarbenem Brokat hinterfängt ihn, wie er sich unter einem blauen Gewölbe vor einem dreiteiligen silbernen Gruppenfenster aus kreisrundem Okulus und zwei rundbogigen Lanzetten zeigt. Der Innenraum wird von schrägen Seitenwänden gerahmt, die fast ganz geöffnet sind, durch einen Rundbogen links und ein reliefiertes Rechteck rechts. Von links dürfte Claudius aus der offenen Landschaft eingetreten sein, an einer niedrigen Mauer vorbei, ohne Pforte; nach rechts wird er durch einen kaum einen Schritt tiefen Innenraum in eine Loggia eintreten, die zwischen dünnen Säulen ebenfalls in die Landschaft blicken läßt. Die architektonischen Elemente stammen, wie in anderen Miniaturen zu sehen, aus einem Vorrat von Kulissen, die unterschiedlich kombiniert werden können. Wenn der Maler klären wollte, ob er den Abt oder den Erzbischof zeigen wollte, dann hat er ein einsames Kloster und keinen Erzbischofssitz in einer Stadt gemeint. Zum Jura würde der steile Felsen im linken Ausblick passen; auch der Sprung in der Optik, der rechts für eine höhere Landschaftssilhouette sorgt, würde dazu passen. Inhaltlich muß gemeint sein, daß der Prälat aus der Welt ins Kloster eintritt, dessen rechtwinklige Pforte von einem goldenen Bogen überfangen ist. Dann wäre in der Komposition des Bildes doch ein wesentliches Moment aus dem Leben des heiligen Claude erfaßt, der sich aus dem Amt des Erzbischofs in sein Kloster zurückzieht. In Besançon oder gar in Saint-Claude wird er nie gewesen sein. daß er ein Brügger Maler war, darüber stolpert man geradezu in diesem Bild; denn rechts vorn schiebt sich recht unmotiviert eine niedrige Kante ins Bild, wie man sie in Miniaturen aus dem Kreis des 1481/82 in Brügge gestorbenen Willem Vrelant findet.157 155 Zu Claude de France (1499–1524) zuletzt unser Buch über ihr Stundenbuch: Das Stundenbuch der Claude

de France. Königin von Frankreich (Illuminationen 18, Studien und Monographien, hrsg. von Heribert Tenschert), Bibermühle 2012 156 Solche Miniaturen gaben zuweilen Anlass, den Besteller als Gefangenen darzustellen, so den Marschall Boucicaut, wohl nach der Gefangennahme bei Azincourt 1416, wie Albert Châtelet zu Recht festgestellt hat (Paris, Musée Jacquemart-André, ms. 2, fol. 13v: Albert Châtelet, L’Âge d’or du manuscrit à peintures … et les Heures du Maréchal de Boucicaut, Dijon 2000, S. 233, mit Farbabb. gegenüber) oder Sir John Donne im Stundenbuch in Louvain-la-Neuve, fol. 112v (Brinkmann 1997, Abb. 143). 157 Bei Bousmanne 1997 bietet die Abb. der Margarete aus Los Angeles, J. Paul Getty Museum, ms. Ludwig IX 8, fol. 57 auf S. 329 ein gutes Beispiel, während bei der Marienkrönung in New York, Morgan 87 in Abb. 174 auf S. 190 die stumpfwinkligen Stufen auf die zentrale Führung der Fliesen abgestimmt ist.

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Dazu genügt der Hinweis auf ein faszinierendes Stundenbuch, das ganz eigenhändig von Willem Vrelant illuminiert wurde und das wir 1998 in Neue Folge 2 der Serie Leuchtendes Mittelalter als Nr. 28 vorgestellt haben.158 Zwar hat der noch stark von sehr viel älterer Pariser Malerei geprägte Vrelant seine Architekturen systematischer angelegt; bei ihm herrscht aber, wie die dortigen Miniaturen zeigen, derselbe Sinn für Ausblicke in die Landschaft, der hier sogar die Kirche bei der Feier des Toten-Offiziums nach links zu einem Ausblick öffnet. Wer nun aber erwartet, die Gebäude seien im Toulongeon-Stundenbuch ähnlich konstruiert wie bei Vrelant und die Szenen folgten gemeinsamen Bildvorlagen, wird enttäuscht. Zwar wirkt die Tradition der Kulissenhäuschen auch beim berühmteren Brügger Buchmaler nach; aber er ordnet die Raumteile doch regelmäßiger, schätzt wie im schönen Bild der thronenden Madonna in dem 1998 von uns beschriebenen Stundenbuch die Symmetrie. Er konzentriert im erwähnten Totenbild den Raum um den Katafalk, während solch ordentliches Vorgehen nicht zum Temperament unseres zweiten Malers paßt.

Architekturen des zweiten Malers Zwischen dem Raum, in dem Claude de Toulongeon im „Diptychon“ betet, und der Architektur um den heiligen Claudius besteht ein geradezu epochaler Unterschied: Zwar würde ein italienischer Zeitgenosse an der Perspektive um den betenden Ritter vom Goldenen Vlies Kritik üben; aber im Grunde ist auf fol. 33v das Prinzip der Verkürzung im Raum, das durch Fliesen abmeßbar wird, ebenso wie der Einsatz von Licht und Schatten vernünftig begriffen und umgesetzt. Davon kann genauso angesichts der Bild-Initialen gesprochen werden. 158 Bousmanne hat dieses Werk in seiner Ausst. Guillaume Wielant ou Willem Vrelant. Miniaturiste à la cour

de Bourgogne, Brüssel 1997, als Nr. 1 gezeigt; er hat es auch unter der Bezeichnung Bibermühle Tenschert 1 im gleichzeitigen Buch besprochen, S. 224 f.; und auf S. 30 und 31 in Farbe abgebildet.

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In den anderen Interieurs schafft bereits der Einsatz der Farben einen markanten Gegensatz; denn über die Räume, in denen beispielsweise die drei weiteren Evangelisten arbeiten oder die Apostel mit Maria die Ausgießung des Heiligen Geistes erleben, spannen sich Gewölbe mit jeweils kleinen aber sehr auffälligen Partien in demselben Blau wie bei Claudius und daneben noch klarem Rot, als stolze Motive eines dekorativen Farbsinns, der bei der Ausrichtung auf Grisaille irritiert. Dasselbe gilt ebenso für den Tempel der Marienverkündigung wie der Darbringung, für den Palast des Herodes beim Kindermord und die Kirche zur Totenvesper. Alle diese Miniaturen setzen sich zudem mit dem alten Problem auseinander, wie Maler Einblick in Innenräume von außen geben können. Während die aus der Tiefe nach links vorn führende Seitenwand hinter dem betenden Besteller auf fol. 33v einfach vom Bildrand abgeschnitten wird, kam der zweite Maler nicht umhin, jeweils in einem sandfarbigen Ton zwischen uns und die Figuren im Raum jene befremdliche Stufe anzubringen, über die wir schon bei Claudius stolperten. Anders als dort genügt ihm meist nicht eine einzelne Leiste; vielmehr grenzt er jeden Innenraum mit zwei Schenkeln eines stumpfen Dreiecks ab. Die Richtungen dieser Schwellen zum Betrachter sind weder mit den Fliesen, die den Fußboden der Interieurs räumlich ordnen müßten, noch mit den Seitenwänden abgestimmt. Vom rechten Winkel als entscheidendem Ordnungsfaktor ist hier nichts zu sehen; das verwundert umso mehr, als der Buchmaler ganz offensichtlich Sinn für Architektur hatte, sich um die Räume kümmerte, aber nicht begriff, wie einfach er Bildfläche und Bildtiefe rechtwinklig miteinander in Einklang hätte bringen können. Ebenso wenig leuchtete ihm ein, daß Raumwirkung am besten durch konsequente Schattierungen zu erreichen sind. Kräftiges Dunkel, das der Hauptmeister nirgendwo einsetzt, dient in rückwärtigen Raumteilen zur Betonung einzelner Strukturen, vornehmlich von Bögen, die dadurch nicht nur vom vorn herrschenden Grau, sondern auch von den schmückenden Farben Rot und Blau sowie Gold und Rosa abgegrenzt werden. In solcher Raumgestaltung wirkt eine ältere nordalpine Tradition nach. Das wird im Markusbild besonders deutlich; denn dort schiebt sich unter blauem Fond, der den Bogen ausfüllt und nicht als Himmel verstanden werden sollte, eine rechtwinklige Struktur, die wie eine breit geöffnete Außenwand wirkt, den Blick ins Innere erlaubt und zu beiden Seiten von charakteristisch gestaffelten gotischen Außenwänden mit in winzigen Strichen angedeuteten Fialen begleitet wird. Markus sitzt also in einem Kulissenhäuschen, wie es im ersten Drittel des XV. Jahrhunderts weit verbreitet war. Ins Musterbuch dieses Malers hätte man gern Einblick: Da wird es Vorlagen für bildparallele Rückwände, schräge Seitenwände, Öffnungen in Landschaft und Nebenräume gegeben haben, die einzeln eingesetzt waren, wie ein Vergleich der Miniaturen mit Claudius und mit dem Pfingstwunder zeigt, die beide nach rechts in dieselbe Loggia blicken lassen. Zwei unterschiedliche Baldachine sind zu finden, für die Sitze der Evangelisten, die wie Lehrstühle zu verstehen sind, ebenso wie für den Thron des Herodes oder Marias Betplatz bei der Verkündigung.

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Verkündigung und Geburt aus Van Hooff-Stundenbuch, LM III , 8

Die Suche nach verwandten Kompositionen ist nicht so vielversprechend wie bei den Kalenderbildern. Überraschend ähnlich sind zwei Miniaturen im um einige Bilder beraubten Van Hooff-Stundenbuch aus Brügge, das wir in Leuchtendes Mittelalter III vorstellen konnten:159 Hauptfiguren und Raumdisposition gleichen sich in Verkündigung und Weihnachtsbild; doch herrscht in diesem um 1460 entstandenen Manuskript aus Willem Vrelants Umfeld nicht nur eine beeindruckende Farbenpracht, sondern auch eine Neigung, die Bilder mit Objekten zu füllen, auf die unser sehr viel strengerer Maler verzichtet. Er stellt der Jungfrau anders als der stilverwandte Maler im Van Hooff-Stundenbuch weder eine Blumenvase noch einen Faltstuhl und eine Bibliothek zur Verfügung und verzichtet auch bei der Geburt auf die Hebamme, die dort noch in älterer Tradition herbeigeeilt ist. Im Vergleich wird deutlich: Auch unsere Miniaturen gründen auf Brügger Vorlagen, sind aber konsequent karg ausgestattet und verraten einen eigentümlichen Ernst, im Weihnachtsbild durch die beiden schwebenden Engel auch einen besonderen Sinn für Symmetrie. Ein systematischer Blick auf Landschaft Mit Ausnahme des Arbeitsraums für Markus und des Kirchenraums zur Totenvesper kommunizieren alle Interieurs mit der Landschaft, meist mit Zugang von links, ganz im Sinne der Leserichtung, in der Figuren von dort den Schauplatz betreten, zweimal, bei Lukas und dem Kindermord als Durchblick durch einen bildparallelen Bogen in der Mitte. Selbst die dort sichtbaren Elemente waren als Bildvorlagen gleichsam gespeichert, wie die Ausblicke hinter Lukas und Matthäus mit der schon von Claudius bekannten schrägen Mauer und dann einer nach rechts ansteigenden Burg im Mittelgrund zeigen.

159 Leuchtendes Mittelalter III, 1991, Nr. 8.

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Landschaft wird beim zweiten Maler des Toulongeon-Stundenbuchs gern vom kraftvollen Blau des Himmels bekrönt, wie es beispielsweise bei der Hirtenverkündigung direkt auf dem Kämpferpunkt des Rahmens ansetzt. Die bei diesem Thema gewohnte offene Struktur des Blicks, der gleichsam an den Hirten vorbei auf keine namentlich benennbaren Gestalten führt, ist anders als beim Hauptmaler in zeichnerisch klar geschiedene Bereiche aufgeteilt. Der Buchmaler widmet dem klar strukturierten Mittelgrund besondere Aufmerksamkeit, scheidet ihn vom mit Figuren besetzten Vordergrund und führt dahinter in zarteren Tönen ins sehr lichte Blau der Ferne. Gegen die Ästhetik der Grisaille, die der Hauptmeister so subtil beherrscht, verstößt vor allem der Sinn für schöne Grüntöne. Dadurch brilliert das Davidbild zu Beginn der Bußpsalmen, bei dem man den Eindruck erhält, es könne mit dem hellen Grau und Gold der königlichen Gewandung genauso gut in einem vollfarbigen Bildzyklus bestehen. Mit diesem Bild unterstreicht der zweite Maler seine Bedeutung als Künstler im eigenen Recht. Klar strukturiert sind die beiden Szenen in Bethlehem; der Stall beim Weihnachtsbild wie bei der Anbetung der Könige ist ein Requisit, das wie ein Kulissenhäuschen bei den Königen nur mit seinem Dach über die stehenden Gestalten hinausreicht. Doch nach unseren Bemerkungen zur Einbindung in ältere Traditionen dürfen wir nicht übersehen, daß in beiden Bildern wie auch in der Flucht nach Ägypten auch etwas überraschend Fortschrittliches zu Tage tritt: Zwischen den mit Figuren besetzten Vordergrund und den Blick in die Ferne schieben sich neben dem Stall von Bethlehem auch Felsen, bei der Flucht Architekturen. Die abschließende Silhouette der Landschaft steigt nur im Weihnachtsbild deutlich an, bei den Königen und der Flucht deutet sich hingegen an, daß ein Grundverständnis für die ordnende Funktion des Horizonts vorhanden ist. Gegenüber diesen Tendenzen einer Entwicklung zu moderneren Bildformen wirken die Interieurs, von denen wir hier ausgegangen sind, wie manierierte Spielereien, bei denen sich der Künstler den strikten Forderungen der Grisaille-Malerei widersetzt. Eingriffe des Hauptmeisters in Miniaturen des zweiten Malers Die Stellung der Beiträge im Buch läßt zunächst vermuten, der Hauptmeister habe seinen Johannes gemalt, bevor die anderen drei Evangelisten hinzukamen; auch das Trinitätsbild am Anfang des erweiterten Marien-Offiziums würde dazu passen. Als textloses Bild auf eingeschaltetem Einzelblatt kann das Bildnis von Claude de Toulongeon zu jeder Zeit hinzugekommen sein. Die Binnenrahmung isoliert die Miniatur entschieden vom Rest; die Ausrichtung der Not Gottes auf einen Beter aber spricht für gleichzeitige Konzeption des „Diptychons“. Während damit ein Vorrang der Doppelseite wahrscheinlich wird, könnte man am Ende des Manuskripts hingegen eine Arbeitsverteilung erkennen, bei der der zweiten Hand die größere und durch den Bezug zum Auftraggeber auch wichtigere Claudius-Miniatur zufiel, während für den aus ästhetischen und entwicklungsgeschichtlichen Gründen ebenso wie wegen des „Diptychons“ als Hauptmeister bezeichneten Künstler die Bild-Initialen und die ungewohnte Darstellung von Christus in der Rast übrig blieben. Dieser Aufteilung entsprechen auch die Draperien, für die das aufflatternde Tuch im Bild des Johannes auf Patmos die malerische Pinselführung des Hauptmalers verrät, wäh– 69 –


