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Neue Perspektiven für Schmerzpatienten

Die ICD-11 der WHO beinhaltet erstmals Schmerz als Krankheit – eine überfällige Entscheidung

Unter dem Diagnosecode MG 30 wird es ab Jänner 2022 Schmerzdiagnosen geben. Mit dem Inkrafttreten der ICD11 erklärt die WHO Schmerz auch zu einer Krankheit und löst dadurch die 30 Jahre alte ICD-10 ab, in welcher Schmerz lediglich als Symptom galt. Unser Gesundheitssystem wird sich damit auseinandersetzen und die Rahmenbedingungen für eine gut organisierte Behandlung chronisch Schmerzgeplagter neu gestalten müssen. Allein die Fallzahlen in Österreich sprechen eine deutliche Sprache: Rund 1,6 Millionen Menschen neigen zu Schmerzerkrankungen. Rund 350.000 gelten als schwer Betroffene. Jeder Vierte bis Fünfte zählt zur Klientel „Chronisch Kranker“ eines Allgemeinmediziners und fällt in einen Cluster aus Schmerz, Depression, Angststörung, Schlafstörung und entzündlich degenerativen Problemen. Jede dritte bis vierte Familie teilt ihr Schicksal mit dem eines schwer chronifizierten Schmerzpatienten. Dennoch ist dieser Zustand nicht anerkannt, und vielen der „lästigen“ Schmerzpatienten wird unterstellt, keinen „ehrlichen“ Leidensdruck zu haben.

„Verpatzte“ Schmerztherapien sind teuer

Der neue Diagnosecode dürfte für den Hausarzt nicht nur einen Mehraufwand, sondern auch eine Bereicherung und Aufwertung mit sich bringen. Seit 20 Jahren ist das Recht auf eine ausreichende Schmerztherapie in Österreich festgeschrieben. Das konnte allerdings bis heute nur für den akuten Schmerz umgesetzt werden, und das oft lückenhaft. Für chronischen Schmerz (= für die „Krankheit Schmerz“) sind jedoch multimodale und interdisziplinäre Verfahren verpflichtend, die in Österreich nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen. Chronischer Schmerz ist eine langwierige, komplexe, häufig therapieresistente Krankheit. Wird sie nicht multimodal behandelt, kann eine Erkrankung auch invalidisieren. Dessen sind sich bis heute leider weder die Betroffenen noch die Gesellschaft noch die Ärzte und Therapeuten vollends bewusst. Nach wie vor gibt es nur in wenigen Spitälern „Schmerzabteilungen“ , die zudem meist monodisziplinär organisiert sind. Hinzu kommt: Spitäler sind seit der Einführung leistungsorientierter Krankenanstaltenfinanzierung (LKF) zu reinen Leistungserbringern geworden, wobei Einzelleistungen im Vordergrund stehen. Eine längerfristige multimodale und interdisziplinäre und damit nachhaltige The-

Autor: Dr. Martin Pinsger

FA für Orthopädie, Schmerztherapie SCHMERZ-KOMPETENZ-ZENTRUM, Bad Vöslau „Hausärzte können als Generalisten den Überblick bewahren.“

rapieform ist dabei nicht angedacht. Schon während meiner orthopädischen Ausbildung in den späten 1980erJahren umfasste der Ausbildungskatalog 65 Seiten über Operationen und nur 1,5 Seiten zum Thema „konservativ schmerztherapeutische Ausbildung“ . Die Kosten für „verpatzte“ Schmerztherapien gehen in die Milliarden (2015 in Deutschland ca. 60 Milliarden Euro!). Daher stellen die Früherkennung von Risikopatienten und in weiterer Folge vor allem die ausreichende Begleitung von Schmerzkranken eine der ersten und wichtigsten Aufgaben dar.

ICD-11: Das Beste daraus machen!

Mit der ICD-11 der WHO soll Schmerzpatienten nun eine vermehrt individualisierte Versorgung geboten werden. Das beinhaltet einerseits die schnellere Behandlung von Akutpatienten, andererseits die multimodale Betreuung von chronisch Schmerzkranken in interdisziplinären Netzwerken. Solche Strukturen sind unbedingt zu fördern und sollten im Gesundheitssystem mit Nachdruck implementiert werden. Eine intensivere Vernetzung und eine stärkere Verdichtung des Betreuungsbedarfs benötigen Organisation, Kommunikation und Zeit. Mit der Abgeltung von Einzelleistungen ist es nicht getan. Auch eine 5-MinutenMedizin ist diesbezüglich nicht hilfreich.

