ALEXANDER RUTHNER
: SOMMER
ALEXANDER RUTHNER
: SOMMER
H A V E R K A M P F
G a l e r i e
Cour: Sommer Abriss eines Ausstellungstexts Beginnen möchte ich zunächst mit dem Ende Gustave Courbets, dessen Unersättlichkeit im Alkoholmissbrauch in der letzten Phase seines Lebens zur Wassersucht führte, die den Körper des Malers ungeheuer anschwellen ließ. Die furchterregende neue Methode der Punktur erbrachte zwanzig Liter Flüssigkeit und zeigte damit geringfügig bessere Wirkung als das zuvor angewandte Verfahren, Dampfbäder plus Einläufe – qualvolle „achtzehn Liter in den Anus“. Es erscheint grausam angemessen, dass sich Courbets Tod durch Unmäßigkeit und Schrecken auszeichnete, genau wie sein Leben und seine Kunst. Der durch Lockdowns, Pandemie und Einschränkungen geprägte Jahresverlauf 2020 hob den Bezug meiner Arbeiten zum Realismus Courbets hervor.
6
Das blitzschnelle Umschalten von Gesellschaften auf der ganzen Welt auf den Lockdown, ohne darauf vorbereitet gewesen zu sein, und die Abschottung der Menschen in weiten Teilen der Welt kann nur an den Ignorantesten spurlos vorübergegangen sein und hat nur die wenigsten nicht verändert. Cour: Sommer Der Titel Cour: Sommer bildet sich aus der ersten Silbe des Namens Courbet – Cour, das französische Wort für Hof –, und Sommer,
7
da die auf vier Jahreszeiten verteilte Ausstellungserie das schwer zu fassende zeitliche Ausmaß der Krise reflektiert und den ersten Akt der Ausstellungsserie Cour darstellt, dessen zweite Folge Cour: Herbst bereits im Herbst 2021 in Wien stattfinden wird. Cour als Synonym für das Gedankenschloss, in dem sich jeder Mensch befindet und einrichtet, sich einrichten muss, da die pandemischen Bedingungen von Statik und vernunftbegründeten Prinzipien beherrscht werden, ein gewisses Augenmerk sich aber auch auf die Ökonomie, die Globalisierung richtet. Ungewollt naiv, aber optimistisch gesagt will jeder Mensch im Grunde das Gleiche: Gesundheit, Freiheit, Sicherheit etc. Ganz stimmt das natürlich nicht, aber vielleicht befanden und befinden wir uns doch in einem System, das mehr gemeinsame Interessen verfolgt, als viele Menschen dachten (oder wollten).
8
Dieses Wandeln auf der Erde, Walking the Earth, findet einen weiteren Bezug in Akira Kurosawas Film Yume (dt. Träume) aus dem Jahr 1990, einem Episodenfilm, der über visuelle Eindrücke kommuniziert. Mit Cour ist aber auch die innere Welt gemeint, der Vorgang des Cocoonings in psychisch-physischer Form. Grün Besonders möchte ich auch die beruhigende Wirkung der Farbe Grün in den Mittelpunkt stellen. Die meditative Suche nach erhabenen Vorschlägen und die klassische Denkweise der Trennung von Unterbewusstsein und äußerem Erscheinungsbild verschwimmen bei Malerei stark, erfahren aber eine neue Dimension, wenn man vor unabänderliche örtliche Gegebenheiten gestellt ist.
9
In einer mobilitätsreduzierten Umwelt kann die Betrachtung der Natur auch zu einer topografisch vorgegebenen Langeweile führen, daher versuche ich sie zu meinem Vorteil umzuformen und mich bekannter Genres zu bedienen. Den ursprünglichen Charme des Genres der Waldund Wiesenmalerei nutzend, mache ich mir – durch mit freiem Auge kaum zu sehende Abwandlung des Motivs, der Farbe Grün – den Zugang der Betrachter*innen zu eigen, erreiche dieses Ziel aber nicht immer. Daunendecken Die zweite Gruppe der neuen Arbeiten stellen die Daunendecken dar, aus Baumwolle handgenähte Malgründe, die einerseits meinen chromatischen Anspruch verdeutlichen, aber auch industrielle Produktionsbedingungen und die damit verbundene Tierquälerei und Umweltzerstörung kritisieren. Die Struktur des down quilts referenziert Hausfassaden und Grundrisse von Wohnungen, Zeichnungen von öffentlichen, amtlichen Gebäuden oder Parks.