rend die eng geführten Röhrenfalten bei den übrigen Evangelisten zeichnerisches Merkzeichen sind. Bis zu diesem Punkt blieb ein sonderbarer Umstand unberücksichtigt: Wer sich bei der Einschätzung verschiedener künstlerischer Temperamente auf den Ausdruck der Gesichter als untrügliche Spur verläßt, der kann zwar nach Johannes die drei anderen Evangelisten als Werke eines abweichenden Temperaments erkennen und trotz munterer Variation untereinander in Ausdruck und Haarpracht den zeichnerischen Sinn des zweiten Malers erfassen; doch rasch verliert die physiognomische Differenzierung ihre Eindeutigkeit. So wird man vom bartlosen Matthäus bruchlos zum Johannes unter dem Kreuz kommen. Doch schon beim Gekreuzigten mag man zweifeln, ob in dessen Gesicht nicht Spuren jener Hand zu erkennen sind, die den Schmerzensmann der Not Gottes schuf. Die Gestalten unter dem Kreuz sind von der zweiten Hand; bei der Ausgießung des Heiligen Geistes wirkt die Zartheit des Hauptmalers in manchen Köpfen, ebenso bei der Beweinung unter dem Kreuz. Im Marien-Offizium setzt sich der Eindruck fort; die Einschätzung wird klarer bei den Gesichtern der Marienverkündigung und des Weihnachtsbildes. Die Hirten sind unspezifisch, die Könige aber gehören wieder der zweiten Hand. Die ganze Menschengruppe bei der Darbringung im Tempel verrät den Eingriff des Hauptmalers, der bei der Flucht nach Ägypten nicht zu spüren ist. Die markante und spezifische Auffassung des zweiten Malers tritt noch einmal bei David fast so klar hervor wie bei den drei Evangelisten. Die Miniatur wirkt auch in dieser Hinsicht wie ein Musterbeispiel für dessen Kunst. Im Bild zum Toten-Offizium verraten hingegen die Gesichter der Priester und sogar der Pleurants die malerische Weichheit des Hauptmalers. Beispiele für die Ausführung der wichtigsten Köpfe durch eine fremde Hand sind uns schon im Provost-Stundenbuch aus Angers begegnet, das 1429/30 entstanden ist; darin hat der Meister der Marguerite d’Orléans die Gesichter von Hauptfiguren in stilistisch abweichende Miniaturen eingemalt.160 Während dieser Maler dabei wohl bewußt leer gelassene Flächen ausgefüllt hat, stellen sich entsprechende Eingriffe Jean Fouquets im Stundenbuch des Simon Varye, bei denen auch Draperien verändert wurden, als Übermalungen in Miniaturen des stilfremden Pariser Dunois-Meisters dar.161 Avrils Beobachtungen dieser Art zum Porträt des Louis de Laval in dessen Pariser Stundenbuch haben wichtige Probleme im Verhältnis von Fouquet zu Jean Colombe klären helfen.162 So ergibt sich hier die Aufgabe zu untersuchen, in welchem Verhältnis die beiden Maler zueinander standen, denen die großen Miniaturen verdankt werden.

160 Eberhard König, Das Provost-Stundenbuch. Der Meister der Marguerite d’Orléans in Angers (Illuminationen 4, hrsg. von Heribert Tenschert; Kat. XLVII), Rotthalmünster und Ramsen 2002, S. 75–77. 161 Den Haag, KBR , 74 G 37 und 37a; Los Angeles, J. Paul Getty Museum, ms. 7: James H. Marrow (Hrsg.),

The Hours of Simon de Varie, Malibu 1994; aus Varie wurde Varye bei Avril in: Ausst.-Kat. Paris 2003, Nr. 23. Zu den Übermalungen siehe mein Buch Devotion from Dawn to Dusk, Leiden 2012, S. 40 ff. und Abb. 12. 162 Paris, BnF, latin 920: Avril in: Ausst.-Kat. Paris 2003, Nr. 52, und Seidel 2017, S. 53–83[?].

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Zwei Arbeitskampagnen nacheinander? Für die Frage nach der Zeitfolge bei der Arbeit sind die Gesichter von größter Bedeutung: Sie wurden als letztes ausgeführt; bei Abbruch der Ausmalung blieben sie zuweilen leer. In einer Werkstatt aus Meister und Gehilfe hingegen war ihre Gestaltung, wenn Aufgaben aufgeteilt wurden, eher Vorrecht des Chefs. Unser Befund spricht also entweder dafür, daß der als zweite Hand bezeichnete Maler seine Arbeit nicht zu Ende führen konnte oder, daß er dem Hauptmeister die meisten Gesichter überlassen mußte. Zweifellos besteht zwischen dem Hauptmeister des Toulongeon-Stundenbuchs, den die Literatur nach Edward IV. nennt, und dem Maler, der für die meisten Miniaturen verantwortlich war, ein Altersunterschied. Vom Stil her trennt sie eine Generation; doch können Vertreter verschiedener Altersstufen auch nebeneinander oder sogar versetzt zueinander arbeiten; keineswegs muß also der ältere in der Zeitfolge Vorrang gehabt haben. daß der jüngere der beiden in einer gemeinsamen Werkstatt künstlerisch überlegen war, ließe sich als Bestätigung einer Sicht auf die Kunstgeschichte verstehen, die von Entwicklung ausgeht und das Fortschrittliche würdigt. daß der jüngere wirklich der Vorgesetzte des älteren war, widerspricht gesellschaftlichen Normen der Epoche, wie wir sie uns heute vorstellen. Schon die grundlegenden Unterschiede erwecken Zweifel an der Zusammengehörigkeit der beiden Buchmaler; schwerer wiegt dann das historische Argument, das die kunstgeschichtliche Literatur allzu gern übersieht: Anne van Buren hat ausgerechnet für Willem Vrelant in Brügge Arbeitsverhältnisse ermittelt, die in bemerkenswertem Gegensatz zu der Freiheit stehen, mit der Kennerschaft aus den Werken den Meistern ungezählte Gehilfen zuordnet.163 Den Zunftregeln entsprechend hatte der auch für unser Manuskript stilistisch wichtige Vrelant zeitlebens nur jeweils einen Lehrling, meist für zwei, zuweilen drei Jahre und dazu einen Mitarbeiter, vielleicht seine Frau. Nur gegen Lebensende konnte er auch ehemalige Lehrlinge als Gehilfen, knapen oder compagnons, verpflichten. Dieser Beschränkung entsprach auch die räumliche Enge von Haus und Werkstatt solcher Künstler. Wahrscheinlicher als die ohnehin problematische Annahme, die beiden Maler hätten unter einem Dach nebeneinander gearbeitet, ist deshalb eine Trennung der beiden in eigenen Werkstätten. Sicher hat unser Hauptmeister erst nachträglich in die Bilder der zweiten Hand eingegriffen. daß Arbeiten am Schluß des Bandes von ihm ausgeführt wurden, verwundert nicht. Die große Miniatur zum Namensheiligen des Bestellers mag bewußt vor den anderen ausgeführt worden sein; ein vorzügliches Parallelbeispiel dafür ist der Stephanus für Étienne Chevalier in Chantilly, den Jean Fouquet um 1455 sogar in älterem Layout gestaltet hat.164 ß daß die letzte große Miniatur am Ende der Arbeiten entstand, ist sinnvoll; doch ß daß man mit der ersten Seite des Buchblocks und dem Beginn des Haupttextes wartete, bis ein anderer, jüngerer Maler dafür zur Verfügung stand, will nicht einleuchten. Ein Blick auf den Randschmuck zeigt zudem: Der Hauptmeister ist nicht mit einem eigenen Randdekor aufgetreten. 163 Van Buren 1999; darauf aufbauend der sehr erhellende Beitrag von Anne Korteweg im Kommentarband

zum Stundenbuch der Katharina von Kleve 2009, S. 251–286, bes. S. 254 f. 164 Siehe meinen Kommentar zur Faksimile-Ausgabe Simbach 2018, S. 69–71.

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Der zweite Maler auch für den Dekor verantwortlich? Mit dem Bild des Namenspatrons Claudius hat der Maler, der hier als die zweite Hand neben dem Hauptmeister im Toulongeon-Stundenbuch auftritt, eine wichtige Aufgabe erhalten. Welche weiteren Aufgaben dieser Buchmaler im Manuskript wahrzunehmen hatte, verrät ein Blick auf die gesamte Buchseite: Das klare Blau, das auf kluge Weise nicht nur das Gewölbe über dem Heiligen, sondern direkt daneben auch den Bogen mit dem Landschaftsblick links füllt, kehrt in gleicher Stärke und Klarheit in den Blüten und in wenigen Akanthusblättern von Bordüre und Initiale wieder. Die Grau-Tönungen in der Architektur dominieren Laubwerk und Initialkörper; das Gold für den Fond des monumentalen Buchstabens ist ebenso kühl wie der Nimbus und das Bogenfeld über der rechteckigen Öffnung rechts. Schließlich ist auch ein sonderbares Detail verräterisch: Die goldene Borte der Dalmatik wird ohne jede Rücksicht auf die Draperie wie ein glatter Winkelhaken auf das Tuch gelegt und bricht knapp unter dem rechten Ärmel ab. Recht ähnlich werden unter den Kopfbildern die aus Schwarz und Gold zusammengesetzten Doppelstäbe um die Textfelder geführt; sie sind nirgendwo mit den entsprechend gestalteten Bildrändern koordiniert, sondern enden abrupt neben der rechten unteren Ecke der Miniatur. Ebenso zeichnerisch streng wie die Architekturen mit von Weiß begleiteten Konturen ist das Blattwerk in den Bordüren. McKendrick hat 2003 darauf hingewiesen, daß der Meister Edwards IV. in seiner frühen Brügger Zeit oft auch die Bordüren, zuweilen die größeren Initialen gestaltet hat.165 Mit gleichem Recht können wir den Schriftdekor im Toulongeon-Stundenbuch zwar nicht dem Hauptmeister, aber diesem zweiten Buchmaler zuweisen. Das wiederum könnte erklären, daß unser Manuskript vom Schriftdekor her ganz anders als Handschriften vom Meister Edwards IV. aussieht. Ein Resümee zum Arbeitsablauf Wenn man die Arbeiten am Toulongeon-Stundenbuch historisch einordnen möchte, dann stößt man zunächst auf Claudes Aufnahme in den Orden vom Goldenen Vlies beim 14. Kapitel in s’Hertogenbosch im Mai 1481. Die Zeit um 1480 ist schon deshalb von einschneidender Bedeutung, weil in jenen Jahren mit dem kurzen Regiment der Herzogin Maria von Burgund die Herrschaft des französischen Hauses Valois endete und deren Erbe, der Habsburger Maximilian, das Herzogtum mit Dijon, also das französische Kerngebiet, an Frankreich verlor. Für Claude de Toulongeon bedeutete dieser Wandel einen großen persönlichen Verlust; denn König Ludwig XI . ließ den Familiensitz schleifen und nahm ihm damit einen Teil seiner französischen Identität. Die zweifelsfreie Entstehung des Toulongeon-Stundenbuchs in Brügge unterstreicht die Distanz zwischen der Herkunft des Bestellers und seiner Zuwendung zur Buchkultur der südlichen Niederlande.

165 Ausst.-Kat. 2003, S. 295. So in einer Chronologie der Welt in St. Petersburg, NB , Fr.F.v.IV,12:

Woronowa und Sterlikow 1996, Abb. 363–372; McKendrick kann sich sogar vorstellen, daß der Buchmaler in diesem Fall auch der Schreiber war.

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Für die Geschichte der Buchmalerei hatte Otto Pächt 1948 die Regierungszeit der Maria von Burgund in den Jahren 1477 bis 1482 als die Jahre eines epochalen Wandels charakterisiert: Ihm zufolge schufen Streublumen und andere Elemente, die in den Bordüren gleichsam auf dem Pergament liegen, stillebenhaft tastbare Nähe, während die Miniaturen faszinierende Tiefenwirkung und Atmosphäre lieferten. Willem Vrelant, der wichtigste Vertreter älterer Buchmalerei in Brügge, der wie das Herzogshaus noch Pariser Wurzeln hatte und weder Streublumen gemalt, noch verführerische Tiefe erreicht hat, ist gerade im für uns wichtigen Jahr 1481 gestorben. Wenn wir nun Arbeitsabläufe und Stilstufen im Toulongeon-Stundenbuch miteinander verrechnen, dann ergibt sich ein bemerkenswertes Paradox: Voraussetzung für alle Buchmalerei im Manuskript war die Auswahl von Format und Texten und der Einsatz des Schreibers: Das eindrucksvolle große Quartformat hätte eine Generation früher, um 1450, sehr viel weniger erstaunt. Die Texte stehen in älterer Tradition und haben wenig mit den anschließenden Entwicklungen zu tun; die Abstimmung mit den Interessen des Bestellers läßt im Kalender zu wünschen übrig, führt aber in Litanei und Suffragien zur Betonung des heiligen Claudius. Der Schreiber, wenn es denn der Brügger Dominikaner Hanskin de Bomalia war, stand am Anfang seiner nicht in die Zeit vor Maria von Burgund zurückreichenden Tätigkeit. Der Schriftdekor steht noch ganz in der Tradition von Akanthus und stark stilisierten Blumenzweigen vor Pergamentgrund mit Dornblattresten – in einer Zeit, die gerade zu stillebenhaften Streublumen auf farbigen Fonds fand. Wenn unsere Beobachtung zutrifft, daß die sehr streng und konsequent durchgeführte Arbeit von dem für die meisten Kopfminiaturen eingesetzten Maler stammt, den wir hier die zweite Hand nennen, dann war dieser Künstler während der gesamten Ausmalung präsent: Er hat den Kalender vorbereitet, ehe dort ein zweifellos Brügger Illuminator alle 24 Bilder in den Bordüren nach Vorlagen ausführte, die Vrelant selbst im vom Format her verwandten Arenberg-Stundenbuch des J. Paul Getty Museums benutzt hatte. Der Schriftdekor würde ebenso wie die Miniaturen unserer zweiten Hand eine Datierung deutlich vor 1481 rechtfertigen; denn ebenso wie die Kalenderbilder eines selbständigen dritten Malers gehört die Gestaltung von Figuren und Draperien, Architektur und Landschaft stilgeschichtlich in die Lebzeiten Willem Vrelants. Für diese Einschätzung spricht, daß sich verwandte Motive im Van Hooff-Stundenbuch aus den 1460er Jahren finden. Die Architekturen gehen sogar vor Vrelants Auftauchen zurück, wenn man an die verbrannte Miniatur der Geißelung im Turin-Mailänder Stundenbuch denkt. Der Grad der Stilisierung solcher möglichen Vorbilder bezeichnet aber zugleich einen erheblichen zeitlichen Abstand. Doch sicher ist diese Stilstufe nicht mit Vrelant gestorben. Die Ordenskette für Claude de Toulongeon im „Diptychon“ seines Gebets zur Not Gottes ebenso wie der Anhänger mit dem Goldenen Vlies im Bild mit dem Schutzengel sind willkommene Hinweise, sie könnten aber auch nachträglich eingefügt sein. Mit dem für die Miniatur wie die Bild-Initiale verantwortlichen Hauptmeister, in dem eventuell der Meister Edwards IV. von 1479 tätig war, den wir jedoch lieber Toulongeon-Meister

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nennen würden, tritt ein Künstler auf, dem genauso wie dem Schreiber eher die kommenden Jahrzehnte gehören sollten. Seine Eingriffe im Buch könnten zunächst als nachträgliches Wirken eines jüngeren Künstlers interpretiert werden. Er hat an vielen Stellen Gesichter in die Miniaturen der zweiten Hand eingemalt, hat am Ende des Bandes die Bild-Initialen und das eindrucksvolle Bild von Christus in der Rast gemalt, das sich mit der erst gegen 1480 verbreiteten Kupferstich-Passion von Israhel van Meckenem auseinandersetzt. Doch gegen die Vermutung, daß dieser jüngere Meister erst zum Zuge kam, als die altertümliche zweite Hand ausgeschieden war und die Arbeit unvollendet gelassen hätte, spricht der Umstand, daß dann die beiden wichtigsten Bildfelder am Anfang, zur Johannes-Perikope und zum Beginn des Marien-Offiziums zunächst leer geblieben wären. Der Hauptmeister hat sicher die letzte Hand angelegt, aber noch für sein „Diptychon“ war er auf die Mitarbeit der zweiten Hand angewiesen. Mit Hanskin de Bomalia stand ein Brügger Schreiber am Anfang der Arbeit am Toulongeon-Stundenbuch, die vom Brügger Buchbinder Jean Guilebert, dessen Werk leider nicht mehr existiert, abgeschlossen wurde. Grisaille als Ausdrucksform oder als künstlerische Herausforderung Die gesamte Bebilderung folgt einem Konzept von Halbgrisaille,166 das die Inkarnate in zarten Rosatönen beläßt, Haare und hölzerne Gegenstände braun wiedergibt, Tücher, Gebäude und Felder hellblau tönt, aber Fliesen und Wiesen, Laub und Himmel mit Grün- und Blautönen gestaltet. Die starke Farbreduktion sorgt dort, wo doch einmal Buntfarben eingesetzt werden, für verblüffende Wirkungen, so beim Teufel, der Johannes das Schreibzeug stehlen will oder auch beim Spaten, mit dem das Loch für Christi Kreuz gegraben wird. Die insgesamt drei am Buch beteiligten Künstler sind mit der Vorgabe, ihre Darstellungen in Grisaille zu gestalten, unterschiedlich umgegangen: Am strengsten hat sich der Gehilfe aus dem Vrelant-Kreis daran gehalten, als er die Landschaften im Kalender grau in Grau und ganz ohne Grün malte und die Inkarnate ungefärbt ließ. Damit gehadert hat der Illuminator, den wir hier als zweiten Maler bezeichnet haben. Genial konnte hingegen der Hauptmeister die Prinzipien mit seinen dunstigen Himmeln über malerischen Landschaften umsetzen. Grisaille in Schriftdekor und Bordüren Mit der Beschränkung der Farben in den Miniaturen geht die ernste Wirkung des Buchschmucks einher. Dieser Umstand mag in der Familientradition der Erben des Hauses Toulongeon dazu geführt haben, daß man, wie der Eintrag aus dem XVII . Jahrhundert im Manuskript zeigt, das Schicksal des nicht von der Jerusalemfahrt zurückgekehrten Andrieu irrtümlich mit diesem Stundenbuch verband. Das wird auch Dibdin eingeleuchtet haben. Sicher wird die Beschränkung der Farben nicht von Sparsamkeit, sondern 166 Siehe zu diesem Phänomen in der südniederländischen Buchmalerei den von Pierre Cockshaw herausge-

gebenen Ausst.-Kat. Brüssel 1988.