Die Ärzteausbildung wird überdacht werden müssen, um den bislang „stiefmütterlich“ behandelten Bereich der Schmerztherapie neu auszurichten. Hierbei geht es nicht nur um Intervention und Pharmakotherapie, sondern auch um psychosozial fürsorgliche Begleitung. Allgemeinmediziner sollten ermutigt und unterstützt werden, sich mit Therapeuten und anderen Fachkollegen zusammenzutun, um so die Herausforderungen, die eine multimodale Behandlung mit sich bringt, zu meistern. Dabei kann es nicht um Zwang oder Verpflichtung gehen, denn: Eine gute Schmerztherapie ist immer auf „Augenhöhe“ mit Therapeuten, Kollegen und Schmerzpatienten durchzuführen. Die so dringend benötigte Behandlung chronischer Schmerzen gehört in die Hände der Hausärzte. Diese können als Generalisten den Überblick bewahren und kennen die Zusammenhänge. Mit der klaren Aufwertung der Schmerztherapie beim Hausarzt könnte ein Umschwung von einer Medizin mit Anhäufung von Einzelleistungen hin zu einer wesentlich sinnvolleren Betreuung und Begleitung von chronisch Kranken gelingen. Erst durch die konsequente Verbesserung von Kompetenz und Selbstwirksamkeit des Patienten sind langfristige Verbesserung des Krankheitsverlaufes und die Senkung der hohen Kosten für die Allgemeinheit möglich. Die Erkenntnis darf jedoch nicht „diktiert“ , sondern sollte gefördert und auch finanziell belohnt werden. Eine Verpflichtung, sich in einer Art von „Schmerz PHC“ organisieren zu müssen, wäre kontraproduktiv.

Umdenken bei Therapien notwendig

Im Rahmen dieser Umstrukturierung von Therapiesträngen muss außerdem die ärztlich verordnete Behandlung mit Cannabinoiden überdacht und aufgewertet werden*. Denn NSAR, bei Akutschmerzen sehr effektiv, versagen beim chronischen Schmerz kläglich. Hier ist ein Umdenken erforderlich, da die oft jahrzehntelange Betreuung von Schmerzpatienten mit stark organbelastenden Medikamenten vielfältige negative Auswirkungen zeigt. Ohne Rückvergütung durch die Kassen sind Cannabinoide (THC und CBD) immer noch sehr teuer und somit für viele Schmerzgequälte unerschwinglich. 20 Jahre klinische Erfahrung mit chronischen Schmerzpatienten haben mir vielfach bewiesen: Eine ärztlich kontrollierte Gabe von Cannabinoiden ist für chronische Schmerzpatienten oft unverzichtbar. Sowohl CBD (leichte Schmerzen, Entzündung, Schlaflosigkeit und Angst) wie auch THC (starke und stärkste Schmerzen, Schlaflosigkeit, Muskelverspannung und fehlende Distanz zum Leid sowie mangelhafte Regeneration) haben sich bewährt und verhindern nachweislich Multimedikation und Polypharmazie.

Solatio et Salutio Aegrorum

„Zum Heil und zum Trost der Kranken“: Chronisch Kranke suchen nicht nur Heilung, sondern auch Verständnis und Trost. Die Identifikation von Schmerzpatienten ist relativ einfach – man muss sie neben den Symptomen einfach nur ihre Lebensumstände schildern lassen und ihnen Glauben schenken. Häufig sind ihre Biografien seit frühester Kindheit voll von Stresserlebnissen. Viele Patienten öffnen sich jedoch dem Arzt nicht mehr, weil sie schon zu oft erleben mussten, dass sie nicht verstanden wurden. Diese „verprellten Schmerzpatienten“ ziehen sich dann vollkommen zurück und flüchten in eine nicht ungefährliche Selbst- und Multimedikation ohne ärztliche Begleitung. Ergreifen wir daher die Chancen, die sich durch die Neuformulierung der ICD-11 für chronisch kranke Schmerzpatienten und die Gesellschaft insgesamt ergeben werden!

*Fortbildungsseminar: www.cannabinoide.at

X HAUSARZT-Buchtipp

Martin Pinsger, Thomas Hartl:

Krankheit Schmerz. Endlich Hilfe für Patienten.

Ennsthaler-Verlag 2021, ISBN-10 3709501261;

Dem Schmerz entkommen.

Goldmann-Verlag 2019, ISBN-10 3442178096

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