Okka-Esther Hungerbühler | Ein Schritt von der Wahrheit entfernt

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Geschrieben für Okka-Esther Hungerbühler, 08.09. - 08.11.2022

Erinnerungen an Hungerbühlers Präsentationen während einer gemeinsamen Zeit an der Hochschule und Beobachtungen spezifisch feiner Gesten hatten sich in meinen Notizen wiederholt. Der Anspruch war es, etwas über ihre Materialien, über deren Zusammensetzungen und eine Arbeitsweise zu schreiben. Man hätte ihrer Malerei eine äußerst spezifische Farbpalette zuordnen oder das Verschieben von Hintergründen in den Vordergrund beschreiben, die Art der den Leinwänden scheinbar aufgesetzten, fliegenden Symbole benennen und den ObjektEnsembles Situationen zuschreiben können. Doch klammerten sich meine Aufzeichnungen an Hungerbühlers eigene Formulierungen: ihrer Haltung zu und einem Umgang mit ihren Arbeiten.

Ich hatte in den zuweilen schrill glitzernden Figuren mit geschrumpften Körpermaßstäben von jeher die präzisen Portraits gesellschaftlicher Charaktere erkannt: Personen, die wie Hungerbühlers Objekte eine Rolle oder eine gesellschaftliche Verantwortung zu erfüllen haben. Doch es sind „Dinge“ von Charakteren, die – entindividualisiert –uns nur die Überbleibsel bekannter Gebärden entdecken lassen. Und die trotz ihrer Beschaffenheit aus Stoff oder den wiederkehrenden Materialien – des Geschenkpapiers, der Pailletten, des Klebers und der Plastiktüten, die über dünne Drähte oder andere Behelfsobjekte zur Form kommen – unempfindlich sind. Scheinbar verhüllt begegnen mir die skulpturalen Objekte. Und so kommt es mir vor, als könnten auch die wesentlich expliziteren Tier-Figuren der Malereien Verkleidete sein, die sich unter Kostümen verbergen. Hungerbühlers Gestalten bauen sich um die Entführung oder Besetzung der Grenzen zwischen Gegenstand und Verpackung, zwischen Substanz und Bild herum.

Der erste Schritt bliebe, verstehen zu wollen, was uns dort anspricht. Doch wenn es nicht um eine „Interpretation von“ oder ein bloßes „sich Verhalten zu“ Gegenständen geht, wird unsere erste Reaktion dann immer sein, „verstehen zu wollen“? Oder gibt es nicht auch einen anderen Weg – den des Antwortens?

Die Freiheit bestünde demnach nicht darin, autonom bei sich selbst zu beginnen, sondern aus dem Beginn (beim Anderen) eine Handlung zu wählen oder zu erfinden. Und es ist dieses Erfinden, das im Widerspruch zum Porträt die zuweilen unheimlichen Wesen kreiert.

Ich hatte bei Hungerbühler von jeher eine beinahe befremdlich selbstbewusste Notwendigkeit beobachtet, mit den Dingen in ihrer Umgebung umzugehen. Sie vielleicht einmal zu vertauschen, um ihnen in der Folge – schmunzelnd – neue Rollen in skulpturaler und bildlicher Form anbieten zu können.

Hungerbühlers stets ausgerichtete Objekt-Gruppen erscheinen so –entgegen dem historisch entstellten, anthropomorphen Readymade, das zum Ausdruck des Subjektivitäts-Verlustes geworden war – gar als Versuch einer erneuten Aneignung, ja sogar liebevollen Zuwendung zum figurativen Objekt. Denn es scheint weder die Herstellung, Illustration, noch Repräsentation eines Ausdrucks von Subjektivität zu sein, als vielmehr dem Hervorbringen von Partner/innen verpflichtet. Objekte als Gefährten, die sich dieser Kategorien bereits entledigt haben, um in den spielerischen Aufstellungen Hungerbühlers erneut Stellung zu beziehen. Sie konfrontieren die sie umgebende Abstraktion des Ausstellungsraums mit einer zunächst stummen, unbeweglichen und gespenstischen Körperlichkeit, während sie ihre Beziehungen untereinander verhandeln. Eingepackt oder verhüllt wirken sie wie in andere Welten vertiefte Kreaturen. Vehement verweigern sie jede explizite Zuordnung außerhalb ihrer Rollen. Und so erinnern sie mich an eine Haltung, die die Ernsthaftigkeit der Betrachtung eines Schauspiels einfordert.

Es gibt in der Zwischenzeit – sowohl jener, von der ersten Begegnung zu dem Moment des scheinbaren Wiedererkennens dieser Figuren, als auch jener zwischen der Erfahrung und der explizit nachträglichen Interpretation – eine spezifische Zeitlichkeit des Kunstwerks, eine Dimension reiner Äußerlichkeit: Material – bei Hungerbühler zumeist Dekoartikel –, das an der Oberfläche gesucht und als brauchbar spezifiziert wurde und in welchem die Dinge temporär zum Stillstand kommen.