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von spiritueller Strenge bestimmt. Künstlerisch geht es um Erprobung von Malerei ohne Buntheit, die unser Toulongeon-Stundenbuch mit den Schwarzen Gebetbüchern verbindet, die für den burgundischen Hof geschaffen wurden. Der Verzicht auf Buntheit gibt dem ganzen Manuskript einen ungewohnten Ernst, sicher als Ausdruck besonderer Frömmigkeit. Die Grundform der Initialen ist sehr elegant, vor allem die einzeiligen Zierbuchstaben sind in die Breite gezogen, so daß die in Gold ausgeführten Lettern stark variieren: In ihren senkrechten Partien sind sie sehr breit, in den waagerechten ungemein zierlich. So stehen sie auf Querrechtecken, die zum Rand mit kräftig gezackten Konturen aufwarten. Statt des gewohnten Spiels mit weinroten und blauen Flächen ist der Schriftdekor ungewohnt konsequent auf dunkle Töne eingestellt: Den Fond bildet kräftiges Schwarz; darauf aufgetragene weiße Linien unterstreichen die Strenge der Form. Die Anordnung am Zeilenbeginn erfordert zahlreiche entsprechend gebildete Zeilenfüller; das Zusammenspiel der Initialen und der Zeilenfüller erzeugt vor allem in der Litanei eine ästhetisch verblüffende Wirkung. Größere Initialen gehören zum Dornblattdekor; die schwarzen Buchstaben mit ihrem weißen Filigran liegen auf Blattgold; aus ihnen sprießt Dornblatt, das blaue Blüten ausbilden kann. Doppelstäbe entspringen den Lettern; sie legen sich um die Textfelder. Ein sonderbarer Moment ergibt sich im Verhältnis zu den Kopfbildern: Diese sind mit einfachen Goldleisten innerhalb des Textspiegels gerahmt; die Doppelstäbe verlaufen aber außerhalb der Justifikation; deshalb enden sie auffällig rechts unkoordiniert neben der rechten unteren Bildecke. Die mit roten Tintenlinien umgebenen dichten Bordüren sind bereits in ihren Maßen ungewöhnlich; denn sie nutzen die in den Blatträndern vorgegebenen Räume nicht aus; das fällt besonders im Verhältnis des unteren zum äußeren Randstreifen auf; denn bei den in solchen Handschriften gewohnten Proportionen müßte die Höhe unten die Breite außen deutlich übertreffen. Der Randschmuck steht noch in der Tradition der mit Akanthus und Blütenzweigen versehenen Dornblattbordüren; doch ist kein Platz mehr für echte Dornblätter. Gemustert sind die Zwischenräume auf dem Pergament durch schwarze Punkte und sehr wenige kleine Goldtropfen. Akanthus ist in die vier Ecken und in die Mitte außen gesetzt. Der Farbwechsel, den man als Blau und mit Rot modelliertem Pinselgold kennt, wird in Schwarz und Pinselgold verwandelt, das viel häufiger mit Schwarz als mit Rot modelliert wird. Nur an den Enden des Akanthus kann Schwarz zuweilen durch Blau ersetzt werden. Die Blütenzweige bestehen aus dünnen Tintenlinien, die kaum Kraft haben, Blattwerk und Blüten zu verbinden. Zartes Rosa und wenig Blau wird neben Schwarz für die Blüten eingesetzt; so stehen schwarze und blaue Veilchen auf fol. 158 nebeneinander. Farbreduktion: ein Zeichen von Trauer und Buße oder von Exklusivität? Unter dem etwas rätselhaften Titel Grisaille als Metapher veröffentlichte Michaela Krieger 1995 ihre Dissertation Zum Entstehen der Peinture en Camaieu im frühen 14. Jahrhundert. Die Anfänge sah sie in den Bildern der Tugenden und Laster, mit denen Giotto um – 75 –


1305 die Sockelzone der Paduaner Arenakapelle ausgestattet und dabei mit der Bildhauerei konkurriert hat. In der Glasmalerei hatte Farbreduktion schon Generationen früher eine eher praktische Rolle gespielt, weil Grisaille den Kirchenraum heller beleuchten ließ. Nachdem bereits um 1140 unter Abt Suger im Chor von Saint-Denis ornamentale Fenster grau in Grau die Folge der farbigen flankiert hatten, war Buntfarbigkeit schließlich auch für Bildfenster nicht mehr zwingend nötig. Im XV. Jahrhundert erhielt die Grisaille in der Tafelmalerei für viele Generationen ihren Platz auf den Außenseiten von Altarflügeln – blieb dabei also meist wie in Giottos Wandmalerei der buntfarbigen Hauptansicht untergeordnet.167 Doch gerade der größte Meister neuer Farbwirkungen, Jan van Eyck hat schon auf dem 1432 vollendeten Genter Altar und danach bei anderen Aufträgen, die ähnliche Farbreduktion verlangten, auf das Virtuoseste gezeigt, welch verblüffende Effekte der Wettstreit von Malerei und Skulptur, der sogenannte Paragone, nördlich der Alpen erreichen konnte.168 Drei Generationen später bestätigte Matthias Grünewald auf den Außenflügeln des Frankfurter Heller-Altars im Wettstreit mit Albrecht Dürers Innenseiten noch einmal, wie unerhört gerade er, der sicher der bedeutendste Kolorist seiner Zeit war, in Grisaille-Malerei brillieren konnte.169 Voraus gegangen war eine vitale Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten solcher Farbgebung, die schon in Werken wie der Grauen Passion von Hans Holbein dem Älteren gipfelte.170 Im späten Mittelalter und an der Schwelle zur Neuzeit war Verzicht auf bunte Farben in Tafelmalerei und Buchkunst somit weit verbreitet. Doch gerade in der Buchmalerei nimmt die Grisaille eher das ganze Manuskript in Beschlag, als daß Maler wie der PetrarcaMeister in den Petites Heures der Anne de Bretagne das Nebeneinander beider Arten von Farbgebung systematisch einsetzten und inhaltlich nutzten.171 Einen ausgezeichneten Überblick über Grisaille-Handschriften und ihren Wert am Burgunderhof gibt Nina Zenker anläßlich des famosen Breslauer Froissart.172

167 Farbreduktion fand sich jedoch auch zuweilen im Inneren, so bei der monumentalen Tabula Magna, die

Gabriel Angler für die Abtei Tegernsee geschaffen hat: Helmut Möhring: Die Tegernseer Altarretabel des Gabriel Angler und die Münchner Malerei von 1430–1450, München 1997. 168 Siehe zuletzt den Katalog der Genter Ausstellung von 2020, in der die Grisaillen des Altars mit entsprechenden Werken Jan van Eycks und seiner Zeit konfrontiert wurden. 169 Jochen Sander konnte die reichen Frankfurter Bestände in der Städtischen Galerie und im Städelschen Kunstinstitut in seinem für Grisaille bemerkenswerten Buch „Die Entdeckung der Kunst“. Niederländische Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts in Frankfurt, Mainz 1995, nutzen. 170 Stuttgart, Staatsgalerie; Dort hat man nach der Erwerbung des Zyklus aus Donaueschingen eine Ausstellung veranstaltet, in deren Katalog Elsbeth Wiemann den letzten ausgezeichneten Überblick über Grisaille in der Malerei des XV. und frühen XVI . Jahrhunderts gegeben hat: Ausst.-Kat. Stuttgart 2010/11, S. 123–145; mit kluger Einbeziehung von monochromer Farbgestaltung auch jenseits von Grau. 171 Paris, BnF, NAL . 3027: Leroquais 1943, Nr. 1; Paris 1993, Nr. 238. 172 Zenker 2018, S. 103–116. Sie notiert: „Lievens Bilder … haben der Grisaille ihr gesamtes ästhetisches Ausdrucksvermögen abgerungen und lassen jeden ökonomischen Gedanken vergessen“ (S. 115).

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Blackburn Museum and Art Gallery, Hart Ms. 20884

So hierarchisch Bilderhandschriften auch gestaltet wurden, so selten hat man die Grisaille der Buntfarbe untergeordnet. Freilich hat ausgerechnet ein für unser Toulongeon-Stundenbuch wichtiger Buchmaler in erstaunlicher Weise ausprobiert, was man im Wechsel zur Vollfarbigkeit erreichen kann: Im Blackburn-Stundenbuch, das Scot McKendrick für das beste Werk des Meisters Edwards IV. hält, wird eine vollfarbige Hauptminiatur auf einer Doppelseite durch drei Grisaillen ergänzt.173 Mit der Kreuztragung schiebt sich ein vorausgegangenes Ereignis in einer Art von Bas-depage, also Sockel, vor die bunte Kreuzigung und die Streublumenbordüre auf Pinselgoldgrund. Aus dem Heilsspiegel stammt die Gegenüberstellung dieser Randszene auf dem Kopfbild gegenüber, in dem aus der Kreuzlegende geschildert wird, wie ein Engel Kaiser Heraklius verwehrt, mit dem Wahren Kreuz, das er gerade wiedergewonnen hatte, hoch zu Roß in Jerusalem einzureiten. Diese typologische Entsprechung über dem Anfang der Kreuzhoren wird im unteren Rand von den Soldaten begleitet, die eigentlich ins Bild der Kreuzigung gegenüber gehören: Hier stehen Soldaten, darunter rechts vielleicht auch der Hauptmann und blicken weit nach links, während die Gruppe jener, die um Christi Rock würfeln, die Mitte einnimmt; sie sind gleichsam aus dem Kreuzigungsbild herausgefallen. Grisaille bezeichnet somit in diesem sehr ungewohnten Beispiel 1. eine zum farbigen Hauptbild gehörende gleichzeitige Nebenszene, 2. den vorausgehenden Kreuzweg und 3. die Jahrhunderte später spielende Fortsetzung im Rahmen der Kreuzlegende.

173 Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2003, Nr. 98, Abb. 98a.

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So intelligent in diesem fast einzigartigen Beispiel Grisaille in der Buchmalerei auch eingesetzt sein mag, so haben Buchmaler die Wertigkeit von Farbe und Grisaille eher in verblüffender Weise umgekehrt: So sind im Breslauer Froissart für den Großbastard Anton von Burgund, der von mehreren Buchmalern gestaltet wurde, die Miniaturen grau in Grau, die Randverzierungen aber, besonders lebendig bei Lievin van Lathem im IV. Band, in brillanter Buntheit ausgeführt.174 Wenn Grisaille als Gestaltungsmittel ein Gebetbuch ganz und gar prägt, verführt das zur Vermutung, das Graue als Trauer oder Buße zu lesen. Ausgerechnet im Katalog der Ausstellung Colours von 2016, in dem Elizabeth Moodey mit der Section Eleven einen vorzüglichen Überblick zu Grisaille in der Buchmalerei gibt,175 tritt zu Tage, wie problematisch solche Schlußfolgerungen sind: Obwohl im schon erwähnten Cambridger Stundenbuchs Founders 86 alle Miniaturen – neben Kreuzigung und Totendienst auch Pfingsten und die Marienverkündigung – in Grisaille gehalten sind, wird die Entscheidung für Grau, Blau und Gold scheinbar schlüssig allein auf Davids Buße zu Beginn der Bußpsalmen bezogen und mit dem 10. Vers des fünften Bußpsalms (Ps. 101/102) erklärt, in dem es heißt: „denn ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Tränen“. Diesem Nebensatz folgend soll der ganze Buchdekor gleichsam zu Asche (und Tränen) geworden sein.176 Sicher macht man es sich zu einfach, wenn man ganze Handschriften auf diese Weise begreifen will. Grisaille als Kostbarkeitsmetapher in Frankreich Von einer solchen Interpretation ist Kriegers Rede von Grisaille als Metapher weit entfernt: Ihr Hauptaugenmerk gilt dem winzigen Stundenbuch der Jeanne d’Evreux aus den Jahren zwischen 1325 und 1328 und der Folgezeit, in der Grisaille mit Aufträgen für den Königshof eine große Blüte erlebt.177 Dabei geht es durchweg darum, Hauptelemente der Darstellung in Grautönen vor farbige Gründe zu stellen. Für Michaela Krieger wurde die Grisaille „zur Kostbarkeitsmetapher schlechthin“.178 Die Faszination für die Qualität neuartiger Farben, die kurz nach 1400 in Paris von den Brüdern Limburg ebenso wie vom Mazarine- und Boucicaut-Meister, aber auch vom Bedford-Meister und vielen anderen beherrscht wurden, hat Grisaille in der französischen Buchmalerei entscheidend zurückgedrängt. Von ihnen allen ist so gut wie keine farbreduzierte Miniatur erhalten, wenn man von unserem in dieser Hinsicht immer noch rätsel174 Berlin, Staatsbibl., Depot Breslau I: Zenker 2018. 175 Cambridge 2016, S. 251-269: Grisaille in Manuscript Painting after c. 1450. 176 Dabei unterläuft den für Nr. 73 verantwortlichen Deirdre Jackson und Elizabeth Moodey beim lateinischen

Zitat auch noch ein ärgerlicher Fehler: Sie zitieren die Stelle aus dem Psalm iuxta Hebreos, obwohl Stundenbücher in aller Regel die Psalmen des Hieronymus nach der Septuaginta benutzen, im Manuskript dürfte also „quia cinerem tamquam panem manducavi et poculum meum cum fletu miscebam“ stehen statt „quia cinerem sicut panem comedi et potum meum cum fletu“, wie auf S. 266 irrig zitiert. 177 In unserem Zusammenhang spielt keine Rolle, daß Krieger nicht an die von der gesamten Literatur akzeptierte Identifizierung des in New York erhaltenen Manuskripts mit dem dokumentierten Werk von Jean Pucelle glaubt. Siehe inzwischen Barbara Drake Boehm, Das Stundenbuch der Jeanne d’Evreux, Acc. No. 54.1.2, Metropolitan Museum of Art, Luzern 2000. Zu diesem und weiteren Beispielen im Umgang mit Grau und Farben siehe François Avril, Buchmalerei am Hofe Frankreichs. 1310–1380, München 1978. 178 Krieger 1995, S. 182.