10
Gleichzeitig verweisen die Quilts für mich auf die Begrenztheit des Malereibegriffs, aber auch auf seine Weite. Die Weichheit der Daunendecken steht (wie Courbets Ende) auch für ein neues Männerbild beziehungsweise in scharfem Kontrast zu einem veralteten, das geprägt ist von Völle und Verhärtung. Ein weiterer Grund, weshalb ich mich für die Daunendecke als Substrat entschieden habe, liegt in ihrem Strukturelement, der Zelle sowie der damit verbundenen Kulturgeschichte, der Schutzfunktion und, damit einhergehend, der Geräuschdämpfung des weichen Wandbehangs. Ich denke zum Beispiel an Sträflingsliteratur, in der todesmu ti ge A u s b r u ch sver s u ch e g e p l a nt we rde n, a n inhaftierte Künstler oder Gummizellen. Wandpolsterungen – später zum Schutz eines Kranken vor sich selbst in der Psychiatrie zur Anwendung gebracht – finden sich schon in Renaissanceschlössern; sie sind für mich ein Ausdruck von Schönheit und Schmerz. Alexander Ruthner
11
Ohne Titel (He has risen) Öl auf Leinwand 170 x 160 cm 2020/2021
12
Ohne Titel (Sieben) Öl auf Leinwand 170 x 160 cm 2020/2021
14
Daunene Decke Öl auf Baumwolle 180 x 140 cm 2021
16
Wild imagination Öl auf Leinwand 125 x 140 cm 2021
18
Cour: Summer An Exhibition Abstract I want to begin with the end of Gustave Courbet, whose insatiable alcohol abuse in the final stage of his life led to him suffering from hydrops, which made the painter’s body swell up monstrously. The terrifying new method of puncture yielded twenty liters of serous fluid and thus proved a little more efficacious than the previously administered procedure, steam baths plus enemas—an excruciating “eighteen liters in the anus“. It seems cruelly appropriate that Courbet’s death should be characterized by excess and terror, as had been his life and his art. The whole year of 2020, shaped as it was by lockdowns, restrictions and the pandemic, emphasized the relationship of my work to Courbet’s realism.
20
The rapid switching of societies all over the world to lockdown mode without being prepared for it and the ensuing isolation of people in large parts of the world can only have gone by without a trace for the most ignorant of people and surely has only left very few unchanged. Cour: Summer The title Cour: Summer is derived from the first syllable of the name Courbet - Cour also being French for ‘court’ - and Summer, as the exhibition series, spread out over four seasons, reflects the hard-to-grasp temporal scale of the crisis and is the first in a sequence of shows, the second part of which, Cour: Autumn, will already be taking place in Vienna in fall 2021. Cour as a synonym for the castle of one’s own thoughts wherein every human abides and settles in, must settle in, since condition s in the pandemic are governed by stasis and rational principle, with some attention also given to the economy, to globalization.
21
To put it in unintentionally naïve but optimistic terms, every human being wants basically the same: health, freedom, safety, etc. Of course, this is not completely true, but maybe we indeed live, and have always lived, in a system that pursues more common interests than people thought (or wanted). This idea of being here, of walking the earth, also finds a reference in Akira Kurosawa’s 1990 movie Yume (engl. Dreams), which communicates through visual impressions.
22
However, Cour is also meant to refer to the inner world, the process of cocooning, psychologically and physically. Green In particular, I also want to put the focus on the calming effect of the color green. The meditative search for sublime propositions and the classical way of thinking that separates the subconscious from outward appearance strongly blur in painting but take on a new dimension in the face of unalterable conditions of locality. In a mobility-reduced environment, contemplation of nature may lead to topographically induced boredom, so I try to transform it to my advantage and harness familiar genres.
23
Utilizing the pristine charm of forest and landscape painting, I adopt - through variations, barely visible to the naked eye, of the motif, the color green - the approach of viewers, though I do not always achieve that goal. Down blankets The second body of new works are the down blankets, painting substrates hand-sewn from cotton, which on the one hand embody my chromatic aspirations but also criticize industrial production conditions and the entailed animal abuse and environmental destruction. The very structure of the down quilt references building facades and apartment floor plans, drawings of public buildings or parks. At the same time, the quilts for me point to the limitations of the concept of painting but also to its breadth.