Die Konvergenz zwischen ihnen – den noch anwesenden Skulpturen und uns – nicht in einer Übereinstimmung zu suchen, sondern in der Art, wie wir uns zu ihnen verhalten, bedeutet, das Augenmerk weniger auf die Frage zu legen, ob wir etwas richtig verstehen, als auf die Frage, ob und wie wir antworten.

Und wenn die Skulpturen dann beginnen, Laute von sich zu geben oder gar durch den Ausstellungsraum zu fahren, kommt es mir vor, als würden sie, wie die Malereien, Elemente zur Aufhebung bestimmter Ordnungen erzielen. In dieser Schau aber erfahren wir nur einen Moment davon, indem uns diese inszenierte Verabschiedung begegnet, und so stellt sich vielleicht die Frage, ob es sich um Heimkehr oder um eine fundamentale Heimatlosigkeit, eine Nichtzugehörigkeit, handelt. Denn es gibt keinen Hinweis darauf, wohin sie gehen.

Written for Okka-Esther Hungerbühler, 08/09 – 08/11/2022

Recollections of Hungerbühler‘s presentations during a time we had spent together at the university and observations of specific and sensi tive gestures had repeated themselves in my notes. The aspiration was to write something about her materials, about their compositions and a way of working. One could have assigned a specific colour palette to her painting or described the shifting of backgrounds to the foreg round; named the kind of symbols seemingly drafted on the canvases or attributed situations to the object ensembles. But my notes adhered to Hungerbühler‘s own formulations, her attitude towards and a way of dealing with her works.

In the sometimes flashy, glittering figures with shrunken body scales, I had always recognised the precise portraits of social characters; per sons who, like Hungerbühler‘s objects, have a role or a social respon sibility to fulfil. But they are „things“ of characters that, de-individua lised, allow us to discover only the remnants of familiar gestures. And which, despite being made of fabric or the recurring materials - wrap ping paper, sequins, glue and plastic bags - that come to form via thin wires or other makeshift objects, are insensitive. Apparently veiled, I encounter the sculptural objects. Thus, it seems to me that even the much more explicit animal figures in the paintings could be actors in disguise, hiding under costumes. Hungerbühler‘s figures build them selves around hijacking or occupation, the boundaries between sub stance and image.

The very first step would still be to want to understand what it is that speaks to us. But if it is not a matter of „interpreting“ or merely „be having towards“ objects, will our first reaction always be to „want to understand“? Or is there not another way - to respond?

The freedom would thus not consist in autonomously starting from oneself, but in choosing or inventing an act from the beginning (with or rather from the other). Indeed, it is this invention that, in contra diction to the portrait, creates the sometimes-sinister beings. In Hun gerbühler‘s work, I had always observed an almost disconcertingly, self-confident necessity to deal with the things around her. Perhaps to swap them once in order to be able to offer them new roles in sculptu ral and pictorial form with a smile.

Hungerbühler‘s always focused object groups thus appear - contrarily to the historically distorted, anthropomorphic readymade, which had become an expression of the loss of subjectivity - even as an attempt to re-appropriate, even loving devotion to the figurative object. Becau se it seems to be neither the production, illustration, nor representa tion of an expression of subjectivity, but rather a commitment to the creation of partners. Objects as fellows that had already abandoned these categories in order to take a stand in Hungerbühler‘s playful constellations. They confront their surrounding abstraction of the exhibition space with an initially mute, immobile, and ghostly cor poreality whilst negotiating their relationships between one another. Wrapped or veiled, they seem like creatures immersed in other worlds. They vehemently refuse any explicit attribution, outside of their roles. And so, they remind me of an attitude that demanded the seriousness of viewing a play.

In the interim, both from between the first encounter until the mo ment of the apparent recognition of these figures, and between the experience and the explicit subsequent interpretation, there is a speci fic temporality of the artwork, a dimension of pure appearance: ma terial, in Hungerbühler‘s case mostly decorative items, that has been sought on the surface and specified as useful in which things come to a temporary halt.

To seek convergence between the two - the still-present sculptures and us - not in conformity, but in the way we relate to them, means to focus less on the question of whether we understand something correctly but on the question of whether and how we respond.

And when the sculptures begin to emit sounds or even start moving through the exhibition space, it seems to me as if they, like the pain tings, achieve elements for the suspension of certain orders. In this show, however, we only experience a moment where we encounter this staged farewell, and the question arises of whether it is a homecoming or a fundamental homelessness, a non-belonging. Because there‘s no indication as to where they are going.

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