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haften Limburg-Stundenbuch für Ludwig von Orléans und Valentina Visconti absieht, in dem einzelne Bilder so intensiv grau in Grau gearbeitet sind, als solle es ohne Farben sein Bewenden haben.179 Begeisterung für reiches Kolorit in Frankreich galt auch für die meisten Künstler der folgenden Generation, die wie Jean Fouquet bestenfalls Entwürfe für Grisaille in Glasmalerei lieferten.180 Zurück zur Farbreduktion fand man in Frankreich erst in den Jahrzehnten um 1500, in denen sich die Buchmaler vor neue Aufgaben gestellt sahen, weil vor allem in Paris mit dem Bilddruck in Inkunabeln ungezählte Stundenbücher auf den Markt kamen. daß deren Bebilderung im ersten Zugriff auf Schwarzweiß beschränkt war, dann freilich rasch nach Farbe verlangte,181 mag auch ein Grund gewesen sein, auf die Tradition der ein Jahrhundert zuvor so wertvolle Grisaille zurückzugreifen. Mit welchem Bewußtsein für das Exquisite der Farbbeschränkung man auch bei den Auftraggebern rechnen konnte, verrät Morgan 618, ein heute stark geräubertes Manuskript aus dem Umfeld des Petrarca-Meisters und Jean Pichores in New York, das zwar durchaus nicht stilverwandt mit unserem Toulongeon-Stundenbuch doch in Initialen und Zeilenfüllern, Bordüren und Miniaturen dieselbe strenge Farbreduktion bietet: Der Fond der letzten Seite in diesem Manuskript, fol. 93v, ist vertikal in eine graue und eine braune Hälfte geteilt; darauf steht in goldener Capitalis, als Farben seien Grau und Gerberbraun, die im gesamten Stundenbuch eingesetzt wurden, sehr exquisit:

New York, Morgan Library, M. 618, fol. 93v 179 Siehe unser Buch: Das Genie der Zeichnung. Ein unbekanntes Manuskript mit 30 großen Darstellungen von

einem der Brüder Limburg – wohl im Auftrag des Herzogs von Berry für Louis d’Orléans & Valentina Visconti (Illuminationen. Studien und Monographien, hrsg. von Heribert Tenschert, 23; zugleich Katalog LXXVII ), Bibermühle 2016. 180 Zu denken ist an den Glas-Tondo im Pariser Musée de Cluny mit dem Monogramm von Laurens Girard, Schwiegersohn des Étienne Chevalier, der auch Auftraggeber des Münchner Boccaccio war: zuletzt Ausst.Kat. Paris 2003, Nr. 18. Aus dem Umfeld des zwischen Bourges und Lyon strittigen Meisters des Wiener Rosenromans stammt wohl auch der Entwurf für das Paar beim Schachspiel, ebenfalls im Cluny-Museum: Zuletzt Frédéric Elsig, Dossier Lyonnais, in: Hofmann und Zöhl 2007, S. 88–97 und Farbabb. 2, S. 441. 181 Den umfassendsten Überblick dazu geben unsere inzwischen neun Bände Horae von 2003–2015; ein zehnter Band ist gerade in Vorbereitung.

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„Je porte une M partout à ma devise/ À celle fine qu’en coignasse et advise/ Qu’on pas n’antans de m’attacher à l’heurs/ Gris et tannes en seront mes couleurs /Car la sorte me semble fort escuise/ L’un prent un I, l’autre a une L quise/ Ung A ung G chascun faict à sa guise./ Mais quand de moy je ne suys pas des leurs.// Je porte une M/ Celle par qui j’ay la fasson prise/ Je la congnoys de si très bone prise/ Que’après avoir quise toute valleurs/ Point n’en congnoys au monde de meilleurs/ Et plus non dis. Vela vous sufise// Je porte une M.“ Damit wirbt nicht der Buchmaler, sondern vermutlich der Besitzer; denn das dreimal wiederholte Bekenntnis zu M ist sicher eine Liebeserklärung, wie man sie in jener Zeit eher von Männern als von Frauen erwarten würde.182 Doch zugleich verbindet sich mit solch einer ihrer Seltenheit wegen so kostbaren Quelle zur Wertschätzung der Farbwahl und damit auch der künstlerischen Arbeit ein anderes Gedicht in einem Stundenbuch, in dem der Buchhändler ein zeitgleiches Manuskript aus Paris anpreist, in dem der Martainville-Meister teils vollfarbig, teils mit Grisaille gearbeitet hat: „Quy peult choisir ne doibt prendre le pire./ Donc, vous suply ne laisser le meilleur./ Et de ma part à la meilleure tire/ En pourchassant de vostre grâce l’heur.“183 Grisaillen für die Burgunder von Philipp dem Guten bis Maria von Burgund Während man nicht weiß, ob zu den Handschriften für Karl VII . und Ludwig XI . auch solche mit Farbreduktion gehörten, weil keine Stundenbücher aus dem Besitz für diese französischen Könige gesichert sind, spielt für Gebetbücher der Burgunderherzöge Philipp den Kühnen und Philipp den Guten Grisaille eine wichtige Rolle.184 Berühmt sind die 126 Grisaillen von Jean le Tavernier im Haager Manuskript 76 F 2, die Jahrzehnte später noch um 39 entsprechende Bilder im Stil der Gebetbücher um 1500 ergänzt wurden. Auf sie dürfte sich eine Quelle aus dem Jahr 1453 beziehen; doch offenbar ließ Philipp der Gute zwei Jahre später vom selben Buchmaler ein verschollenes Stundenbuch ebenfalls mit unbunten Miniaturen ergänzen.185 182 Die in Corsair, der Datenbank der Morgan Library, zu findende Beschreibung stammt noch von Meta

Harrsen und ist auf den 3. Oktober 1945 datiert und kaum handschriftlich ergänzt. Die dort vertretene Ansicht, ein Enkel von Jacques Cœur, Jacques II , sei der Autor des Gedichts und zugleich Auftraggeber, wird heute nicht mehr diskutiert: John Plummer denkt an einen Besitzer aus dem Norden, da als Wappen der steigende rote Löwe auf Gold gezeigt wird, wie ihn die Grafen von Holland trugen (New York 1982, Nr. 117); Roger Wieck vermutet den Namen in den nicht aufgelösten Initialen AM , die sich golden auf Schwarz in vielen Bordüren finden (New York 1997, Nr. 10). 183 Chantilly, Musée Condé, Ms. 72, fol. 16: Meurgey 1930, S. 165 f. und Taf. CX–CXI; siehe auch König 1978, S. 226 f. 184 Siehe z.B. Anne van Buren, Dreux Jehan and the Grandes Heures of Philip the Bold, in: Cardon u. a. 2002, S. 1377–1414; dort auch abgebildet ist das kleine und sehr bilderreiche Stundenbuch mit zahlreichen Darstellungen Philipps des Guten in München (BSB , cod. Gall. 40: Ill. 8). Ein von uns 1989 nur sehr vorsichtig mit Philipp dem Guten verbundenes Stundenbuch mit Miniaturen von Jean le Tavernier und aus dem Umfeld Liédets gilt seit seiner Erwerbung durch die Brüsseler KBR als zweifelsfreier Auftrag des Fürsten (Leuchtendes Mittelalter I, 1989, Nr. 35, danach noch Leuchtendes Mittelalter III , 1991, Nr. A; siehe The Tavernier Book of Hours, Brüssel 2002). Wir werden in Kürze noch einmal mit einem Vorschlag für Philipp den Guten hervortreten. 185 Den Sachverhalt hat Anne Korteweg 2002 mit den Quellen und der älteren Literatur überzeugend erörtert.

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Auf erstaunliche Experimente mit Schwarz stößt man in Zeiten Karls des Kühnen (Herzog 1467–1477)186 und zugleich auf die unerhörte Farbenpracht bei Lievin van Lathem und beim sogenannten Wiener Meister der Maria von Burgund. Dessen Schaffen, das die ältere Literatur eng mit der am 27. März 1482 verstorbenen Maria von Burgund verband, konzentriert sich, wie man heute ahnt, jedoch auf die Jahre um 1470, so daß für ihn eine Identifizierung mit dem Genter Maler Joos van Wassenhove immer wahrscheinlicher wird, der 1473 in Urbino auftauchte und als Justus van Gent durch seine Arbeiten für Federico da Montefeltro bekannt ist.187 Grisaillen, die man dem Wiener Meister der Maria von Burgund zugeschrieben hat, gelten heute meist nicht mehr als sein Werk.188 Doch zumindest Lievin van Lathem war auch ein vorzüglicher Meister der Farbreduktion, wie vor allem der IV. Band des Breslauer Froissart beweist, dessen Randschmuck mit Buntheit brilliert. In seinen Fußstapfen bewegt sich unser Meister bei den besten Miniaturen für Claude de Toulongeon! Mecheln 1491: Ein Blick über die Schultern der Ordensritter Philipp der Gute, der den Orden vom Goldenen Vlies am 10. Januar 1430 gegründet hat, wollte die Ordenskapitel jährlich abhalten. Doch schon bald gab er diesen guten Vorsatz wieder auf. Claude de Toulongeon, der am Tag des Johannes ante Portam latinam, dem 6. Mai 1481, in den Orden aufgenommen wurde, seine Ordenskette aber erst am 16. August desselben Jahres durch Gruuthuse erhielt, mußte zehn Jahre warten, bis er zum ersten Mal als Ritter an einem Ordenskapitel teilnehmen konnte. Bei dieser Gelegenheit, am 24. Mai 1491, in der St.-Rombouts-Kathedrale von Mecheln, eröffnete Jean de Lannoy als ältester Ritter (1410–1493, ernannt 1451) in Maximilians Abwesenheit das XV. Ordenskapitel für Philipp den Schönen, der von nun an Ordenschef war. 186 Zu Quellen und Bestand siehe Kren in Los Angeles und London 2003, S. 121–125. Damals noch unbe-

kannt war das im Louvre aufgetauchte Doppelblatt eines schwarzen Gebetbuchs für Karl den Kühnen, MI 1091. Es ist von großer historischer Bedeutung, wenn auch von geringem ästhetischen Reiz, und wurde von Pascal Schandel überzeugend mit einem Auftrag an den 1454 in Paris nachweisbaren und 1479 in Brügge verstorbenen Buchmaler Philippe de Mazerolles verbunden (der bis dahin als Meister des Harley Froissarts bekannt war): Schandel in: Ausst.-Kat. Paris 2011, Nr. 156, mit kurzem Resümee S. 294, Abb. und Quellen S. 295–299. 187 Zum Gebetbuch Karls des Kühnen mit Miniaturen von Lievin van Lathem, das aus der Sammlung Durrieu als Ms. 37 ins J.Paul Getty Museum, Los Angeles, gelangt ist, kommt vielleicht das Voustre-demeure-Stundenbuch in Madrid, Berlin und Philadelphia als ein Auftrag für Karl und Margarete von York aus der Zeit ihrer Vermählung 1468 hinzu, siehe meinen Beitrag: Charles the Bold and the Mary of Burgundy Style: or Who Said „Voustre Demeure“?, in: Staging the Court of Burgundy, hrsg. von Wim Blockmans u. a., Turnhout 2013, S. 287–299, u. Pl. 57–60. In diesem Zusammenhang strittig bleibt, wie weit das sogenannte Wiener Stundenbuch der Maria von Burgund, ÖNB , Cod. 1857, nicht eher ein Auftrag für Margarete von York war; dann wäre das Berliner Stundenbuch von Maria und Maximilian, Kupferstichkabinett 78 B 12, das einzige nachweislich für Maria geschaffene Gebetbuch, dazu siehe mein mit Beiträgen von Fedja Anzelewsky, Bodo Brinkmann und Frauke Steenbock bereichertes Buch Das Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund und Kaiser Maximilians, Lachen am Zürichsee 1998. 188 Das gilt für alle Grisaillen, die Otto Pächt 1948 in Erwägung gezogen hat. Das Brüsseler Ms. 9272–76 wird einem „Master of the Moral Treatises“, andere werden dem Meister des Älteren Gebetbuchs Kaiser Maximilians gegeben; siehe dazu Los Angeles und London 2003, S. 158–162 und z. B. für Oxford, Douce 365 ebenda, S. 197 f.

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Dieses Treffen war nicht gut besucht:189 Da zwölf der 29 Ritter von 1481 verstorben waren, hätten Maximilian und siebzehn weitere anreisen müssen. Erschienen sind jedoch nur sieben: Jean de Lannoy, dazu Erzherzog Philipp der Schöne und Admiral Philipp von Burgund, Engelbert II . von Nassau, Jan II van Glymes-Bergen, der hier schon mehrfach erwähnte Baudouin II de Lannoy, Lodewijk van Gruuthuse und Claude de Toulongeon. Nur in einem Fall, bei Jan II van Glymes-Bergen, ist von Bücherbesitz so gut wie nichts bekannt. Philipp der Schöne (1478–1506) war Erbe der herzoglichen Bibliotheken, aber noch nicht selbst hervorgetreten. Durch seine Heirat mit Anna van Borssele außerordentlich wohlhabend war der Admiral Philipp, Herr von Beveren, mit Büchern vertraut durch seinen Vater, den erst 1504 verstorbenen Großbastard Anton von Burgund. Doch starb Philipp vor seinem Vater schon 1498 und ist selbst nicht als Sammler hervorgetreten. Doch als Bibliophiler nicht zu übertreffen war Gruuthuse,190 ungemein bedeutend auch Engelbert von Nassau (1451–1504), dem beispielsweise der großartige Rosenroman Harley 4425 in der British Library gehörte.191 Von Baudouin II de Lannoys spiritueller Leidenschaft für Bücher spiritueller Religiosität war schon die Rede. Man stelle sich nun vor, man könnte bei einem solchen Treffen den hohen Herren über die Schultern schauen, wenn sie, wie es gute Sitte war, bei der Messe ihr eigenes Gebetbuch herausholten. Bei der Meßfeier in der St. Rombouts-Kathedrale saßen sie keineswegs so eng nebeneinander, wie man es in den vielen Frontispizien zu den Ordensstatuten sieht.192 Ein zentraler Platz für den Chef des Ordens hätte den Altar verdeckt, also nahm er zwischen zwei leeren Sitzen als erster auf der Epistelseite, also zur Rechten des Altars, Platz. Den anderen war jeweils der Sitz unter dem Wappen zugewiesen – mit großen Lücken zum nächsten. Doch daß Blicke auf die Gebetbücher der anderen sogar Begehrlichkeiten wecken mochten, beweist schon das Schicksal des berühmtesten Manuskripts, mit dem wir in Mecheln 1491 rechnen können: Das war das winzige, heute in zwei Bändchen aufgeteilte Stundenbuch Engelberts von Nassau. Für Engelbert selbst hatte man in diesem Buch, das als das eigentliche Hauptwerk des Wiener Meisters der Maria von Burgund gelten muß, die DornblattBordüren mit Akanthus und Blüten aus der Zeit um 1470 durch neuartige Streublumen ersetzt. So war daraus das Wunderwerk geworden, als das es Otto Pächt 1948 begriffen hat. Doch solche Pracht weckte Neider: Engelberts Wappen sind heute nicht mehr sichtbar; denn Philipp der Schöne, der damals dabei war, hat es– vielleicht schon in Mecheln? – an sich gebracht.193

189 Siehe Korteweg 1996 mit den Listen von 1431–1491 auf S. 210–220, mit Angaben zur Präsenz der Ritter

bei den Ordenskapiteln bis 1491. 190 Siehe vor allem Hans-Collas und Schandel 2009, zuvor der Ausst.- Kat. Brügge 1992 von Maximiliaan Martens; Wijsman 355–369 und passim. 191 Zu diesen Persönlichkeiten und ihren Büchern siehe Wijsman 2010, so zu Engelbert II . von Nassau S. 455–466. 192 Siehe Korteweg 1996, S. 219–220. 193 Oxford, Bodleian Library, ms. Douce 219–220; 138 x 97 mm: Pächt 1948, passim; Alexander 1978; Ausst.-Kat. Los Angeles und London 2013, Nr. 18; Wijsman 2010, S. 462 f.