24
The softness of the down quilts stands (as does Courbet’s end) for a new male image and thus is in sharp contrast to an outdated one informed by bloating and rigidity. Another reason why I chose the down quilt as a substrate is its structural element, the cell, and the cultural history it invokes, the protective function and the accompanying noise reduction of the soft wall padding. It makes me think of prison literature in which plans for daring breakouts are made, of incarcerated artists, or padded cells. The earliest examples of wall paddings - later mostly used to protect frenzied patients from themselves - are found in Renaissance palaces; for me, they are an expression of beauty and pain. Alexander Ruthner
25
26
27
Sommer Öl auf Leinwand 150 x 160 cm 2021
28
29
Daunendecke 2 Öl auf Baumwolle 150 x 140 cm 2021
31
Beyond Öl auf Leinwand 160 x 110 cm 2021
32
33
Coda Öl auf Leinwand 160 x 110 cm 2021
34
35
EINS ZWEI DREI Ein visuelles Analphabet Der Dreifuß / Dreyfus ist eine kollektive Erinnerung, ein Schock, eine Schockwelle, die die Verformungen der (männlichen) Gräser durch bestimmte, auffällige Fönfrisuren herstellt – zugleich geht eine Welle nach vorne, zu uns – und nach hinten, in die Tiefe der Zeit: zum Orakelstühlchen von Delphi, also zum Dreifuß (semiologische Obsession!). Auf den Dreifüßen saßen die erhabenen Zweifüssigen (AufrechtgeherInnen), die sich bei Zeiten (sich erinnernd) ihre Dreifüße frisierten zu STAFFELEIEN (zwei und ein Standbein, zwei wider eins, zwei plus eins), auf welchen sie ihre Bilder schufen. SCHUFEN. Zwei plus ein Fuß.
Aus diesem Grund ist der Dreifuß in der Welt der Oktopusse und anderer PEDAI (Pedale, die Orte, die die Füße aufnehmen), auch PAIDAgogoi, also die Kinder und die Füße disziplinierender Leute (geh hierhin, geh dorthin) ein Fuss zu viel bei den Zweifüßigen (bipedes), also ein Schwellfuß zwischen zwei Beinen = macht einen Ödipus, der lässt das Gebein schwellen, durch den Schwellkörper natürlich, der aus einer auf dem = Dreyfus stehenden Bild eine Daunendecke macht, ein angeschwollenes Bild = einen Schwellkörper = auf dem die behaarte Erde = die Fönfrisur des Dreyfus andere Zuständlickeiten passiert. Es braust also ein Sturm durch dieses Buch. Zwei Punkte sind gut, aber drei der Anfang eines Gesträuchs. Das Untergestell eines Gesträuchs. Das DUVET schwebt als MALEREI, zwischen Zwei-, Drei- und der zukünftigen Vierbeinigkeit (NOCH NICHT) = also NOCH KEIN BETT, ist noch nicht Bett, sondern Bild. Gehört in die ekstatische Linie des Dreyfus – Anti-Degradierung!
37
Nämlich Aufstufung, nämlich Schaumbildung, nämlich Mehr-als-Flachwerden. Bild-Werden, da das Bild, so sehr es ja in die Fläche gewollt hat und Fläche hat werden wollen, die Flächigkeit schnell wieder abstösst, seine Zweidimensionalität, seine ZWEIFÜSSIGKEIT, und so markiert DREYFUS eine wahrhaftige Überschreitung, die in der COUR, im Hof, im Innenhof des Malgrunds geahndet wird. Die Schwellung des Schwellkörpers (der wassersüchtige COURBET!) repariert die Ahndung, indem sie aus dem fönfrisierten Gras eine dreydimensionale Form generiert, das UNMÖGLICHE! Alexander Ruthner sekundiert der Anti-Degradierung! Er stellt her: Das Bild als KÖRPER. Den KÖRPER als Bild. E r de n kt u n d m a l t d i e er s te G l e i chung zw isc he n LEINWAND und LEINTUCH weiter, noch vor dem BETT, in welches man den wassersüchtigen COURbet legen musste. Dieses DUVET schwebt zwischen Dreyfus/STAFFELEI und BAHRE als Schauplatz der Schock/WELLE. Elisabeth von Samsonow
38
Daunendecke 5 Öl auf Baumwolle 180 x 160 cm 2021
40
42
43
Environmental Öl auf Leinwand 140 x 125 cm 2021
44
Daunendecke 3 Öl auf Baumwolle 150 x 140 cm 2021
46
One Two Three A visual analphabet The tripod/Dreyfus is a collective recollection, a shock, a shock wave that brings about the bending of (male) grass stems through certain conspicuous blow-dryer hairstyles - there is a wave rolling forward, toward us - and backward, into the depth of time: to the oracular seat of Delphi, again a tripod (semiologic obsession!). Sitting on tripods were the sublime bipeds (the erect walkers) who at times (reminiscing) dressed up their tripods into EASLES (standing on two and one legs, two against one, two plus one), on which they created their pictures. CREATED. Two plus one foot.