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Lüttich, UL , ms. Wittert 14, fol. 100v und 91v: Jean de Lannoy vor der Madonna und der heiligen Barbara

Von Lodewijk van Gruuthuse wissen wir, in welch raffiniertem Oratorium oberhalb des Altars der Onze-Lieve-Vrouwe-Kerk in Brügge er betete,194 aber nicht recht, welches Gebetbuch er dort benutzte und vielleicht nach Mecheln mitbrachte. Der älteste Ritter beim Ordenskapitel in Mecheln hätte uns, die wir nun so lange über Claude de Toulongeons Stundenbuch nachgedacht haben, aber am meisten verblüfft; denn Jean de Lannoy, dessen heute erwiesener Bücherbestz sich wie bei unserem Claude auf drei Handschriften beschränkt,195 würde ein zwar sehr viel kleineres, aber dem Toulongeon-Stundenbuch erstaunlich verwandtes Manuskript aufschlagen: Er hatte um 1460 in Mons vom Meister des Philipp von Croy196 ein mit seinen Wappen (fol. 33v) und denen seiner Frau Jeanne de Ligny (fol. 91) geschmücktes Stundenbuch bestellt.197 Es ist wie das ToulongeonStundenbuch insgesamt grau in Grau ausgemalt, sogar auf allen Textseiten mit Außenbordüren in Höhe des Textspiegels mit Grotesken. Diese Handschrift, mit 165 Blatt vom Umfang fast gleichgroß wie unser Manuskript, jedoch mit 180 x 130 mm viel bescheidener bemessen, hat bereits ein freilich ganz anders formulierte Susannen-Suffragium; es steht 194 Siehe die schönen Abb. im Ausst.-Kat. Brügge 1992, S. 35 und 38, sowie meinen Beitrag: Zur Wirklich-

keit im Fensterbild der Kreuzannagelung des Wiener Stundenbuchs der Maria von Burgund, in: Tributes in Honor of James H. Marrow: Studies in Painting and Manuscript Illumination of the Late Middle Ages and Northern Renaissance, hrsg. von Jeffrey F. Hamburger und Anne S. Korteweg, London 2006, S. 271–283. 195 Wijsman 2010, S. 410 f. 196 Zu diesem Maler, der angesichts der Tatsache, daß Pilavaines in den Quellen nur als Schreiber und enlumineur definiert wird, siehe Anke Esch, La production de livres de Jacques Pilavaine à Mons. Nouvelles perspectives, in Cardon u.a. 2002, S. 641–668, der Vorschlag zur Namensgebung auf S. 663. 197 Lüttich, UB , ms. Wittert 14: Camélia Opsomer-Halleux, Ausst.-Kat. Trésors manuscrits de l’université de Liège, Ausst.-Kat. Brüssel 1989, Nr. 43 mit Abb. des Ritterheiligen Hubert im Gebet zum Kruzifix; die gesamte Handschrift unter donum.uliege.be im Internet. Siehe auch Ausst.-Kat. Brüssel 1986 und Giulia Bologna, Merveilles et splendeurs des livres du temps jadis, Paris 1988, S. 40 f.

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am Anfang der Fürbittgebete, deren Abfolge mit den weiblichen Heiligen am Anfang auf den Kopf gestellt ist. Das Stundenbuch des Jean de Lannoy in dieser Runde von Rittern des exklusivsten Ordens darf nicht als ein Beleg mißverstanden werden, daß Grisaille, wenn sie so konsequent in Gebetbüchern angewendet wurde wie auch im Toulongeon-Stundenbuch, einfach nur weit verbreitete Mode war. Einige Narren beweisen, daß Grau nicht Trauer bedeutet. Ein künstlerischer Bezug zwischen den verantwortlichen Malern ist eher unwahrscheinlich; denn der stark lokal geprägte Stil des Meisters, der nach dem in 1457 bis 1463 in Mons residierenden Grand-Bailli des Hennegau Philipp von Croy-Chimay genannt wird, führt nicht in das von Vrelant dominierte Brügge. Eher wird man auf der Ebene der Auftraggeber nachfragen müssen, wie denn ein ganz ungewöhnliches Konzept von 1460 in Mons um 1480 in Brügge wiederbelebt wurde. Claude mag durch Jean de Lannoy auf den Gedanken gekommen sein, auch sein eigenes Stundenbuch in Grisaille gestalten zu lassen. Das würde zu den konservativen Grundzügen dieser Handschrift passen. Doch indem er sein eigenes Manuskript im größten Quart anlegen ließ, war er sicher jener, der 1491 das stolzeste und eindrucksvolle Stundenbuch aufschlug – in einer Haltung, die in der französischen Tradition stand, die den Lannoy ebenso wichtig war. Doch wenn Jean de Lannoy und Claude de Toulongeon ihre Bände nebeneinander gelegt und nachgeschaut hätten, wie sie selbst darin im frommen Gebet porträtiert sind, dann wäre nicht nur die unterschiedliche Qualität der damit beauftragten Künstler zu Tage getreten, sondern auch jenes Movens, das uns berechtigt, Kunstgeschichte als ein dynamisches Phänomen zu begreifen: Nicht einmal eine Generation trennt die Bilder der beiden Ritter, die 1491 gemeinsam in Mecheln vierzehn Persönlichkeiten in ihren Kreis aufnahmen, darunter nun bedeutende Deutsche wie Eberhard im Bart (1445–1496) und Christoph von Baden (1453–1527) sowie nun endlich auch einen Kaiser, den Habsburger Friedrich III . (1413–1493). Über ihre Gebetbücher einmal im Vergleich zu schreiben, wäre eine reizvolle Aufgabe. Doch das stolze Manuskript für Claude de Toulongeon hat uns gezeigt, wie viel uns schon dieses eine zwar nicht über die ganze Zeit, aber dafür umso mehr über einzelne bedeutende Gestalten, den Ritter vom Goldenen Vlies Claude de Toulongeon, die drei so divergenten Maler und schließlich den Schreiber Hanskin de Bomalia, berichten kann.198

198 Anregungen und Korrekturen kamen u. a. von Tony Deimling und Dieter Röschel.

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Das Stundenbuch des Claude de Toulongeon  Einband und alle Bildseiten in Originalgröße


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Das Stundenbuch des Claude de Toulongeon Ein prachtvolles burgundisches Folio- Manuskript in Halbgrisaille in schönster Erhaltung – reich illustriert und mit schwarz-blauem und goldenem Textdekor


Stundenbuch. Horae B.M.V. für den Gebrauch von Rom. Lateinische Handschrift mit Kalender und einigen Gebeten in französischer Sprache, Rubriken in Rot, in schwarzer und blaßroter burgundischer Bastarda auf Pergament. Brügge, nicht vor 1479, wohl um 1481: geschrieben vom Brügger Dominikaner Hanskin de Bomalia, der Schriftdekor und einige große Kopfminiaturen von einem eigenständigen Brügger Zeitgenossen Willem Vrelants, der Kalender von einem bei Vrelant ausgebildeten Buchmaler, die Hauptminiaturen und zahlreiche Eingriffe in die Gesichter der Bilder des zweiten Malers vom Meister des Claude de Toulongeon in enger Auseinandersetzung mit dem Meister Edwards IV. von England, wie an der Portrait-Miniatur am besten zu ersehen. 54 Bilder: eine textlose ganzseitige Miniatur und neunzehn große Kopfbilder über sechs Zeilen Text mit sechs- oder fünfzeiligen Dornblatt-Initialen; dazu zehn große historisierte Initialen auf acht Seiten in entsprechend gestalteten Bordürenklammern von links; vierundzwanzig Randbilder im Kalender, je zwei auf Recto-Seiten, mit dreizeiligen Initialen KL . Alle Bilder und eine vierzeilige bildlose Dornblatt-Initiale jeweils in Vollbordüren aus Akanthus und Blüten auf Dornblattrest. Goldene Zierbuchstaben auf schwarzen, mit Weiß gemusterten Feldern: zweizeilig bei Psalmenanfängen, einzeilig bei Psalmenversen, die durchweg am Zeilenanfang stehen; Zeilenfüller derselben Art. Versalien gelb laviert. 171 Blatt Pergament. Gebunden vorwiegend in Lagen zu 8 Blatt, abweichend die Kalenderlagen 1 – 2 (6), sowie die Lage 5 (8+1, eingeschaltetes Blatt mit Miniatur auf fol. 33v) sowie die das Ende von Textabschnitten bildenden Lagen 11 (4) und 21 (4) und schließlich die Endlage 23 (6). Keine Reklamanten. Kanzlei-Folio (269 x 161 mm, Textspiegel 160 x 95 mm). Zu 20, im Kalender zu 18 Zeilen mit kaum sichtbarer roter Reglierung. Komplett, vorzüglich und sehr breitrandig erhalten, frisch und leuchtend weiß im Pergament, geringe Schabspuren und Ausbrüche im Hintergrund der Miniaturen fol. 33v und 158 mit größter Schonung beseitigt. Französischer Einband nach 1989, vom Pariser Buchbinder Alain Devauchelle signiert: Blindgeprägter Kalblederband auf Holz; in sehr schlüssiger spätgotischer Anmutung auf vier sichtbare Bünde mit zwei Messingschließen, Goldschnitt. Voraus ging eine sinistre Geschichte: Revd. T. F. Dibdin zufolge, der in seinem Bibliographical Decameron 1817, Bd. I, S. clxxii das von ihm auch „abgekupferte“ Bild des Auftraggebers und dessen vermeintliches Schicksal diskutiert, gehörte das Buch Henry Broadley und war 1817 noch im alten Einband mit Signatur von „Iohannes Gvilebert“. Diesen Einband hat Broadley durch braunes Saffian (roan) ersetzen lassen; so gelangte der Band von uns an die Amsterdamer Bibliotheca Philosophica Hermetica; Joost Ritman gab die heutige historisierende Bindung in Auftrag.

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Wappen, Helmzier und Bildnis des Claude de Toulongeon (vor 1424–1502/04), nachgeborener Sohn des Antoine de Toulongeon (1385–1432), der als Maréchal de Bourgogne dem eigenen Bruder Jean II (1381–1427) nachgefolgt war und selbst zu den ersten Rittern des 1430 gegründeten Ordens vom Goldenen Vlies gehörte. Der 1453 zum Ritter geschlagene Claude, Seigneur de la Bastie, war Kammerherr unter Philipp dem Guten. Erst nach dem Tod des von ihm betreuten, noch unmündigen Philibert de Toulongeon im Jahre 1479 fiel der Familienbesitz mit dem Wappen Toulongeon und Sennecey an Claude. Nach dem Tod Karls des Kühnen am 5. Januar 1477 organisierte Claude de Toulongeon den Widerstand der burgundischen Stände gegen Ludwig XI. für Maria von Burgund (1477–1482), in deren Rat er saß (siehe P. Anselme, Histoire généalogique et chronologique de la maison royale de France, Bd. II, 1726, S. 870; neuerdings Jean Richard in De Smedt, 2. Aufl. 2000, S. 223). 1481, noch zu Marias Lebzeiten, in den Jahren, da Maximilian dem Orden des Goldenen Vlieses vorstand, wurde Claude beim Ordenskapitel in s’Hertogenbosch am 6. Mai aufgenommen; die Ordenskette erhielt er am 16. August desselben Jahres durch Gruuthuse in Brüssel. Um Claudes Treue zur Erbin Karls des Kühnen zu bestrafen, ließ der französische König Ludwig XI. im gleichen Jahr 1481 den Familiensitz im früheren Arrondissement Bourg-en-Bresse, an der Grenze der heutigen Départements Ain und Jura, zerstören. Dieser Familiensitz ist nicht mit Toulongeon-Alone südlich von Autun gleichzusetzen. Claudes wichtigstes Bildnis im Manuskript zeigt ihn auf fol. 33v im Gebet als Ritter des Goldenen Vlieses, der über der Rüstung ein mit seinen Farben geschmücktes Wams trägt und über dem ein Engel das Wappen mit Helmzier hält. Das ihm erst seit 1479 zustehende Wappen, zusammengesetzt aus Sennecey und Toulongeon (geviert: im 1. und 4. auf Rot drei waagerechte Paare aus Silber, im 2. und 3. auf Rot drei gewellte Fasces in Gold), unterscheidet sich von den zwei Toulongeon-Wappen im Haager Manuskript des Goldenen Vlieses, die bei Claudes Vater Antoine und dem Onkel Andrieu (oder André) die Viertel vertauschen: Écartelé: aux 1 et 4, de gueules, à trois fasces ondées d’or (Toulongeon); aux 2 et 3, de gueules, à trois jumelles d‘argent (Sennecey). Die Helmzier mit silbernem und rotem Blattwerk und der Büste eines silbernen Leoparden stimmt jeweils überein. Das Gesicht in dieser textlosen Miniatur entspricht auffällig den noch jüngeren Zügen auf fragmentarisch erhaltener Tafelmalerei, die Claude de Toulongeon mit Claudius, Bischof von Besançon, und seine Gemahlin Guillemette de Vergy mit Elisabeth von Marburg zeigt. Gemalt wurden sie von einem ausgezeichneten anonymen Maler entweder aus burgundischem Kernland oder der Freigrafschaft Burgund, aber sicher nicht aus den Niederlanden, zwischen der Eheschließung 1470 und vor der Aufnahme in den Orden vom Goldenen Vlies am 6. Mai 1481 (Worcester Art Museum: Ring 1949, Taf. 133–134 und Nr. 236a-b; European Paintings in the Collection of the Worcester Art Museum, 1974, S. 222–224). Nach dem Tod von Claudes Tochter Charlotte gingen Titel und Wappen an Jacques de Vienne (gest. 1566), der in französischen Diensten unter Charles IX . stand. Er hat vielleicht auch das Stundenbuch geerbt. Ein irreführender Eintrag aus dem XVII. Jahrhundert behauptet, die Handschrift sei für Claudes Onkel Andrieu oder André de Toulongeon während dessen Pilgerschaft ins Heilige Land geschaffen worden (von der er 1432 nicht zurückkehrte).

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Henry Broadley von Ferriby bei Hull 1817 als Besitzer der Handschrift durch Dibdin bezeugt. In dessen Familie bis zur Auktion von Capt. John Harrison-Broadley von Welton House, Yorkshire; als lot 206 gelangte es von dessen Auktion am 13. Februar 1922 an Quaritch. Lardanchet, Cat. 51, 1958, Nr. 4467; danach Sotheby’s London, 11. Dezember 1972 an Hammond & Traylen; danach Dawson’s of Pall Mall, Kat. 246, Nr. 10. George C. McGhee, von 1951 bis 1953 amerikanischer Botschafter in der Türkei, dann von 1963 bis 1969 in der Bundesrepublik: in dessen Auktion Christie’s 13. Dezember 1984, lot 132, an H. P. Kraus und dann in dessen Illuminations, Kat. 172, 1985, Nr. 8, von dort in unser Haus, Leuchtendes Mittelalter I, 1989, Nr. 39, von uns an J. R. Ritman, Bibliotheca Philosophica Hermetica. Sam Fogg, London, 2008. Aus deutschem Privatbesitz von uns wieder erworben.

Der Text

fol. 1: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt: Goldene Zahl, Sonntagsbuchstabe a und Festtage in Rot, Sonntagsbuchstaben b–g, „Id.“ und „Nos“ der römischen Monatseinteilung sowie einfache Heiligentage in Schwarz. Keine Zahlenangaben zu Iden, Nonen und Kalenden. Die stark dialektal bezeichneten Heiligen sind wenig spezifisch, die für Flandern charakteristischen fehlen, Dionysius (9.10.) und Nicasius (14.12.) als Fest; Hubertus (3.11.) als einfacher Tag. Keine expliziten Hinweise auf das französische Kerngebiet von Burgund. Irritierend der Umgang mit dem Namenspatron des Auftraggebers: Statt den Bekenner Claudius, Abt von Condat und Erzbischof von Besançon, der zu Lebzeiten des Auftraggebers als Namenspatron noch selten war, zu verzeichnen, wird am 6.6. der englische „cutbert“ genannt. Ein heiliger Glaude (sic!) wird am 3.12. durch eine Versalie hervorgehoben; dabei handelt es sich um einen römischen Märtyrer, der mit seiner Gemahlin Hylaria den Märtyrertod erlitt und auch als Glaudius vorkommt. Der Textblock enthält nicht nur die gewohnten Offizien nach römischem Gebrauch und wesentliche Elemente der meisten spätmittelalterlichen Stundenbücher; er setzt sich in einigen Aspekten vom Üblichen ab, indem er zwar wie in Paris mit den Perikopen beginnt, dann aber die Horen von Kreuz und Geist vor die Mariengebete stellt und das MarienOffizium mit dem dort so gut wie nie zu findenden Symbolum Athanasii eröffnet. An die sehr knapp gehaltenen Suffragien schließt sich eine dichte Folge von Christusgebeten an. fol. 13: Perikopen: Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 14v), Matthäus (fol. 16), Markus (fol. 17v). fol. 19: Horen von Heilig Kreuz (fol. 19) und Heilig Geist (fol. 24). fol. 28: Mariengebete, für einen Mann redigiert: Obsecro te (fol. 28), O intemerata (fol. 31). fol. 33: eingeschaltet, mit leerem Recto und textlosem Bild auf Verso. fol. 34: Marienoffizium für den Gebrauch von Rom, eröffnet mit dem Glaubensbekenntnis von Nicäa, das als Symbolum Athanasii bekannt ist, hier aber als „psalmus sa(n)cti athanasii“ bezeichnet wird (fol. 34): Matutin (fol. 38v, mit Psalmengruppen für verschiedene Wochentage), Laudes (fol. 50v), Prim (fol. 59), Terz (fol. 62v), Sext (fol. 66), Non (fol. 69), Vesper (72v), Komplet (fol. 78). fol. 82: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 90), mit Hervorhebung des heiligen Claudius in der Folge der Bekenner. fol. 97: Totenoffizium: Vesper (fol. 97). fol. 129v leer. – 134 –


fol. 130: Suffragien: Michael (fol. 130), Schutzengel (fol. 130), Johannes der Täufer (fol. 131), Christophorus (fol. 131), Sebastian (fol. 132), Claudius (fol. 132v), Anna (fol. 133v), Apollonia (fol. 134), Susanna (fol. 134v). fol. 134v: Sakramentsgebete, während der Messe zu lesen, einige in französischer Sprache (fol. 136v), vor allem an Christus gerichtet, mehrere mit Ablaßversprechen. fol. 157: Fünf Gebete des Kirchenvaters Gregor. fol. 158 Passion nach Johannes. fol. 166v: Messen: zum Namen Jesu (fol. 166v), zu Ostern (fol. 167v). fol. 170: Textende; fol. 170v–171v leer.

Schrift und Schriftdekor

Schrift und Schriftdekor gehören zu den herausragenden Eigenarten dieses Manuskripts: Geschrieben ist das Stundenbuch in einer großzügigen burgundischen Bastarda, wie man sie kaum für Stundenbücher, aber häufig für weltliche Handschriften verwendet hat, insbesondere solche, die von den hochgestellten Besitzern auch selbst gelesen wurden. Die Schrift läßt sich mit drei signierten Werken des Brügger Dominikaners Hanskin de Bomalia und dem ihm zugehörigen Œuvre des sogenannten „Thin Descender Scribe“ verbinden. In den ungemein eleganten Initialen wird – wie sonst nur im Stundenbuch Jean de Lannoys (Ordensritter seit 1451) aus der Zeit um 1460 (Lüttich, UL , ms. Wittert 14) – auf das gewohnte Spiel mit weinroten und blauen Flächen verzichtet: Den Fond bildet kräftiges Schwarz; darauf aufgetragene weiße Linien unterstreichen die Strenge der Form. Die Anordnung am Zeilenbeginn erfordert zahlreiche entsprechend gebildete Zeilenfüller; das Zusammenspiel der Initialen und der Zeilenfüller erzeugt vor allem in der Litanei eine ästhetisch verblüffende Wirkung. Größere Initialen gehören zum Dornblattdekor; die schwarzen Buchstaben mit ihrem weißen Filigran liegen auf Blattgold; aus ihnen sprießt Dornblatt, das blaue Blüten ausbilden kann. Doppelstäbe entspringen den Lettern; sie legen sich um die Textfelder. Ein sonderbarer Moment ergibt sich im Verhältnis zu den Kopfbildern: Diese sind mit einfachen Goldleisten innerhalb des Textspiegels gerahmt; die Doppelstäbe verlaufen aber außerhalb der Justifikation; deshalb enden sie auffällig rechts unkoordiniert neben der rechten unteren Bildecke. Ähnlich abrupt endet die Borte der Kasel des heiligen Claudius; die zeichnerische Strenge in Dekor und Bild lassen ebenso wie die spezifischen Farbtöne, einschließlich des Rosa, darauf schließen, daß der sicher durchweg von ein und derselben Hand gemalte Schriftdekor von jenem Maler stammt, der die meisten Kopfbilder angelegt hat. Die mit roten Tintenlinien umgebenen dichten Bordüren sind bereits in ihren Maßen ungewöhnlich; denn sie nutzen die in den Blatträndern vorgegebenen Räume nicht aus; das fällt besonders im Verhältnis des unteren zum äußeren Randstreifen auf; denn bei den in solchen Handschriften gewohnten Proportionen müßte die Höhe unten die Breite außen deutlich übertreffen. Der Randschmuck steht noch in der Tradition der mit Akanthus und Blütenzweigen versehenen Dornblattbordüren; doch ist kein Platz mehr für echte Dornblätter. Gemustert sind die Zwischenräume auf dem Pergament durch schwarze Punkte und sehr wenige kleine Goldtropfen. – 135 –


Akanthus ist in die vier Ecken und in die Mitte außen gesetzt. Der Farbwechsel, den man als Blau und mit Rot modelliertem Pinselgold kennt, wird in Schwarz und Pinselgold verwandelt, das viel häufiger mit Schwarz als mit Rot modelliert wird. Nur an den Enden des Akanthus kann Schwarz zuweilen durch Blau ersetzt werden. Die Blütenzweige bestehen aus dünnen Tintenlinien, die kaum Kraft haben, Blattwerk und Blüten zu verbinden. Zartes Rosa und wenig Blau wird neben Schwarz für die Blüten eingesetzt; so stehen schwarze und blaue Veilchen auf fol. 158 nebeneinander. Nicht Sparsamkeit, sondern spirituelle Strenge bestimmt die Beschränkung der Farben. Künstlerisch geht es um Erprobung von Malerei ohne Buntheit, die unser ToulongeonStundenbuch mit den Schwarzen Gebetbüchern verbindet, die für den burgundischen Hof geschaffen wurden. Der Verzicht auf Buntheit gibt dem ganzen Manuskript einen ungewohnten Ernst, sicher als Ausdruck besonderer Frömmigkeit. Die strenge Wirkung des Buchschmucks, die mit einer ebenso eindrucksvollen Beschränkung der Farben in den Miniaturen einhergeht, mag in der Familientradition der Erben des Hauses Toulongeon dazu geführt haben, daß man im XVII . Jahrhundert das Schicksal des nicht von der Jerusalemfahrt zurückgekehrten Andrieu irrtümlich mit diesem Manuskript verband. Da im Grisaille-Randschmuck des Stundenbuchs für Jean de Lannoy sogar Narren und andere lustige Figuren auftauchen, sollte man die Farbbeschränkung als Zeichen eines exquisiten Kolorits verstehen.

Die Bebilderung

Die Bebilderung geht von einer klaren Hierarchie aus: Nur eine Doppelseite aus textlosem Bild und Kopfbild über dem Incipit wird zur Hervorhebung des Marien-Offiziums eingesetzt, das in einzigartiger Weise vom Glaubensbekenntnis eröffnet wird. Die übrigen Haupttexte eröffnen mit entsprechenden Kopfbildern. In den Suffragien erhält nur der Namenspatron des Auftraggebers eine entsprechende Miniatur; sonst genügen hier wie bei den Fünf Gebeten des Kirchenvaters Gregor gegen Ende des Buches große historisierte Initialen. Im Kalender figurieren vierundzwanzig Bordürenbilder. Alle Bilder folgen einem Konzept von Halbgrisaille, das die Inkarnate in zarten Rosatönen beläßt, Haare und hölzerne Gegenstände braun wiedergibt, Tücher, Gebäude und Felder hellblau tönt, aber Fliesen und Wiesen, Laub und Himmel in Grün- und Blautönen beläßt. Die starke Farbreduktion, die von den drei beteiligten Buchmalern unterschiedlich genial beherrscht wird, sorgt dort, wo dann doch einmal Buntfarben eingesetzt werden, für verblüffende Wirkungen, so beim Teufel, der Johannes das Tintenfaß ausleert, oder auch beim Spaten, mit dem das Loch für Christi Kreuz gegraben wird.

Der Kalender

Nur die erste Monatshälfte wird illuminiert und bebildert; auf diesen Seiten begleiten rechteckige Randminiaturen mit dem Zodiak außen und dem Monatsbild unten. Da, wie eben erläutert, die Bordüren die unterschiedliche Breite der Ränder außer Acht lassen und deshalb kaum zwischen unten und außen unterscheiden, haben beide Bilderserien fast dieselben Maße. Die Darstellungen sind von einer Hand gestaltet, die sich durch harte – 136 –


zeichnerische Arbeit stark von Willem Vrelant beeinflußt zeigt; die Regeln der Grisaille werden strenger als von den anderen Beteiligten befolgt; Landschaft muß ohne Grün auskommen. Fast alle Bilder folgen den von Willem Vrelant im Arenberg-Stundenbuch des J. Paul Getty Museums (Ms. Ludwig IX ,8) verwendeten Vorlagen. Abweichungen, z. B. bei den Zwillingen, die dort als Ringer aufeinander zugehen, entsprechen in unserem Manuskript den Vorlagen wohl genauer, weil sie anders als im Arenberg-Stundenbuch stärker allgemeinen ikonographischen Schemata verpflichtet sind. Die Tierkreiszeichen sind durchweg vor kleinen Landschaftsausblicken gezeigt, die teilweise ein und derselben Komposition folgen. Sie beginnen mit dem Wassermann, der als nackter Knabe Wasser aus einer goldenen Flasche in einen Fluß gießt. Die mächtigen silbernen Fische schwimmen vor einer tiefen Landschaft geradezu auf dem Wasser, trotz relativer Naturnähe des Bildes wie gewohnt einander entgegengesetzt und am Maul wie mit einer Angelrute miteinander verbunden. Über kargen Boden vor weitem Blick in die Ferne schreitet der Widder nach links. Genauso tritt der Stier auf, sehr pummelig, mit winzigen Hörnern. Als nacktes Paar aus Mann und Frau begegnen sich die Zwillinge als Ganzfiguren und fassen sich an den Armen. Golden schwebt der Krebs über einer Wasserfläche, vor Landschaft. Goldfarben ist auch der Löwe, der seine Beine unter dem Körper versteckt, wie er an einem Hügel ruht. Die Jungfrau schreitet in grauem Kleid mit offenem Haar einen geschwungenen Weg entlang. Neben einem goldfarbenen Felsen, der wie eine Tropfsteinformation wirkt, hält ein Mädchen die Waage, auch sie auf Spaziergang. Wie der Krebs schwebt der Skorpion über einer Wasserfläche, mit viel mehr Beinpaaren ausgestattet. Als Kentaur zielt der Schütze nach rechts. Weiß, mit langen geraden Hörnern zeigt sich der Steinbock. Die Monatsbilder folgen allgemeinem Brauch: Der Januar spielt im Innenraum, der links ein geschlossenes Fenster hat und vor der kahlen Rückwand auf einen runden Tonnenstuhl, einen runden Tisch und den Kamin beschränkt ist. Dort sitzt ein Herr, nach rechts zum Kamin gedreht. Statt der Pflege des Weinbergs wird im Februar gezeigt, wie ein einzelner stattlicher Baum mit einem krummen Messer getrimmt wird. Mit dem Spaten bearbeitet ein Mann im März das freie Feld. Eine einzelne rote Blume hat ein junger Mann im April beim Frühlingsspaziergang gepflückt. Ein Falkner reitet zum Mai aus; sein winziges Pferd trabt nach links, er wendet sich zu seinem Falken, den er auf der nach hinten ausgestreckten Hand hält. Bei der Heumahd mit der Sense im Juni ist die Wiese ganz kahl. Bei der Kornmahd im Juli geht ein Bauer das blockhaft über seine Kopfhöhe aufragende goldfarbene Korn mit der Sichel an. Nur das Dreschen im August spielt in einer Scheune; dort wendet sich ein Bauer mit dem Dreschflegel nach rechts, wo die Garben wie Blumensträuße aufgestellt sind. Der Bottich, in den ein Mann für die Weinkelter im September gestiegen ist, steht in freier Landschaft. Die Aussaat im Oktober findet in einem kleinen, von Flechtzäunen umgebenen Geviert statt; das hieße also wörtlich in einem Garten, in dem der Sämann mit seiner weißen Schürze steht. Mit einem großen Stock schlägt im November der Schweinehirt Eicheln für seine hellen Schweine ab; der Mann ist fast so groß wie die

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Eichbäume. In einem Interieur, das sich besser für die Präsentation eines Heiligen geeignet hätte, soll im Dezember geschlachtet werden: vor dunkler Rückwand, links ein teures Fenster wie im Januar, rechts der Ausblick ins Freie, steht ein Mann mit einem viel zu kleinen Stier, dessen Maße an das Pferd im Mai erinnern.

Die Evangelistenporträts

fol. 13: Die Perikopen eröffnen mit den gewohnten Autorenbildern; wie in den meisten Stundenbüchern erscheint Johannes auf der Felseninsel Patmos im Freien, während die anderen in ihren Arbeitsräumen gezeigt sind. Johannes auf Patmos (fol. 13) sitzt vor einem nach links ansteigenden Felsen, der einen wundervollen Blick nach rechts über einen Fluß zunächst auf einen weiteren Felsen und dann in die Ferne gibt. Von rechts ist ein groteskes Wesen herangeschlichen, mit bizarren weiblichen Formen, die überdies auch rot geflammt scheinen. Dieser Teufel versucht, den Evangelisten am Schreiben zu hindern und wird vom Adler dabei aufmerksam beäugt; gleich müßte der Vogel einschreiten; doch die Tinte ist bereits ausgeschüttet. Die Landschaft zeigt, wie innig der Maler das Konzept der Farbreduktion verstanden hat; denn sie ist in einen graublauen Dunst getaucht. Die anderen drei Evangelisten sind von dem Maler, der mehrere weitere Kopfbilder ausgeführt und wohl auch den Schriftdekor geschaffen hat. Lukas mit dem Stier (fol. 14v) sitzt in einem vornehmen Raum, der wie ein Polygon aufgebaut ist: Der Stier, zur Linken des Evangelisten hat sich in die Tiefe gedreht und blickt hinaus in die Landschaft, die durch den bildparallel gestellten Bogen in der Mitte sichtbar wird. Fast mit den Zügen Jesu ist Lukas ausgestattet. Ungewöhnlich jung ist Matthäus mit dem Engel (fol. 16) mit einer Physiognomie, die an Johannesbilder denken läßt, was im Buch selbst durch die Kreuzigungsminiatur bestätigt wird: Der Engel nimmt die Mitte in der komplexen Architektur ein, die durch zwei ineinander gestellte Bögen nach links zur Landschaft geöffnet ist; von dort dürfte er eingetreten sein. Markus mit dem Löwen (fol. 17v) sitzt wie Lukas links; der kleine Löwe hockt in der Mitte vor einem Kamin; diesmal ist die Architektur in der Tradition der Kulissenhäuschen durch eine rechteckige Öffnung zu sehen, neben der Platz für Elemente des Außenbaus bleibt.