48
For this very reason, in the world of octopuses and other P E DA I ( p e d a l s , p l a c e s t h a t s u p p o r t f e e t ) , a l so PAIDAgogoi, that is, disciplinarians of feet and children (come here, go there), a tripod is one foot too many for two-footers (bipeds), that is, a swollen foot between two legs = makes one Oedipus that makes the bone swell, through the cavernous, erectile body, of course, which turns a picture on a = tripod a down blanket, a swollen picture = an erectile body = on which the hairy earth = the blow-dryer hairstyle of Dreyfus passes through various other states. There is a storm roaring through this book.
Two points are good, but three are the beginning of a shrub. The underpinnings of a shrub. The DUVET is suspended as PAINTING, between bi-, tri-, and quadrupedalism (NOT YET) = that is, NOT YET A BED, is not yet bed but picture! Part of the ecstatic lineage of Dreyfus - anti-degradation!
32
Which is upgrading, which is foaming, which is more than flattening out. Becoming picture, as the picture, however much it may have striven for, and wanted to be, flatness, is quick to shed its flatness again, its two-dimensionality, it´s BIPEDALISM, and so DREYFUS marks a real transgression, which is avenged at the COUR, in the court, in the yard of the painting ground. The swelling of the cavernous body (the dropsied COURBET!) mends the avenging in that it generates a three-dimensional shape out of the blow-styled grass, the IMPOSSIBLE! Alexander Ruthner supports the anti-degradation! He produces: the picture as a BODY. The BODY as a picture. He keeps thinking and painting the first equation of PAINTING LINEN and BED LINEN, even before the BED the dropsied COURbet had to be put in. This DUVET is in limbo between Dreyfus/EASEL and BIER as the site of the shock/WAVE. Elisabeth von Samsonow
51
52
53
The strong, the silent type Öl auf Leinwand 140 x 140 cm 2021
54
Ohne Titel Öl auf Leinwand 150 x 160 cm 2021
56
Daunendecke 4 Öl auf Baumwolle 150 x 140 cm 2021
58
Ohne Titel Öl auf Leinwand 150 x 160 cm 2021
60
62
63
Impressum I Imprint Dieser Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung This catalogue is published on the occasion of the exhibition Alexander Ruthner, Cour: Summer @ Haverkampf Galerie Herausgeber | Publisher Carolin Leistenschneider, Philipp Haverkampf Konzeption & Gestaltung | Concept & Design Alexander Ruthner Texte | Texts Elisabeth von Samsonow, Alexander Ruthner Übersetzung & Lektorat | Translation & Copy editing Michael Strand Photographie | Photography Raimo Rumpler Produktion | Production management DCV Gesamtherstellung | Printing and binding Print Alliance
64
www.alexruthner.com © 2021 für die abgebildeten Werke von | for the reproduced works by Alexander Ruthner: VG Bild-Kunst, Bonn, Bildrecht, Wien, der Autor | the author und | and Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Berlin Die Geltendmachung der Ansprüche gem. § 60h UrhG für die Wiedergabe von Abbildungen der Exponate/Bestandswerke erfolgt durch die VG Bild-Kunst. | The assertion of all claims according to Article 60h UrhG (Copyright Act) for the reproduction of exhibition/collection objects is carried out by VG Bild-Kunst. Vertrieb und Marketing I Distribution and marketing DCV sales@dcv-books.com ISBN 978-3-96912-054-5 Printed in Austria Erschienen bei | Published by DCV www.dcv-books.com