Die Bilder zu den Horen und zum Obsecro te

fol. 19: Auch die Horen beginnen mit den üblichen Erkennungsbildern. Bei der Kreuzigung (fol. 19) steht das Kreuz zwischen zwei spitz aufragenden Felsen; darüber verdunkelt sich das Himmelsblau, mit goldener Sonne, silbernem Mond und Sternen besetzt. Christus ist wie die Gestalten am Fuße seines Kreuzes recht klein gezeigt. Links drängen sich die Frauen, in ihrer Mitte steht Johannes, um Maria zu stützen, während rechts ein würdiger Orientale mit Turban die Soldaten in ihren schweren Rüstungen zurückdrängt. Mit ihm wird der Centurio gemeint sein; gekleidet ist er jedoch wie ein Priester. Ganz offensichtlich entstand diese Miniatur in Zusammenarbeit zweier Maler: Großzügiger und flüssiger gestaltet ist Christus am Kreuz, kleinteilig hingegen die Schar unten. – 138 –


Beim Pfingstwunder (fol. 24) wirkt der Kirchenraum eigenartig umgestülpt; denn das Zentrum, ein von roten Säulen gerahmter Bogen mit ebenso rotem Gewölbe darüber rückt nach vorn vor; links schaut man in eine Art Kapelle, rechts in eine Loggia, die sich rasant in die Tiefe verkürzt. Dennoch wird ein Gleichgewicht gewahrt; denn die Mitte nimmt unter der Erscheinung der Taube des Heiligen Geistes die kniende Maria als jugendliche Jungfrau ein. Aus der Kapelle links drängen Johannes und Petrus, die mit fünf anderen Aposteln schon in die Knie gesunken sind; während von rechts weitere Jünger herangekommen sind; unter ihnen wird man im bartlosen jungen Mann mit kräftig blauem Gewand wohl den heiligen Stephanus erkennen dürfen. Das Mariengebet Obsecro te eröffnet mit einem Bild der Beweinung unter dem Kreuz (fol. 28): Die Landschaft variiert Grundzüge des Kreuzigungsbildes mit den zu beiden Seiten aufragenden Felsen. Maria sitzt am Kreuzstamm mit dem fast auf Kindesgröße reduzierten toten Sohn; sie wird von Johannes links und Magdalena, aus einer gewissen respektvollen Distanz flankiert.

Die Bildfolge zum Marien-Offizium

fol. 33v/34: Wie im Text ist dem Bildzyklus zum Marien-Offizium besonders aufwendig die Bebilderung des Glaubensbekenntnisses vorgeschaltet: Die einzige textlose Miniatur zeigt Claude de Toulongeon im Gebet; ihr steht die Not Gottes zum Ziel der Andacht als Bildformel gegenüber; der Einblick in den Himmel ist wie in einer stilverwandten Darstellung der Marienkrönung in Baltimore (Walters 443 f) nicht auf uns als Betrachter, sondern durch Drehung nach links auf den Beter bezogen. In einer Komposition, die an bedeutende weltliche Miniaturen denken läßt, wie sie schon von Lievin van Lathem für Philipp den Guten geschaffen wurden, blickt man von einem Palastraum aus in den fürstlichen Hof. Das Interieur wird von einer Kaminwand abgeschlossen; davor steht eine Bank, deren Rücklehne von weißem Tuch mit zwei Kissen bedeckt ist. Ähnlich arrangiert sind die Bänke, auf denen im Stilkreis des Meisters von Flémalle die Jungfrau Maria bei der Verkündigung vor ihrem Kamin sitzt (Brüssel und New York). In die Mitte des Raums gerückt ist ein mit goldenem Tuch bedecktes Betpult; ein edler Windhund schaut von rechts vorn zu seinem Herrn auf, der betend die Mitte des Bildes einnimmt. Als einzige Miniatur in diesem Stundenbuch ist dieses Bild von einem Binnenrahmen mit schlichtem Maßwerk umgeben; im Kielbogen oben schwebt ein Engel und hält Claude de Toulongeons leuchtend buntes Wappen, wie es ihm seit 1479 zustand, mit der in Rot und Gold aufscheinenden Helmzier, die von einem Raubtierkopf, wohl einem silbernen Leoparden, bekrönt ist. Durch die breite Toröffnung links schaut man hinaus über Kiesel und Steine, die malerisch im Weg liegen, über einen Pfau, der sein Rad schlägt, hinweg zu einem Pfauenweibchen(?) und zu schlichteren Backsteinbauten, deren Front in die Tiefe des Bildraums führt. Die Perspektive und die Bewegung im Bild schaffen den Eindruck, der Beter sei gerade in voller Rüstung, an seinen Wappenfarben auf dem Wams erkennbar, von dort hereingekommen, habe seinen Helm abgelegt und sich dann vor seinem aufgeschlagenen Gebetbuch niedergekniet. Dieses Buch ist mit seinen auffälligen roten – 139 –


Initialen, wie sie in unserem Buch nirgendwo vorkommen, zum Betrachter der Miniatur gedreht, als solle jeder zum Beten eingeladen werden. Der Beter wurde offenbar von Darstellungen Karls des Kühnen angeregt; eng verbunden ist er mit Gérard Loyets goldener Statuette im Schatz der Kathedrale von Lüttich aus dem Jahr 1471 und den wohl 1468 entstandenen Darstellungen des Herzogs im Gebetbuch des J. Paul Getty Museums (ms. 37). Im Vergleich mit den wenigen verwandten „Stifterbildern“ in Gebetbüchern fällt die atmosphärische Freiheit und die höfische Eleganz des Bildes auf, die wohl Anregungen von Lievin van Lathem verdankt sind. Ziel der Andacht ist die Not Gottes im Kopfbild über dem Textanfang gegenüber und damit ein Motiv, das gerade in den beiden französischen Ländern Burgunds, dem Herzogtum und der Freigrafschaft am Ende des Mittelalters in vielen Bildwerken veranschaulicht wurde. Diese Miniatur ist kleiner, aber nicht durch einen Binnenrahmen eingeschränkt; ihr Bildgegenstand ist eigentümlich zum Beter hin gedreht. Damit wird klar, daß Claude de Toulongeon die Gottheit so sehen soll; aber der Buchmaler gibt sich keine Mühe, die Erscheinung im Raum wahrscheinlich zu machen. Das Gottesbild ist kein Gemälde an der Wand des Zimmers, sondern wie das Gebetbuch auf dem Pult stärker zum Betrachter vor der Doppelseite als zum Beter im „Diptychon“ bezogen. Über einer blauen Wolkenbank öffnet sich der Blick zur Erscheinung des dreieinigen Gottes, die von einem Bogen aus blauen Cherubim und einem zweiten aus roten Seraphim gerahmt wird, jedoch so zum Beter gedreht, daß von den Seraphim nur die Seite zur Rechten Gottes, im Bild also an der linken Kante, gezeigt werden kann. Der greise Gottvater braucht hier keinen Thron; er steht aufrecht auf einer goldenen Platte vor Goldgrund und hält den Schmerzensmann in seinen Mantel geborgen, von zwei jugendlichen Engeln zu seiner Rechten angebetet. Unter der Erscheinung der vor dem Goldgrund nach links fliegenden Taube des Heiligen Geists ist das Haupt des Erlösers, dessen Füße auf der Kugel mit dem Erdkreis ruhen, für den Betrachter nach links, also zu Claude de Toulongeon gedreht, während der Vater mit einem Ausdruck unerhörten Schmerzes nach rechts ins Weite schaut. Diese für Buchmalerei höchst ungewohnte Ausrichtung findet man zuweilen in der Skulptur; Michael Baxandall hat in diesem Zusammenhang vom „arc of adress“ gesprochen und damit die Weite gemeint, in der solche Gotteserscheinungen die Gemeinde ansprechen können. Die in den südlichen Niederlanden für die Marienstunden gewohnten Szenen aus der Kindheitsgeschichte, also mit Kindermord, aber ohne die Marienkrönung, sind dieser Doppelseite untergeordnet: Die Marienverkündigung zur Matutin steht bezeichnenderweise auf Verso: So wird auf fol. 38v ein Interieur wiederholt, wie man es schon bei den Evangelisten gesehen hatte: Der Engel ist von links eingetreten, ins Knie gesunken und spricht zur Jungfrau, die unter einem Baldachin vor ihrem Betpult kniet. Im Bogen, durch den Gabriel gekommen ist, zeigt sich die Halbfigur Gottvaters; von ihr ist ein goldener Strahl mit der winzigen Taube auf Maria gerichtet. Farbenfroh und mit Möbeln zugestellt, jedoch in den Grundzügen eng verwandt ist die entsprechende Miniatur in unserem etwas älteren Van Hooff-Stundenbuch (Leuchtendes Mittelalter III , 8) aus Vrelants Umfeld.

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Bildlos bleiben die Laudes (fol. 50v). Zur Prim (fol. 56v) wird im Weihnachtsbild das gleichsam in der Mitte schwebende nackte Kind flankiert von Maria, die unter einem Baldachin kniet, und dem greisen Joseph, der aus der Landschaft kommt. Zwei Engel schweben dahinter mit der Frohen Botschaft auf einem Notenblatt; winzig zeigt sich in einer goldenen Gloriole oben Gottvater mit zwei Engeln. Diese Art von Erscheinung erstaunt in einem Manuskript aus der Zeit kurz nach 1480 ungemein; denn so hat man um 1420 oder 1430 derartige Szenen in der Pariser Buchmalerei bekrönt. Der Stall erweist sich als sonderbare Reminiszenz an den Davids-Palast mit einer Säule vorn und zwei kleineren Säulchen im Ausblick nach hinten, streng bildparallel und ohne Spuren von Verfall. Von Ochs und Esel ist nichts zu sehen, wohl aber von der Stadt Bethlehem im Mittelgrund. Wieder verbinden sich Grundzüge mit unserem Van Hooff-Stundenbuch (Leuchtendes Mittelalter III , 8) aus Vrelants Umfeld. Recht klein ist der Engel, der bei der Hirtenverkündigung zur Terz (fol. 62v) drei Hirten die Frohe Botschaft mitteilt. Detailreich ist die Landschaft mit einer trutzigen Befestigung rechts hinten und wunderbaren Felsen. Bei der Königsanbetung zur Sext (fol. 66) rückt der Stall aus dem Bild zur Prim von rechts seitenverkehrt ins Bild – nun mit dem golden glänzenden Stern im Himmel; wie bei Geburt und Hirten wird die Ansicht einer Stadt hinten variiert. Die Könige kommen von links, mit respektvollem Abstand zueinander gereiht. Sie haben goldene Gefäße als Geschenke mitgebracht. Vor Maria, die nun einen weißen Schleier trägt, kniet der älteste König, den Kronhut neben sich abgelegt. Joseph sitzt im Hintergrund im Stall; wie im Weihnachtsbild zur Prim ist für Ochs und Esel kein Platz; wieder türmen sich Felsen links. Fast im gleichen Raum wie die Verkündigung spielt die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 69), als sei daraus zu schließen, daß auch die Verkündigung im Tempel spielt: Um einen runden Altar stehen Maria mit dem Kind links, Joseph mit der Kerze im Zentrum sowie der Priester Simeon rechts; vielleicht ist mit der Frau zwischen der Jungfrau und dem Ziehvater die Prophetin Hanna gemeint; hinter den namentlich benennbaren Gestalten drängen sich Männer in bunterer Kleidung mit spitzen Hüten. Der Kindermord zur Vesper, wie in den Niederlanden gewohnt (fol. 72v), spielt in einem Palastraum: Herodes thront links; vor dem zur Landschaft hin offenen Bogen steht ein Soldat in voller Rüstung, der eines der Unschuldigen Kindlein am Arm hält. Die erschütternde Klage der Mutter rechts wird diesen Knaben nicht retten – anders als bei Bildern der Weisheit Salomos, die hier möglicherweise Pate standen. Bei der Flucht nach Ägypten zur Komplet (fol. 78) schreitet Joseph im verlorenen Profil voran, gefolgt vom streng bildparallel gezeigten Esel, dessen Kopf er verdeckt. Maria mit dem nackten Knaben thront geradezu auf dessen Rücken. Die Heilige Familie ist offenbar durch einen Bogen im Mittelgrund geschritten, vorbei an einer Säule mit goldenem Idol, die eine wie ein Friedhof ummauerte Wiese dominiert. Die Statue wird zweimal gezeigt, also solle ein filmischer oder besser stroboskopischer Effekt aufgenommen werden, den es in sehr viel früherer Buchmalerei wie der spätantiken Wiener Genesis gibt. Erneut beeindruckt die Stadtarchitektur in der Ferne.

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Bilder zu Bußpsalmen und Toten-Vesper

fol. 82: Auch Davids Buße zu den Bußpsalmen spielt in detailreicher Landschaft. Der recht jugendliche König mit seinem auffällig spitzen Bart kniet vor einem bildparallel verlaufenden Fluß, weit von menschlichen Behausungen entfernt, aber wieder mit eindrucksvoller Stadtvedute im Hintergrund. Er wendet sich zu Gottvater, der starr en-face eher zu den Betrachtern der Miniatur als zu dem reuigen Sünder gewendet ist. Diese Miniatur ist wohl das beste Beispiel für den Maler, der mehrere Kopfbilder mit ihrem detaillierten Interesse für klare Landschaft geschaffen hat; typisch sind auch sprechende Details der Krone und der Harfe sowie im Ornat des Königs. fol. 97v: Mit Ausnahme der textlosen Miniatur des Beters überzeugte in diesem Manuskript die Perspektive; am wenigsten trifft das zu beim Totendienst in einer Kirche: Im unübersichtlichen Geschiebe von Kapelle links, Altarraum weiter rechts und dem Hauptraum in der Mitte steht rasant verkürzt, aber keineswegs schlüssig eingebunden der Katafalk mit einer sehr großen Gruppe von Priestern beim Chorgesang an einem Pult links und den überraschend geschrumpften Pleurants rechts, während am Altar hinten die Totenmesse gefeiert wird. Diese Genreszene aus dem Totenkult erstaunt durchaus in der Entstehungszeit unseres Manuskripts; um 1400 war sie Standard, um 1500 findet man sie kaum noch. Immerhin hat der Hauptmaler nicht nur die Köpfe der Priester, sondern auch die der Pleurants überfaßt.

Bilder zu Suffragien und Gebeten

fol. 130: Zu den Gebetstexten am Schluß des Manuskripts sind nur noch zwei Kopfbilder vorgesehen; die übrigen Darstellungen mußten sich mit dem beschränkten Raum von – immerhin recht großen – Bildinitialen begnügen. Sie verraten mit Ausnahme des Kopfbildes mit dem Namensheiligen Claudius durchweg den sensibleren Stil des Hauptmalers, der u. a. Johannes auf Patmos und die Doppelseite aus Beter und Not Gottes verantwortete. Genial wirkt der Drachenkampf des Erzengels Michael (fol. 130), der von links kommend mit seinem Schwert ausholt, während der ganz in Menschengestalt gezeigte Teufel offenbar um Gnade bittet. Auf derselben Buchseite folgt Claude de Toulongeon mit seinem Schutzengel: Da kniet der Auftraggeber ganz bescheiden, fast im Büßerhemd; doch unterläßt er nicht, durch die Ordenskette auf seinen Rang als Ritter vom Goldenen Vlies hinzuweisen. Bezaubernd sind die Landschaften, in denen auf fol. 131 oben Johannes der Täufer als Einsiedler mit dem Lamm zwischen Felsen hockt und Christophorus mit dem Christusknaben durch den Fluß schreitet, vom Einsiedler in der Felswand rechts mit einer Laterne geleitet. In der nur fünf Zeilen hohen Initiale zum Suffragium ist nur für einen Bogenschützen und den fast nackt an den Baum gebundenen Sebastian (fol. 132) Platz. Als Bischof von Besançon hat der heilige Claudius (fol. 132v) im späten XV. Jahrhundert einen lebendigen Kult entfacht; hier wird ihm als dem Namenspatron des Bestellers als einzigem Heiligen ein großes Bild gewidmet. So steht er ohne spezifische Attribute, – 142 –


jedoch vielleicht sehr absichtsvoll in exakt derselben Architektur, die beim Pfingstwunder, das ja die Begründung der christlichen Kirche bedeutet, Maria und die Apostel aufgenommen hat. Ungemein reizend ist das Bild zum Annen-Suffragium mit der Erziehung der Jungfrau Maria (fol. 133v) durch ihre herrscherlich thronende Mutter. Die heilige Apollonia (fol. 134), der die Zähne ausgebrochen wurden, steht mit ihrem bekannten Attribut, der großen Zange mit einem Zahn darinnen, in einem vornehmen Raum vor einem Ehrentuch. Erst im späten XV. Jahrhundert wird aus Susanna (fol. 134v), die eigentlich keine Heilige, sondern nur eine Figur aus den Legenden um den Propheten Daniel ist, eine vor allem von vornehmen Damen verehrte Gestalt; so erscheint sie im Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund, deren Ratsherr Claude de Toulongeon war; doch im ebenfalls ganz in Grisaille gehaltenen Stundenbuch des Jean de Lannoy eröffnet ein abweichender Text für Susanna die Suffragien. Viel von der Geschichte dringt nicht in unsere Bildinitiale; denn hier nimmt Susanna kein Bad, sondern kniet betend vor einem aufgeschlagenen Buch im Garten, während die beiden Alten, die sie erpressen wollen, über die Gartenmauer schauen. Das erste der Herrengebete zur Messe O sacrum convivium eröffnet mit dem Empfang der Hostie durch Claude de Toulongeon (fol. 135), der hier nur eine Pelzschaube und nicht den Orden des Goldenen Vlieses trägt. Auf sonderbare Weise von oben gesehen wird die Gregorsmesse (fol. 157): Da kniet der Papst vor dem Altar, auf dem ihm der Schmerzensmann in der Hostie umgeben von den Arma Christi erscheint. Ein Geistlicher hält die Schleppe des Chormantels, zwei Akolythen werden Zeuge des Wunders. fol. 158: Noch einmal zur eindrucksvollen Höhe und Majestät der großen Bilder am Anfang mit Johannes und dem Beter vor der Not Gottes kehrt man bei der Eröffnung der Johannespassion mit einem Bild von Jesus auf der Rast wieder zurück: Vor der Kulisse eines Felsens links und stolzen Turmbauten, die hier für Jerusalem stehen sollen, ist die Schädelstätte Golgatha nur eine karge Wiese. Hier liegt das Kreuz; darauf sitzt verlassen, aus den Wunden der Dornenkrone blutend der Schmerzensmann, noch mit gebundenen Händen. Vor ihm ist rechts mit einem Spaten ein Loch für den Kreuzstamm ausgehoben; dort steht ein vornehmer Bärtiger, aller Wahrscheinlichkeit nach Pilatus mit einem langen Befehlsstab; dann würde hier in einer für unseren Hauptmaler charakteristischen Weise das Gespräch mit dem Statthalter wiederholt, wer denn nun König der Juden sei – der Schmerzensmann auf seinem Kreuz als Thron. Zwei Schergen sind dabei, die Löcher für die Nägel vorzubereiten, durch Bohren links und Hämmern rechts. Figur und Landschaft sind hier so sensibel miteinander verbunden, daß man die Soldaten hinten links vor dem Felsmassiv fast übersehen könnte. Gerade im Vergleich mit der wichtigsten Vorlage für diese Miniatur wird die künstlerische und geistige Größe des Malers deutlich: Wie Robinet Testard im Stundenbuch für Charles d’Angoulême orientierte sich unser Maler eventuell am Blatt mit der Kreuzigung aus der Passionsfolge des Klever Kupferstechers Israhel van Meckenem, die um 1480 geradezu druckfrisch in Europa verbreitet worden ist, daraus nur die Vordergrundszene entlehnend. – 143 –


Zum Stil

Von der Intention her verfolgen alle an der Ausstattung des Manuskripts Beteiligten ein und dasselbe Ziel: Sie wollen ein einheitlich ernstes Gebetbuch schaffen, aus dem die Buntfarben ausgeschlossen sind; und das gelingt in Initialdekor und Randschmuck auf verblüffende Weise. In den Bildern aber setzt sich das unterschiedliche Temperament der Beteiligten dann doch auf jeweils eigene Weise durch. Zu unterscheiden sind drei Hände: Den Kalender schuf ein Maler aus dem Umfeld von Willem Vrelant, einem der führenden Brügger Meister, der exakt in jenen Jahren 1481/82 starb, als dieses Stundenbuch angelegt wurde. Vrelant selbst hat nicht nur fröhliche Buntheit, sondern mit gleicher Sorgfalt auch Farbreduktion, teilweise alternierend in ein und demselben Manuskript ausprobiert. Seinen auch im Arenberg-Stundenbuch benutzten Vorlagen ebenso wie seinem Figurenstil und der klaren zeichnerischen Konzeption folgen die Kalenderbilder; sie sind aber weit entfernt, auch nur aus seiner Werkstatt zu kommen. Sie nehmen die Farbreduktion so ernst, daß auf Grün in der Landschaft verzichtet wird. Ähnlich verhält sich ein Maler, der größeren Anteil am Buch hatte und – wie der Vergleich mit dem Van Hooff-Stundenbuch zeigt – auch Vorlagen aus Vrelants Umfeld kannte. Ihm werden nicht nur viele Miniaturen in ihrer Grundgestalt verdankt, sondern auch der gesamte Schriftdekor mit den Bordüren: Als zweiter Mann in diesem Auftrag durfte er das Davidbild zu den Bußpsalmen ganz eigenständig ausmalen. In den Landschaften mochte er nicht auf klar definierte Farbzonen verzichten. Für die Architekturen gilt dasselbe, weil hier immer wieder leuchtendes Rot und kräftiges Blau in schmalen, aber für die Bilder prägenden Motiven zu finden sind. In den Interieurs leben Elemente aus Vrelants Kreis fort, vor allem die ungemein unstete Perspektive und das plötzliche Auftauchen von Schwellen am unteren Bildrand, die dreieckige Zacken einbringen. Diese sonderbaren Schwellen artikulieren ein Problem bei der Bildgestaltung, das letztlich aus der älteren Tradition stammt, in der man die Einblicke in Innenräume wie aus Kulissenhäuschen gestaltete. Der künstlerisch führende Kopf war hingegen der Maler, dem vor allem das Bild von Johannes auf Patmos, die Doppelseite mit Claude de Toulongeon vor der Not Gottes, der Christus auf der Rast am Ende des Buches sowie alle Bildinitialen zu den Suffragien verdankt werden. Durch die ihm zugewiesenen Plätze im Buch erweist er sich als die führende Hand. Bei näherem Zusehen erkennt man dann auch schnell, daß er zuweilen in die Miniaturen seines Kollegen eingegriffen hat: Die beiden Hände treten am klarsten nebeneinander im Kreuzigungsbild auf: Zart und flüssig wirkt die Darstellung des Erlösers, detailreich wie die Landschaft die Figurengruppen unten. Den Hauptmaler würden wir also am liebsten, wie im Londoner Auktionskatalog von 2003, S. 150, als Toulongeon-Meister bezeichnen. Visionen des Heiligen hat er genial begriffen, wie auch Werke für den gleichzeitig mit Claude de Toulongeon in den Orden aufgenommenen Baudouin II de Lannoy, darunter die Wiener Imitatio Christi, beweisen. Dieser Meister hat begriffen, daß sich die Farbreduktion nicht auf die Figuren beschränken darf. Er erlaubt sich nicht, zur Klärung des Raumgefüges in der Landschaft die Farbspanne zu erweitern und zwischen einzelnen Farbflächen in der Tiefe zu unterscheiden. – 144 –


So entwickelt er eine dunstige Atmosphäre, aus der dann kuriose Details wie der Satanskörper auf Patmos oder der Spaten auf Golgatha umso schlüssiger auftauchen können. Zugleich reagiert der Hauptmeister unseres Stundenbuchs auf die aktuellen Tendenzen seiner Zeit: Anders als seine Zeitgenossen in Cognac und Paris verwandelt er Israhel van Meckenems Kupferstich mit Christus in der Rast in eine spirituelle Reflexion über den Erlöser im Elend. Damit stellt sich die Frage, ob sein Auftraggeber nicht doch, ähnlich wie der gleichzeitig in den Orden aufgenommene Baudouin II de Lannoy, den geistlichen Tendenzen seiner Epoche gegenüber aufgeschlossener war, als wir uns das bei einem burgundischen Militär und Hofmann vorstellen möchten. Um 1481 wird Claude de Toulongeon die an diesem Manuskript Beteiligten in Brügge für sein Stundenbuch gewonnen haben. In seiner Gesamtgestalt ist dieses eminent großformatige, breitrandige und makellos erhaltene Stundenbuch eine ästhetische Sensation; denn konsequent wird hier mit Farbreduktion schon bei den Initialen und Bordüren gearbeitet. Ein großer Meister seiner Kunst, den wir nach diesem Stundenbuch nennen, hat die Hauptbilder im Buchblock und die Bild-Initialen zu den Suffragien gemalt. Neben ihm haben zwei Maler unterschiedlichen Genies, auf jeweils individuelle Weise das in der südniederländischen Buchmalerei extrem facettenreiche Konzept von Halbgrisaille auf die Bilder übertragen. Voraus ging das etwa eine Generation ältere Stundenbuch des Ordensritters Jean de Lannoy, ms. Wittert 14 in der Lütticher UB , das in Schriftdekor und Miniaturen ähnlich auf Grisaille eingestellt ist. Im Vergleich mit dieser Handschrift wird deutlich, welchen Rang unser stolzes Manuskript hat. Nur Claude de Toulongeon kommt als Auftraggeber in Frage. Als nachgeborener Sohn jenes Antoine de Toulongeon, der zu den ersten Rittern des Goldenen Vlieses gehörte, verfügte er erst ab 1479 über die Familienwappen, nachdem er schon Kammerherr Philipps des Guten gewesen war. Nun schlug er sich als Mitglied im Rat der Maria von Burgund in der Auseinandersetzung mit König Ludwig XI . ganz auf deren Seite und wurde 1481 selbst in den Orden aufgenommen. Dieser bedeutende Herr, dessen burgundische Güter an der Grenze zur Freigrafschaft Burgund lagen, ließ sein Stundenbuch zu einer Zeit schreiben und ausmalen, in der bereits ein neuer Stil aufblühte, den Otto Pächt um Maria von Burgund geordnet hat. Hatte man früher die Zäsur erst in der Regierungszeit der Maria von Burgund angesetzt, in der auch unser Manuskripts um 1480 entstanden ist, so hat sich unser Blick inzwischen gewandelt; denn Hauptwerke, die mit Maria verbunden werden, stammen offenbar aus den Jahren um die Eheschließung Karls des Kühnen mit Margarete von York 1468. Von dieser um 1480 bereits ein Jahrzehnt lebendigen neuen Buchmalerei setzt sich unser Manuskript ab. Es ist in bemerkenswerter Weise älteren Traditionen verpflichtet, textlich noch stark französisch geprägt und von ungewohnt großem Format (größer als z. B. das Bedford-Stundenbuch). In seiner farblichen Strenge und der künstlerischen Konsequenz eindrucksvoll, gehört das Stundenbuch für Claude de Toulongeon zu den Höhepunkten der burgundischen Buchmalerei! – 145 –


Dibdin, The Bibliographical Decameron


London, 1817


Allgemeine Bibliographie

Ausstellungskataloge Baltimore 1988: Time Sanctified, von Roger S. Wieck; in Europa erschienen als: The Book of Hours in Medieval Art and Life, London 1988. Berlin 2017: Jean Fouquet. Das Diptychon von Melun, hrsg. v. Stefan Kemperdick, Berlin, Petersberg 2017. Brügge 1962: La Toison d’Or. Cinq siècles d’art et d’histoire. Brügge 1981: Vlaamse kunst op perkament. Handschriften en miniaturen te Brugge van de 12de tot de 16de eeuw. Brügge 1992: Lodewijk van Gruuthuse. Mecenas en europees diplomat ca. 1427 – 1492, hrsg. von Maximiliaan Martens. Brüssel 1959: Le siècle d’or de la Miniature flamande. Le mécénat de Philippe le Bon, von L. M.J. Delaissé; auch veröffentlicht unter De Gouden Eeuw der Vlaamse Miniatuur. Het Mecenaat van Filips de Goede 1445 – 1475, Amsterdam 1959. Brüssel 1996: Miniatures en Grisaille, von Pierre Cockshaw. Brüssel 1987: Trésors de la Toison d’Or. Brüssel 1997: „Item a Guillaume Wyelant aussi enlumineur“ Willem Vrelant. Un aspect de l’enluminure dans les Pays-Bas méridionaux sous le mécénat des ducs de Bourgogne Philippe le Bon et Charles le Téméraire, von Bernard Bousmanne. Den Haag 1980: Schatten van de Koninklijke Bibliotheek, Acht eeuwen verluchte handschriften. Köln 1987: Andachtsbücher des Mittelalters aus Privatbesitz, von Joachim M. Plotzek. Köln 1992: Biblioteca Apostolica Vaticana, Liturgie und Andacht im Mittelalter, hrsg. v. Joachim M. Plotzek. Köln 2001: Ars vivendi, Ars moriendi, Die Handschriftensammlung Renate König, hrsg. v. Joachim M. Plotzek (u. a.), München 2001. London, Malibu u. New York 1983: Renaissance Painting in Manuscripts. Treasures from the British Library, hrsg. v. Thomas Kren. Los Angeles u. London 2003: Illuminating the Renaissance, The Triumph of Flemish Manuscript Painting in Europe, hrsg. v. Thomas Kren u. Scot McKendrick. London 2011: Royal Manuscripts. The Genius of Illumination, von Scot McKendrick, John Lowden und Kathleen Doyle, London 2011. Paris 1993: Les manuscrits à peinture en France 1440–1520, von François Avril u. Nicole Reynaud. Paris 2003: Jean Fouquet. Peintre et enlumineur du XVe siècle, hrsg. v. François Avril. Utrecht 2018: Zuid-Nederlandse Miniatuurkunst. De mooiste verluchte handschriften in Nederlands bezit, hrsg. von Anne Margreet As-Vijvers und Anne S. Korteweg, Utrecht, Zwolle 2018. Washington und Antwerpen 2006–2007: Prayers and Portraits. Unfolding the Netherlandish Diptych, hrsg. von John Oliver Hand, Catherine A. Metzger und Ron Spronk, New Haven und London. Wien 1978: Flämische Buchmalerei. Handschriften aus dem Burgunderreich, von Dagmar Thoss.

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Kataloge des Antiquariats Heribert Tenschert HORAE B. M. V. 9 Bände: Katalog 50 und 75. Beschreibt 375 gedruckte Stundenbücher aus Paris von 1487–

1586. Bibermühle, 2003–2015. Leuchtendes Mittelalter I: 89 libri manu scripti 89 illuminati vom 10. bis zum 16. Jahrhundert, Rotthalmünster 1989. Leuchtendes Mittelalter III: Das goldene Zeitalter der burgundischen Buchmalerei. 1430–1560, Rotthalmünster und Bibermühle 1991.

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Claude de Toulongeon LXXXVIII Heribert Tenschert 2021


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